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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Warum Ramsan Kadyrow (fast) alles darf

    Warum Ramsan Kadyrow (fast) alles darf

    Gerät Tschetschenien außer Kontrolle? Das zunehmend aggressive Vorgehen von Republikchef Ramsan Kadyrow gegen seine Kritiker beherrscht derzeit die Schlagzeilen in unabhängigen russischen Medien. Den ehemaligen Richter Sajdi Jangulbajew und dessen Familie hat Kadyrow zu „Terroristen“ erklärt. Er sieht die beiden Söhne als Verаntwortliche hinter einem regimekritischen Telegram-Kanal. 

    Als „Terrorist“ bezeichnete Kadyrow außerdem auch den Menschenrechtler Igor Kaljapin, der die Familie nach der Flucht nach Nishni Nowgorod unterstützt hatte, und auch die Journalistin Elena Milashina. Milashina, die nach der 2006 ermordeten Anna Politkowskaja für die Novaya Gazeta über Tschetschenien berichtet, hat Russland aus Sicherheitsgründen nun verlassen. Zuletzt hatte sie in einer Recherche aufgedeckt, wie sich das tschetschenische Regime durch mehrere regimekritische Telegram-Kanäle herausgefordert fühle: Diese seien der „Feind Nummer 1“, den Kadyrow nicht mehr kontrollieren könne, schreibt Milashina. 

    Der tschetschenische Politiker Adam Delimchanow kündigte nun auf Tschetschenisch an, die Familie des in Misskredit geratenen Jangulbajew zu köpfen und drohte auch jenen, die seine Worte ins Russische übersetzen würden, mit „Feindschaft und Blutrache“. Delimchanow ist Mitglied der russischen Staatsduma und laut Medienberichten Cousin Kadyrows. Kreml-Sprecher Peskow jedoch fühlte sich nicht zuständig, die Äußerungen zu kommentieren, sondern verwies auf die Ethikkommission der Duma. Das Schweigen des Kreml zum Wüten Kadyrows lässt viele befürchten, dass Moskau jede Kontrolle über das tschetschenische Regime verloren hat. Dabei besorgt das Treiben Kadyrows viele, davon zeugt auch die Petition „Kadyrow soll zurücktreten“, die Oppositionspolitiker Ilja Jaschin startete und die bislang rund 195.000 Unterzeichner hat (Stand: 11.02.2022). 

    Seit dem Zweiten Tschetschenienkrieg (1999–2009) stufen Beobachter die islamische Teilrepublik Tschetschenien im russischen Nordkaukasus zunehmend als Staat im Staat ein, in dem das Moskauer Gewaltmonopol vielfach unwirksam sei. 
    Auf Snob erklärt Konstantin Eggert, warum Putin auch jetzt in Tschetschenien ziemlich machtlos ist.

    Wladimir Putin und Ramsan Kadyrow bei einem Arbeitstreffen im Juni 2018 © kremlin.ru CC BY 4.0

    „Cops aus Texas stürmen in Chicago das Haus eines Bundesrichters und entführen seine Frau nach Dallas. Der Gouverneur von Texas kündigt an, jeden kalt zu machen, der den Bewohnern seines Bundesstaats etwas antut. Das Weiße Haus zieht vor, dem Ganzen keinen Glauben zu schenken.“


    Dieses traurige Meme tauchte im Netz auf, fast unmittelbar nach der Nachricht, dass Sarema Mussajewa von der tschetschenischen Polizei entführt worden war. Die Ehefrau von Sajdi Jangulbajew, einem ehemaligen Richter am Obersten Gericht Tschetscheniens, wurde gewaltsam von Nishni Nowgorod nach Grosny gebracht. Es folgte eine nicht sehr überzeugende Anklage wegen Betrugs, sie bekam zwei Monate Haft. Die Söhne von Jangulbajew und Mussajewa sind dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow mit öffentlicher Kritik auf den Schlips getreten. Er behauptet, die Brüder Jangulbajew betrieben einen Telegram-Kanal, der die Vorgänge in Tschetschenien und die Regierung „beschmutze“. Ein Cousin von Kadyrow, Adam Delimchanow, der als Abgeordneter in der russischen Staatsduma sitzt, hat öffentlich gedroht, Mitglieder der Familie Jangulbajew zu köpfen. Dasselbe haben auch andere führende Beamte Tschetscheniens angekündigt.  

    Ein Cousin Kadyrows, der als Abgeordneter in der russischen Staatsduma sitzt, hat öffentlich gedroht, Mitglieder der Familie Jangulbajew zu köpfen

    Ein paar Tage später traf sich Wladimir Putin plötzlich mit Kadyrow, um sich – wie es im Kommuniqué hieß – einen Bericht über die sozial-ökonomische Entwicklung von Tschetschenien anzuhören. Dieser Anlass wirkt wenig glaubhaft. Es bleibt zu hoffen, dass die Diabetikerin Mussajewa nach Kadyrows Gespräch mit Putin doch noch unter einem geeigneten Vorwand aus der Haft entlassen wird und zu ihrer Familie fahren kann. Diese hat bereits das Land verlassen, ohne neue Probleme abzuwarten.

    Wurzel dieses Problems ist ein Umstand, den Russland nicht offiziell zugeben kann

    Die Probleme des Richters und seiner Familie können vielleicht durch Emigration gelöst werden, doch die Probleme Tschetscheniens – konkret die Machenschaften der tschetschenischen Regierung – lassen sich sich in absehbarer Zeit nicht aus der Welt schaffen. Die tschetschenischen Sicherheitskräfte handeln weiterhin außerhalb der russischen Verfassung und Gesetzgebung und verfolgen schon jetzt die Feinde von morgen.  


    Wurzel dieses Problems ist ein Umstand, den Russland nicht offiziell zugeben kann: Zu Beginn unseres Jahrhunderts hat die Föderalmacht den zweiten Krieg in Tschetschenien verloren. Wie das genau passiert ist, ist eigentlich auch klar: Die Familie des ehemaligen Muftis von Tschetschenien, Achmat Kadyrow, wechselte auf die Seite der russischen Zentralregierung und bekam im Gegenzug für die Gewährleistung von „Frieden und Stabilität“ (egal mit welchen Mitteln) die Republik zur freien Verfügung und eine fast vollständige staatliche Finanzierung. Verschiedenen Daten zufolge stammen mehr als 90 Prozent des Haushalts der Republik Tschetschenien aus zweckgebundenen Transfers aus dem föderalen russischen Staatshaushalt. 

    Dass ein solcher Zustand die Struktur des russischen Staates aushöhlt, versteht sich von selbst. Es führt zu Spannungen in anderen Regionen, die weniger Glück mit der Finanzierung haben. Es erzeugt innerhalb der Sicherheitskräfte die verschiedensten Stimmungen – von „Könnten wir doch nur auch so wie die Jungs in Tschetschenien!“ bis „Was erlauben sich die!“. Und schließlich fördert es die Feindseligkeit gegenüber dem Nordkaukasus unter jenen, die nicht die Muße haben, sich mit den Feinheiten von Politik und Geschichte zu befassen. Was wiederum sehr schlecht ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eines zerfallenen Imperiums, das krankhaft nach einer neuen Identität sucht.          

    Die Entscheidung über diesen faktischen Sonderstatus der Republik Tschetschenien hat Wladimir Putin getroffen. Doch ihn zu ändern steht außerhalb seiner Macht, selbst wenn er es wollte. Zumal Kadyrow gegen jene kämpft, in denen auch der Kreml Feinde sieht – nämlich gegen die, die Korruption und Menschenrechtsverletzungen aufdecken. Also, solange Putin im Kreml ist, wird Kadyrow mit seiner Familie Tschetschenien regieren. 

    Die Entscheidung über den faktischen Sonderstatus der Republik Tschetschenien hat Wladimir Putin getroffen. Doch ihn zu ändern steht außerhalb seiner Macht

    Doch Putins Zeit läuft irgendwann ab. In Russland wird es freie Parlamentswahlen geben, und gleich in der ersten Sitzung wird eine Abgeordnete aus Woronesh oder ein Abgeordneter aus Weliki Nowgorod das Wort ergreifen. Er oder sie wird fragen, warum die Woronesher oder Nowgoroder nicht genauso viel aus dem föderalen Haushalt überwiesen bekommen wie Tschetschenien? Das wird niemand schlüssig beantworten können. Weil man dann beginnen müsste, das ganze unter Putin aufgebaute Beziehungsgeflecht zwischen der Republik und dem föderalen Zentrum in Moskau zu demontieren. 
    Sogar die legitimste und demokratischste Regierung wird hier vor jeglichen Maßnahmen zurückschrecken. Denn keiner kann die Folgen einschätzen, und wahrscheinlich wird keiner bereit sein, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Also werden sie versuchen, das Thema unter den Teppich zu kehren. Vielleicht sogar erfolgreich.  

    Leidtragende dabei sind die Bewohner Tschetscheniens, die unter modernem Recht leben wollen und nicht im Feudalismus. Von ihnen gibt es bestimmt viele. Auch für die Nachbarn Tschetscheniens ist es nicht leicht, für Inguschetien etwa. 

    Aber in nächster Zeit wird sich daran nichts ändern lassen. „Frieden in Tschetschenien“ ist genauso ein historisches Erbe Wladimir Putins wie „Krim nasch – die Krim gehört uns“. Damit müssen wir leben.

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  • Putins Kampf gegen das „Anti-Russland“

    Putins Kampf gegen das „Anti-Russland“

    Mitte Juli hat Wladimir Putin einen Aufsatz veröffentlicht: Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern. Den Großteil der knapp 40.000 Zeichen widmet der Präsident der ukrainischen Geschichte. In einem Ritt vom Mittelalter bis zur Gegenwart argumentiert er, dass es eigentlich kein ukrainisches Volk gebe – vielmehr seien Russen, Ukrainer und Belarussen Teil einer „großen russischen Nation, eines dreieinigen Volkes“. 

    Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts hätten einige wenige Nationalisten und ausländische Feinde Russlands eine ukrainische Nation konstruiert. Auch in der Gegenwart würden sie eine Front bilden, die Putin „Anti-Russland“ nennt. Diese Front habe einen „Bürgerkrieg“ im Osten des Landes angezettelt, dem schon über 13.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Russland habe aber „alles getan, um den Brudermord zu stoppen“, und schütze auch jetzt Millionen von Menschen in der Ukraine, die sich gegen den Kurs der ukrainischen „Zwangsassimilation“ stellen. Dieser aggressive Kurs gegen Russland ist laut Putin mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen vergleichbar, „ohne Übertreibung“.

    Nachdem der Aufsatz auf der Webseite des Kreml erschienen ist – auf Russisch und Ukrainisch – entlud sich im Internet massive Empörung: Verdrehung von Fakten, Geschichtsfälschung, Pseudowissenschaft, Manipulation, Ideologie – die Liste der Kritikpunkte ist lang. Auf Snob geht auch Konstantin Eggert auf die argumentativen Unzulänglichkeiten des Präsidenten ein. Die wichtigeren Fragen sind für den Journalisten aber die Fragen dahinter: Wie Putin zu solchen Erkenntnissen kommt, ob er selber daran glaubt und was er damit insgesamt bezweckt. 

    Wladimir Putins Artikel Über die Ukraine hat man in den sozialen Medien Wort für Wort auseinandergenommen. Der Mini-Enzyklopädie der Verdrehungen, Irrtümer und Fälschungen, die Dutzende von Menschen innerhalb kürzester Zeit erstellt haben, ist nichts hinzuzufügen. Allein Putins Hinweis auf die Zeitung Prawda als maßgebliche Quelle für die öffentliche Meinung in Karpatenrussland der 1940er Jahre ist schon bemerkenswert. Ich füge vielleicht noch meine persönlichen Eindrücke von einem Besuch in Kiew vor ein paar Wochen hinzu: Einer Stadt, die unter dem Joch einer nationalistischen Diktatur und „externen Kontrolle“ [Putin spricht von „Kontrolle durch die westlichen Staaten“ – dek] fast zusammenbricht, ähnelt es nicht die Spur.

    Warum dieser Text?

    Aus dem Artikel geht hervor, dass das von den ukrainischen Behörden eröffnete Strafverfahren gegen den prorussischen Politiker und Putin-Freund Medwedtschuk möglicherweise den Anstoß für den Text gegeben hatte. Eigentlich ist jedoch schon seit 2014 klar, dass es für das Regime Putins nichts Wichtigeres gibt als die ukrainische Frage.
    Auf dem Weg zu dieser Realität befand sich der Kreml mehrfach an einem Scheideweg, an dem die Geschichte einen anderen Lauf hätte nehmen können: zunächst Ende Februar 2014 bei der Entscheidung, GRU-Spezialkräfte auf die Krim zu entsenden, um das dortige Regionalparlament zu besetzen. Zuletzt am 17. Juli desselben Jahres, als im Fernsehen ein sichtlich erschütterter Putin erschien, nachdem am Himmel über dem Donbass das Passagierflugzeug MH17 der Malaysia Airlines mit fast 300 Passagieren an Bord von einer Buk-Rakete abgeschossen worden war. Putin sagte irgendetwas Unverständliches, das nicht in Erinnerung blieb. Dabei hätte er aber doch eingestehen können, dass im Donbass nicht irgendwelche freiwilligen Bergarbeiter mit Militäruniformen aus dem Army-Shop agierten, sondern russische Streitkräfte. Dass sie das Flugzeug aus Versehen abgeschossen hatten. Und dass Russland jeder Familie, die ihre Angehörigen verloren hatte, eine großzügige Entschädigung zahlen würde.

    „Dialog“ – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt

    Ich war sicher, dass die Regierung Barack Obamas, ganz zu schweigen von den Staatschefs der Europäischen Union, die stets darauf bedacht sind „Russland zu verstehen“, nach einer kurzen Phase der Empörung und der Verabschiedung eines neuen Sanktionspakets (wie viele hat es seitdem schon gegeben?) wie gewöhnlich erneut den „Dialog“ suchen würden – jene besonders raffinierte Form des Sadomasochismus, die hinter der Kremlmauer stets für Gelächter sorgt. 

    Aber Putin zog es vor, an der Mär vom „Donbass-Volk, das sich erhebt“ festzuhalten. Seitdem ist er eine Geisel der erlogenen offiziellen Version, nach der es nie einen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine gegeben hat. Bei dem Artikel handelt es sich um eine Art kanonische Version der Geschehnisse, eine allumfassende nachträgliche Erklärung, warum Putin schon immer Recht hatte. Denn er kämpfte gegen ein „Anti-Russland“. Dieses neue Mem, das auch von Alexander Dugin stammen könnte (vielleicht ist er der Autor), riecht schon von Weitem nach jenen „analytischen Berichten“ der russischen Geheimdienste mit ihrer seltsamen Mischung aus Messianimus (im Stile „Moskau – das Dritte Rom“), Krämergeist (man rechnete Putin aus, dass die Ukraine in den Jahren 1991–2013 angeblich 82 Milliarden Dollar durch russische Gaslieferungen eingespart habe) und Verschwörungstheorien.

    Messianismus, Krämergeist und Verschwörungstheorien

    Das ist das Erschreckendste. Schlimm genug, wenn solche schriftlichen Erzeugnisse aus der Feder irgendwelcher Genossen Majore stammen – schließlich sollen die Geheimdienste die Gesellschaft und den Staat doch vor realen Bedrohungen schützen. Aber ein Staatsoberhaupt, das in einer Welt aus Verschwörungsphantasien à la Umberto Eco lebt, das ist eine politische Katastrophe. Und zwar für alle Bürger Russlands, der Ukraine und Belarus‘.
    Denn im Grunde genommen ist der Artikel ein Freibrief, den Putin sich selbst ausgestellt hat, um in irgendeiner Form gegen eben jenes „Anti-Russland“ zu kämpfen, unter dem in erster Linie die derzeitige ukrainische politische Klasse, aber auch der kollektive Westen verstanden werden.
    Dieser Artikel ist eine schallende Ohrfeige für alle: für Russen, die bei der Europameisterschaft 2021 die ukrainische Mannschaft anfeuern und dabei aufrichtig glauben, dass „Ukrainer Idioten“ sind und die Krim „uns“ gehört. Für die russische Opposition, die bis auf wenige Ausnahmen versucht hat, auf zwei Stühlen zu sitzen: Putin zu bekämpfen, ohne die Themen der von ihm heraufbeschworenen Konflikte zu berühren – den Neoimperialismus und das Großmachtgebahren. Für die vielen, hauptsächlich europäischen Anhänger der Strategie, um jeden Preis „mit dem Kreml zu reden“. Und natürlich ist es ein „Signal“ für alle Mitglieder der Machtriege, bereit zu sein für neue Härtetests, neue Kriege und neue Sanktionen.

    Er denkt, er habe alle gewarnt

    Weder eine schnell voranschreitende Pandemie, noch demographische Probleme oder eine geringe Arbeitsproduktivität können Putin von seiner selbst auferlegten historischen Mission abbringen: dem Kampf gegen das in seiner Realität existierende „Anti-Russland“. Und wenn der Präsident morgen die Einstellung des Gastransits durch die Ukraine, die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk oder gar den Angriff auf Mariupol verkündet, müssen wir uns nicht wundern. Putin denkt, er habe alle vor allem gewarnt.

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  • Moskau, hör die Signale!

    Moskau, hör die Signale!

    Er war nur eine Woche Ministerpräsident Armeniens, dann gab er dem Druck der Straße nach: Sersh Sargsjan ist Anfang dieser Woche zurückgetreten. Tagelang hatte es Proteste gegeben, nachdem Sargsjan vom Präsidentenamt ins Amt des Ministerpräsidenten gewechselt war. Viele warfen ihm vor, sich an die Macht zu klammern. 2015 hatte er als Präsident in einem Referendum über eine Verfassungsreform abstimmen lassen, die dem Ministerpräsidenten zahlreiche Kompetenzen des Präsidenten übertrug, diese war nun in Kraft getreten.

    Armenien ist mit den Nachbarn Aserbaidschan und Türkei verfeindet, Russland gilt als wichtige Schutzmacht des Landes. Armenien ist Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion, hat aber 2017 auch ein Partnerschaftsabkommen mit Brüssel unterzeichnet. 

    Bei den jüngsten Protesten schließlich ging es nicht um eine prowestliche oder antirussische Ausrichtung des Landes. Der Sieg der armenischen Opposition bedeute dennoch eine Schlappe für Moskau, meint der bekannte Journalist Konstantin Eggert auf Snob. Er sei ein äußerst wichtiges Signal für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen.

    Die jüngsten Proteste in Armenien – ein Zeichen für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen? / Foto © RaffiKoijan/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Die jüngsten Proteste in Armenien – ein Zeichen für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen? / Foto © RaffiKoijan/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Das, was da in Armenien geschehen ist, ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für den sogenannten postsowjetischen Raum, wo das „post“ immer stärker wird als das „sowjetisch“. Die friedliche Revolution in Armenien – einst eines der postsowjetischen Länder dieser Region, in dem die prorussischen Stimmungen und die Nostalgie nach der UdSSR mit am stärksten waren – ist ein äußerst wichtiges Signal für das Näherrücken unabwendbarer Veränderungen. Und zwar in einer Region, die Dimitri Medwedew vor zehn Jahren als „Zone privilegierter Interessen Russlands“ bezeichnet hat.

    Als Stütze der russischen Führung in Armenien fungierte zwanzig Jahre lang der sogenannte Karabach-Klan, eine Gruppe von Veteranen aus dem Krieg gegen Aserbaidschan um Bergkarabach, der 1994 mit einem Sieg Armeniens endete. Diese aus Arzach Stammenden, wie die Armenier Karabach nennen, hatten daraufhin sofort Lewon Ter-Petrosjan gestürzt, den ersten Präsidenten Armeniens – sie hielten ihn für zu kompromissbereit gegenüber Aserbaidschan. Anschließend machten sie sich die Unternehmen des Landes untertan, richteten für sich und ihre Familien Firmen in Russland ein, jagten die Opposition in ein Ghetto und beschlossen, ewig zu herrschen.

    Zunächst war der karabachische Veteran Robert Kotscherjan für zwei Amtszeiten Präsident, dann der frühere Verteidigungsminister Sersh Sargsjan. Schließlich gab die Ersatzbank der Karabachler wohl niemanden mehr her, aber das machte nichts. 2015 wurde ein Referendum abgehalten, das die Verfassung änderte und Armenien aus einer Präsidial- in eine parlamentarische Republik verwandelte. Der Präsident wurde zu einer repräsentativen Figur und die gesamten Machtbefugnisse wurden dem Ministerpräsidenten übertragen. Die Armenier hatten schon damals den Verdacht, dass es hier um eine Verlängerung der politischen Karriere Sargsjans geht. Dieser versprach jedoch, dass er nicht als Ministerpräsident kandidieren wolle. Das half, das Referendum „durchzudrücken“.

    Sargsjan hat sein Versprechen nicht gehalten. Die Leute waren empört. Es kam zur Revolution. Sargsjan ist abgetreten, nachdem sich die ersten Militärs den Demonstranten angeschlossen hatten. Eine gewaltsame Unterdrückung der Proteste hätte einen Bürgerkrieg bedeutet. Dazu ist der ehemalige Präsident und nun Ministerpräsident nicht bereit gewesen. Gott sei Dank.

    Unerwartet für Moskau

    Für das offizielle Moskau kamen die Ereignisse in Armenien unerwartet – vor wenigen Tagen erst hatte Wladimir Putin Sargsjan zur „Wahl“ zum Ministerpräsidenten gratuliert. Wobei die Ereignisse eine Schlappe für die russische Außenpolitik darstellen, und die ist deswegen so herb, weil Armenien der engste Verbündete Russlands ist, ein Mitglied der OVKS und der Eurasischen Union, sowie das Land, auf dessen Territorium sich einer der größten russischen Militärstützpunkte befindet.

    Die Armenier lieben Russland aufrichtig, und genauso aufrichtig hoffen sie auf Russlands Schutz in den „kalten Kriegen“ mit Aserbaidschan und der Türkei. Das bedeutet jedoch nicht, dass die armenische Gesellschaft so leben möchte wie die russische. In Armenien ist eine Generation herangewachsen, die sich nicht an die UdSSR oder den Karabach-Krieg erinnert. Für diese bedeutet die sargsjansche „Stabilität“ das Gleiche, wie die putinsche für die Generation Nawalny: Stagnation, Heuchelei, fehlende Perspektiven und keine sozialen Aufstiegsmöglichkeiten.

    Für die jungen Armenier bedeutet die sargsjansche „Stabilität“ das Gleiche, wie die putinsche für die Generation Nawalny

    Darüberhinaus weckt das Beispiel Georgien zunehmend das Interesse der Armenier: Das Nachbarland hat mit der Europäischen Union ein vollwertiges Assoziationsabkommen geschlossen, hat eine Visafreiheit mit der EU erreicht, eine Polizei- und Gerichtsreform unternommen und die Alltagskorruption bekämpft, jene Korruption, die dem Durchschnittsarmenier am meisten auf die Nerven geht.

    Die armenische Opposition – zu ihrer Symbolfigur wurde Nikol Paschinjan, ein politischer Nachkomme des ersten Präsidenten Ter-Petrosjan – hat die Regierung beharrlich wegen des Eintritts Armeniens in die Eurasische Union kritisiert, wie auch wegen deren Weigerung (unter dem Druck Moskaus), 2013 ein Partnerschaftsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Das hat die armenischen Oppositionellen von der Partei ELK in den Augen des offiziellen Russland zu „Feinden“ gemacht. Sollte die russische Botschaft in Jerewan mit ihnen in Kontakt gestanden haben, so bestimmt äußerst eingeschränkt, sodass sie alles mit den Augen ihres Verbündeten Sargsjan und dessen Umgebung betrachtet hat.

    Diese Überzeugung ist nicht unbegründet. Schließlich war der Ansatz Moskaus in Bezug auf Armenien recht einfach. Erstens: Wir haben dort einen Stützpunkt. Zweitens: Das Land ist von den überwiesenen Geldern der Armenier abhängig, die zum Geldverdienen in Russland leben. Drittens: Die Leute von „unserem“ Sargsjan kontrollieren die einflussreichen Spitzenpositionen von Wirtschaft, Parlament und Sicherheitsapparat. Also gibt es eigentlich gar keinen Grund zur Sorge.

    Selbstsicherheit, imperialer Hochmut sowjetischer Machart und die Unterscheidung von Ausländern in „unsere“ und „fremde“ haben der russischen Diplomatie erneut einen bösen Streich gespielt. Erneut – denn genau das ist das Verhaltensmuster des Kreml in allen postkommunistischen Transformationsländern: In Serbien zu Zeiten Miloševićs, in der Ukraine zunächst unter Kutschma und dann unter Janukowitsch, in Georgien unter Schewardnadse sowie die ganze Zeit in Belarus und Moldau hat sich das Verhalten des offiziellen Russland vom Stil her nicht geändert. Moskau zieht jene vor, die Demokratie verachten, korrupt sind und bereit, zum Westen, insbesondere zur NATO, auf Distanz zu bleiben. Im Kreml herrscht eine ungeheure Angst, dass auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR und auf dem Balkan (der aus unerfindlichen Gründen immer noch als prorussisches Aufmarschgebiet in Europa gilt) erfolgreiche, prosperierende Demokratien entstehen könnten.

    Antiwestliche Pufferzone der Instabilität

    Genau hierauf konzentriert sich die Außenpolitik Russlands: auf das Eindämmen und – falls das nicht gelingen sollte – auf die Unterminierung einer demokratischen Entwicklung des postsowjetischen Raumes und eines Teils Mittel- und Osteuropas. Das Ziel ist die Schaffung einer Art antiwestlicher Pufferzone der Instabilität – und die Verfolgung von Interessen staatlicher und staatsnaher Unternehmen in diesen Ländern. Diese Unternehmen dienen dabei ihrerseits auch als Instrument zur politischen Einflussnahme des Kreml und zur Korrumpierung der Eliten vor Ort. Ein solches Vorgehen Moskaus erfolgt auch im Westen, erinnert sei nur an den Kauf des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder.

    Allerdings lässt sich in entwickelten Demokratien nicht dieselbe Politik verfolgen wie gegenüber Armenien oder der Ukraine.

    Trotz seiner nicht geringen Ressourcen erlebt der Kreml eine Niederlage nach der anderen. Der Hauptgrund für dieses Scheitern liegt im Unwillen, anzuerkennen, welche Rolle die Gesellschaft in postkommunistischen Ländern spielt. Im Kreml kann man einfach nicht glauben, dass die Leute Korruption, „ewige“ Regime und Willkür der Sicherheitsbehörden tatsächlich satthaben. Wenn jemand auf die Straße geht, dann kann das nur deshalb sein, weil er von westlichen NGOs oder der CIA bezahlt wurde – so sieht im Großen und Ganzen die Denkweise der russischen Führung aus. „Normale Leute wollen keine Freiheit – sie wollen Stabilität um jeden Preis.“ So lautet im Grunde die Devise der russischen Politik gegenüber den postkommunistischen Transformationsstaaten. Der Kreml projiziert seine eigenen Vorstellungen von der Befindlichkeit der russischen Bevölkerung auf seine Nachbarn, und nicht nur auf die.
    Das ist auch der Grund, warum Moskau aus seiner Niederlage in Armenien keinerlei Schlüsse ziehen wird. Allenfalls werden die 450 Mitarbeiter der Präsidialadministration, Verzeihung, ich meine die 450 Abgeordneten der Staatsduma, angewiesen, mit doppeltem Elan Gesetze zum Kampf gegen all die verschiedenen „Freimaurer“ und „Einflussagenten“ zu verabschieden.

    Am Tag von Sargsjans Rücktritt schrieb Maria Sacharowa, die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, auf Facebook: „Ein Volk, das die Kraft hat, sich in den schwersten Momenten seiner Geschichte nicht zu entzweien und trotz aller grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten die gegenseitige Achtung zu wahren, ist ein großes Volk. Armenien, Russland ist immer bei dir!“

    Übersetzt aus der Sprache des Smolenskaja-Platzes heißt das: „Ihr Undankbaren! Ihr habt unseren Mann gestürzt. Doch so einfach werden wir nicht von euch ablassen.“
     

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