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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Bolotnaja wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen“

    „Bolotnaja wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen“

    Am 6. Mai sind es fünf Jahre, dass der Marsch der Millionen auf dem Bolotnaja-Platz mit heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten endete. Doch Bolotnoje Delo, der Fall Bolotnaja, ist noch nicht vorbei: Aktivisten der sogenannten Bolotnaja-Bewegung, die damals festgenommen wurden, wird bis heute der Prozess gemacht. Diese Verfahren werden von Medien und Gesellschaft kaum beachtet, dabei sind sie nach russischem Recht öffentlich.

    Zum Jahrestag sprach The Village mit Leuten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Prozesse zu besuchen – wie sie zuvor mitunter auch die Prozesse gegen Pussy Riot oder Chodorkowski besucht hatten.

    Foto © Polina Kibaltschitsch
    Foto © Polina Kibaltschitsch

    Polina Kibaltschitsch
    22 Jahre, Kunsthistorikerin
    Hat über 100 Verhandlungen besucht

    Ich habe schon als Kind politische Nachrichten verfolgt und erinnere mich noch gut an Fernsehreportagen über Protestaktionen zum Fall Chodorkowski. In der Schule habe ich die Bücher von Soja Swetowa und Vera Wassiljewa gelesen. Damals wurde mir klar: Du musst zu Gerichtsverhandlungen gehen, wenn du gegen das System bist.

    Zum ersten Mal bin ich im Frühling 2012 zum Gericht gegangen, zum Prozess gegen Pussy Riot, aber da wurde niemand reingelassen, wir mussten draußen bleiben. Im Herbst desselben Jahren war ich dann zum ersten Mal bei einer Verhandlung. Da wurden im Zuge der Bolotnaja-Prozesse vor dem Basmanny-Amtsgericht die Haftstrafen von Artjom Sawjolow und Denis Luzkewitsch verlängert. Ich war am 6. Mai auf dem Bolotnaja-Platz gewesen und hatte gesehen, wie unfair das alles zuging, deswegen beschloss ich, die Leute zu unterstützen.       

    Viele Justizwachtmeister kennen mich bereits. Manche denken, ich bekomme Geld dafür, dass ich zu den Verhandlungen gehe. Ich weiß jetzt alles über Gerichte: die Verfahrensordnung, wie man mit Justizbeamten richtig umgeht, was man mitnehmen darf und was nicht. Wenn die Wachtmeister etwa Flugblätter oder Buttons in einer Tasche entdecken, lassen sie einen nicht hinein. Einmal haben sie bei mir eine stumpfe Nadel gefunden und wollten mich nicht durchlassen, außerdem hatte ich eine Schere dabei, die sie bei der Kontrolle nicht bemerkten. 

    Du musst zu Gerichtsverhandlungen, wenn du gegen das System bist

    Und einmal haben sie vor dem Moskauer Stadtgericht einem Mann ein T-Shirt mit der Aufschrift „Freiheit für Ildar Dadin“ ausgezogen, und er ist mit nacktem Oberkörper in das Gebäude hineingegangen. Wenn dem Wachtmeister nicht gefällt, wie du aussiehst, kommst du nicht in den Saal. 
      
    Die Justizwachtmeister wenden oft körperliche Gewalt an, nach Ende der Sitzung werfen sie die Leute buchstäblich hinaus. Im Basmanny-Gericht haben sie schon mal jemanden die Treppe hinuntergestoßen oder auf die Straße hinaus. Einmal bekam ein Mann dadurch einen Herzinfarkt und musste vom Rettungswagen abgeholt werden.

    In vier Jahren war ich bei über 100 Verhandlungen

    Das System ändert sich nicht von allein, man muss den Staatsapparat austauschen, die Vetternwirtschaft hält ja alles zusammen. Natürlich packt mich manchmal ein Gefühl der Ohnmacht, aber ich gehe weiterhin ins Gericht. Hauptsächlich zu Verhandlungen der Bolotnaja-Prozesse – in vier Jahren war ich bei über 100 davon.

    Zuletzt war ich im Februar bei einer Sitzung im Fall Maxim Panfilow. Zu seiner Unterstützung kamen nur Maxims Verwandte, ich war die einzige, die ihn nicht persönlich kannte – nicht mal Journalisten waren da. Obwohl zu Beginn der Bolotnaja-Prozesse pro Versammlung noch bis zu zehn Freiwillige gekommen waren. 

    Die Leute wollen sich nicht belasten. Wenn sie auf dem Weg ins Café oder ins Kino keinem Polizisten über den Weg laufen, dann denken sie, es sei gar nicht so schlimm mit dem Polizeiregime, alles ok. Aber in Wahrheit liegt alles im Argen, und das sehe ich vor allem bei Gericht.

    Verwandte von Angeklagten sagen, die Anwesenheit von Freiwilligen helfe ihnen sehr, deswegen gehe ich weiter zu Verhandlungen. Mit meiner Gegenwart vor Gericht signalisiere ich dem System, dass die Gesellschaft über die Willkür im Land Bescheid weiß. 


    Foto © Jelena Sacharowa/Facebbok
    Foto © Jelena Sacharowa/Facebbok

    Jelena Sacharowa
    68 Jahre, Konzertmeisterin
    Hat über 70 Verhandlungen besucht

    An meine ersten Verhandlungen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Das war 2013, am Nikulinski-Gericht, der Saal knallvoll. Acht Leute wurden gebracht – darunter Luzkewitsch, Barabanow und Kriwow. Den Prozess leitete eine kalt dreinblickende Richterin namens Nikischina. 

    Plötzlich sackte Kriwow, der zu dem Zeitpunkt seit etwa 40 Tagen im Hungerstreik war, zusammen und sank bewusstlos auf die Bank. Verteidiger Makarow rief sofort nach Ärzten. Die eilten schnell herbei, doch die Richterin verweigerte ihnen den Einlass – die Ärzte verschwanden unverrichteter Dinge. Kriwow kam nicht wieder zu sich, also rief Makarow erneut Rettungsleute. Nikischina wies die Justizwachtmeister an, die Türen zu versperren. Die Sanitäter verstanden nicht, was los war, und bummerten gegen die Tür. Die Situation spitzte sich zu: Vor unseren Augen stirbt ein Mensch, und wir können nichts dagegen tun. 

    Die Hälfte des Saales sprang auf, die Leute fingen an zu schreien, die Justizwachtmeister fischten mich und ein paar weitere Personen aus der Menge und zerrten uns zur Tür raus, einen Mann stießen sie die Treppe hinunter. Nie im Leben hatte ich so eine Angst wie damals. Klar, danach besuchte ich alle Sitzungen zum Bolotnaja-Fall – bis zur Urteilsverkündung. 

    Manche Anwälte fühlen sich wie auf einer Großdemo, andere ziehen eine Ein-Mann-Show ab

    Ich habe solche und solche Anwälte und Verteidiger erlebt. Die einen fühlen sich wie auf einer Großdemo, die anderen ziehen eine Ein-Mann-Show ab. Mein letzter Anwalt war so ein zugeknöpfter Lord: Seiner Meinung nach muss man gezielt durch die erste Instanz, dann Berufung einlegen und dann eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen. 

    Ich wurde 14 Mal festgenommen, meistens wegen Artikel 19.3 („Ungehorsam gegen die behördliche Anordnung eines Polizeibeamten“ – Anm. The Village), aber lange wurde ich nie auf dem Revier behalten. Meistens war das wegen Einzelprotestaktionen gegen den Krieg in der Ukraine, die ich unter anderem mit Ildar Dadin unternommen hatte. Ein paarmal wurde ich von der SERB provoziert, die haben mich sogar mit schwarzer Farbe übergossen. 

    Manche Leute können sich Aktionen nicht erlauben. Zum Beispiel, weil sie ohnehin schon mal durch Zutun der Extremismuszentren ihre Arbeit verloren haben, oder weil ihre Kinder noch klein sind, oder weil sie schon so viele Verwaltungsdelikte haben, dass ihnen das nächste Mal eine strafrechtliche Anzeige droht. Das sind die Leute, die dann zu Verhandlungen gehen. Und mein Mann geht zum Beispiel nur zu großen Demonstrationen, wo es nicht gefährlich ist.    

    Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe

    Ich glaube, die meisten Silowiki waren nicht besonders gut in der Schule und sind dann in der Polizeifachschule gelandet. Denen hat niemand Bücher vorgelesen, vielleicht wurden sie zu Hause sogar geschlagen. Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe. Einmal habe ich in einem Gefängnistransporter einen Polizisten gefragt: „Was würden Sie tun, wenn Sie auf Demonstranten schießen müssten? Die neuen Gesetze erlauben das ja.“ Er sagte: „Ich gehe in zwei Jahren in Rente – ich hoffe, bis dahin bekomme ich keinen solchen Befehl.“
     
    Das Personal der obersten Behörden muss ausgetauscht werden, auch die Richter: Das sind gebrochene Individuen. Als Richter Kaweschnikow das Urteil über Wanja Nepomnjaschtschich verlas (er wurde im Bolotnaja-Fall zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt – Anm. The Village), stand ich im Saal, sah dem Richter in die Augen und stellte ihm in Gedanken die Frage: „Was geht in deinem Kopf vor, wenn du einen völlig unschuldigen Menschen einsperren lässt?“

    Im Januar dieses Jahres war Kaweschnikow mein Richter bei einem Verwaltungsdelikt. Ich kam in einem T-Shirt mit einem Portrait von Nepomnjaschtschich zur Verhandlung und legte ein Foto von ihm in meine Passhülle. Den habe ich Kaweschnikow direkt in die Hand gedrückt – sein Gesicht zeigte null Reaktion. 

    Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein

    Gerichtsanhörungen sind für mich kein Vergnügen, sondern unliebsame Notwendigkeit. Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein. In letzter Zeit „koordiniere“ ich die Angeklagten draußen auf dem Korridor. Nach der Demonstration am 26. März fanden am Twerskoj-Gericht fast jeden Tag Verhandlungen statt. Massen wunderbarer junger Leute kamen herein. Die meisten hatten vor Nawalnys Film noch nie was von Korruption gehört. Sie wurden zum ersten Mal vor Gericht zitiert, kannten sich überhaupt nicht aus, einen Anwalt hatte kaum jemand. Ich fing sie an der Tür ab, fragte: „Sie sind wegen dem 26. hier, haben Sie einen Anwalt, welcher Paragraph?“, und empfahl ihnen einen Verteidiger. 

    Ich glaube, der Bolotnaja-Fall wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen. Irgendwo sitzt jetzt ein ganzer Trupp von Ermittlungsbeamten, die alle Videoaufzeichnungen von der Aktion am 26. März durchsehen und Material für neue Anklagen sammeln.  


    Foto © Natalja Mawlewitsch/Facebook
    Foto © Natalja Mawlewitsch/Facebook

    Natalja Mawlewitsch
    66 Jahre, Übersetzerin
    Hat über 20 Verhandlungen besucht

    Bis 1987 habe ich in der inneren Emigration gelebt, das war die Zeit meines passiven Widerstands gegen das System. Als in den 1990ern eine neue Zeit anbrach, wurde mir bewusst, dass ich das Leben hier verbessern kann: Dieses Land ist meines, die Stadt gehört mir. Mit Putins Machtantritt gab es aber immer weniger Freiheit, und es hat sich gezeigt, dass viele sie auch gar nicht brauchen. Das war eine bittere Erkenntnis, aber ich habe mich nicht in mein Schneckenhaus verkrochen.   

    Zum ersten Mal war ich bei Gericht, als der Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew lief. Die Sitzung fand am Basmanny-Gericht statt, niemand wurde hineingelassen, die protestierende Menge stand auf der Straße. Während dem ersten YUKOS-Prozess hatte ich noch Zweifel, was die Schuld der Angeklagten anging, aber die wurden mit Beginn des zweiten komplett hinfällig. Der Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd.

    Der YUKOS-Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd

    Das bedeutendste Gerichts-Ereignis der letzten Jahre ist natürlich der Bolotnaja-Fall. Mir ist eine Sitzung im Gedächtnis geblieben, bei der es um den geschädigten OMON-Mann German Litwinow ging, dem angeblich in den Finger geschnitten worden war. Litwinow änderte im Laufe des Prozesses seine Meinung: Von ihm hing nämlich das Schicksal von zwölf Menschen ab – und im Endeffekt sagte er, er betrachte sich nicht als Geschädigten, und wechselte in den Zeugenstand. Ich fuhr danach mit ihm im Lift und sagte irgendwas Pathetisches über Ehrlichkeit, und er antwortete: „Ja, ehrlich bin ich, aber wo soll ich jetzt arbeiten?“ Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.    

    Man trifft bei Gericht immer dieselben 20 Leute

    Normalerweise trifft man bei Gericht immer dieselben 20 Leute, die am sechsten jedes Monats Einzelwachen abhalten und auf der Nemzow-Brücke stehen. Es sind wenige, sie haben es schwer, und deshalb macht es mich traurig, dass manche sie „Großstadtirre“ nennen. 

    Früher war die politische Willkür im Land wie eine Straße, auf der immer mal eine Glasscherbe liegt: Wenn du drauftrittst, tut es weh. Aber jetzt ist es, als würdest du auf Schmirgelpapier laufen – der Schmerz ist dumpf und zur Gewohnheit geworden.

    Politische Gerichtsprozesse gibt es mittlerweile so viele, dass ich, würde ich zu allen hingehen, nicht mehr zum Arbeiten kommen würde. Das letzte Mal war ich vor ein paar Jahren bei Gericht, auf einer Verhandlung zum Bolotnaja-Fall. Aber ich verfolge die Prozesse immer noch – und werde auch wieder hingehen.   


    Foto © Karina Starostina/Facebook
    Foto © Karina Starostina/Facebook

    Karina Starostina
    52 Jahre, Bibliothekarin
    hat über 40 Sitzungen besucht

    Ich habe mein Leben lang in der Gebrüder-Grimm-Kinderbibliothek gearbeitet. Meine Vorgesetzten wussten immer, dass ich politisch aktiv bin, und verbaten während meiner Arbeitszeit Gespräche über Politik. Trotzdem ließen sie mich in Ruhe – ich war eine hochgeschätzte Mitarbeiterin, in bibliothekarischen Kreisen bekannt. Jetzt werde ich woanders arbeiten. Wie es dort wird, weiß ich nicht. Für alle Fälle habe ich in sozialen Netzwerken meinen Nachnamen geändert.  

    Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Zu Prozessen von Nationalisten gehe ich nicht

    Meine erste Bolotnaja-Verhandlung war die gegen Mischa Kossenko vor dem Samoskworezki-Gericht am 8. Oktober 2013 – der wurde damals für unzurechnungsfähig erklärt. An sich bin ich feige, aber an diesem Tag waren die Umstände günstig: Ich hatte früher Feierabend, und außerdem interessiere ich mich für Psychiatrie. Ich wurde damals nicht in den Saal gelassen und stand im Endeffekt mit einer Gruppe von Unterstützern im Hof.

    Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig

    Ich habe eine ganz einfache Motivation: Die Leute des Bolotnaja-Falls haben für uns alle gesessen. Deswegen muss, wer kann, zu diesen Prozessen gehen. Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Viele Liberale gehen auch zu Prozessen von Nationalisten. Ich gehe da nicht hin.

    Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig. Wobei es unmöglich ist, den Ausgang eines Falles vorherzusagen, egal, was rundherum passiert und wie gut die Anwälte sind. 

    Ich gehe kein Risiko ein, gebe acht, nicht im Polizeitransporter zu landen. Ich wurde viermal festgenommen, aber es wurde nie ein Protokoll aufgenommen. Meistens war das bei Mahnwachen auf der Nemzow-Brücke.    

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  • Junge Talente

    Seit einigen Jahren entstehen vermehrt patriotische Jugendbewegungen, die sich selbst als unabhängig bezeichnen: Sie treten als städtische Sittenwächter auf, die Videoclips von ihren Aktionen werden auf Youtube hunderttausendfach angeklickt. Kirill Rukow und Iwan Tschesnokow haben für „Yod“ einen Blick hinter die Kulissen geworfen. Was haben diese neuen Initiativen mit den ehemals so mächtigen „Unsrigen“ zu tun? Wie sind sie organisiert, wie werden sie finanziert?

    Die Bewegung Lew protiw, was auf Deutsch so viel heißt wie Der Löwe ist dagegen, ist wenig älter als ein Jahr. Von Anfang an werden der Gruppe Verbindungen zu den Aktivisten von StopCHAM (Stoppt ROWDYS), zu der kremlnahen Bewegung Naschi (Die Unsrigen) sowie eine heimlich, still und leise Aneignung von Haushaltsgeldern nachgesagt. Yod bringt ans Licht, warum an den Verdächtigungen manches dran ist und die letzte Naschi-Generation bis heute nichtöffentliche, aber intakte Strukturen bewahrt hat.

    Am Freitag, den 3. Juli [2015 – dek] traf eine junge Moskauerin mit dem Spitznamen Sister ihre Punk-Freunde auf dem Bolotnaja-Platz, sagte Hallo und schlenderte mit einer Flasche in der Hand weiter durch die Parkanlage. Gegen 19 Uhr gingen mehrere Aktivisten der Bewegung Lew protiw zu ihr hin. „Leider konsumieren Sie alkoholische Getränke an einem öffentlichen Platz. Wir fordern Sie hiermit auf, diese zu entsorgen“, sagten die Aktivisten, wobei sie die junge Frau mit einer Kamera filmten. Sister weigerte sich, doch die engagierten Bürger ließen nicht locker. Die leicht angetrunkene Moskauerin begann, zusammen mit ihren Freundinnen lautstark zu protestieren: „Kamera weg und die Aufnahme löschen, sofort!“, schrie sie und versuchte, das Gerät an sich zu nehmen. Es kam zu einem Handgemenge; vier junge Männer rangen die junge Frau zu Boden, schlugen auf sie ein, einer von ihnen schlug Sister mehrmals ins Gesicht. Jemand rief die Polizei. Die diensthabenden Polizisten nahmen die junge Frau und die Hälfte der Aktivisten fest, darunter auch den Lew protiw-Gründer Michail Lasutin. So berichteten zwei Augenzeugen: eine Freundin von Sister, die sich Shadow nennt, und jemand namens Alexander Lustenko. Nach dem Vorfall erhob sich in den sozialen Netzwerken eine regelrechte Welle der Empörung gegen Lew protiw. Die Menschen beschuldigten die Löwen, sie würden für Geld arbeiten, das Ganze sei ein PR-Projekt, sie seien genau solche wie die [Verkehrssünder-Jäger – dek] von StopCHAM; sie seien allesamt Naschisten.

    Diese Beschuldigungen sind durchaus nicht aus der Luft gegriffen – Lew protiw und StopCHAM verbindet dieselbe Führung, dieselbe Finanzierung über Präsidenten-Stipendien, die über ein Wettbewerbs- und Ausschreibungsverfahren vergeben werden. Hinter beiden Projekten verbergen sich eine Wohnung und vier Männer: Roman Schwyrjow, Alexander Smirnow, Denis Toloknow und Dimitri Alenin – ehemalige [sogenannte] Kommissare und Mitglieder der Naschi-Bewegung.

    Die Unsrigen – wie sie wuchsen

    Die Jugendbewegung Naschi wurde im Frühjahr 2005 von der Präsidialadministration ins Leben gerufen, um einer „russischen orangenen Revolution“ entgegenzuwirken. Geleitet wurde das Projekt von Wassili Jakemenko, der bis dahin an der Spitze der Bewegung Iduschtschije wmeste (Die zusammen Gehenden) gestanden und in der Präsidialadministration die Abteilung für die Beziehungen zu gesellschaftlichen Organisationen geleitet hatte; Wladislaw Surkow, damals stellvertretender Chef der Kremladministration, wirkte als Kurator. Naschi setzte sich zusammen aus gewöhnlichen Mitgliedern, Kommissaren und dem Föderalen Kommissariat, das formal die Führung der gesamten Organisation darstellte. Die ganze Bewegung war in einzelne Projekte zergliedert, von denen jedes über ein eigenes Logo, eine eigene Fahne und eine eigene Struktur verfügte, beispielsweise die Dwishenije Stal (Bewegung Stahl) oder die Partei Umnaja Rossija (Kluges Russland).

    Zu ihren Zielen erklärten Naschi den Kampf „gegen faschistische Organisationen und die mit ihnen sympathisierenden Liberalen, Bürokraten und Oligarchen“ sowie die Unterstützung des politischen Kurses von Wladimir Putin. Berühmtheit erlangte die Organisation, deren Mitglieder ein anonymer Beamter aus der Präsidialverwaltung einmal [Putins – dek] „Jubelbande“ genannt hatte, dann allerdings dadurch, dass sie Hetzjagden auf den britischen Botschafter Anthony Brenton und den Journalisten Alexander Podrabinek veranstalteten, dass sie auf Porträts von Bürgerrechtlern herumtrampelten und dem Politiker Michail Kassjanow eine Harke vor die Autoräder warfen, und durch das Aufsehen erregende Seliger-Forum, das von 2005 bis 2014 alljährlich im Gebiet Twer stattfand. Bis 2008 war das Camp die Trainingsbasis für die Schulung der späteren Kommissare. Ab dem darauffolgenden Sommer wurde das Forum für die gesamte Jugend geöffnet, die Zahl der Teilnehmer betrug bis zu 50.000. Wladimir Putin war mehrfach zu Besuch im Seliger-Camp.

    Nach Angaben der russischen Tageszeitung Vedomosti erhielt die eigentliche Naschi-Organisation in den Jahren 2007–2010 über Staatsaufträge und in Form von Fördergeldern mehr als 26 Millionen Rubel [390.000 EUR]. Organisationen, an deren Gründung ehemalige Naschi-Führer beteiligt waren, erhielten noch einmal 441 Millionen Rubel [6.615.000 EUR]. Außerdem bekamen Naschi 347 Millionen Rubel [5.205.000 EUR] über Staatsaufträge, die mit der staatlichen Jugendagentur Rosmolodjosh abgeschlossen wurden. Auch private Gelder flossen für die Jugendorganisation: 2010 stiftete der Geschäftsmann Michail Prochorow 45 Millionen Rubel [675.000 EUR] für das Seliger-Camp. Außerdem traten große westliche Firmen als Partner und Sponsoren des Forums auf, Mercedes-Benz etwa spendierte 2010 drei Fahrzeuge für Fahrten wichtiger Gäste, Intel stellte im gleichen Jahr die Computer-Ausstattung für die Seliger-Teilnehmer.

    2008 wurde Jakemenko Leiter der staatlichen Jugendagentur Rosmolodjosh. Seinen Platz bei Naschi nahm Nikita Borowikow ein. Das bedeutete für die Organisation eine grundlegende Umstrukturierung: Sie wurde in autonome Projekte aufgeteilt, Einfluss und Finanzierung wurden stark reduziert. 2012 verlor die Bewegung zwei ihrer wichtigsten Fürsprecher – Wassili Jakemenko verließ Rosmolodjosh und Wladislaw Surkow die Präsidialverwaltung. Im Folgejahr wurde Naschi offiziell für nicht mehr existent erklärt, und die verwaisten Aktivisten wechselten angeblich von der Politik ins Soziale.

    Tessak plus Baptist gleich Löwe

    Im August ist der Lew protiw-Gründer Michail Lasutin 20 Jahre alt geworden. Er sei ein phantasievolles Kind gewesen, habe gern Fußball gespielt, erzählt seine Mutter Natalja. „Mein Mischulja hatte schon immer einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und nie irgendwelche schlechten Angewohnheiten.“ Nach der Schule besuchte er die Moskauer Fachschule für Städtebau, Transport und Technik Nr. 41, die er im Juni dieses Jahres abschloss.

    Foto © Andrej Machonin. Streifzug von Lew protiw auf dem Bolotnaja-Platz
    Foto © Andrej Machonin. Streifzug von Lew protiw auf dem Bolotnaja-Platz

    Sein Anti-Raucher-Engagement habe vor etwas mehr als einem Jahr begonnen, erzählt Lasutin: Er habe an einer Haltestelle gestanden, neben ihm eine ältere Frau und ein Mann, der eine Zigarette rauchte. Da habe er spontan die Handykamera eingeschaltet und zu dem Mann gesagt, er dürfe in der Öffentlichkeit nicht rauchen. An jenem Tag fasste Lasutin den Entschluss, eine Bewegung gegen widerrechtliches Rauchen ins Leben zu rufen, und nannte sie Der Löwe ist dagegen. Gesellschaftlich engagiert war Michail Lasutin aber auch früher schon. Leicht findet man im Internet Videoclips des Projekts Lew protiw pedofilow, zu deutsch Der Löwe [ist] gegen Pädophile, in denen Lasutin auftritt wie der Occupy Pädophilie-Gründer Maxim Marzinkewitsch alias Tessak (das Beil). Angeblich ködert er dort Pädophile und macht dann Jagd auf sie. Er unterzieht seine Opfer drastischen Verhören, erniedrigt und demütigt sie, schlägt ihnen ins Gesicht, beschmiert das Gesicht mit Permanentmarker, und am Schluss des Videos hält er unbedingt den gekrümmten Daumen hoch: Tessaks Markenzeichen. Doch die Tatsache, dass Tessak-Marzinkewitsch derzeit bereits seine dritte Haftstrafe absitzt, hat Lasutin wohl veranlasst, sein Interesse von den Pädophilen auf die Raucher zu verlagern.

    Die zweite Schlüsselfigur in der Löwen-Mannschaft ist Leonid Lebed. Im Interview mit Yod bezeichnete er sich als „einen der markantesten Aktivisten des Projekts“. Leonid ist genauso alt wie Lasutin. Derzeit macht er eine Ausbildung zum Flugzeugtechniker. Wie ein Bekannter von ihm Yod berichtete, hatte Lebed seit dem Alter von acht Jahren die Mytischtschinski-Kirche der evangelischen Baptisten besucht, hatte jedoch aufgehört zu den Gottesdiensten zu gehen, als er 2014 bei Lew protiw eingestieg.

    Produktive Zusammenarbeit

    „Falls Ihnen das nicht klar sein sollte: Mischa [Michail Lasutin] war von Beginn an bei uns aktiv“, erzählt Dimitri Tschugunow, Gründer der Gruppe StopCHAM und Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Wann Lasutin zu ihnen stieß, kann Tschugunow nicht sagen, er sei nicht für die Organisation der Streifzüge zuständig, sondern gebe lediglich „ideologischen Input“, erklärt er.

    Die Streifzüge von Lew protiw und StopCHAM seien ganz ähnlich organisiert, erzählt Tschugunow. Lasutin habe das funktionierende Modell übernommen und für den Kampf gegen das Rauchen entsprechend angepasst; die StopCham-Aktivisten nähmen an den Aktionen von Lew protiw teil und umgekehrt; beide Projekte hätten ähnliche Videoclips. Wenn Lasutin oder seine Mitstreiter festgenommen werden, hilft Tschugunow, die Situation zu klären: „Wenn so etwas passiert und ich sehe, dass ich ein Video mit einer unrechtmäßigen Verhaftung vor mir habe, dann fahre ich dorthin und spreche als Mitglied der Gesellschaftskammer mit den Mitarbeitern der Polizei, ich finde heraus, auf welcher Grundlage sie den Betreffenden festgenommen haben und wie sie ihr Vorgehen begründen.“

    Tschugunow bestreitet nicht, dass StopCHAM präsidentielle Fördermittel erhält. „Das Geld wird für ein ganzes Jahr und für die gesamte Struktur vergeben. So können wir die Kosten für Verbrauchsmaterialien so gering wie möglich halten, das betrifft zum Beispiel die Postkarten (die wir in großer Stückzahl drucken) und die ständig kaputt gehenden Kameras, außerdem Fahrt-und Verpflegungskosten. Die Leute sollen nicht aus eigener Tasche draufzahlen, damit die sie sich nicht ausgenutzt fühlen oder so. Einen Teil des Geldes verteilen wir auch auf die Regionen“, erläutert Tschugunow. Ein Einkommen würde bei StopCHAM keiner bekommen, betont er, die Aktivisten schlössen sich der Bewegung der Idee und nicht des Geldes wegen an. Einnahmen erziele das Projekt außerdem durch die Monetarisierung von Youtube-Videos (in Videoclips mit einer hohen Zahl von Klicks wird Werbung geschaltet): „So können wir Profis beschäftigen oder zumindest zeitweise unter Vertrag nehmen, die qualitativ hochwertige Videoclips anfertigen. Es geht zum einen um die Montage, das ist klar, dann aber auch um SMM (Social Media Marketing) und die Verwaltung der Gruppen, von denen es irrsinnig viele gibt“, sagt er.

    Das mit der Youtube-Monetarisierung mache auch Lew protiw so, erzählt StopCHAM-Gründer Tschugunow. Doch die Einnahmen durch die Werbung seien gering, versichert er. Lebed pflichtet ihm ironisch bei: „[Unsere Werbeeinnahmen] sind höher als das Existenzminimum in Russland, aber niedriger als der Durchschnittslohn in Chile“ (wobei laut [dem Youtube-Statistik-Portal] Social Blade die monatlichen Einnahmen von Lew protiw bis zu 18.000 Dollar betragen könnten).

    Transparente Fördergelder

    Am 1. Juli 2015 erhielt eine gewisse autonome nichtkommerzielle Organisation namens Molodoj Talant (Junges Talent) für das Projekt Lew protiw präsidentielle Fördergelder in Höhe von 7.002.000 Rubel [105.030 EUR]. Gründer von Molodoj Talant sind laut Handelsregister: Dimitri Alenin, Alexander Smirnow, Denis Toloknow und Roman Schwyrjow. In offenen Quellen finden sich wenig Informationen zu ihrer Aktivistenvergangenheit, aber mit Sicherheit bekannt ist, dass alle vier Naschi-Kommissare waren.  

    Das Ausschreibungsverfahren für die Verteilung von Präsidenten-Grants existiert in dieser Form seit 2006. Bestimmt werden die Organisationen direkt durch einen Erlass des Präsidenten – die Undurchsichtigkeit dieser Auswahlphase fand sogar im letzten Bericht von Transparency International Erwähnung. Wie der Leiter des Russischen Jugendverbands (RSM) Pawel Krasnoruzki erklärt, müssen diejenigen, die sich um das „Präsidentengeld“ bewerben, zunächst bei einem konkreten Operator ihr Interesse anmelden, danach werden die Anträge innerhalb der Organisation etappenweise ausgesiebt: Im RSM wird die Einschätzung der Projekte durch einen Expertenrat vorgenommen. „Meist sind das habilitierte Wissenschaftler und Professoren aus den Bereichen, in denen ein bestimmter Wettbewerb stattfindet. Deren Identität geben wir nicht preis, wie Sie sicher verstehen, denn das würde sie enormem Druck aussetzen“, erläutert Krasnoruzki. „Zugänglich sind die Namen der Mitglieder der Wettbewerbskommission der nächste Etappe, die die endgültige Entscheidung trifft.“

    Die „Kommissarswohnung“

    Wie alle Firmen, die an irgendwelchen Ausschreibungen teilnehmen, müssen auch nichtkommerzielle Organisationen eine juristische Meldeadresse angeben. Für die autonome nichtkommerzielle Organisation Molodoj Talant (Junges Talent), die 2015 das Projekt Lew protiw vorgestellt hat, lautet diese Adresse: Ljuberzy, Oktjabrski prospekt 8, Korpus 3, Wohnung 48. Vor sieben Jahren, direkt nachdem Jakemenko zu Rosmolodjosh gewechselt war (es ist kein Geheimnis, dass er selbst aus Ljuberzy stammt), waren unter dieser Adresse innerhalb einer Woche noch drei weitere nichtkommerzielle Organisationen registriert worden, nämlich Mnogonazionalnaja strana (Multinationales Land), Sdorowoje pokolenije (Gesunde Generation) und Schag nawstretschu (Schritt aufeinander zu). Ihre Gründer sind eben jene Kommissare: Schwyrjow, Alenin, Tolokonow und Smirnow, wobei immer jeweils einer der vier den Posten des Direktors einnimmt. Über die Organisationen dieser Leute wurden also in der Folge mehrere Dutzend kremlnahe Projekte finanziert, die sich öffentlich für eigenständig erklärten.

    2010 war es noch Jakemenko, der für Rosmolodjosh die Finanzierung der „Kommissarsgemeinschaft“ regelte, doch die enormen Beträge riefen damals heftige Medienreaktionen hervor. Laut der Tageszeitung Vedomosti bekam die Organisation Gesunde Generation aus der Wohnung in Ljuberzy (diesmal trat Schwyrjow als Direktor auf) von Rosmolodjosh drei Staatsaufträge über einen Gesamtbetrag von 60,2 Millionen Rubel [903.000 EUR]. Die Tatsache, dass die Projekte der Naschisten mehr als die Hälfte aller Aufträge der staatlichen Jugendagentur erhielten, erklärte [die Rosmolodjosh- und frühere Naschi-Pressesprecherin Kristina] Potuptschik damals mit der „einzigartigen Kompetenz“ ihrer Mitglieder sowie der „Einzigartigkeit der Vorhaben“. Das Thema wurde schnell unter den Teppich gekehrt.

    Das Ljuberzyer Vierergespann und die unter ihrer Kontrolle stehenden nichtkommerziellen Organisationen haben in zweieinhalb Jahren 63,4 Millionen Rubel [905.000 EUR] erhalten. Das letzte Mal war es den Unterlagen zufolge Alenin, der im Februar 2015 in Erscheinung trat, als er in der entsprechenden Abteilung des Justizministeriums für das Moskauer Gebiet eine „Erklärung über die weitere Tätigkeit“ von Molodoj Talant unterzeichnete und damit bescheinigte, die Organisation erhalte keinerlei Gelder von ausländischen Organisationen. Wenn man aber Lebed und Tschugunow glaubt, denen zufolge das Molodoj Talant-Projekt Lew protiw durch die auf Youtube geschaltete Werbung tatsächlich Geld einnimmt, können die von ausländischen Werbekunden pro hunderttausend Views gezahlten Beträge formal auch bei Molodoj Talant gelandet sein.

    Zu der Adresse der „kommissarischen Viererbande“ in Ljuberzy gehört eine Telefonnummer, die in jedem Telefonbuch zu finden ist. „Was heißt junge Talente? Wir sind ganz normale Leute und wohnen hier“, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung. Auf die Frage, ob sie von einer Organisation dieses Namens schon einmal gehört habe, erwidert die Frau: „Kann sein, ja. Ein Freund meines Sohnes wollte irgendwo unsere Nummer angeben.“ Ihr Nachname sei Toloknowa, Denis Toloknow sei ihr Sohn, und der sei mit Dima (Alenin) seit Kindertagen befreundet: „Früher hat der Dima ja auch hier im Haus gewohnt, aber jetzt nicht mehr, der ist weggezogen.“


    Lew protiw – Der Löwe ist dagegen
    nichtkommerzielle Organisation, föderales Projekt
    Lew protiw ist eine russlandweite Bewegung, die gegen das Rauchen und den Konsum von Alkohol an öffentlichen Plätzen eintritt. Die Aktivisten der Bewegung gehen auf Streifzüge, bei denen sie rauchende Personen auffordern, ihre Zigaretten auszumachen und sich in speziell für das Rauchen ausgewiesene Zonen zu begeben, Alkoholkonsumenten werden gebeten, den Alkohol wegzupacken. Wenn jemand sich weigert, das Rauchen einzustellen, löschen die Teilnehmer der Bewegung die Zigaretten mit Wasser aus einer Sprühflasche. Alle Streifzüge werden mit einer Videokamera festgehalten, anschließend werden die montierten Clips auf Youtube hochgeladen. Lew protiw hat Zweigstellen in verschiedenen Regionen (z. B. in St. Petersburg, Woronesh, Rostow am Don) sowie in der Ukraine und Belarus – insgesamt ca. fünfzig. Bei vKontakte [dem russischen facebook – dek] haben sie 250.000 Follower. Obwohl die Aktivisten angeben, das Projekt sei nicht mit Politik, Religion o. ä. verbunden, beginnt einer der neuesten Clips von Lew protiw mit einer Jesus-Christus-Ikone und den Worten: „Gott gab uns das Leben …“
    StopCHAM – Stoppt ROWDYS
    nichtkommerzielle Organisation
    StopCHAM ist eine nichtkommerzielle Organisation, die im Jahr 2010 als eines der föderalen Programme der Jugendbewegung Naschi unter der Leitung von Dimitri Tschugunow, eines Komissars der Bewegung, gegründet wurde. Die nichtkommerzielle Organisation positioniert sich als russlandweites Projekt, das gegen Rowdytum und Verstöße von Autofahrern gegen die geltende Verkehrsordnung eintritt. Zweigstellen der Bewegung finden sich in den russischen Regionen (die größten in St. Petersburg, Petrosawodsk, Nowosibirsk und Rostow am Don) sowie in anderen GUS-Staaten wie der Ukraine und Belarus – insgesamt mehr als vierzig.
    2013 erhielt das Projekt aus präsidentiellen Förderprogrammen 5 Mio Rubel [75.000 EUR], im Jahr 2014 dann 6 Mio Rubel  [90.000 EUR] und in diesem Jahr [2015] 8 Mio. [120.000 EUR] Die Organisation ist berühmt für laute Skandale.
    Die heftigste Resonanz erfuhr eine Aktion im Frühjahr 2012, als die Gattin des Vizechefs der tschetschenischen Vertretung beim Präsidenten der Russischen Föderation Tamerlan Mingajew am Einkaufszentrum Jewropejski (Europäisch) falsch parkte. Die Auseinandersetzung endete in einer Schlägerei, während der die Gattin des diplomatischen Vertreters Madina Mingajewa und ihr Sohn versuchten, die Kameramänner dazu zu bringen die Videoaufzeichnung zu löschen, und den Aktivisten mit Rache drohten. Im Endeffekt entließ der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow den Vertreter Tamerlan Mingajew aus dem Amt.
    Ein anderer heftiger Skandal betraf den organisierten Abriss von Garagen im Timirjasew Bezirk in Moskau im August 2014. Damals traten Tschugunow und andere StopCHAM-Aktivisten zum Schutz der Eigentümer der Garagen ein und wurden von Unbekannten zusammengeschlagen. Tschugunow kam ins Krankenhaus.
    Im Februar 2015 wurden auf einem der vielen Streifzüge in Petersburg Aktivisten von Unbekannten brutal zusammengeschlagen. Ein Strafverfahren wurde eingeleitet, die Schuldigen wurden bis heute nicht gefunden. Im Frühjahr desselben Jahres schlugen Polizisten aus Chabarowsk dortige StopCHAM- Aktivisten zusammen, weil sie einen Aufkleber auf ein Polizeiauto klebten.

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