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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden“

    „Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden“

    „Es gibt keine Freiheit, wenn man nicht täglich für sie kämpft“ skandieren Pussy Riot auf ihrer Europa-Tournee Riot Days. Es ist eine Art Punk-Performance, immer wieder wenden sich Pussy Riot darin gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, fordern ein Öl- und Gasembargo, alles untermauert von dokumentarischen Bildern und wummernden Elektrobeats.

    Die Tour, die am 9. Juni in Lissabon endet, begann am 12. Mai in Berlin. Erst kurz zuvor war Maria Aljochina eine spektakuläre Flucht aus Russland gelungen. Seit September 2021 war sie unter Hausarrest, der in 21 Tage Haft in einer Strafkolonie umgewandelt werden sollte. Sie habe sich als Essenslieferantin verkleidet, erzählte Aljochina mehreren Medien, so sei sie entkommen trotz Polizeibewachung. Über Belarus sei sie in die EU geflohen, allein um von dort über die Grenze weiter nach Litauen zu kommen, habe sie drei Versuche gebraucht. Als Grund für die Flucht nennt sie in verschiedenen Gesprächen vor allem die Tournee, die sie unbedingt habe machen wollen, um gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu protestieren.

    Es sind nicht nur Aktivisten wie Aljochina, sondern auch Journalisten, Menschenrechtler, aber auch IT-Experten, die Russland seit dem 24. Februar 2022 in Scharen verlassen haben. Doch nicht erst seit der russischen Invasion in die Ukraine werden unabhängige Akteure unterdrückt, die ohnehin autoritäre Entwicklung wurde über mehrere Jahre immer repressiver. Erste starke Einschnitte gab es nach den Bolotnaja Protesten 2011/12, massiv verschärfte sich das Vorgehen des Staates außerdem nochmal im vergangenen Jahr nach den Solidaritätsprotesten für Alexej Nawalny: „Wer nicht Freund ist, ist Feind“, konstatierte damals die Politikanalystin Tatjana Stanowaja. Im Zusammenhang mit diesen Protesten war Aljochina im September 2021 zu einem Jahr Hausarrest verurteilt worden, angeblich habe sie gegen „Hygienevorschriften“ verstoßen. Die Menschenrechtsorganisation Memorial erkannte Aljochina daraufhin als politische Gefangene an. 

    Drei Monate vor der russischen Invasion in der Ukraine hat Maria Aljochina ein Interview gegeben für die YouTube-Sendung Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa). Mit der Journalistin Katerina Gordejewa, die bekannt ist für ihre tiefen und sehr persönlichen Interviews, sprach sie über ihren Weg als Aktivistin, über Zweifel, Schweigen und Angst – und darüber, wie sie selbst mit diesen Gefühlen umgeht. Das Gespräch ist auch eindrucksvolles Dokument des repressiven Systems in Russland kurz vor dem Angriffskrieg gegen die Ukraine.

    Über das Zweifeln

    Katerina Gordejewa: Stimmt es, dass du bis zu dem Morgen der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale gezweifelt hast, ob du mitgehen sollst?
    Maria Aljochina:
    Ja, zweifeln kann ich gut. Ich denke, ich brauchte einfach jemanden, mit dem ich alles durchsprechen konnte, um mir im Laufe des Gesprächs über einige Dinge klar zu werden. Nicht nur, ob es richtig war, sondern insgesamt über die Ausdruckform dessen, was ich tue.

    Du hast mit deiner Freundin, der Bassistin, gesprochen, und bist am Ende mitgegangen und sie nicht. Hätte sie mitgehen sollen? 
    Ja, das hätte sie, sie hatte mit uns geprobt.

    Aber sie ist nicht mitgegangen.
    Nein, ist sie nicht.

    Und du schon.
    Ich schon.

    Wenn wir jetzt zurückspulen würden, würdest du wieder mitgehen?
    Natürlich würde ich wieder mitgehen! Du meinst wegen …

    … wegen der Konsequenzen. War es das wert?
    Was ist „es“?

    Na, der Auftritt … die vierzig Sekunden Song, das Video. 
    Wir hätten uns besser vorbereiten sollen.

    Und fast zwei Jahre Gefängnis. War es das wert?
    Ja. Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können. Auch beim Absitzen, im Gefängnis und danach, es gibt immer etwas, das man besser machen könnte. Manches hätte man besser bleiben lassen. Aber sicher nicht unsere Aktion.

    Hättest du je gedacht, dass du dort im Westen reich und berühmt werden würdest, während du hier im Hausarrest auf einem Balkon mit Blümchen hockst und auf einen schick renovierten Spielplatz starrst?
    Ich bin ja nicht nur im Hausarrest … Ich war ja davor noch im Gefängnis. Das alles ist eine Art Zeugnis, ein lebendiges Zeugnis dessen, was hier vor sich geht. 

    Wofür hast du den Hausarrest bekommen?
    Das war ein Strafverfahren wegen eines Instagram-Posts mit dem Aufruf zu einer Solidaritätsdemo für Politgefangene, einer davon Alexej Nawalny. [Der offizielle Vorwurf lautet, dass Maria Aljochina gegen die Corona-bedingten Hygieneregeln verstoßen habe. Im September 2021 wurde sie deswegen zu einem Jahr Hausarrest verurteilt – dek]

    Welchen Status hast du gerade?
    Ich bin verurteilt.

    Derzeit bist du das einzige bekannte Mitglied von Pussy Riot, das in Russland geblieben ist, und eine der wenigen Angeklagten in den Hygieneprozessen, die nicht ausgereist sind. Warum bleibst du in Russland?
    Ich bleibe und ich lebe in Russland, weil es meine Heimat ist. Es ist meins. Eigentlich könnte man diesen tollen kleinen Zeitabschnitt zwischen Urteilsverkündung und Berufungsverfahren dafür nutzen, um abzuhauen. 

    Ich bereue nichts. Es gibt immer Momente, in denen man etwas hätte besser machen können

    Aber das ist ein One-Way-Ticket. Das brauche ich nicht. Ich mag Tickets wirklich sehr, ich liebe es zu fliegen, ich steh voll auf Reisen, aber bitte in beide Richtungen. 
    Ich möchte nicht, dass mir jemand einen Arschtritt gibt und sagt: „Hau ab“. Sollen die doch selbst abhauen. [Im Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen, s.o. – dek]
     

    Vom Öko-Aktivismus zu Pussy Riot

    Wie warst du als Kind?
    Schwierig. Ich glaube, ich habe erst jetzt, im Hausarrest, bei dem ich sehr viel mit meiner Familie gesprochen habe, verstanden, wie schwer sie es eigentlich mit mir hatten.

    Deine Großmutter hat dich „der Geist des Widerstands“ genannt. Ab welchem Zeitpunkt würdest du über dich sagen, dass du alles anders gemacht hast als andere Kinder?
    Naja, ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt und … mich geweigert, etwas zu tun, solange man mir keinen Grund dafür genannt hat. 

    Wie hast du dich damals selbst gesehen?
    Ich hatte mich damals verliebt und fuhr mit dem netten Kerl per Anhalter ins Naturschutzgebiet Utrisch. Eine unvergleichliche Gegend im Süden Russlands. Wacholder- und Pistazienwälder, in denen verschiedenste Leute leben, alle möglichen Hippies, aber nicht nur Hippies. Dort haben wir eine Zeitlang gelebt, dann sind wir zurückgekommen, haben gearbeitet, irgendwann habe ich gemerkt, dass ich schwanger bin und [wusste, dass ich] das Kind behalten möchte. Ich habe ja sehr früh ein Kind bekommen, mit 18 beziehungsweise 19. 

    Ich habe nicht „alles anders als andere Kinder“ gemacht. Ich glaube, ich habe einfach viele Fragen gestellt

    Die ersten Jahre war ich mit Philipp zu Hause, dann wurde es mir zu langweilig. Mit einem Kleinkind konnte ich mich für kein Präsenzstudium einschreiben, und ich habe nur zwei Orte in Moskau gefunden, wo man ein Fernstudium machen konnte. Irgendwann in der Mitte des Studiums habe ich im Internet gelesen, dass der Wald abgeholzt werden soll. Um da irgendeine Villa oder Datscha zu bauen. Ich habe mir zwei Adressen von Umweltschutzverbänden rausgeschrieben, WWF und Greenpeace, meinen Rucksack gepackt und bin losgefahren, um zu fragen, was ich tun kann, um das zu verhindern. 

    Bei einer Adresse hat man mich zum Teufel gejagt, bei der anderen habe ich einen tollen Menschen kennengelernt, Mischa Kreindlin, den Zuständigen für Naturschutzgebiete bei Greenpeace. Ich habe ihn gefragt, was ich tun kann. Er sagte: „Geh Unterschriften sammeln. Ich drucke dir die Formulare aus. Wenn du 5000 zusammen hast, kommst du wieder.“ Ich habe mir ein paar Leute als Verstärkung geholt und wir sind los, Unterschriften sammeln.

    Als wir damit fertig waren, habe ich gefragt: „Was kann ich noch machen?“ Es hieß: „Du kannst ein Piket machen.“ Damals durfte man noch diese Einzeldemos machen. Heute sperren sie dich wegen einem Einzelpiket für 30 Tage weg, aber damals war das noch ok.

    Zwischen „damals“ und „heute“ liegen gerade mal 15 Jahre.
    Ja. Und zwischen 2012 und 2021 liegen keine zehn, aber der Unterschied ist gigantisch. 

    Vom Öko-Aktivismus zu dem Pussy Riot-Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale ist es ein ziemlich weiter Weg.
    Wieso? Überhaupt nicht. Eine Freundin hat mich zu Pussy Riot gebracht, was damals noch die Gruppe Woina war. Sie haben mich in eine Garage eingeladen, in der sie zu der Zeit wohnten, das war so eine romantische WG der Leute von der Philosophischen Fakultät. 

    Bei Pussy Riot sah ich plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise

    Weißt du, meine Freunde, also die Leute von der Uni oder aus Lyrikgruppen, hatten so gar nichts mit den Leuten gemeinsam, die zum Beispiel zu den Pikets kamen. Das waren zwei unterschiedliche Welten, ohne jegliche Berührungspunkte. 
    Und hier sah ich jetzt plötzlich Leute, die Kunst und Politik miteinander verbanden, und das auf eine sehr coole Weise.


    ÜBER DIE REUE

    Stimmt es, dass man während der Ermittlungen [nach der Aktion in der Christ-Erlöser-Kathedrale 2011] von euch verlangt hat, Namen und Adressen der anderen Pussy Riot-Mitglieder zu nennen und ihr es nicht getan habt?
    Sie haben erst Nadja [Tolokonnikowa] und mich verhaftet, Katja [Samuzewitsch] ist später von selbst gekommen. Aus Solidarität. Der Schritt ging von ihr aus. 

    Und die anderen sind nicht gekommen.
    Nein. Aber jeder entscheidet selbst, ob er ins Gefängnis wandern will …

    Hat man von euch verlangt, die Namen der anderen zu nennen?
    Irgendwie schon … Was sie natürlich immer verlangen, alle Bullen, immer und überall, seit zig Jahrzehnten, ist ein Schuldeingeständnis. Das ist das Wichtigste.

    Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam

    Erst bringen sie dich in die Petrowka, danach erlassen sie einen Haftbefehl und bringen dich ins Untersuchungsgefängnis. Und wir sind in den Hungerstreik getreten, es war kalt. Von den Bettlaken bekam man dauernd einen kleinen Schlag. Dort gab es zum ersten Mal Handschellen, Gesicht zur Wand, Hände hintern Rücken, dunkle Zelle. Theoretisch gibt es natürlich ein Fenster, aber es ist völlig dicht durch diese Wimpern aus Metall. Tja, also all diese unerfreulichen Dinge. 

    Was sind Wimpern?
    Wimpern? Wie soll ich dir das erklären? Stell dir ein Fenster vor: Du hast den äußeren und den inneren Teil, außen sind solche … so eine Art Jalousien angebracht, starr sind die, aus Metall und immer geschlossen. Das sind Wimpern. 

    Was für eine nette Bezeichnung.
    Ja. Da gibt es viele nette Dinge. Dann kommt ein Polizist und fängt davon an, dass du ja ein Kind hast, erzählt von den anderen Beteiligten, von einem Schuldeingeständnis, davon, dass du nur jetzt mit Bewährung davonkommen kannst, ansonsten geht es in U-Haft und dann nie wieder raus, also entscheide dich mal. So läuft das.

    An einer sehr ergreifenden Stelle in deinem Buch heißt es: „Am Morgen schaute Philipp Wilde Schwäne im Fernsehen. ‚Ich bin bald wieder da‘, sagte ich und packte meinen Rucksack. Er war damals vier, es waren noch drei Monate bis zu seinem fünften Geburtstag. Ich sagte ‚Ich bin bald wieder da‘, zog die Tür hinter mir zu. Und kam nach zwei Jahren wieder.“ 
    Ich habe diese Stelle wieder und wieder gelesen und musste jedes Mal fast weinen. Ich verstehe nicht, was für ein Ziel du wohl hast, um diesem Ziel zwei Jahre vom Leben deines Sohnes, von vier bis sechs, zu opfern. 

    Du stellst die Frage falsch. Du stellst sie so, als hätten wir alle gewusst, dass es diese zwei Jahre werden, dass es Gefängnis wird, dass es ein Verfahren geben wird. Das wusste keine von uns. 

    Würdest du es nochmal machen, wenn du wüsstest, was dich erwartet?
    Ja. Erstens mag ich den Konjunktiv nicht besonders. Und zweitens: Entweder du bereust etwas aufrichtig oder eben nicht.

    Und du bereust es nicht?
    Nein. Tu ich nicht. Aber das ist nicht leicht.

    In den sieben Monaten U-Haft habe ich sehr viele Memoiren von sowjetischen Dissidenten gelesen, weil ich mir gedacht habe: Von wem, wenn nicht von ihnen, soll ich lernen? 

    Man trifft zum ersten Mal auf das System, und das System ist grausam. Ich wollte gern nachlesen, was andere Menschen unter diesen Umständen gemacht haben, die vor uns dort waren. Denn das sind ja  Erfahrungen, man darf da ja nicht völlig unvorbereitet reingehen. 

    Wen hast du gelesen?
    Ehrlich gesagt habe ich Schalamow zum ersten Mal im Untersuchungsgefängnis gelesen. Es war eines der ersten Bücher, die man mir mitgebracht hatte. Damals haben wir erst angefangen zu verstehen, was Bücherübergaben sind. Ein Buch in die U-Haft zu bekommen, ist nicht so einfach, wie man meinen könnte. Denn sie lassen nichts durch, was irgendwas im Titel hat, das sie irritiert. Beispielsweise Hannah Arendts Abhandlung ging lange Zeit nicht, bloß weil darin das Wort „Revolution“ vorkam. Das konnte ich sehr lange nicht bekommen, weil sie dachten, es wäre eine Anleitung zur Revolution und keine historische Abhandlung. Sie sehen also irgendwo, vorn oder hinten drauf ein verdächtiges Wort und kassieren das Buch ein.

     

    KAMPF FÜR DIE RECHTE

    Hattest du die Idee, für deine Rechte in der Haft zu kämpfen schon in der U-Haft oder erst in der Strafkolonie?
    Heute, 2021 [das Interview wurde im November 2021 geführt – dek], leben wir verglichen mit 2012 in einer super anderen Zeit. Damals gehörten wir zu den ersten, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …

    Menschen aus der soften Realität, die plötzlich im Gefängnis gelandet sind?
    Ja, wir waren Politgefangene, deren Prozess die Leute wirklich schockiert hat. Heute, wenn Tausende hinter Gittern sind, ist so eine Aufmerksamkeit rein physisch gar nicht möglich, im Vergleich zu Zeiten, in denen nur ein paar Leute in Haft sind. 

    Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles

    Die Kommission für Menschenrechte kam zum ersten Mal in der U-Haft zu mir, als ich in der Quarantäne-Zelle war. Du kannst es dir ungefähr vorstellen: Ein Mensch ist zum ersten Mal hinter Gittern, tritt zum ersten Mal in Hungerstreik, das ganze Paket zum allerersten Mal. Man bringt dich in die Quarantäne-Zelle, um deinen Gesundheitszustand zu überprüfen. Pro forma, versteht sich. Die Polizisten wissen schon Bescheid. Was mit dir los ist. Danach wird entschieden: Entweder gehts in die allgemeine oder in die Extrazelle. 

    Mir ist aus deinem Buch in Erinnerung geblieben, der erste Hungerstreik wäre wie die erste Liebe.
    Ja, so etwas habe ich geschrieben. Die Menschenrechtler kamen zu mir, als ich das Gefängnis noch gar nicht wirklich gesehen hatte. Da haben mich bestimmte Dinge rein menschlich gewundert, wie wahrscheinlich jeden. Ich habe gezeigt, dass wir die Fenster mit Brotkügelchen abdichten, weil es so kalt ist. Da war nichts von wegen: „Ich erkläre dem System den Kampf und bin die neue Dissidentin des 21. Jahrhunderts.“ Es war einfach nur eine rein menschliche Aussage. Aber sie … das ist der große Unterschied bei den Leuten des Systems, sie fassen banale Ehrlichkeit als Kriegserklärung auf. Sie beginnen einen Krieg gegen dich, und du beginnst einfach nur, dich zu verteidigen. Versuchst in dem Ganzen dich selbst nicht zu verlieren. Das ist alles. Damit fängt es an. 

    Wenn du dann in die Strafkolonie kommst, begreifst du das Ausmaß der Rechtlosigkeit der Menschen dort, und wie viele Möglichkeiten du im Vergleich zu ihnen hast, um dich zu wehren. 

    Weißt du, wie wenige Frauen dort Anwälte haben? Höchstens fünf Prozent. 

    Oxana Darowa, deine Anwältin, wie bist du an sie gekommen?
    Oxana ist eine super Anwältin. Und ein Mensch, ohne den ich in der ersten Strafkolonie gar nichts geschafft hätte. Ich habe sie durch die Menschenrechtler gefunden, an die sich meine Mutter gewandt hatte. Ein Zufall. Sie ist klasse. Sie hatte die Idee, gegen die Kolonie vor Gericht zu ziehen.

    Du bist der erste Mensch in Russland, der einen Prozess gegen eine Strafkolonie gewonnen hat. 
    Ja. Oxana hat die den Maßnahmen angefochten, die mir auferlegt wurden, denn sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht. 

    Maßnahmen anzufechten ist eigentlich ziemlich simpler Bullshit, der in zwanzig Minuten geprüft wird. Bei uns hat es jeweils acht Stunden gedauert. Drei von vier Maßnahmen haben wir erfolgreich angefochten. Das Gericht hat sie als rechtswidrig eingestuft. 

    Sie haben mir wirklich ständig Maßnahmen wegen gar nichts aufgebrummt. Wie sie es mit Millionen von Frauen machen. Mit Millionen. Und fast keine wehrt sich. Sie wollen oder können nicht

    Und weil ich in Zusammenhang mit den rechtswidrig auferlegten Maßnahmen schon das Kreisgericht in Beresniki als Plattform hatte, habe ich auch über andere rechtswidrige Dinge gesprochen, die in der Kolonie passieren. Und weil Menschen diese Informationen verbreitet haben, gab es irgendwann Kontrollen. Erst auf regionaler Ebene und später offenbar auch aus Moskau. Danach haben sie mich verlegt. Und eine kleine süße Hölle für mich veranstaltet, eine Reihe höllischer Durchsuchungen.

    Und da haben sie wegen dir die anderen bestraft …
    Genau. Sie haben Schlösser an die Türen der Gruppe gehängt, in der ich war. Dadurch konnten die Frauen beispielsweise nicht mehr in die Krankenabteilung, um Medikamente zu holen. Oder sonstwohin.

     

    ÜBER DIE FRAGE: WAR ES DAS WERT?

    Hattest du den Gedanken, dass du für etwas Abstraktes kämpfst? Während reale Menschen unmittelbar in deiner Nähe deswegen leiden? Nur weil du keine Ruhe geben kannst?
    Klar. Solche Gedanken lassen sich nicht vermeiden, und falls du es versuchst, erinnern sie dich schnell daran.
    Ja. Das ist schwer. Weil manche deswegen nicht auf Bewährung rauskommen und noch ein paar Jahre sitzen müssen.

    Und ihre Kinder nicht sehen.
    Und ihre Kinder nicht sehen. Einfach nur, weil ich in ihrer Gruppe bin.

    Fragst du dich an dieser Stelle, ob es das wert war?
    Natürlich.

    Und was sagen die Frauen, die es betrifft?
    Die Frage ist falsch gestellt. Eine Frau darf ihre vorzeitige Entlassung nicht verlieren, nur weil sie mit mir in einer Gruppe ist. 

    In Beresniki hast du erreicht, dass es für jedes Stockwerk ein Telefon gibt und nicht nur eins im Straflager, wo man nur einmal im Monat telefonieren darf, richtig? Du hast erreicht, dass es Fernseher gibt.
    Naja … Ich mag nicht, wenn du sagst, ich hätte es erreicht. Es war nicht ich, wir waren es. Allein hätte ich das nie geschafft.

    Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz

    Meine Anwältin, die Leute, die aus Moskau kamen, um mich zu unterstützen und über die Prozesse zu berichten. Ein bisschen auch die regionalen Menschenrechtler, die teils mit der lokalen Verwaltung zusammenarbeiten, aber in dem Fall hatten auch sie sich eingeschaltet. 

    Und die Frauen, die keine Angst hatten, mit dir wenigstens eine zu rauchen …
    In Beresniki war das leider nur eine Person. Lena, eine junge Frau, sie hat einfach nur bestätigt, dass ich nicht lüge. In Nishni [Nowgorod] waren es schon fünf, die zu den Menschenrechtlern gegangen sind. Aber da sind die Menschenrechtler auch sehr cool. An anderen Orten weißt du, dass jemand zu dir kommt, mit dir redet und danach mit den Bullen saufen geht. Du lieferst dich nur ans Messer, du weißt, dass du etwas tust, womit du dir dein Leben sehr schwer machst, und der Pseudo-Menschenrechtler unternimmt nichts dagegen. 

    Gut, ihr habt also zusammen erreicht, dass es Fernseher, Telefone, Besuchsmöglichkeiten, Kopftücher und Lohn gab.
    Wir haben durchgesetzt, dass es Klokabinen gibt, bei denen man die Tür zumachen kann. Wir haben durchgesetzt, dass es in jeder Gruppe ein Telefon gibt, nicht nur zwei Stück im Klub mit einem Monat Wartezeit. Und es gab eine Reihe von Entlassungen.

    Und warme Kopftücher.
    Ja, die auch, ganz am Schluss. Die Kopftücher waren eigentlich das, womit alles anfing. Aber auch da hatte ich nicht vor, die Verwaltung irgendwie anzugreifen, ich hab den Menschenrechtlern einfach nur gesagt, dass wir minus 35 Grad haben und die uns irgendwelche Gazetüchlein geben. Und die Frauen bekommen keine Wolltücher, weil sie niemanden haben, der sie ihnen schicken würde. Und dass es vermutlich falsch ist, in den Ural Tücher aus Gaze zu liefern, weil wir bei minus 40 Grad draußen im Schnee zum Appell antreten müssen. Dafür musste ich in Einzelhaft. 

    Später wurdest du in eine andere Kolonie verlegt und bist dann per Amnestie freigekommen. Was ist aus den Tüchern, Telefonen und dem Lohn geworden?
    Nun ja … die Telefone kann man nicht so einfach abmontieren und wegschmeißen. Das haben sie also nicht getan. Aber ansonsten ist natürlich alles schlechter geworden. Es reicht nicht, wenn du kurz was änderst und denkst: Jetzt läuft alles super. Veränderung braucht, wie im Grunde jeder Kampf für die Freiheit, täglichen Einsatz. Ansonsten löst sie sich in Luft auf. 

     

    ÜBER DAS STRAFSYSTEM

    Warum hat es dich so aufgeregt, dass du amnestiert wurdest?
    Es hat mich nicht aufgeregt, aber … Amnestie, das ist … Was ist Amnestie streng genommen?

    Ein Akt der Barmherzigkeit durch den Staat.
    Eben. Ein Akt der Barmherzigkeit Putins. Also: Weil es totale Heuchelei ist, weil von einem großen „Akt der Barmherzigkeit und Begnadigung“ gesprochen wird, zwei Monate vor Ablauf unserer Haftstrafe und die sich groß auf die Fahnen schreiben, sie würde alle Frauen mit minderjährigen Kindern begnadigen, die unter Paragrafen einsitzen, die eine gewisse Schwere nicht übersteigen. Schlussendlich werden dann nur ein paar begnadigt. Außerdem weil ich diese Begnadigung nicht gebraucht hätte, ich hätte die zwei Monate schon noch irgendwie absitzen können. Weil völlig klar ist warum: Ich höre doch, was sie im Fernsehen sagen und weiß, warum sie das kurz vor den Olympischen Spielen tun. 

    Das Land, in das wir entlassen wurden, war ein völlig anderes als das, in dem man uns zuvor eingesperrt hatte – das war klar. Aber wir haben es nicht sofort verstanden. Sondern wahrscheinlich erst mit den ersten Überfällen.

    Was ist die wichtigste Erfahrung aus der Kolonie?
    Russland ist sehr unterschiedlich. Erstens. Und zweitens: Das lässt sich nicht in einem Satz sagen … Es gab einfach Dinge, mit denen ich in diesem Ausmaß vorher nie zu tun gehabt hatte: Verrat zum Beispiel.

    Verrat unter den Häftlingsfrauen?
    Ja. Natürlich. Das schockiert. Dass es kein Einzelfall ist, sondern dass es System hat, von beiden Seiten. Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren, sie zu verraten, ihr eine Rasierklinge in die Schublade zu schmuggeln, sie um ihre vorzeitige Entlassung zu bringen. Das alles bringen sie dir bei und es funktioniert.

    Das System bringt dir bei, mit einer Frau von einem Teller zu essen, danach aufzustehen und sie zu denunzieren

    Das ist ein System, das irreversible Folgen hat. Ich bin absolut überzeugt, dass ein Mensch, insbesondere im heutigen Russland, nach vier oder fünf Jahren überhaupt keine Chance mehr hat, ein neues Leben zu beginnen. Man gewöhnt sich daran, so zu leben. Er landet wieder im Gefängnis. Das gilt für 70 Prozent. Warum? Weil das System dir nur beibringt, dort zu bleiben. Man gilt als vorbestraft, findet keine Arbeit, kann nicht mehr anders leben, ist es gewohnt, dass andere für einen entscheiden, dass es ein klares Koordinatensystem gibt, in dem man, um zu überleben, bestimmte Dinge tun muss. Und ich rede gar nicht von irgendeiner Wiedereingliederung, einem normalen Job oder sonst noch was, nicht mal vom schlichten Erhalt deiner Gesundheit ist die Rede. Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen.

    Ich freu mich sehr, wenn ich Ausnahmen sehe! Das ist wirklich ein super Fest! Wow! Ich bin tatsächlich nicht als einzige zu den Menschenrechtlern gegangen, sondern noch vier andere. Aber diese vier kassieren dann solche Repressionen und niemand kriegt es mit. Sie verlieren alles. Besuchszeiten, Telefonanrufe, sie kommen in Isolationshaft, in diesen Strafbunker …

    Du gehst zum Menschenrechtler, zeigst die Quittung von deinem Lohn über 300 Rubel – und dein Leben wird für den Rest der Strafzeit zur Hölle. 

    Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben. Und unsere Gesellschaft ist patriarchal, natürlich ist das politischer Wille, unsere die sogenannte „Regierung“. Und zwar immer mehr, das wird finanziell gefördert, über das Bildungssystem vermittelt, über die Propaganda, den staatlichen Kulturbetrieb und so weiter. Dementsprechend begreift sich die Frau nicht als handelndes Subjekt. 

    Das russische Gefängnis ist nicht auf dem Mars, es ist ein Spiegel dessen, was wir in unserer Gesellschaft haben

    Und im Gefängnis setzt die Verdrängung ein: Das alles passiert nicht mit mir; das bin nicht ich hier im Gefängnis, es muss ein furchtbarer Irrtum sein; ich habe falsch gelebt, einen Fehler gemacht, aber die Strafe ist schnell abgesessen, egal, was ich da für einen Mist erzähle, wie oft ich die anderen Frauen denunziere, mit denen ich von einem Teller esse, wie viel Lohn ich bekomme, egal, wie weit ich hier drin gehe, ich komme sehr bald raus und dann fange ich ein neues Leben an. 

    Dieses System tötet den Menschen und alles Menschliche im Menschen

    Und was macht die Knastverwaltung? Sie setzt auf eine weitere klassisch patriarchale Methode: Du bist doch eine Frau, du hast Kinder, willst du zu deinen Kindern? Was spielst du dich dann so auf? Wenn du so weitermachst, streichen wir dir die Telefonanrufe und Besuchszeiten. Dann siehst du deine Kinder gar nicht mehr.

     

    STIMME FÜR DIE ANGEKLAGTEN: ÜBER DIE PLATTFORM MEDIAZONA UND ÜBER DIE ZENSUR

    Du bist Mitbegründerin einer der wichtigsten russischen journalistischen Plattformen: Mediazona. Wie ist sie entstanden? Ihr habt sie ja zu dritt gegründet, du, [Nadja] Tolokonnikowa und [Pjotr] Wersilow
    Wir haben erst die Sona Prawa (dt. Zone des Rechts) gegründet, aber nach wenigen Monaten wurde uns klar, dass man nicht als Menschenrechtler aktiv sein kann, ohne zu sagen, was das ist..

    Aber hattet ihr die Idee in Haft oder erst draußen?
    Teils, teils, glaube ich. Die ganze Geschichte mit den Menschenrechten begann, als Nadja [Tolokonnikowa] und ich in die Strafkolonie kamen. Und gesehen haben, was da passiert. Denn keine von uns hätte sich das je vorstellen können. Es ist sehr leicht, im Stillen Böses zu tun, wenn es keiner mitbekommt. In einem abgeriegelten, dunklen Büro. Aber jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger. 

    Aber Mediazona wurde zum ausländischen Agenten erklärt [seit 6. März 2022 ist die Seite in Russland außerdem blockiert, zuvor forderte die Medienaufsichtsbehörde die Liquidation des Mediums wegen „Falschinformation“ über den Krieg in der Ukraine – dek]. Heute ist es das einzige Medium, das detailliert und fundiert über alle Gerichtsprozesse berichtet … Vermutlich wird es diese Möglichkeit mit dem neuen Status nicht geben oder wird sie merklich eingeschränkt werden?

    Die Möglichkeit über Gerichtsprozesse zu berichten, wurde grundsätzlich eingeschränkt, durch Manipulation, weil der Staat wegen Covid verfügt hat, dass die Verhandlungen nicht mehr öffentlich sind. Einfach so. Das ist ein gewaltiger Sprung in die Vergangenheit. Nicht-öffentliche Prozesse sind ein superkrasser Marker eines totalitären Staates.

    Jede Öffentlichmachung der Willkür in den Gefängnissen bremst einges. Es hört nicht auf, aber wird gebremst. Sie werden vorsichtiger

    Ich kann gar nicht beschreiben, wie schlimm das ist. Deswegen sind die Probleme bei der Berichterstattung über die Prozesse sowieso schon da. Und dass sie Mediazona als ausländischen Agenten einstufen würden, war abzusehen. Für alle. 

    Ich würde lügen, würde ich sagen, dass es mich schockiert hat. Hat es nicht. Das war die logische Fortsetzung dessen, was der Staat gegenwärtig tut, leider. Ich bin zweifellos glücklich, dass wir Mediazona gegründet haben. Und dass sich in ein paar anderen Medien eine gewisse Tradition herausgebildet hat, über Häftlinge und Polizeigewalt zu berichten.

    Mit welcher Reaktion der Regierung würdest du dich wohlfühlen?
    Angenehm wäre mir, diese Regierung würde … sich schlicht verpissen. Und in den Knast wandern.
     

    ÜBER DIE ANGST

    Ich zitiere dich mal: „Angst ist eine Sache, die nicht objektgebunden ist. Wenn Angst aufkommt, bin ich immer dafür, sie zu überwinden.“ Wie übst du, deine Angst zu überwinden? 
    Eigentlich wachsen wir nur durch Überwindung. Wie sonst? Wenn du in einem Raum mit gepolsterten Wänden sitzt, wirst du wohl kaum Erfahrungen sammeln und daran wachsen. Im Prinzip hinterlässt jede Erfahrung Spuren.

    Aber die Angst ist ein grundlegender Selbsterhaltungstrieb. Wenn du leben willst, musst du ihm folgen.
    Aber … bist du es noch du selbst, wenn die Angst dein Handeln bestimmt?

    Schau mal, Mascha, du bist so klein, zierlich, jung. Glaubst du wirklich, dass es in deiner Kraft steht und in deiner Macht liegt, dieses ziemlich mächtige System zu besiegen?
    Nun, hängt davon ab, was du unter „besiegen“ verstehst. Natürlich habe ich keine Panzer und Granatwerfer, und der Fernsehturm von Ostankino gehört mir auch nicht. Das nicht. Aber ich habe ein Gewissen und den Wunsch, ich selbst zu bleiben. Mich selbst in meinem Handeln nicht zu belügen.

    Reicht das aus, um keine Angst zu haben? 
    Wie soll ich denn wissen, was ausreicht, um keine Angst zu haben. Das kann ich dir echt nicht sagen. Angst funktioniert ja nicht so, dass du plötzlich Angst vor meinetwegen Putin oder dem Gefängnis hast. Ein Mensch hat meistens Angst, weil er Angst hat, weil die Angst in seiner Seele auftaucht und beginnt an ihr zu nagen. Es ist ja nicht so, dass ich nie Angst hätte, klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend, fühle mich bescheuert, aber wichtig ist, was du tust.

    Klar hab ich manchmal Angst. Manchmal heule ich, manchmal schmeiße ich Sachen durch die Gegend

    Nachdem ich den Text herausgeschmuggelt hatte, den ich meiner Anwältin gegeben hatte, den Text über die Strafkolonie, musste ich vor jedem weiteren Termin zu einer gynäkologische Untersuchung. Du weißt, was gynäkologische Untersuchung heißt? Du musst auf einen gynäkologischen Stuhl und jemand wühlt in deiner Vagina herum. Das ist demütigend und unangenehm. 

    Und du hast keine Angst, da noch einmal durch zu müssen?
    Nein, habe ich nicht. Ich habe keine Angst. Aber diese Situation macht mich wütend. Und natürlich, wenn du dann noch deine Tage hast und die dich schon wieder auf diesen verfickten Stuhl zwingen, die Situation insgesamt, deswegen habe ich geweint.

    Und du bist bereit, für das alles dein Leben herzugeben?
    Wir sind hier ja nicht auf dem Markt.

    Dennoch.
    Wir sind nicht auf dem Markt.

    Gib mir eine klare Antwort. Glaubst du wirklich, dass du dieses System besiegen kannst, zu deinen Lebzeiten …
    Ich glaube nicht, dass ich es allein kann. Aber wenn jeder ein bisschen was tut, dann ist es schon machbar.

    Und glaubst du daran, dass es viele solche Leute gibt?
    Ich denke, dass Menschen sich gegenseitig inspirieren können, etwas zu tun. Und dann ist alles möglich.

     

    ÜBER RUSSLANDS ZUKUNFT

    Kann Russland eine Frau als Präsidentin haben?
    O, ich glaube, das wäre supercool … Zum einen, weil wir dann faire Wahlen hätten, und zum anderen, weil das wirklich großartig wäre. Ich denke, das würde uns als Land sehr guttun. Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies. Außer vielleicht Raissa Maximowna [Gorbatschowa]. Wir kennen nicht mal die Kategorie. 

    Wir hatten ja bisher nicht nur keine Präsidentinnen, wir hatten nicht einmal richtige First Ladies

    Sieh dir westliche Länder an. Jedes Land hat eine First Lady. Sie ist meistens eine politische Figur, aber auch eine öffentliche Person, die sich oft der Wohltätigkeit widmet. Also auch eine Art Role Model. Wir haben nicht einmal das. Wir haben ein Verbot, ein regelrechtes Tabu über, wie heißt es so schön, das „Privatleben“ des Präsidenten zu sprechen, das für keinen denkenden Menschen je ein Role Model sein könnte. 

    Mal ernsthaft. Die ehemalige First Lady [Ljudmila Putina, von der Wladimir Putin inzwischen geschieden ist – dek] wurde wie Rapunzel vor allen versteckt. Und wirklich das gesamte Land wusste von mindestens einer Geliebten. Ist das eigentlich ok für einen Typen, der sich selbst bei unzähligen Interviews als echter Mann präsentiert?

    Er ist „mit Russland verheiratet“. Wärst du gern Präsidentin von Russland?
    Ich glaube, so groß bin ich noch nicht.

    Also, wenn du dann groß bist …
    Na, wenn ich groß bin, wäre es vielleicht ganz interessant, sich auch mit der klassischen Politik zu beschäftigen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das könnte.

    Such bitte was aus: Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit?
    Widersprechen die sich denn? Warum? Ich finde …

    Du kannst einen Schuldigen begnadigen oder bestrafen.
    Ich war immer der festen Überzeugung, dass ich für Gerechtigkeit kämpfe, dabei würde ich nicht sagen, dass ich kein barmherziger Mensch bin. Ich bin nicht böse.

    Wahrheit oder Sicherheit?
    Wahrheit.

    Freiheit oder Stabilität?
    Das fragst du noch? Freiheit, natürlich. Aber die sollte der Stabilität eigentlich nicht widersprechen.

    Russland oder Familie?
    Warum muss ich zwischen meinem Land und meiner Familie wählen? Wo sind wir denn? Wir haben 2021, es ist das 21. Jahrhundert, warum sollen wir zwischen unserem Land und unserer Familie wählen müssen? Was ist das für ein Scheiß? Das darf nicht sein. Die Frage ist falsch gestellt. Falsch, mag ich nicht.

    Wenn sich die Frage irgendwann stellen sollte. Wenn du wählen müsstest, ob deine Liebsten bei dir sind sind und alles gut ist, oder …
    Oder was?

    Oder du bist für Russland.
    Warum kann ich denn nicht mit meinen Liebsten für Russland sein? Die sind ja auch für Russland.

    Weil ihnen was passieren könnte.
    Das ist doch Erpressung.


    Mitte Mai 2022 ist Maria Aljochina aus Russland geflohen – dek.
     

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  • „Für Putin ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung“

    „Für Putin ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung“

    „Die Russen sind die neuen Deutschen.“ Unter liberalen russischen Stimmen kam diese Formel schon wenige Tage nach dem Kriegsbeginn auf. Sie verweist auf historische Parallelen zwischen Russland und Deutschland, vor allem auf Aspekte wie Kollektivschuld und „Banalität des Bösen“.

    Bereits vor rund zwei Jahren schrieb der russische Soziologe Grigori Judin: „Für Putin ist mit Deutschland [unter Hitler – dek] überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen: Eine Nation wurde erniedrigt, Radikale übernahmen die Macht und entschieden sich zur Rache. Das gab es und wird es noch öfter geben.“  

    Wie kommt eine solche Denkweise überhaupt zustande? Im ersten Teil seines jüngsten Interviews mit der Journalistin Katerina Gordejewa im Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) argumentiert Judin, dass man über die tatsächliche Kriegsunterstützung im Land nur wenig sagen kann, dass der „überragende Teil der russischen Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben will.“ Dass sie damit die Augen vor der Wahrheit und vor grundsätzlichen Sinnfragen verschließe, das entbinde sie nicht von der Verantwortung für das, was geschieht, so der Soziologe. Anders sei es bei Putin: Dieser übernehme ganz bewusst die Verantwortung für den Krieg, argumentiert Judin im zweiten Teil des Interviews – und folge dabei einer inneren Logik, wonach der Krieg ein Akt der Selbstverteidigung ist.


    Grigori Judin: Wenn du mich fragst, warum die Entscheidung getroffen wurde, die Ukraine zu zerstören, so sehe ich darin eine gewisse Logik.

    Katerina Gordejewa: Inwiefern?

    Für Wladimir Putin und seine Gefolgschaft ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung, sie bedroht buchstäblich ihr Leben. Und weil [Putin] offenbar irgendwann beschlossen hat, dass ihre Existenz gleichbedeutend ist mit der Existenz des ganzen Landes, schließen sie daraus, dass sie für das ganze Land sprechen können und das ganze Land in Gefahr ist.

    Wie? Ganz einfach. Nehmen wir die Situation in Libyen zur Zeit des späten Gaddafi. Oberst Gaddafi sieht sich nach einer endlosen Herrschaft mit einem inneren Aufstand konfrontiert. Der Aufstand ist mehr oder weniger erfolgreich. Gaddafi weiß, dass seine einzige Chance darin besteht, den Aufstand mit Hilfe der Armee niederzuschlagen. Das tut er auch. Er rückt auf Bengasi vor, bereit, alles dem Erdboden gleichzumachen.

    Wie Gaddafi beseitigt wurde hat bei Putin tiefen Eindruck hinterlassen

    Dann greift die NATO ein und errichtet eine Flugverbotszone, was den Kämpfen eine Wendung gibt. Die ganze Armada, die aus Tripolis in Richtung Bengasi unterwegs ist, kehrt um, Tripolis wird eingenommen und Gaddafi auf die Ihnen bekannte Art und Weise beseitigt.

    Wie wir wissen, hat das bei Wladimir Putin tiefen Eindruck hinterlassen. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass die Entscheidung, Medwedew abzusetzen, in genau dem Moment gefallen ist. Denn Medwedew war damals Präsident und hat sich nicht gegen die Flugverbotszone ausgesprochen.

    Was heißt das für Putin? Das heißt, dass in dem Moment, in dem es in Russland einen Aufstand gibt, und es wird ihn geben, unweigerlich … Übrigens war ich geneigt zu glauben, dass der Moment nicht weit weg ist, weil Belarus, das Russland in seiner politischen Kultur sehr ähnlich ist, es gerade vorgemacht hatte. Folglich war Russland auch nicht weit davon entfernt. Alle vergleichbaren napoleonischen Regime haben eine Lebensdauer von etwas über zwanzig Jahren. Die Widersprüche im Inneren häufen sich, und ihm [Putin – dek] dürfte klar sein, dass ein Aufstand nicht weit entfernt ist.

    Aber für ihn ist ein Aufstand nie Ausdruck einer aus der Bevölkerung erwachsenden Energie – es sind immer die Machenschaften eines äußeren Feindes, etwas anderes kommt gar nicht in Frage. Es gibt überhaupt kein Volk, es gibt nur einen äußeren Feind, der dich eliminieren will. Wenn dir eine solche Gefahr droht, musst du absolut sicher sein, dass dir im Unterschied zu Gaddafi jedes erdenkliche Mittel zur Verfügung steht, um diese Gefahr zu bekämpfen. Jedes. Egal, wie viele Menschen du dafür töten musst, du musst in der Lage sein, es zu tun.

    Wenn es ein benachbartes Land gibt, das Russland kulturell sehr nahe steht – ein riesiges Land, das größte Land Europas –, in dem es ein anderes politisches Leben gibt, das Putin als „Anti-Russland“ bezeichnet, eine radikale Alternative zu Russland, und diese Form der politischen Organisation ist in militärischer Hinsicht, sagen wir, durch die USA garantiert, dann ist das eine nicht hinnehmbare Gefahr. Es bedeutet, dass er mit seinem Volk nicht alles tun kann, was er will. Über ihm hängt ein riesiges [Damokles-Schwert], das sein Schicksal jeden Moment in das von Gaddafi verwandeln kann.

    Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte

    Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich die Situation in genau diese Richtung entwickelt, weil die Ukraine, auch wenn sie kein Mitglied der NATO ist, ganz klar zu einem Militärbündnis mit den USA tendiert und das politische Regime in absehbarer Zeit durch die USA garantiert würde. Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte.

    Wenn er also sagt, sie hätten uns angegriffen, hätten wir es nicht getan, dann glaubt er tatsächlich, was er sagt? 

    Ohne jeglichen Zweifel. Mehr noch, in einem verrückten Sinn ist das sogar wahr, denn er hätte jedes Vorgehen gegen ihn als einen Angriff durch die NATO interpretiert, und weil das unweigerlich eingetreten wäre, entspricht das in seiner paranoiden Wahrnehmung der Wahrheit. Deshalb war für mich schon vor zwei Jahren klar, dass es Krieg geben würde. Und als er vor einem halben Jahr diesen Aufsatz veröffentlichte, in dem er der Ukraine die Daseinsberechtigung abspricht, war es dann völlig offensichtlich. In diesem Text steht schwarz auf weiß: Entweder wir unterwerfen sie friedlich und machen sie zu einem Anhängsel, oder wir erobern sie. Das sind die zwei Optionen.

    Natürlich ist jetzt auch die Konjunktur vergleichsweise günstig: Putin denkt, er sei dank modernster Waffen militärisch überlegen, er hat enorme Ressourcen angehäuft (wo die alle hin sind, ist eine andere Frage), dann sind da die Rohstoffpreise, Europas Abhängigkeit von diesen Rohstoffen, Turbulenzen in diversen Ländern … Kurzum, die Entscheidung war in seinen Augen absolut unvermeidlich. 

    Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten – das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen

    Und ja, er und sein Umfeld sprechen jetzt von einem Vabanque-Spiel, bei dem sich Russlands Zukunft entscheiden werde. Sie verstehen also durchaus, worauf sie sich eingelassen haben. Innerhalb dieser Logik müssen sie sich tatsächlich verteidigen. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass das für sie ein Verteidigungskrieg ist. Aus ihrer Sicht ist das Ziel nicht, eine Hegemonie zu errichten oder kulturell zu expandieren. 

    Wenn wir von der „Russischen Welt“ sprechen, meint das nicht, dass es etwas spezifisch Russisches gäbe, das die Ukrainer nicht hätten und das man ihnen bringen müsste. So etwas gibt es nicht. Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten. Nein, das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen. Was natürlich noch gefährlicher ist, weil wir hier von Leuten reden, die glauben, dass man sie umbringt, wenn sie sich nicht verteidigen. Sie müssen sich verteidigen – um jeden Preis.

    Welche Rolle spielt die so populär gewordene Theorie des „Russki Mir“, deren Vertreter mal als die Ideologen des Kreml galten, also Leute wie Dugin?

    Einerseits sehe ich, dass einige von Dugins düsteren Ideen durchaus ihren Einfluss hatten auf die Clique, die in Russland die Entscheidungen trifft, und wahrscheinlich auch indirekt auf den Präsidenten, der sich in letzter Zeit offenbar komplett isoliert hat und die Entscheidungen nahezu im Alleingang zu treffen scheint. Auf der anderen Seite sehe ich auch, dass diese [weltanschauliche – dek] Suppe, die sich da zusammengebraut hat, sogar im Vergleich zu diesen Ideen sehr primitiv wirkt. Man könnte meinen, diese Leute seien intellektuell dafür verantwortlich, was sie ausgebrütet haben, aber das, was am Ende dabei herausgekommen ist – ich bin nicht sicher, ob sie selbst davon so begeistert sind.

    Die ideologische Suppe des ‚Russki Mir‘ wirkt sehr primitiv

    Das große Problem mit diesem ganzen „Russki Mir“ ist, dass es eine leere Idee ist. Ein Imperium muss etwas vermitteln. Die „Russische Welt“ vermittelt nichts. Sie bietet keine Visionen. Keinerlei Perspektiven für eine kulturelle Entwicklung. Da ist rein gar nichts. Jeder, der Interesse an einer Ausweitung des russischen Einflusses hat, versteht, dass man irgendeine Art von Hegemonie braucht, um als Land eine Position zu erlangen. Unter Hegemonie versteht man, dass ein Land etwas anzubieten hat, das für andere attraktiv ist. Dann beginnt man, sich mit dieser Idee zu identifizieren, an sie zu glauben und sie zu verbreiten.

    Dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss – diese Idee ist in Russland aus den Köpfen verschwunden

    In Russland war das an einem gewissen Punkt einfach wie weggeblasen: Der simple Gedanke, dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss. Diese Idee ist aus den Köpfen verschwunden. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht vereinen lässt mit diesem fundamentalen Beleidigtsein auf die ganze Welt. Oder weil man dafür anfangen müsste, den Leuten zuzuhören. Man müsste versuchen, sie zu verstehen, Gemeinsamkeiten finden, hören, was sie wirklich bewegt, etwas anbieten, das darauf reagiert. Das scheint niemanden mehr zu interessieren, das einzige, was noch übrig ist, ist rohe Gewalt. Aber mit roher Gewalt kann man keine Welt errichten.

    Das sagen selbst die Quellen, auf denen dieses zweifelhafte, widersprüchliche und natürlich auch gefährliche Projekt basiert. Immerhin impliziert es die Errichtung einer gewissen Einflusssphäre. Aber Russland schneidet sich gerade selbst für viele viele Jahre alle Einflussmöglichkeiten ab. Sehen wir uns zum Beispiel das Problem mit dem NATO-Block an, das ich für durchaus glaubhaft halte. Wozu wird das führen? Dazu, dass alle, die bisher nicht beitreten wollten, es jetzt tun. Russland steht nun einem Block gegenüber, der ihm tatsächlich feindlich gesinnt ist. Jetzt wollen alle rein. Finnland und Schweden bereiten schon Abstimmungen vor.

    Alle, die bisher nicht der NATO beitreten wollten, tun es jetzt

    Warum bringt man alle gegen sich auf? Nur, weil man keine andere Möglichkeit sieht, zusammenzuarbeiten, weil man ernsthaft glaubt, dass die einzig mögliche Interaktion Gewalt ist, dass man seine „Partner“ mit Waffengewalt zwingen muss. Das ist ein Fehler, der uns sehr teuer zu stehen kommen wird.

    Was wird aus der Ukraine?

    Angenommen, es endet nicht alles mit einem Atomkrieg …

    Ja, lassen wir das Worst-Case-Szenario mal beiseite.

    Was allerdings nicht ausgeschlossen ist und unter diesen Bedingungen durchaus realistisch. Abgesehen davon hat Russland natürlich überhaupt keine Chance mehr, irgendeine ideologische Kontrolle über die Ukraine auszuüben. Das ist für immer vorbei. Es hätte eine Möglichkeit gegeben, wenn man die Karte der jahrhundertealten gemeinsamen Geschichte ausgespielt und den Ukrainern etwas angeboten hätte, was sie einerseits respektiert und was andererseits attraktiv im Hinblick auf die Integration in eine gemeinsame Sphäre gewesen wäre. Jetzt ist diese Möglichkeit ausgeschlossen, ich schätze, für immer.

    Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten

    Das mit der Ukraine ist eine Sache, aber was ist mit all den anderen slawischen Völkern? Sieh dir doch mal an, was die Leute in den slawischen Ländern sagen. Wir verlieren absolut alle. Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten. Wir werden ihnen jahrzehntelang nichts entgegensetzen können. Sie werden sagen: „Dieses Land muss für immer kleingehalten werden, sonst wird es sich erheben und wieder auf uns losgehen.“ Und wir haben so gut wie keine Argumente dagegen. Wir können sagen, dass wir uns geändert haben, dass das unsere durchgeknallten Vorfahren waren, aber die Antwort wird sein: „Nein, die haben das im Blut. Die werden nie Ruhe geben.“ Und damit werden wir irgendwie umgehen müssen.

    Natürlich betrifft das genauso die Ukraine und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Belarus. Wie das konkret aussehen wird, das ist eine andere Frage, das hängt davon ab, wie die sich anbahnende Niederlage [für Russland – dek] aussehen wird, welchen Preis auch die Ukrainer dafür werden zahlen müssen. Aber es existiert nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, dass Russland die Ukraine für immer besetzt und die Ukrainer irgendwie umformt, nach welchem Vorbild auch immer. Das ist unmöglich. Deshalb ist das eine Wunde, die für immer bleiben wird.

    Und die Ukraine selbst, ihr Geist, die Menschen, der Präsident, der Staat?

    Das hängt stark davon ab, wie weit sich dieser Krieg ausbreitet. Ich denke nicht, dass die Möglichkeit besteht, dass es bei der Ukraine bleiben wird. Es wird davon abhängen, wie weit er sich ausbreiten wird, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird. Das ist noch völlig unklar.

    Es wird davon abhängen, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird

    Klar ist jedoch, dass sich für die Ukraine jetzt viele Probleme lösen, die sie vorher gespalten hatten. Ich bin kein Experte für die Ukraine, aber ich schätze, dass sich das Ost-West-Problem für immer erledigt hat. Klar ist auch, dass Selensky jetzt auftritt, wie ein Präsident in Kriegszeiten auftreten muss, er hat unglaubliches rhetorisches Talent. Er ist zu einem der führenden Politiker unserer Zeit geworden. Ein Mann, über den man noch viele Filme drehen wird. Und jetzt ist er natürlich in der Lage, eine Menge für den Wiederaufbau der Ukraine tun zu können, sobald der Krieg vorbei ist. Aber dieser Moment muss erst noch kommen. Bis zu diesem Moment müssen sie noch ausharren, durchhalten, und dann wird sich zeigen, wie das aussehen wird.

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  • „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“

    „Russland wird aufs Schrecklichste verlieren“

    Vergleiche zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland sind schon seit über zwei Jahrzehnten fester Bestandteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem System Putin. 

    Nach den jeweiligen Niederlagen im Ersten Weltkrieg respektive dem Kalten Krieg kam es in beiden Ländern zu einem Systemzusammenbruch und zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen über kollektive Identitätskrisen, Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Sie warfen ihren Landsleuten Verrat und Kollaboration mit dem Feind vor, diskreditierten Andersdenkende, sprachen anderen Völkern das Daseinsrecht ab. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Anschließend gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. Schließlich haben beide Länder einen Krieg entfacht. Die Massen – so heißt es in dem vorerst letzten Kapitel der Weimar-Vergleiche – jubelten und standen geeint hinter dem Führer respektive Leader.

    Mehr als 80 Prozent der Menschen in Russland befürworten derzeit laut Umfrageergebnissen des Lewada-Zentrums den Krieg in der Ukraine. Denis Wolkow, Direktor dieses unabhängigen Umfrageinstituts, argumentierte kürzlich auf Riddle, dass es derzeit kaum Anhaltspunkte dafür gebe, an dieser Zahl zu zweifeln.

    Der Soziologe Grigori Judin war demgegenüber schon immer skeptisch, ob Meinungsumfragen in autoritären Regimen ein Abbild öffentlicher Meinung liefern können. In einem Interview mit der Journalistin Katerina Gordejewa in ihrem Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) bringt er seine Argumente vor – und erklärt, welche Parallelen er zum Zwischenkriegs- und Hitlerdeutschland sieht.

    Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews.


    Katerina Gordejewa: Betrachten wir mal die 60 bis 70 Prozent, die – je nach Umfrage – den Krieg gutheißen. Ich weiß, du magst es nicht, wenn man sich auf Umfragen bezieht, aber ich muss die Frage stellen, weil diese Zahlen derzeit überall kursieren. Auch die Propaganda stützt sich darauf. Begreifen diese 60 bis 70 Prozent die Konsequenzen nicht? Verstehen sie die Frage nicht, die man ihnen stellt? Oder was genau unterstützen sie?

    Grigori Judin: Ich rate immer dringend dazu, vorsichtig mit Umfragen zu sein – generell, aber in Russland doppelt, und unter den heutigen Umständen gleich zehnfach. In Russland ist die Beteiligung sowieso immer niedrig. Außerdem gehen die Menschen, die an den Umfragen teilnehmen, meist davon aus, dass sie direkt mit dem Staat sprechen. Und durch die gegenwärtigen Kriegshandlungen ist die Vorsicht natürlich nochmal um ein Vielfaches gestiegen, das belegen alle unabhängigen Studien, die gerade durchgeführt werden: Die Menschen antworten weniger bereitwillig, erzählen von Ängsten oder fragen sogar direkt: „Werde ich verhaftet?“ Wir haben verschiedene Instrumente, die Stimmung der Umfrageteilnehmer zu untersuchen, dadurch sehen wir, dass die Menschen, die eher verschlossen, introvertiert sind, andere Antworten geben. Umfragen belegen im Prinzip immer das, was die russische Regierung belegt haben möchte. Heute erst recht.

    Mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten

    Ich denke, dass die Zahlen am Anfang noch eine gewisse Aussagekraft hatten, aber mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten. Das liegt natürlich nicht in unserer Macht. Und es könnte alles noch schlimmer machen, aber ich würde diese Umfragen keinesfalls ernstnehmen. 

    Wenn ich in Deutschland gefragt werde: „Wie kommt es zu diesen 71 Prozent?“, erwidere ich: „Wie viel Prozent hattet ihr denn 1939, als die Spezialoperation gegen Polen begann?“ Ich sehe da keinen krassen Unterschied. Man sollte den Menschen keine idiotischen Fragen stellen und die Antworten nicht überbewerten. Aber abgesehen von allem, was ich jetzt gesagt habe, denke ich trotzdem, dass es wohl daran liegt, dass ein überragender Teil unserer Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben möchte.

    Nach dem Motto: Soll da doch ein Krieg toben, oder eine Flutkatastrophe alles überschwemmen … 

    Ja, in dem Sinne: Ich kann sowieso nichts ausrichten. Was soll ich schon machen? Mich geht das doch nichts an. In Russland kursiert gerade etwas, das ich die „Zwei-bis-drei-Monats-Theorie“ nenne. Überall hört man: Noch zwei, drei Monate, dann renkt sich alles wieder ein. Keine Ahnung, woher dieser Schwachsinn kommt, aber es ist ein Versuch, sich an die eigene Realität zu klammern. Eigentlich ist es ein Versuch, weiterhin alles zu leugnen. So funktioniert die russische Propaganda. 

    Die Propaganda erklärt dir, warum du nichts tun sollst

    Mich würde interessieren, warum die Propaganda die Menschen nicht davon überzeugen konnte, dass es Covid gibt, aber sie so leicht davon überzeugen kann, dass es in der Ukraine Faschismus gibt?

    Aus einem ganz einfachen Grund: Die Aufgabe von Propaganda ist es nicht, dich von etwas zu überzeugen oder dir einen bestimmten Standpunkt aufzudrängen, sondern dir einen Grund zu geben, nichts zu tun. Sie erklärt dir, warum du nichts tun sollst. Als erklärt wurde, dass es Covid gibt und dass man etwas unternehmen muss, da war sie machtlos, weil der Mensch nichts tun will. Jetzt wird erklärt, warum das alles eine kurze Operation ist, dass sie erfolgreich enden wird, dass es eine unmittelbare Bedrohung für Russland gibt, und dass das alles überhaupt keine echten Ukrainer betrifft. Kurzum: Alles ist gut. Alles ist gut, alles ist bald vorbei, die politische Führung hat alles im Griff. Das genügt den Leuten, um ihr normales Leben ruhig weiterzuleben. 

    Der Vorteil bei den Belarussen ist, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts

    Ich denke, das Problem im heutigen Russland ist nicht, dass die Russen massenhaft diese bestialische Aggression gegen die Ukraine gutheißen würden. Das gibt es so nicht. Es gibt einzelne militarisierte Gruppen, aber das ist etwas anderes. Das Problem liegt darin, dass die Menschen versuchen so zu tun, als würde sie das alles nichts angehen, als könnten sie einfach ihr Privatleben weiterleben, an das sie sich gewöhnt haben und das sie sich mit großer Mühe aufgebaut haben. Das dürfen wir nicht vergessen: Viele Russen machen gerade eine sehr schwere Erfahrung. Das Leben, das sie jetzt führen, haben sie sich wirklich lange, mit großem Aufwand und hohen Investitionen aufgebaut. Sie haben viele Jahre alles hineingesteckt, deswegen klammern sie sich jetzt so an diese Welt. 

    Im Großen und Ganzen ist das sogar nachvollziehbar, doch wenn man das konsequent betreibt, läuft man Gefahr, zum Instrument für alles Mögliche zu werden. Das scheint mir das Hauptproblem im gegenwärtigen Russland. Besonders deutlich wird das im Vergleich zu Belarus, denn dieser grauenhafte Krieg, in dem wir uns befinden, ist ein Krieg, in den nicht nur Russland und die Ukraine unmittelbar involviert sind, sondern natürlich auch Belarus. Aber der Vorteil bei den Belarussen ist, wenn man das so sagen kann, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts. 

    Woran liegt das? Daran, dass deren Leben schwerer und ärmer war?

    Ich denke, es liegt unter anderem einfach daran, dass es dort 2020 ein Moment der Solidarität gab, über das sehr viel gesprochen wurde, auch wenn es zu keinem entsprechenden politischen Resultat geführt hat. Aber es hat den Belarussen etwas Größeres gegeben. Deswegen verschließen sie in der gegenwärtigen Situation nicht die Augen, ziehen sich nicht in den Käfig des Privaten zurück. Ihnen ist zwar klar, dass sie wenig ausrichten können, aber sie tun nicht so, als seien sie nur Instrument und als ginge sie das alles nichts an. Das stellt, so scheint mir, einen sehr wichtigen Kontrast dar. 

    Russland wird aufs Schrecklichste verlieren

    Das war der erste Teil. Der zweite hängt, wie mir scheint, damit zusammen, richtig zu verstehen, was da gerade passiert. Es ist selbstverständlich kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Allein die Idee ist vollkommen absurd und irrsinnig. 

    Allein schon deswegen, weil Russland aufs Schrecklichste verlieren wird. Unendlich verlieren wird. Es wird in jedem Fall eine katastrophale Niederlage. Es ist kein positives Szenario denkbar. 

    Kannst du das genauer erklären?

    In jeder nur denkbaren Hinsicht wird das für Russland eine Katastrophe. Es tut weh, das zu sagen, aber Russland zerstreitet sich auf diese Art für immer mit den zwei Völkern, die ihm kulturell am nächsten stehen – mit den Ukrainern und den Belarussen. Russland verliert absolut alle engen Verbündeten und Freunde. Mit wem sollen wir denn noch befreundet sein? Wer auf diesem Planeten kommt denn noch infrage? Wir jagen uns in eine völlig sinnlose, ewige Einsamkeit, in die wir eigentlich überhaupt nicht hineingeraten wollen. Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals.

    Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals

    Was macht denn Russland in den letzten zwanzig Jahren? Es rennt der ganzen Welt hinterher und ruft: „Wir brauchen euch nicht! Wir kommen auch alleine klar!“ Das ist ein neurotisches Verhalten, das uns jetzt geradewegs in die Katastrophe führt. Ich glaube, eine Katastrophe wie diese hat es in Russland noch nie gegeben.

    Gehörst du zu den Leuten, die jetzt die Seiten der Geschichte übereinanderlegen und lauter Parallelen zum Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre in Russland sehen?

    Oj, ich sehe sehr viele Parallelen, aber nicht zur russischen Geschichte, sondern zu der deutschen.

    Ach ja?

    Ja. Wir befinden uns in einer Situation, die in vielerlei Hinsicht an die 1920er und 1930er Jahre in Deutschland erinnert. Es gibt im Wesentlichen zwei historische Folien: das Regime von Napoleon III. in Frankreich 1848 bis 1870 und das, was in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geschah. In beiden Fällen sehen wir eine abrupte Einführung eines Wahlrechts, bei dem den Massen schließlich nur die Option bleibt, einen starken Anführer zu wählen, der faktisch die Befugnisse eines Monarchen besitzt. Sprich eine demokratisch gewählte Monarchie, eine Monarchie mit der Gunst der Massen. Genauso nannte es Napoleon III. Er wurde zum Präsidenten über das ganze Volk gewählt, zum ersten französischen Präsidenten: Ich bin ein Imperator, der regelmäßig Volksabstimmungen durchführt. Und was bekomme ich dafür? Ich bekomme die Garantie, dass … 

    … alle dich lieben.

    Ja, das Volk steht hinter mir, und was mache ich damit? Ich zeige es den Eliten, ich zeige es der Bürokratie, ich zeige es dem Volk, erzähle ihm, wer die wahre Macht hat. Er erhebt sich über das ganze System.

    In Russland sitzt der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief

    Die zweite wichtige Sache ist die historische Niederlage. Daraus resultieren Ressentiment, Revanchismus, Kränkung und Zorn. So war es in Frankreich, die Leute erinnerten sich durchaus an die Napoleonischen Kriege, und sie haben wieder einen Napoleon gewählt. Die Leute wollten einen neuen Napoleon, auch wenn es nicht derselbe [Napoleon Bonapartedek] war. Das gab es natürlich auch in Deutschland mit der verbreiteten Dolchstoßlegende und der [dieser zufolge von inneren Feinden verschuldeten – dek] Niederlage im Ersten Weltkrieg. Und jetzt beobachten wir das in Russland, wo der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief sitzt, wie sich jetzt zeigt. All diese Regime hatten irgendwann ein Wirtschaftsmodell für sich gefunden, das relativ erfolgreich war.

    Du meinst, dass Russland … also die UdSSR den Kalten Krieg verloren hat?

    Ich meine das nicht nur, es wäre doch auch merkwürdig nicht zu bemerken, dass dieser Rahmen irgendwann aufgedrängt wurde. Sagen wir, das Ende des Kalten Krieges hatte ein erzieherisches Element. Es gab eine Doktrin der Modernisierung, die implizierte, dass es den einen richtigen Entwicklungsweg gibt und die Länder, die von ihm abgewichen sind, auf die Schulbank müssen, damit ihnen die Lehrer aus dem Westen erklären, wie man es machen muss. Sie wurden also belehrt. Und zwar mit ganz aufrichtigen Absichten, weil man wollte, dass sie es endlich lernen, ihren Kinderschuhen entwachsen und das Gleiche aufbauen wie alle, weil es in Wirklichkeit nur einen richtigen Weg gibt. So etwas führt in jedem Land dazu, dass man sich wie ein Minderjähriger behandelt fühlt. Und erst recht in so einem riesigen, mächtigen Land wie Russland. Das erzeugt gleich ein Gefühl der Erniedrigung.

    Was Putin dann gemacht hat, ist dieses Gefühl endlos weiter anzufachen. Es war nicht ganz unbegründet, dieses Gefühl, aber jetzt ist es eine Emotion, die ganz Russland einfach verbrennt.

    Putin hat das Gefühl der Erniedrigung endlos weiter angefacht

    In dieser Hinsicht gibt es natürlich viele Parallelen zu Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Und die plebiszitären Regime, die dort jeweils entstanden, machten jedes Mal das Gleiche: Sie zerstören die Innenpolitik. Das heißt, sie schließen schon die Idee einer Opposition aus. Die Opposition als eine Größe, die im selben Land existiert, aufrichtig das Beste für dieses Land will und sich dabei radikal von den eigenen Überzeugungen unterscheidet. Diese Idee ist ihnen grundsätzlich fern, weil das in ihren Augen die Einheit zerstört. Es kann einfach keine Opposition geben.

    Weil es keine Opposition geben kann, wird jede politische Feindschaft externalisiert, das heißt, sie wird schlichtweg zur Konfrontation von außen erklärt. Es kann keine Opposition geben, also gibt es nur Verräter und innere Feinde. Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form.

    Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form

    All diese Regime nahmen das gleiche Ende. Sie überschätzten massiv die Bedrohung von außen. Sie bildeten sich eine Gefahr ein, wo im Grunde keine war. Sie verloren die Fähigkeit, mit anderen Staaten Bündnisse einzugehen. Und sie alle arbeiteten eifrig daran, eine mächtige militärische und wirtschaftliche Allianz gegen sich zu erschaffen. Mit enormem Tempo brachten sie Länder um Länder gegen sich auf, einten Staaten mit eigentlich ganz unterschiedlichen Interessen. Und dann fuhren sie gegen eine Betonmauer, indem sie sich in desaströse Militärkampagnen mit immensen Opfern stürzten.  


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    Die Novaya Gazeta mit ihrem Chefredakteur, dem Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, versucht auch in Kriegszeiten ihren eigenen Weg zu gehen und, so gut und so lange es geht, unabhängig zu berichten – auch aus dem und über den Krieg in der Ukraine. Zwar beugt sich die Novaya der Zensur, insofern, als sie gemäß der aktuellen Gesetzeslage nicht das Wort „Krieg“ verwendet, sondern „<…>“, auch einzelne Artikel hat die Novaya aus dem Netz genommen, und sie zensiert mitunter Berichte von Korrespondenten aus der Ukraine – all dies macht sie aber stets transparent. Ein Kompromiss, um unter Bedingungen immer stärkerer Desinformation und restriktiver Mediengesetze weiter unabhängig arbeiten und informieren zu können. Die Leser äußerten bei einer extra initiierten Umfrage Anfang März Verständnis und auch Zuspruch: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“ Manche schlugen gar vor, die ganze Absurdität zu perfektionieren und damit zu demaskieren, dass künftig am besten auch nur noch die Rede ist von: Lew Tolstois Roman „Spezialoperation und Frieden“.

    Während immer mehr Medien blockiert werden und zahlreiche unabhängige Journalistinnen und Journalisten aus Angst um ihre Sicherheit das Land verlassen (laut Investigativmedium Agenstwo sind es mehr als 150, die bereits gegangen sind), scheint sich die Novaya noch auf einen gewissen „Sonderstatus“ verlassen zu können, den sie als Leuchtturm der unabhängigen Berichterstattung seit den 1990er Jahren genießt. 

    Kürzlich kündigte Muratow außerdem an, seine Nobelpreismedaille versteigern und den Erlös spenden zu wollen – für ukrainische Geflüchtete. Das gab die Novaya Gazeta in einer Meldung bekannt, in der sich auch eine Reihe weiterer Forderungen fanden – etwa die nach einem Waffenstillstand. Darüber hatte Muratow außerdem bereits Anfang März mit der Journalistin Katerina Gordejewa gesprochen, die auf YouTube ihren bekannten Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) betreibt. 

    Im Podcast erklärt Muratow, warum er mit dem Krieg gerechnet hat, inwiefern dieser nun nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland zerstört. Und worauf er, Muratow, jetzt noch hofft – wider besseren Wissens.

    Katerina Gordejewa: Haben Sie tatsächlich bis zum Schluss nicht geglaubt, dass es Krieg geben könnte?

    Dmitri Muratow: Wir haben schon im Vorfeld geahnt, dass es leider Krieg geben wird. Wir hatten in der Redaktion viele Besprechungen zu diesem Thema, untereinander, mit den Ressorts, mit allen. Uns war klar, dass es direkt nach Olympia losgeht.

    Es war klar, dass Wladimir Putin bei einigen Auftritten völlig unmissverständlich all die Kränkungen aufgezählt hatte, die Russland, also Putin in Person, zugefügt worden waren. Es war klar aufgrund der Wortwahl – ständig war da die Rede von Nazis, Faschisten, dem Großen Vaterländischen Krieg, den Heldentaten unserer Vorfahren … 

    Es war klar, dass jener Krieg, der Große Vaterländische Krieg, für Putin nie aufgehört hat. Putin ist zu jung, um dabei gewesen zu sein, aber ich möchte die Vermutung äußern, dass Wladimir Putin jetzt danach strebt, seinen persönlichen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu erringen. Einen Sieg, der darin besteht, die Ergebnisse zu verteidigen, die er für richtig hält. So kämpft er dort jetzt gerade: als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs. Das ist meine Vermutung. 

    Aber wenn ich diese Aufrüstung des Bewusstseins sehe, manchmal übrigens eine durchaus humanistische – zum Beispiel das Unsterbliche Regiment, die Armeekathedralen als Orte des Gedenkens: Das alles ist zweifellos ein Leben in der Vergangenheit. Es geht darum, den Sieg zu erringen, als hätte es diesen Sieg nie gegeben.

    Die Menschen, die Putin jetzt umgeben, bleiben die aus Angst bei ihm oder weil sie an das glauben, was er tut?

    Ich habe gestern [das Interview wurde am 7. März veröffentlicht – dek] mit ein paar Mitgliedern des Machtapparats gesprochen, und ich kann mich nicht erinnern, wann sie … – ich will sie nicht Elite nennen, ich nenne sie Machthaber, Entourage, aber sicher nicht Elite, nicht nach dieser berühmten Sitzung des Sicherheitsrates, nachdem wir gesehen haben, wie sie zittern, wie viele von ihnen breitbeinig zum Podium gegangen sind … Weißt du, warum? Wegen ihrer Pampers, Katja. Also, ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren. Noch nie waren sich die Leute, die an der Macht sind und die mit ihr betraut sind, so einig – ich rede jetzt nicht vom Business, das sind verwandte Dinge, aber doch nicht dasselbe … Sie sind sich absolut einig. Sie teilen Putins Weltbild zu hundert Prozent.

    Ich möchte sie nicht Elite nennen, aber ich möchte sagen, dass sie sich noch nie so einig waren

    Präsident Putin hat sein eigenes Weltbild. Dieses Weltbild ist fast so unerschütterlich wie die ägyptischen Pyramiden, wo zwischen den Steinblöcken keine Nadel Platz hat. Sein Weltbild ist absolut klar: Russland ist eine Festung. Es ist ein isolationistisches Land, unendlich reich an Bodenschätzen, ein Land, das niemanden braucht, das endlich begreifen muss, dass der Westen der Feind ist, dass die Welt der Feind ist … Das ist sein Weltbild, und es hat um sich gegriffen, es hat die ganze Elite infiziert …

    Jetzt haben Sie es doch gesagt!

    Aus reiner Gewohnheit, weißt du …

    Aber im politologischen Sinn ist das die Elite.

    Ich weiß nicht … – ich bin nicht bereit, sie Helden oder Elite zu nennen … Mitstreiter vielleicht. Eine Elite, das sind Leute, die bis aufs Blut und weiter für das Glück ihres Landes ackern.

    Das, was man Ehre und Heldenmut nennt.

    Genau, also können wir das nicht sagen. Sie teilen ein und dasselbe Weltbild. Es gibt da überhaupt keine Spaltung. Die ganzen Theorien, die man uns überall aufschwatzen wollte und von denen man immer noch sagt: dass es zu einem Machtwechsel durch die Spaltung der Eliten kommen wird … Da ist keine Spaltung.

    Aber Sie haben doch selbst gesagt: dass die Angst hatten, als sie vor dem Sicherheitsrat sprechen sollten.

    Die hatten Angst, das Falsche zu sagen, sie waren schließlich zu einer Prüfung angetreten, und nicht alle hatten den Text auswendig gelernt. Aber jetzt ist allen alles klar.

    Und alle teilen diese Ansichten?

    Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt. Alles. Eine treuere Regierung hat es, glaube ich, noch nie gegeben.

    Ich kann nicht für jeden einzelnen sprechen, aber ich kann sagen, dass sie alles tun werden, was Putin ihnen befiehlt

    Wie hat das alles angefangen, und was hat überhaupt die Ukraine damit zu tun? Das hat doch nicht erst 2014 angefangen?

    Nein, das hat früher angefangen, wenn man bedenkt, wo Putin jetzt angekommen ist. Wenn du dich erinnerst: Russland hatte 2006 eine NATO-Vertretung in Brüssel, den NATO-Russland-Rat. Dort saßen diverse Vertreter, unter anderem übrigens Rogosin. Putin hatte damals ernsthaft vorgeschlagen, über einen Beitritt Russlands in die NATO nachzudenken, und war sehr erstaunt, als man ihm sagte, dass man dafür eine Art Probezeit braucht, Dokumente vorbereiten muss … Er war überzeugt, dass man so ein einmaliges Angebot [seitens Russland – dek] nicht ablehnen würde, aber man legte ihm Steine in den Weg. Und als er später vollkommen überzeugt war, dass man ihn betrügt – das heißt, dass der Westen Putin betrügt – da kam die Münchner Rede, in der 2007 absolut alles gesagt wurde, was wir jetzt und hier haben. Diese Rede wurde wohl kaum ernstgenommen. Nur von kleineren Regimes in Lateinamerika und in Kuba.

    Sie wurde angehört, und sie hatte einen zweiten, besänftigenden Teil, aber die großen Politiker, selbst die Leader der europäischen Welt haben das nicht ernstgenommen. Sie hielten das für Rhetorik. 

    Aber im nächsten Jahr kam dann der Georgienkrieg, und Präsident Bush sagte zu Wladimir Putin das eine und zu Michail Saakaschwili etwas anderes. Und die Geheimdienste sind dafür da, alles Gesagte zu vergleichen. Seither glaube ich, dass das einer der wichtigsten Wendepunkte war, denn Russland hatte immer von einem Bekenntnis zu westlichen Werten geredet, von der Diktatur des Gesetzes, davon, wie offen wir seien, wie global die Welt sei. Das alles hat genau in diesem Moment aufgehört: „Man kann ihnen nicht glauben, sie verstehen nur Gewalt, Worte verstehen sie nicht.“ Ich spreche das als inneren Monolog, so wie ich mir den inneren Monolog der kollektiven Staatsmacht vorstelle.

    Das heißt, die kollektive Staatsmacht fühlte sich vom Westen gekränkt?

    Sehr gekränkt, zutiefst gekränkt, bis zum Umfallen gekränkt. Und dann passierte noch etwas: Putin wurde plötzlich klar, dass die Leute, die ihm was von Werten erzählen, eigentlich Preise meinen. Sieh doch mal, Putin hat massenweise repräsentative mächtige Leute aus dem Westen, westliche Politiker in die Aufsichtsräte der russischen Staatsunternehmen eingekauft.

    Sie meinen die, die jetzt eiligst austreten …

    Jetzt treten sie eiligst aus, aber genau so eilig sind sie damals eingetreten – so eilig, dass sie fast auf ihrer Schleimspur ausgerutscht wären. Der französische Premier, der deutsche Kanzler, italienische Politiker … Sie nahmen brav Platz, bekamen ihre …

    … riesigen …

    Ich weiß es nicht von allen genau, ich habe nicht alle Zahlen im Kopf, aber es ging um ein paar Millionen Dollar im Jahr. Und er, Putin, lacht sich kaputt. Er sagt: „Und diese Leute wollen mir was von Werten erzählen? Ihr wollt alle nur Kohle.“ Und er ist davon vollkommen überzeugt. 

    Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie

    Ich glaube, er ist überzeugt davon, dass er ihnen die Freundschaft angeboten hatte und zurückgewiesen wurde, und jetzt sollen sie bitte nicht beleidigt sein. Das ist eine normale Denkweise, ich bin selbst in einem solchen Hinterhof aufgewachsen, das ist so eine ganz normale Hinterhoflogik von Achtklässlern: Sei jetzt bitte nicht beleidigt. Das ist ein krasser psychischer Bruch, auch jetzt in diesem für unser Land absolut kritischen Krisenmoment. 

    Denn was ist in der Nacht auf den 24. Februar passiert? Sie haben die Zukunft des Landes zerbrochen. Zack – haben sie genommen, und weg war sie. Lang und ausführlich hat er seine Kränkungen aufgezählt.

    Und es gibt noch ein Detail, auch das kam in der Rede vor: Mit wem soll man denn bitteschön verhandeln, die wechseln doch ständig? Das sind jetzt meine Worte, aber im Großen und Ganzen – sieh mal: Seit Putin an der Macht ist, gab es verschiedene Kanzler in Deutschland, mehrere Präsidenten in den USA, fast ein halbes Dutzend Präsidenten und Premiers in Italien und Frankreich … Sie wechseln die ganze Zeit, und wirklich, so nach dem Motto: Mit wem soll er da reden außer mit Gandhi? Gerade gewöhnst du dich an jemanden, und schon ist seine Amtszeit vorbei. Das ist doch wahrlich nicht vernünftig, oder? Einfach unvernünftig! Und plötzlich steht Putin da als der erfahrenste Politiker der Welt. Er ist knapp über 22 Jahre an der Macht, denn schon als Premierminister standen ihm mächtige Hebel zur Verfügung. Keiner von den europäischen und nordamerikanischen Politikern ist je so lange an der Macht gewesen. Er kennt sie alle in- und auswendig, und er glaubt denen absolut nichts, keinem von denen.

    Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein

    Er denkt ganz bestimmt: „Warum kümmert es euch denn jetzt plötzlich, dass wir mit diesem Krie…, ach, wie heißt das … mit dieser militärischen Spezialoperation zur Wiederherstellung in der Ukraine sind. … Vorher hat doch angeblich niemand etwas gemerkt – dass sie Janukowitsch gestürzt haben, dass seit acht Jahren im Donbass [Krieg ist].“ Und auf die Frage, ob nicht wir Russen es waren, die zuerst im Donbass einmarschiert sind, kommt immer die Antwort: „Alles hat damit angefangen, dass der Westen die Krim nicht anerkannt hat, aber da hat doch das Volk abgestimmt …“ 

    Das ist ein gekränktes Bewusstsein und die felsenfeste Überzeugung, im Recht zu sein. Als die Überzeugung noch klein war, war es einfach eine Anhäufung von Kränkungen, aber als dann Iskander-, Bulawa- und Zirkon-Raketen ins Spiel kamen, wurde klar, dass man diese Kränkung durchaus anderen vorhalten kann.

    Was meinen Sie: War Putin bewusst, dass bisher noch niemand einen Krieg gewonnen hat gegen ein Land, das diesen Krieg als Vaterländischen Krieg sieht? Als Beispiel dient hier die Sowjetunion [im Zweiten Weltkriegdek] oder auch Russland im Napoleonischen Krieg.

    Mit dieser militärischen Wucht und Übermacht kann man das Land natürlich vorübergehend unterwerfen, es aufteilen … Einen westlichen Teil, der leben kann, wie er will, mit Lwiw als Hauptstadt, einen zentralen Teil, der natürlich unter russischer Schirmherrschaft stehen müsste, und dann würde man sehen, wer der wichtigste Präsidentschaftskandidat bei den nächsten Wahlen wäre, und schließlich die Ost-Ukraine, die natürlich russisch sein muss. So ungefähr war der Plan. Aber es hat sich herausgestellt, dass da ein Mann mit Eiern in der Hose ist – Selensky, was kaum jemand geglaubt hat. Seine Zustimmungswerte waren vorher nach unten gegangen, also dachten unsere Propagandisten, das ukrainische Volk würde die russische Armee mit Blumen empfangen.

    Aber jeder, der in den letzten Jahren auch nur einmal in der Ukraine gewesen ist, hätte doch sagen können, dass das nicht stimmt. Hat man Putin angelogen?

    Das kann ich dir erklären. Das ist keine Lüge, das ist viel besser. Schau mal, unsere Regierung bestellt für ihren Boss Propaganda fürs Volk. Sie schaut zu, wie das Fernsehen die Aufgabe erledigt und beginnt allmählich selbst, das zu glauben, was sie in Auftrag gegeben hat, es ist ja im Fernsehen zu sehen. In der Psychologie nennt man das Selbstinduktion. Das ist einer der schwerwiegendsten Gründe: Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen. Sie glauben jetzt tatsächlich an das, was sie sich selbst ausgedacht haben.

    Sie haben Echo Moskwy abgeschaltet, sie haben alle jungen und hoffnungsfrohen freien Medien mit diesem „Ausländische Agenten“-Gesetz ruiniert. Es gibt einen riesigen Exodus an Journalisten, Profis, Analytikern, Programmierern, Fachleuten für die Erforschung von Big Data in Russland. Einen gigantischen Exodus. Gigantisch. Du wirst bald sehen, wovon ich rede. Das sind dann meine persönlichen Verluste. So degradiert man ein ganzes Volk.

    Sie haben sich an ihrer eigenen Propaganda überfressen, sie sind so voll davon, dass sie jetzt kotzen müssen

    Sie haben ziemlich viele Kriege mit eigenen Augen gesehen. Von dem, was Sie jetzt beobachten – die Soldaten der russischen Armee, die russische Militärtechnik, die Soldaten der ukrainischen Armee, die ukrainische Militärtechnik –, können Sie sich da ein Bild vom Zustand der beiden Armeen machen?  

    Muratow: Damals in Karabach habe ich gesehen, wie das Donezker Einsatzregiment des seinerzeit noch sowjetischen Innenministeriums mit alten Panzern versuchte, die Berge hochzukriechen. Der Anblick war nicht so überzeugend.

    In Afghanistan sah ich eine Armee, die zwar schon viel besser aufgestellt war, die aber nicht wusste, wofür sie kämpfte. Die kämpften dort nur für ihre Kameraden, nicht um irgendeine internationale Pflicht zu erfüllen, da hatte keiner einen Plan. Der Krieg lief hauptsächlich unter dem Motto: „Wir rächen unseren gefallenen Freund.“ Was wir dort überhaupt zu suchen hatten, diese Frage wurde gar nicht gestellt. 

    Der Tschetschenienkrieg hat Schreckliches gezeigt …        

    Der erste?

    Ja. Lauter Grundwehrdienstler, die wurden beeidigt und los ging's. Die hatten nicht einmal alle das halbe Jahr Grundausbildung. 

    Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl

    Die heutige Armee ist anders. Es gibt eigentlich zwei Armeen: die traditionelle russische und die Armee von Kadyrow. Kadyrows Armee ist auf Kampf gedrillt, die kämpfen gern, das ist ihr Lebensinhalt. Sie sind gut ausgerüstet, tragen die modernsten Kampfanzüge, die allerneuesten Ratniki. Sie haben im Tschetschenienkrieg viele, wie sie es nennen, Schaitany gefangen und den Umgang mit Waffen von Kindesbeinen an gelernt. Im Grunde versteht Kadyrow sein Land nicht als kleine subventionierte Region Russlands, sondern als Armee, deren Oberbefehlshaber er ist. Daher werden beim Signal des Kriegshorns „Putins Fußsoldaten“ tatsächlich zur Infanterie. Sie haben ein Motiv, nämlich, zu kämpfen.

    Die traditionelle Armee hingegen hat kein Motiv. Ich bekomme jetzt viele Meldungen rein, dass die Armee nicht versteht, wieso sie gegen die Ukraine kämpfen soll. Aber Befehl ist Befehl. Das ist alles ziemlich streng hierarchisch strukturiert, wie üblich beim Militär. Und die Angst vor der Strafe des Tribunals, die Angst, dass der Kommandant unzufrieden ist, die treibt die Soldaten an, immer weiter. Aber das Motiv „die Heimat verteidigen“, das fehlt.

    Halten Sie alles, was da passiert, gewissermaßen für ein Versagen Ihrer Strategie? Denn Sie waren doch einer, der in ganz schweren Zeiten versucht hat, zwischen den beiden Seiten zu vermitteln. Sie konnten sowohl mit denjenigen reden, die auf Demonstrationen wollten, als auch mit denen, die für deren Genehmigung zuständig waren. Sie haben sich gekümmert, haben Leuten geholfen und so weiter. Denken Sie, dass diese Kompromisse dazu beigetragen haben, dass alles innerhalb einer Sekunde in sich zusammengestürzt ist?

    Muratow: Ich habe keine Zeit für Social Media, dadurch habe ich viel Scheiße gar nicht mitgekriegt. Nur davon gehört. Gleichzeitig habe ich keinen einzigen Vorwurf gegen unsere Zeitung gehört. Mir wurden Vorwürfe gemacht, aber nicht der Zeitung. Zum Glück, war es nicht umgekehrt. 

    Was heißt überhaupt sich einigen oder zuhören? Eigentlich ist das meine Arbeit, ich habe ein zweites Signalsystem, also: reden, zuhören, reden, zuhören. Man muss sich die Argumente anhören, und man muss auf jeden Fall den Mund aufmachen, wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu bewirken. Klar, man muss hinfahren und reden, um die Demonstranten freizubekommen. Aber ich glaube, diese Möglichkeit habe ich jetzt gar nicht mehr.   

    Offiziellen Umfragen zufolge unterstützt die Mehrheit der Russen die Militäroperation …
    Muratow: Können Sie das wiederholen? Welchen Umfragen zufolge?
    Offiziellen.
    Muratow: Die wer durchführt?
    Das WZIOM.
    Muratow: Ist das WZIOM ein staatliches Institut?
    Ja.
    Muratow: Dann macht also der Staat mithilfe eines staatlichen Dienstes eine Umfrage für sich selbst, um seine eigene Position zu untermauern.

    Sogar wenn wir das Ergebnis halbieren, sind es immer noch viele.

    Muratow: Okay, einverstanden, aber sogar das WZIOM, kommt zu dem Ergebnis, dass ein Drittel dagegen ist. Also sogar laut staatlicher Umfrage sind ein Drittel dagegen. Das sind, an der Gesamtbevölkerung bemessen, 50 Millionen. Ein Drittel. Immerhin ein Drittel. Ein Drittel! Das sind enorm viele!

    Sogar wenn wir davon ausgehen, dass sie lügen, können wir uns immer noch vorstellen, dass der Teil, der dafür ist, und der Teil, der dagegen ist, egal wie groß, aber ungefähr gleich groß sind. Normalerweise führt das dazu, dass Sofakonflikte zu handfesten Auseinandersetzungen werden. Wie schätzen Sie diese Perspektive ein?     

    Muratow: Das würde ich gern anders beantworten. Es gab im Januar eine Umfrage von Lewada. Das sind telefonische Umfragen, Feldforschung. Es ist ja klar, dass die Leute Angst haben, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation des Präsidenten zur Wiederherstellung der Ordnung?“ Man hat die Telefonnummern der befragten Personen, weiß also auch, wo sie wohnen. Was sollen sie da schon sagen? Ja, sagen sie, ich bin dafür. Die haben doch Schiss, verdammt.  

    Stehen wir im Land am Rand einer großen Bürgerkonfrontation, die katastrophale Folgen haben wird? 

    Muratow: Ich denke nicht über einen Bürgerkrieg in Russland nach. Worüber ich ernsthaft nachdenke, ist die Frage, was diese verschiedenen Teile der Bevölkerung zusammenbringen kann. Total überzeugt bin ich von: Waffenstillstand … 

    Glauben Sie?  

    Muratow: Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können. Auf gar nichts. Worauf soll man sich denn jetzt noch einigen?  

    Waffenstillstand, Verhandlungen, humanitäre Korridore, humanitäre Hilfe, Austausch von Kriegsgefangenen und Rückholung der Gefallenen, auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird man sich auf nichts einigen können

    Unsere Korrespondentin Nadja Andrejewa ist jetzt in Saratow … Sie hat von einer irren Geschichte berichtet, ich werde den Namen des jungen Mannes nicht nennen … Am 24. wurde er getötet, die Nachricht über seinen Tod kam an seinem Geburtstag, am 25. Februar, wenn ich nicht irre. Die Familie ließ ein Grab ausheben und mit einer Plane abdecken, langsam stellte sich die Frage, wann denn die Leiche käme. Aber die war verlorengegangen. Und noch immer wartet dieses abgedeckte leere Grab in der Stadt Saratow [diesen Artikel, wie auch einige weitere, hat die Novaya Gazeta inzwischen gelöscht aufgrund der zensierenden Gesetzgebung, die eine Berichterstattung nur gemäß „offizieller Quellen“ erlaubt, bei „Falschinformation“ drohen bis zu 15 Jahre Haft – dek]. Deswegen braucht es einen Austausch der Gefallenen, humanitäre Korridore und Waffenstillstand. 

    Gut, aber halten Sie das für möglich?

    Muratow: Nun, ich denke, nachdem nichts anderes möglich ist – niemand wird die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk zurücknehmen, niemand wird die Krim zurückgeben –, bleibt nur die Möglichkeit, nicht noch mehr Menschen zu opfern. Der Krieg wird so oder so zu Ende gehen, die Frage ist nur, wie hoch die Verluste sein werden.   

    Glauben Sie daran, dass unsere Kinder oder wenigstens unsere Enkelkinder mit ihren ukrainischen Altersgenossen ohne Hass oder Schuldgefühle werden reden können?

    Muratow: In unserer Generation wird das nicht mehr möglich sein. In der Generation, die jetzt 20 oder 21 ist, geht das vielleicht noch, da herrscht eine andere Empathie. Die meisten jungen Leute sind kategorische Kriegsgegner, und die meisten von ihnen haben plötzlich innerhalb von zwei, drei Tagen kapiert, dass das das letzte iPhone war, dass der letzte Flug weg ist und sie die Länder, von denen sie geträumt und gelesen haben, nie zu Gesicht kriegen werden. 

    Das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen geträumt haben, dass ihnen in der Zukunft die Welt offensteht und dass auch Russland weltoffen ist

    Aber das ist doch ein Scheißdreck im Vergleich zu den vielen Toten in der Ukraine … 

    Muratow: Nein, das ist kein Scheißdreck, weil die Menschen von einer Zukunft geträumt haben, sie haben davon geträumt, dass man Russland in dieser Zukunft lieben würde, dass ihnen die Welt offensteht, dass auch Russland weltoffen ist, dass die Grenzen immer mehr verschwinden und nur mehr zu Ordnungszwecken und für den Zoll bestehen. Sie haben ganz bestimmt davon geträumt, würdige und gleichberechtigte Weltbürger zu sein, dass massenhaft Touristen kommen würden. Von einer Atmosphäre zwischen Russland und dem Rest der Welt wie zur Zeit der Fußball-WM, oder noch besser wie 2014 in Sotschi, vor der Annexion der Krim – davon hat diese junge Generation geträumt. Sie wollten eine schöne Welt, und keine, in der sie losrennen müssen, um für ihre Großmütter schnell noch die letzten Medikamente aufzukaufen.

    Schämen Sie sich dafür, dass wir das nicht geschafft haben?

    Muratow: Nein. Es tut mir nur unfassbar leid. Aber Scham fühle ich nicht. Ich schäme mich sicher nicht für das, was ich 30 Jahre lang gemacht habe. Es schmerzt mich, dass Anna [Politkowskaja] nicht mehr da ist, genauso wie [die Kollegen – dek] Jura [Schtschekotschichin], Igor [Domnikow] und Stass [Markelow], dass Nastja [Baburowa] und Natascha [Estemirowa] tot sind und dass der Krieg im Donbass Nugsar Mikeladse kaputtgemacht und letztlich umgebracht hat. Dafür verspüre ich Verantwortung und Schuld. Aber nicht für das, was wir tun.      

    Aber es ist uns nicht gelungen … 

    Muratow: Schau, manches ist doch gelungen, ein paar Jahre lang lief es gut, da ist uns doch was gelungen. Aber wie es ausgeht, in meinem Leben zum Beispiel … Das steht alles schon bei Jewgeni Schwarz, den ich sehr schätze: „Alles war gut, alles endet traurig.“ Leider kann ich dir, solange dort die Bomben fallen, nichts Aufbauendes sagen. 

    Aber ich finde andererseits auch, dass sich jetzt Gut und Böse sehr deutlich offenbart haben. Das sieht man sogar daran, wer in der UNO Russland unterstützt hat und wer nicht. Zwei, drei Diktatoren sind noch auf unserer Seite, aber der Rest der Welt, in dem die Menschen glücklicher leben als in Nordkorea, sieht das anders. Und das ist auch sehr viel wert. Ich hoffe sehr darauf, dass wir einen Waffenstillstand erreichen. Das ist alles. Mein Wunsch ist nicht groß, aber schwer erfüllbar.  

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  • „Musik ist eine Schulter zum Anlehnen“

    „Musik ist eine Schulter zum Anlehnen“

    Russian Woman heißt der Song, mit dem Sängerin Manizha Russland beim diesjährigen ESC vertreten wird. Darin singt sie in einer musikalischen Mischung aus Folklore, Rap und Pop auf Russisch und Englisch über starke Frauen, die jede Mauer durchbrechen können. Manizha selbst wurde 1991 in Duschanbe geboren, während des Bürgerkriegs in Tadshikistan floh sie mit ihren Eltern nach Moskau.
    So viel hybride Identität trifft nicht nur auf Liebhaber, sondern polarisiert: Auf den ESC-Vorentscheid folgten begeisterte Reaktionen genauso wie Anfeindungen. Neben fremdenfeindlichen Kommentaren gab es auch Kritik am Feminismus der Sängerin, die sich außerdem öffentlich mit der LGBTQ-Community in Russland solidarisiert. 

    Manizha, die bereits vor ihrer ESC-Teilnahme in Russland erste Erfolge feierte, hat sich vor allem auf Instagram eine Fangemeinde von rund 400.000 Followern aufgebaut, die Abrufe ihrer aufwändigen Musikvideos auf YouTube erreichen mitunter Millionenhöhe. Forbes zählte sie 2020 zu den aussichtsreichsten russischen KünstlerInnen unter 30. 

    Meduza nahm dies 2020 zum Anlass für ein ausführliches Interview. Die Kulturjournalistin Katerina Gordejewa sprach mit Manizha über die Kindheit in Duschanbe und Moskau, die Anfänge ihrer Karriere, die sie auch nach London führten, und die starken Frauen in ihrer Familie.

    „Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin“ – Sängerin Manizha tritt für Russland beim ESC an / Foto © EBU/Andres Putting
    „Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin“ – Sängerin Manizha tritt für Russland beim ESC an / Foto © EBU/Andres Putting

    I. Manizha und Instagram

    II. Manizha und Social Impact

    III. Kindheit in Tadshikistan


    Katerina Gordejewa: Mit wem verbringst du den Lockdown?

    Manizha: Meine ganze Familie lebt derzeit zusammen in einem Haus. In „friedlichen Zeiten“ waren wir ausgeschwirrt und hatten zu tun, aber jetzt sind wir alle unter einem Dach vereint. Und weißt du, irgendwie sieht man jetzt klarer. Alles, worauf man in der Hektik nicht achtet, die Eigenschaften der Menschen, die einen umgeben. 

    Die Zeit vergeht langsamer und erlaubt es einem, seine Stärken und Schwächen zu analysieren und aufzuspüren: Woran sollte man arbeiten, woran lieber nicht.

    Ich esse ständig und bewege mich nie. Ich mache keine Challenges und keine Trainings per Skype

     Außerdem ist es schön, dass man auf einmal wieder jemanden anrufen kann, der einem wichtig ist, ein bisschen quatschen, fragen, was sich tut, ein bisschen in den Hörer schweigen oder schnaufen. Das hat es lang nicht gegeben: Wir sind die ganze Zeit gerannt.


    I. Manizha und Instagram

    Wann begann dein Erfolg?

    Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin, aber die Haltung meiner Verwandten hat sich verändert, ich bin jetzt Lieblingsschwester, Lieblingsnichte, Lieblingsenkelin.

    Fühlst du dich eigentlich immer noch fremd in Moskau?

    Ich habe Moskau lange Zeit abgelehnt. Ich wollte immer weg von hier. 

    Eine Zeitlang hast du in Petersburg gelebt.

    Ja, in Petersburg und in London. Aber vor etwa drei Jahren habe ich begriffen, dass Moskau meine Stadt ist. Ich liebe Moskau. Für jeden Stein, für die ganze Scheiße, die hier passiert, die ganze Liebe, den Hass. Ich musste lange davor flüchten, mich verstecken, um es zu gewinnen.

    Warum hast du dich dazu entschlossen, deine Karriere über Instagram zu machen? Es gibt ja naheliegendere Arten: Wettbewerbe, Konzertagenturen, Fernsehen. 

    Wegen der Freiheit. Aber da muss ich ausholen: Mit 15 Jahren war ich ein Superstar, gewann das Goldene Grammofon, spielte bei Firmenfeiern und ging auf Tournee. Meine Managerin war damals – und ist es bis heute – meine Mutter: Sie investierte Zeit und Geld in mich, fand Sponsoren und Promoter. Alle wollten, dass alles schön, glamourös, erfolgreich ist. Sie haben mir die Haare kürzer geschnitten und blondiert und mir ein rotes Tutu und ein Korsett angezogen und mich auf die Bühne gestellt. Das brachte Erfolg. Das brachte Geld.

    Sie haben mir die Haare blondiert und mir ein rotes Tutu angezogen

    Aber das war nicht ich. Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt. Aber die Producer sagten: Wer braucht hier Englisch, spinnst du? Also, mein Erfolg dauerte von 15 bis 17, dann bin ich durchgedreht und habe gesagt, dass ich hasse, was ich mache. Und habe offiziell damit aufgehört. 

    Und was haben die Producer gesagt?

    Die zuckten ratlos die Schultern. Mama war natürlich schockiert, aber sagte: „Gut. Dann zeig mir, dass du es selbst kannst.“ Und ich schwamm los.

    Ich packte meine Sachen und fuhr nach Petersburg. Ich studierte an der Uni [Psychologie – dek] und gründete parallel eine Band. Die ganze Zeit dachte ich: „Ich werde Mama beweisen, was ich kann!“ Aber in mir drin wusste ich, dass das Bullshit war. Ich trat in irgendwelchen versifften Underground-Clubs auf, mit scheußlichen Bühnen und miesem Sound, und alles wurde immer schlimmer. Mir wurde klar, dass ich aufhören musste, das ging hier alles den Bach runter. 

    Und dann kommt unser letztes Konzert, und ich weiß, dass ich danach mit all dem aufhören werde, weil es einfach nicht geklappt hat. Ich schlief unterdessen im Auto meiner Freundin, weil ich keinen Schlafplatz hatte, nichts zu essen und kein Geld, und heulte nächtelang. 

    Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt

    Ich trete also ein letztes Mal auf, und nach dem Konzert kommt so ein seriöser Typ im Anzug auf mich zu, neben ihm irgendein durchgeknallter Musiker. Die sagten: „Wir möchten Sie zum Casting einladen, als Sängerin in einer europäischen Musikshow. Wir machen eine Tour: Spanien, England, New York.“ Ich habe nichts zu verlieren, also fahre ich nicht nach Hause, sondern gehe zum Casting. Stelle mich ans Mikrofon und singe. Und da kommt dieser Typ im Anzug rein und sagte: „Mein Gott, wie cool, wie toll! Ich find die gut, die nehmen wir!“

    So begann mein Leben als Prinzessin! Alle wuselten um mich herum, ich war Teil dieser unglaublichen Show. 

    Irgendwann war das aber vorbei – offiziell, weil sie nicht genug Geld hatten. Unterdessen hatte ich in London [den Producer] Michael Spencer kennengelernt, dessen Label mir einen Vertrag anbot. Ich las den Vertrag – der war richtig lausig. Keine Rechte für mich, dafür hätten sie uneingeschränkte Macht über mich gehabt. Ich weiß nicht, woher ich die Eier hatte, aber ich lehnte ab und ging zurück nach Russland. 

    Du hast dich für die Freiheit entschieden?

    Die große Freiheit, die ich so unbedingt wollte, hatte mir eine handfeste Depression beschert. Nach diesem weiten Weg war ich wieder bei Null. Alle rundherum sagten: Du musst dich weiterentwickeln … Aber ich lag tatsächlich tagelang auf dem Sofa und starrte auf Instagram. Und dann fiel mir um drei Uhr nachts plötzlich auf: „Warum stellt keiner Videos auf Instagram?“ Ich sah noch mal nach, und wirklich – kein einziges Video. So, also war ich die erste auf Instagram, die Videos gepostet hat. Ich hab gepostet und gepostet, und kurze Zeit später hatte ich – ohne Fernsehen, ohne Producer, ohne Label und ohne viel Geld – ein Publikum beisammen, das nur meins war. 

    Dann fiel mir plötzlich auf: ‚Warum stellt keiner Videos auf Instagram?‘

    Mein Song Wanja entstand nach einem Ritual bei Indianern in Amerika. Ich hatte bei einem Gentest erfahren, dass ich unter anderem indianische Vorfahren habe, daher bin ich dahin gereist und habe ein Ritual gemacht, das hatte drei Hauptaspekte: Freiheit, Wahrheit und Vertrauen. „It‘s all about the trust.“ Dann begann das Ritual. Ich hatte das Gefühl, 20 Minuten da dringewesen zu sein, aber es waren dreieinhalb Stunden. Als wir danach vom Reservat ins Hotel fuhren, schrieb ich gleich im Auto den Song Wanja

    Mein Song Wanja entstand bei Indianern in Amerika

    Das Lied zog aber überhaupt nicht. Es war das am wenigsten gehörte Lied meiner ganzen Geschichte. Ein richtiger Flop. Ich hab so geweint, ich kann‘s dir gar nicht sagen. Ich war wahnsinnig enttäuscht, wo ich diese Sache doch mit so viel Herzblut angegangen war und sich alles so schön gefügt hatte … Und dann so ein Flop, verstehst du? 

    Wie bist du da rausgekommen?

    Ich wurde sehr krank. Ich versuchte, die Situation loszulassen, weil ich mich auf ein großes Konzert in der Crocus City Hall [im Februar 2020 – dek] vorbereiten musste, aber mir war elend, und ich war völlig kraftlos. Und plötzlich Anfang Januar – ohne mein Zutun – veröffentlicht Juri Dud einen Post. Ich konnte es kaum glauben, als ich auf meinem Handy sah „Juri Dud hat Sie markiert“. Er schrieb, dass ihm Wanja gefallen habe. Was da abging! Die Views stiegen und stiegen! Einen Tag später wurde ich zur Talkshow Wetscherni Urgant eingeladen. Kurz gesagt, das Schicksal des Songs drehte sich um 180 Grad. 

    Warum war dir das Konzert in der Crocus City Hall so wichtig?

    Weil Moskau eine unbezwingbare Stadt ist. Diese Stadt mit einem großen Konzert zu bezwingen ist ein enormer Kraftakt und ein unfassbares Glück. Stell dir vor, in dieser überforderten Stadt, wo alle ums Überleben kämpfen, gelingt es dir, über 4000 Menschen in einem Raum zu versammeln und in einer Idee zu vereinen – sie singen. Und du weißt ganz genau, dass sie sich dir an diesem Abend hingeben. Und du gibst dich ihnen hin. 

    Crocus ist nicht als Ort wichtig – obwohl er heute der einzige ernstzunehmende Saal in ganz Moskau ist –, sondern als Ereignis. Eine so riesige Menge Leute sind für mich als Sängerin, die nicht-kommerzielle Musik macht, ein Geschenk und ein Fest. Dieses Konzert war ein absolutes Glück. Alles lief super.

    Wie und warum hast du dich dazu entschieden, keine kommerzielle Sängerin zu werden, sondern eine Künstlerin mit einer sozialen Botschaft? 

    Mir haben meine Fans geholfen, ins Licht zu treten – ich befinde mich in einem ständigen Dialog mit ihnen. Ich beantworte alle Kommentare, frage: „Was soll ich am Montag singen? Was gefällt euch?“ Ich unterhalte mich mit ihnen, und ich interessiere mich wirklich dafür, was sie beschäftigt, wie ich ihnen helfen kann. Ich bin überzeugt davon, dass Musik heilen kann. Mich hat irgendwann Thom Yorke mit seinen blöden Manifesten aus der Depression geholt. Ich finde, Musik ist eine Schulter zum Anlehnen, wenn es dir schlechtgeht. Wir können der Kunst unseren heftigsten Schmerz anvertrauen und ihn gemeinsam mit ihr durchleben.


    II. Manizha und Social Impact

    Das erste soziale Thema in deinem Werk war häusliche Gewalt. Warum? 

    Erstens wurde ich darum gebeten. Und zweitens weiß ich genug darüber, dass ich das Recht habe, davon zu singen. Ich habe oft genug häusliche Gewalt miterlebt, war in muslimischen Familien oft damit konfrontiert. Am schlimmsten ist, dass die Frauen das okay finden – die Mutter sagt zur Tochter: „Ich wurde geschlagen, und du wirst auch geschlagen. Das hältst du aus.“ In östlichen Familien werden Mädchen so erzogen, dass das Wichtigste ist zu heiraten. „Papa, ich will ein Tattoo.“ – „Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.“ „Papa, ich will singen.“ – „Kannst du, wenn du verheiratet bist.“ 

    ‚Papa, ich will ein Tattoo.‘ – ‚Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.‘

    Das Wichtigste ist, dass der Mann ein braves, ordentliches Mädchen kriegt und er dann entscheidet, ob sie sich ein Tattoo stechen lassen, singen und tanzen darf – oder eben nicht. Und die Gesellschaft akzeptiert das. 

    War es in Tadshikistan in der Sowjetzeit einfacher?

    In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund, es hing mehr davon ab, in was für einer Familie man lebte. Jetzt ist der Islam strenger geworden: Schon kleine Mädchen tragen Hidjab; die Religion wurde viel mehr zum Kontrollmittel. Noch dazu ist die Lage in Tadshikistan zum Heulen, weil alle Männer zum Geldverdienen ins Ausland fahren. 

    Was passiert mit Tadshiken in Russland?

    Sie trifft absolute Rechtlosigkeit – sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder. Es gibt sehr viele verlassene und aus staatlicher Sicht inexistente Frauen, und noch mehr solcher Kinder.

    Auf Instagram postest du viele Fotos von dir ohne Schminke, Photoshop und ohne all das, was ein Star angeblich sonst noch braucht. War es leicht für dich, so selbstsicher zu werden?

    Würde ich nicht sagen. Aber ich bemühe mich. Ich bemühe mich zu lernen, mich selbst so zu lieben, wie ich bin. Das ist nicht einfach. In Russland gibt es eine Riesenmenge selbstsicherer Frauen. Doch nur ein geringer Prozentsatz würde auf die Straße hinausgehen ohne männliches Feedback.

    Unbedingt ein männliches Feedback? 

    Ja, unbedingt von einem Mann. Uns ist wichtig, wie uns die Männer bewerten. Weil wir mit dem Paradigma groß geworden sind, dass wir Hälften eines großen Ganzen sind, dass wir für uns genommen nicht genug sind. Das macht mich rasend. Ich will etwas Ganzes sein und will einen ganzen Menschen an meiner Seite haben. 

    In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund. Jetzt ist der Islam strenger geworden

    Erst gestern bin ich durch den Gemüsegarten gegangen und habe ein paar Zeilen zu diesem Thema gedichtet: „Ich dachte nie, nur ein Stück zu sein, zum Glück. Ich bin für mich ein Teil, ein ganzes.“ 

    Ist das der Ursprung deiner Body-Positivity?

    Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe auf Instagram mein allerschönstes Foto gepostet, und die Leute haben kommentiert: „Manizha, bist du schwanger?“ 

    Warst du sauer?

    Früher haben mich solche Kommentare sehr getroffen, gekränkt. Aber dann hab ich verstanden, dass ich mich nicht mehr so sehe wie früher. Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial. Body-Positivity – das ist schon seit der Schule mein Thema. Das ist, wie wir uns als Teenager sehen, wie wir uns in Erinnerung haben. 

    Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial

    Ich war eine Außenseiterin. Noch dazu war ich bucklig, hatte früh einen Busen und lauter Komplexe. Deswegen trug ich weite Kleidung und tat alles, damit man meinen Busen und überhaupt meine Figur auf keinen Fall sehen konnte. Insofern ist Body-Positivity meine Geschichte, ich habe mir selbst die Challenge gestellt: mich so zu sehen, wie ich bin, und gern zu haben. 

    Hast du keine Angst vor Instagram-Sucht? Vor Abhängigkeit vom Publikum, seinen Fragen, Kommentaren, Reaktionen? Ich erinnere mich an deinen Post zur Unterstützung von LGBT und wie du im nächsten Post beklagt hast, dass nach diesem öffentlichen Statement tausend oder sogar noch mehr deiner Follower ihr Abo gelöscht haben. 

    Ja, eine schlimme Sucht ist das, ein schwarzer Spiegel. Aber Instagram ist auch nichts anderes als Fernsehen. Wozu ist man bereit, um seine Popularität zu fördern? Du erwähnst meine Unterstützung für dieses LGBT-Projekt … Ich habe in die Hölle gestarrt, die sich in den Kommentaren zu diesem LGBT-Post auftat, und habe die ganze Zeit gedacht, in was für einer schiefen Welt wir leben: Viele meiner Mitstreiter im Show-Business verbergen ihre Orientierung. Sie singen Lieder für die Hausfrauen in ganz Russland und verdienen Geld damit. Und lügen ihnen was vor. 

    In den Kommentaren zu diesem LGBT-Post habe ich in die Hölle gestarrt

    Ihr ganzes Leben leben sie mit diesen Lügen. Das heißt, du betrittst die Bühne, versammelst da eine riesige Menge und singst, wie doll du sie geliebt hast. Dabei hast du dein Leben lang nicht sie, sondern ihn geliebt! Du hast einen Partner und ein Kind von einer Leihmutter! Warum verrätst du deine Familie? Die Antwort ist ernüchternd: Die Leute haben einen Riesenbammel, ihre Fans zu verlieren – und damit ihre Einnahmen. 

    Das ist Heuchelei, verstehst du? Ich sitze bei einer Preisverleihung, und rundum sitzen Manager und PR-Leute von Stars, die ihre Orientierung verbergen und mit homophoben Witzen um sich schmeißen. Und dann meinen sie noch, ich verteidige Gay Rights nur, weil ich keine Kinder habe. So ein Schwachsinn! Sie glauben, ihre Kinder vor Schwulen zu schützen, dabei arbeiten sie selber für welche. Kohle machen ist okay, aber sonst sind Schwule eine Gefahr für die Gesellschaft. 

    Findest du, dass Russland ein homophobes Land ist?

    Ich finde, dass Russland ein heuchlerisches Land ist. In Russland denkt man immer das eine und sagt das andere. Und das geht seit Urzeiten so. Man hat immer Angst zu sagen, was man denkt, um nicht zu verlieren, was man hat. 

    Hast du auch diese Angst?

    Nein. Wenn du alles sagst, was wahr ist, dann kriegst du ein Publikum, das deins ist, weil du du bist. Ja, manches akzeptieren sie nicht. Nach dem LGBT-Projekt ist, genauso wie nach dem Clip über häusliche Gewalt und den über Schönheit und Selbstliebe, ein Haufen seltsamer, zum Teil aggressiver Kommentare gekommen. Aber das ist besser als Lügen. Einfacher.


    III. Kindheit in Tadshikistan

    Kannst du uns von Tadshikistan erzählen?

    Ja. Ich würde mich an Tadshikistan gern in so bunten Farben erinnern, wie es in meiner Kindheit war. Aber das geht nicht.

    Warum?

    Meine Kindheit zerfällt in zwei Teile – zuerst Tadshikistan, mein Anfang, dann kommt ein gigantisches Loch, und dann Russland. Und das ist bereits ein anderes Ich. Als ob das Leben von Neuem begonnen hätte.

    Woran erinnerst du dich noch aus der Zeit in Tadshikistan? 

    An den Hof. Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Ich habe ein bescheuertes Kleid an und ein Gerstenkorn am Auge. Im Hof steht ein riesiger Behälter mit Wasser, kein Pool, aber so etwas Ähnliches. Es ist heiß draußen, und das Wasser ist eiskalt. Ich gehe hin und tauche meine Hand ins Wasser. Die Hitze lässt nach.

    Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich habe ein bescheuertes Kleid

    In meiner Kindheit war es sehr schön. Viel Grün, viel Sonne und Früchte, eine Insel vollkommenen Glücks. Als meine Großmutter noch lebte, war ich oft dort, aber sie ist vor zehn Jahren gestorben. Seit zehn Jahren kann ich nicht mehr nach Hause fahren. 

    Nur im November 2019 war ich in Duschanbe, um einen Clip für Nedoslawjanka zu drehen. Ich setzte mich am Flughafen in ein Taxi und begriff während der Fahrt, dass das nicht mehr meine Stadt ist. Eine tolle, schöne Stadt voller Leute, die nichts davon wissen, wie es hier gekracht hat, wie geschossen wurde. Sie haben keine Ahnung davon, sie leben hier einfach. Aber ich – ich kann nicht. Die ersten zwei, drei Tage habe ich sehr gelitten, dann habe ich losgelassen. Man muss weitergehen. Den Ort meiner Kindheit gibt es nicht mehr.

    Erinnerst du dich daran, wie ihr aus Duschanbe weggezogen seid?

    Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Das war ein Riesenstress. Ich wollte nicht weg, hatte Angst. Offenbar hat mein Unterbewusstsein alles gelöscht. Als würde man die Augen schließen und wieder aufmachen – und plötzlich ist man in Moskau. Eine Einraum-Mietwohnung mit Kakerlaken, in der wir zu viert leben: Mama, Papa, ich und mein kleiner Bruder. Dann hat Mama sich von Papa scheiden lassen und die drei Kinder ihres Bruders zu uns genommen.

    Erzähl mal von deiner Mutter.

    Meine Mutter ist sehr schön und begabt. Als wir noch in Tadshikistan lebten, war Mama ein richtiger Star. Sie wurde zum Schönheitswettbewerb Miss World eingeladen, sie hatte eine tolle Stimme, sie sang. Aber sie musste arbeiten und fuhr nicht zum Wettbewerb. Seit sie 16 war, nähte sie großartige Mode. Zu ihr kamen die Gattinnen von Ministern und Präsidenten: Wir brauchen etwas zum Anziehen, ein Kleid – nur von Ihnen! Sie hat ziemlich gut verdient. Sie erzählte mir, dass sie sich damals teure Parfums und Jeans leisten konnte, alles, was Mangelware war. Und sie konnte selbst entscheiden, wie sie leben wollte. Ich weiß nicht, wie ich neben ihr keine Feministin hätte werden können. 

    Warst du mit deiner Großmutter per Sie?

    Ja, auch mit Mama. 

    Warum?

    Das ist Tradition. Ich bin gar nie auf die Idee gekommen, sie zu duzen. In Russland habe ich lange gebraucht, mich daran zu gewöhnen, zu Älteren du zu sagen.

    Wie war deine Beziehung zur Großmutter?

    Ich war jeden Sommer drei Monate bei ihr. Meine Großmutter hat mich in Computerkurse geschickt. Ich hab gebrüllt: „Wozu brauch ich das?“, aber sie blieb ganz ruhig: „Du musst das lernen, du musst dich mit Photoshop auskennen, mit Adobe, mit Adobe Premiere und Fotomontage.“ Und: „Du musst Persisch lernen, du musst Englisch lernen. Sprachen sind das Allerwichtigste.“ Ich habe damals nicht verstanden, wozu das alles, aber jetzt schneide ich meine Videos und bearbeite den Sound selber. Ich spreche fließend und schreibe Songs auf Englisch. Also, es ist alles aufgegangen, was meine Oma gesät hat. 

    Meine Großmutter hat mir beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht

    Aber das Wichtigste ist die Freiheit. Sie hat mir mit ihrem Denken und Verhalten beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht. Von meiner Großmutter haben wir unser freies Verhältnis zum Thema Entscheidung, zum Thema Körper, zum Thema Glauben.

    Im muslimischen Tadshikistan ein freies Verhältnis zum Glauben?

    Meine Mutter hatte immer eine Faszination für Buddhismus – niemand hat sie aufgehalten oder davon abgehalten. Mein Papa wird jetzt immer mehr zum Muslim, aber das kam erst in Russland. Trotzdem ist er sehr modern und nicht radikal eingestellt. 

    Warum haben deine Eltern beschlossen wegzugehen?

    Weil Krieg war. Unser Krieg war wahrscheinlich ganz ähnlich wie das, was in der Ukraine passiert ist und nach wie vor passiert. Die Leute versuchten, ganz normal weiterzuleben, aber ob sie wollten oder nicht, der Krieg brach in ihr Leben herein. Einmal landete eine Granate in der Wohnung, die meine Eltern zur Hochzeit bekommen hatten. 

    Wie durch ein Wunder war meine Mama eine Minute zuvor mit mir hinausgegangen zum Wäsche aufhängen. Von der Wohnung ist nichts übriggeblieben. Und genauso ist vom bisherigen Leben nichts übriggeblieben. 

    Vom bisherigen Leben ist nichts übriggeblieben

    Menschen wurden getötet. Niemand brauchte mehr Mamas schöne Kleider und Kostüme, Mamas Schönheit, die Welt brach zusammen. Und Papa und Mama beschlossen, nach Russland zu flüchten. 

    Sprachen sie Russisch? 

    Mama konnte Russisch und auch sehr gut Englisch. Sie war hervorragend gebildet. Aber in Russland musste sie putzen gehen, sie putzte Treppenhäuser und verkaufte in der Unterführung T-Shirts.

    Weil sie Tadshikin ist?

    Es lag nicht daran, dass sie Tadshikin ist. Sie haben in einer neuen Stadt, einem neuen Land, von Null begonnen. Sie mussten ohne Staatsbürgerschaft überleben. Wenn ein hungriges Kind vor dir steht, tust du alles, um es zu füttern. Du arbeitest wahnsinnig viel, legst dich ins Zeug und versuchst, dass wenigstens dein Kind eine Chance hat. So hat es meine Mutter gemacht. 

    Du legst dich ins Zeug, damit wenigstens dein Kind eine Chance hat

    Ich weiß noch, wie ich mit acht Jahren zu ihr gesagt habe, dass ich Sängerin werden will …

    Hast du da schon gesungen?

    Ich habe schon mit fünf Jahren gesungen, und meine Großmutter hat immer gesagt: Manizha muss Sängerin werden. Sie vermietete in Tadshikistan eine Wohnung, legte das Geld in einen Briefumschlag und schickte es nach Moskau. Auf dem Brief stand: „Für die Gesangsstunden meiner lieben Enkelin“. Und Mama schleppte mich, zum Umfallen müde, in die Musikschule, wo damals eine Unterrichtsstunde 50 Dollar kostete.

    Wie ging es dir in der Schule?

    Ich war ein Stubenhockerin, war nie viel draußen, dadurch wurde ich automatisch zur Außenseiterin, weil das nicht den Vorstellungen meiner Mitschüler entsprach. Ich tat mich auch mit Jungs nicht leicht, war schüchtern, hatte Angst. In der Schule war es richtig krass, von moralischer Erniedrigung bis zu Raufereien unter Einsatz von Flaschenhälsen gab es alles. Ich war nicht einmal beim Letzten Läuten dabei, auch nicht auf dem Abschlussball, so mies war mein Verhältnis zu meiner Klasse. Ich wollte niemanden sehen und will es bis heute nicht. 

    Waren das nationalistische Anfeindungen?

    Das auch, natürlich. Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt, beleidigt und gedemütigt worden. Anfangs konnte ich einfach deswegen nicht Paroli bieten, weil ich kein Russisch konnte. 

    Hast du Russisch im Kindergarten gelernt?

    Ja. Ich hab mich in einen Jungen verliebt. Also, ich bin auf ihn zugegangen, ich hab gedacht, das ist ein Mädchen. Er sagte, er sei „eigentlich Mischa“. Da hab ich mich verliebt, warum auch immer. Aber ich bin mir so mickrig vorgekommen, weil ich nicht mit ihm reden konnte. Das heißt, Russisch hab ich gelernt, aber der Spott ist geblieben – im Kindergarten, im Hof, im Bus, in der Schule. Aber mein Glück ist, dass meine Mama Eier aus Stahl hat. 

    Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt worden

    Wenn ich weinte, sagte sie: „Weißt du, was für gebildete Leute die Tadshiken sind? Was wir für einen Stammbaum haben, davon können die nur träumen. Unsere Verwandten – Tadshiken mit dem blauesten Blut, das es nur geben kann – leben über die ganze Welt verstreut, das sind angesehene, ehrenwerte und einflussreiche Familien, die so viel erreicht haben. Nicht, wegen des nationalen Erbes, sondern weil sie von klein auf gelernt haben. Lerne!“ 

    Wann wurde alles anders?

    An der Universität. Da habe ich auch begonnen, kreativ zu sein – anscheinend hatte ich kapiert, wohin mit meiner Energie. Ich war da schon aktive Künstlerin, sang in einem Pop-Projekt und verdiente gar nicht schlecht.

    Und dann hast du Psychologie studiert.

    Ich hätte die Wahl gehabt zwischen der Gnessin-Musikakademie und dem Institut für Schlager und Jazz.

    Warum hast du das nicht gemacht?

    Ich wollte das ganz grundsätzlich nicht. Ich darf mich nicht auf eine einzelne Sache beschränken. Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren. Plus – ich wollte meinen eigenen psychischen Problemen auf den Grund gehen. 

    Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren

    Meine Mama hat nach ein paar Jahren Arbeit als Putzfrau eine Baufirma geleitet und dann noch ein Psychologiestudium an der MGU und eine Psychotherapieausbildung abgeschlossen, woraufhin sie zu Hause als Psychotherapeutin tätig war. Daher sah mein Leben in den letzten Schuljahren so aus: Ich kam nach Hause, ging in die Küche, und da daß schon jemand und wartete, dass Mama im Zimmer die vorangehende Sitzung abschließen würde. Mama hat mir beigebracht, den Wartenden Tee, Kaffee oder Wasser anzubieten. Das tat ich auch, setzte mich dazu, und wir begannen zu reden. 

    Ich habe an der RGGU Psychologie studiert. Ich hatte keine Erwartungen an die Universität. Ich dachte, dass sich die Hölle mit meinen Klassenkollegen auf irgendeine Art hier fortsetzen würde. Aber dann waren es fünf fantastische Jahre voller Liebe. Ich habe meine Universität geliebt, jeden Tag meines Studiums. Über Persönlichkeitspsychologie kam ich zur Kinderpsychologie, da habe ich mich viel mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen beschäftigt. Meine Diplomarbeit schrieb ich zu Besonderheiten der Mutterschaft bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Russland und Tadshikistan. Ich fuhr von Dorf zu Dorf, sprach mit Frauen, die keinen Zugang zu Hilfszentren, Psychologen und Therapeuten haben. 

    Warum hast du das gemacht?

    Ich wollte wissen, woher sie die Kraft nehmen. Mir fiel auf, dass in diesen Dörfern ohne jegliche Therapieangebote die Frauen und ihre Familien mit behinderten Menschen viel sensibler umgehen. Vielleicht ist das etwas Nationales, vielleicht etwas Transnationales, Menschliches, jedenfalls leben sie mit der Überzeugung, dass wenn ein Mensch mit Besonderheiten geboren wird, dann ist er für irgendetwas in diese Welt gekommen, dann hat er eine Bestimmung. Menschen mit Behinderung werden dort verehrt.

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  • Warum der Fall Golunow alles zum Kochen brachte

    Warum der Fall Golunow alles zum Kochen brachte

    Viele Menschen in Russland wähnen sich derzeit in einem Traum: Iwan Golunow, der am Donnerstag noch wegen angeblichen Drogenhandels festgenommen wurde, ist frei. Wie ist das möglich? Eine gezielte Volte des Kreml? Oder gab er schlicht dem Druck der Straße nach? Die Ereignisse überschlagen sich, und die Gerüchteküche zu den schon zuvor gemutmaßten Gründen für die mögliche Freilassung brodelt nun noch mehr.

    Der Name Golunow ist seit vergangener Woche in aller Munde, eine bislang nie dagewesene Welle der Solidarität hat seitdem das Land erfasst. Tausende Menschen demonstrierten, sogar staatsnahe Stimmen stellten sich auf die Seite der Protestierenden. Sie waren von Anfang an überzeugt, dass die Vorwürfe gegen Golunow vorgeschoben sind und eigentlich darauf abzielen, seine journalistische Tätigkeit zu unterbinden. Auch im Ausland war der Fall Golunow Thema: Reporter ohne Grenzen forderte die Freilassung des Journalisten, in Berlin demonstrierten am Samstag dutzende Menschen vor der Russischen Botschaft und auch die dekoder-Redaktion schrieb einen offenen Brief zur Unterstützung von Iwan Golunow.

    Vergleichbare Fälle von Festnahmen und Verhaftungen aus fadenscheinigen Gründen gab es in Russland schon vor der Causa Golunow. Doch warum gab es damals keine derartigen Proteste? Warum schwappte die Solidaritätswelle gerade jetzt so hoch? Diese Fragen stellt Katerina Gordejewa auf Colta.

    Seit dem Morgen sind an den Zeitungskiosks im ganzen Land die Zeitungen Vedomosti, Kommersant und RBC ausverkauft, die Fluggäste von Aeroflot und Fahrgäste im Sapsan reißen einander die kostenlosen Exemplare aus der Hand – auf der Titelseite das Portrait des Investigativ-Ressort-Journalisten von Meduza Iwan Golunow mit dem Slogan Ich bin/Wir sind Iwan Golunow

    Dutzende großer und kleiner Medien im ganzen Land ändern ebenfalls ihre Titelseite und drücken so ihre Solidarität mit dem wegen Verdacht auf Drogenbesitz und -handel festgenommenen Kollegen aus.

    Der Schauspieler Konstantin Chabenski erklärt bei der Jubiläums-Eröffnung des 30. Kinotaur Festivals, dass gerade „versucht wird, einen Journalisten auszuschalten“; im Saal bricht tosender Applaus los, der Fernsehsender Kultura überträgt die Szene ungekürzt, im Vordergrund des Bildes: Kulturminister Wladimir Medinski.

    Die, die früher bei anderen himmelschreienden Anlässen vorgezogen haben, vieldeutig zu schweigen oder „den weisen Schluss zu ziehen“, es gebe „kein Rauch ohne Feuer“, diese demonstrativ apolitischen Schauspieler und Musiker, vorsichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Designer, Kuratoren, Regisseure, Moderatoren des staatlichen Fernsehens – diesmal war es, als könnten sie nicht mehr: Sie haben den Mund aufgemacht und gesprochen.

    Die Causa Golunow ist zum Referenzpunkt für eine nie dagewesene Solidarität geworden. Erstmals in einem relativ langen historischen Zeitraum ist die vor den Augen grassierende Ungerechtigkeit wichtiger als Meinungsverschiedenheiten. Es ist ein Präzedenzfall in der neuesten Geschichte.

    Kein Peskow kann mehr sagen: „Der Präsident hat davon noch keine Kenntnis.“ Schon jetzt – und das wird nur noch mehr – pfeifen die Spatzen von allen Dächern die Ungereimtheiten des Falles, die polizeiliche Willkür, den Auftragscharakter der ganzen Sache.

    Einige tausend Menschen protestierten und protestieren immer noch landesweit in Einzelpikets: Sie nehmen Videos auf, mit denen sie den Journalisten unterstützen, schicken Anfragen und wollen am Tag Russlands zum Protestmarsch gehen. Als ob all diese Menschen gemeinsam das Ventil umgedreht hätten: Und damit den Lügenstrahl ab- und den der Wahrheit aufgedreht haben.

     
    Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens zeigen in Videobotschaften ihre Solidarität mit Iwan Golunow. Hier: Wladimir Posner, Ljudmila Ulitzkaja, Andrej Swjaginzew, Andrej Loschak, Olga Romanowa und Boris Grebenschtschikow

    Warum bringt gerade der Fall Golunow alles zum Kochen? Warum nicht Ojub Titijew, Chef des tschetschenischen Memorial? Warum nicht Kirill Serebrennikow, Juri Dmitrijew, Alexander Kalinin? Und warum nicht dutzende junge Leute aus ausgedachten terroristischen Vereinigungen? Wahrscheinlich werden Politologen und Soziologen eines Tages eine schöne und elegante Erklärung dafür liefern. Bislang weiß es aber ganz bestimmt noch keiner.

    Die Initiatoren des Ganzen waren Kollegen von Golunow – Journalisten. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass der Großteil der Menschen vor dem Gerichtsgebäude oder in den Einzelpikets aus Journalisten besteht, die gegangen wurden oder ihren Beruf aufgegeben haben, weil sie sich darin nicht verwirklichen konnten. Ein Teil der Redaktionen wurde liquidiert, ein anderer überlebt nur dank übermenschlichen Anstrengungen. Bis zu dem Fall Golunow schien es, dass der Beruf quasi ausgestorben sei. Golunow aber hatte weiterhin Journalismus gemacht. Im wahrsten Sinne des Wortes. 

    Aber es geht nicht allein darum. Vielleicht hat es auch mit dem kollektiven Schauen der Serie Chernobyl zu tun, deren Hauptgedanke darin besteht, den fatalen physischen und moralischen Schaden zu verdeutlichen, den Lügen auf allen Ebenen hervorrufen.

    Oder vielleicht geht es darum, dass Iwan Golunow ein guter, einfacher, bescheidener junger Mann ist, der in einer 30-Quadratmeter-Einzimmerbude wohnt. Vor seiner Verhaftung war er vor allem für seinen tadellosen Ruf und seine einwandfreie Professionalität bekannt. Menschen, die Iwan etwas näher kannten, wissen, dass er im Leben mit größter Leidenschaft verstehen wollte, wie die Dinge funktionieren. Seine Lieblingslektüre war die SPARK-Datenbank, eine Webseite über Staatsverträge, staatliche Register und Datenbanken. Seine Analysen und Schlussfolgerungen legten die Affären und Betrügereien offen, in denen das Land versank.

    Der [im Fall Golunow zur Diskussion stehende – dek] Paragraph 228 ist in Russland als „Volksparagraph“ bekannt – auf ihm beruht der Löwenanteil der Urteile, wobei die Rolle der Polizei hier kaum zu überschätzen ist. 
    In einem Land, in dem eine AIDS-Epidemie wütet und Drogen jedem zugänglich sind, der danach sucht, bietet dieser Paragraph eine sehr bequeme Gelegenheit, bei einer beliebigen Person auf der Straße im Rucksack einfach das zu finden, was gesucht – oder besser: was benötigt wird. Genau deswegen sind jetzt in der Causa Golunow jene Stimmen unangebracht, die behaupten, dass sich die Journalisten nur deswegen so ins Zeug legen, da es sich um einen der ihren handelt, während viele andere unter den gleichen Vorwürfen im Gefängnis vor sich hin gammeln. Niemand, egal ob bekannt oder unbekannt, sollte im Gefängnis sitzen, nur weil Polizisten, um ihre Bilanzen zu schönen, offene Fälle zu schließen und einen Stern zu bekommen, jeden ausschalten, um den man sie bittet.

    Nun wurde im Fall Golunows ein Teilerfolg erzielt. Am Samstagabend beschloss das Nikulinski-Gericht in Moskau, Golunow unter Hausarrest zu stellen – eine vergleichsweise weiche Maßnahme, jedoch ist das weder ein vollständiger Freispruch im Gerichtssaal noch ist der Angeklagte auf freien Fuß gesetzt.

     

    Hausarrest statt Untersuchungshaft: Freude bei den Versammelten vor dem Moskauer Nikulinski Bezirksgericht am 8. Juni

    Der Slogan Freiheit für Iwan Golunow, der derzeit wohl überall zu sehen ist, kann erst dann als eingelöst gelten, wenn nicht nur der Investigativjournalist von Meduza freigelassen wurde, sondern alle, die die Anklage gegen ihn bestellt, fabriziert und ausgeführt haben namentlich benannt und bestraft worden sind. Dann können wir den Slogan umformulieren: Statt Freiheit für Iwan Golunow hieße es dann Danke Iwan Golunow.

    Denn schließlich war er es, war es sein Fall, der uns geholfen hat die in Chernobyl so treffend formulierte Maxime zu begreifen: „Wenn die Wahrheit uns kränkt, dann lügen wir, lügen, bis wir uns nicht mehr daran erinnern, dass es die Wahrheit gibt. Aber es gibt sie.“

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  • „Einen großen Roman werde ich nicht mehr schreiben“

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    Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen. Sie erhielt zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen für ihre Werke, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Als sie 2014 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet wurde, charakterisierte der Literaturkritiker Karl-Markus Gauß in seiner Laudatio ihr Werk mit den Worten: „Im Geflecht der Familien und im Netz der Freundschaften zeigt Ljudmila Ulitzkaja, wie die große Geschichte aus lauter kleinen Geschichten gemacht wird.“

    Wie wichtig dieses Geflecht auch für die Privatperson Ljudmila Ulitzkaja ist, wird im Interview deutlich, das Katerina Gordejewa mit ihr führte. Sie sprachen über Persönliches, über starke Frauen, #metoo und darüber, warum der westliche Feminismus in Russland nicht verstanden wurde. Dabei zeigt sich, dass Ulitzkaja selbst geprägt ist von diesem Blickwinkel und ihr westliche feministische Positionen wenig vertraut sind. 
    So ist das Interview mit der 75-jährigen Ulitzkaja in der russisch-orthodoxen Pravmir eines, woran sich (nicht nur) westliche Leser durchaus reiben können.

    Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen / Foto © Jewgenija Dawydowa unter CC BY-SA 3.0
    Ljudmila Ulitzkaja ist eine der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen / Foto © Jewgenija Dawydowa unter CC BY-SA 3.0

    Katerina Gordejewa: Derzeit sehen wir täglich in den Nachrichten, dass sich Frauen zusammentun und Berge versetzen. Ein aktuelles Beispiel ist der Marsch der Mütter. 
    Bei diesem Marsch scheint mir besonders wichtig, dass sich die Frauen nicht wegen gemeinsamer politischer Ansichten zusammengeschlossen haben, sondern einfach, weil sie Frauen sind, Mütter. Die kann nichts aufhalten. 
    Das ist für Russland  eine völlig neue Kraft.

    Ljudmila Ulitzkaja: Oh, ja. Wie heißt es doch bei Pasternak: „Was könnte sich messen mit weiblicher Kraft? Sie ist unfassbar mutig!“ 
    Denkst du, diese weibliche Kraft ist in Russland schon erwacht? 

    Zumindest erwacht sie gerade. 

    Es lief in den letzten 100 Jahren darauf hinaus: Seit 1904 vergingen in Russland keine drei Jahre, ohne dass Männer getötet wurden. Seit dem Russisch-Japanischen Krieg gab es immer nur: Krieg und Repressionen, Repressionen und Krieg.

    Wegen diesem ständigen Schwund der besten, stärksten und klügsten Männer, die in Konflikten und Kriegen umkamen, hat es sich in den letzten 100 Jahren so ergeben, dass die Frauen in Russland einfach qualitativ hochwertiger sind, und außerdem sind sie auch in der Überzahl. Während die Männer in Kriegen und Lagern umkamen, mussten die Frauen sowohl die typischen weiblichen Aufgaben übernehmen als auch die Familie versorgen und beschützen, was für gewöhnlich die Aufgabe der Männer gewesen war. 

    Deswegen stießen westliche feministische Losungen bei uns erwartungsgemäß auf Unverständnis: Sie passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen. Die westlichen Feministinnen wollten, dass Frauen wie auch Männer arbeiten, dass sie am politischen, sozialen und beruflichen Leben teilnehmen. Während unsere Frauen, abgearbeitet von der Doppelbelastung, von jener Situation nur träumen konnten, gegen die man im Westen aufbegehrte. Wenn du von früh bis spät schuftest wie ein Gaul, sind die berühmten drei Ks – Kinder, Küche, Kirche – ein Traum: Zu Hause sitzen, Suppe kochen, mit den Kindern Hausaufgaben machen und zur Kirche gehen.

    Westliche feministische Losungen passten nicht zu den Bedürfnissen der russischen Frauen

    Zum ersten Mal beobachtete ich dieses nahezu komische Unverständnis in den 1980ern, als amerikanische Feministinnen in die Sowjetunion kamen und davon sprachen, was sie beschäftigt, und unsere Frauen sie überhaupt nicht verstanden. Diese Feministinnen verlangten, Abtreibungen zu legalisieren (bei ihnen waren sie verboten) und forderten, dass eine Frau selbst frei entscheiden kann, wann sie ein Kind bekommt. Die russischen Frauen saßen nur da und nickten: „Ja, ganz genau, Abtreibungen sind furchtbar, es gibt überhaupt keine Betäubung, sie reißen es dir einfach so aus dem Leib.“ Man redete völlig aneinander vorbei. 

    Aber auch bei den Problemen gab es fast keine Überschneidungen: Die einen litten unter den einen Sachen, die anderen unter ganz anderen. Ich bin im Grunde überhaupt keine Anhängerin von feministischen Ideen, auch wenn ich vor ein paar Jahren den Simone de Beauvoir Prize bekommen habe.

    Der Anfang des 21. Jahrhunderts wird in die Geschichte eingehen als eine Zeit, in der nicht mehr nur einzelne, besonders fortschrittliche Frauen für ihre Rechte und Freiheiten eintreten. Frauen auf der ganzen Welt tun sich zusammen und protestieren gegen Dinge, die zuvor als selbstverständlich oder sogar als Errungenschaften der sexuellen Revolution galten. 

    Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm. Angefangen bei der Weinstein-Affäre, die gewissermaßen zum Auslöser für die ganze Kampagne wurde. 
    Weißt du, jemand, der mal beim Theater oder Film hinter den Kulissen war, weiß genau, dass die Regisseure und Produzenten sich die Weiber vom Leib halten müssen: Junge (oder nicht mehr junge) Schauspielerinnen sind so besessen davon, eine Rolle zu bekommen, dass sie vor nichts zurückschrecken und zu allem bereit sind. 

    Ich finde diesen ganzen Aufruhr um #metoo unsagbar dumm

    Ich kann dir wirklich nicht sagen, wer in der Überzahl ist: die männlichen Bösewichte, die die weibliche Schwäche und den Wunsch, Karriere zu machen, ausnutzen, oder die Frauen, die sich selbst, ihren Freundinnen oder ihren Konkurrentinnen die Kehle durchschneiden würden, nur um eine gute Rolle zu bekommen. 
    Ich habe ein bisschen am Theater gearbeitet und kenne die Zustände, deswegen finde ich diese ganze Geschichte lächerlich.  

    Aber die Aufmerksamkeit nimmt nicht ab.

    Mir scheint diese Kampagne vor allem gegen eine der mächtigsten Industrien des 20. Jahrhunderts gerichtet zu sein, die sicherlich vorhatte, auch im 21. Jahrhundert noch ordentlich mitzumischen: die Schönheitsindustrie. 
    Alles ist darauf ausgerichtet, dass die Frau mit jedem Jahr schöner und sexier wird. Die Mode ist vollständig auf dieses sexy Image ausgerichtet, das übrigens aus den 1960er Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammt. Weißt du eigentlich, was das Symbol dieser Bewegung war? 

    Was denn?

    Der Minirock.

    Hatten Sie auch einen? 

    Na, was denkst du denn? Klar. Sogar einen aus Leder, eigenhändig aus der Ledercouch kreiert: Ich riss den Lederbezug herunter und nähte mir einen Minirock daraus, den ersten in unserer Gegend. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass diese nackten Beine, die der Minirock zeigt, bis heute im Clinch mit jenen Beinen liegen, die von Vertretern eines anderen kulturellen Codes unter langen Kleidern oder weiten Hosen versteckt werden.

    Ich hatte einen Ledermini, geschneidert aus einer Ledercouch

    Ich denke, hier lohnt sich ein Blick darauf, wie sich diese ganze Gender-Geschichte im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Wobei weltweit immer noch zwei Strategien dominieren.

    Welche sind das? 

    Die erste: Der kleine Finger, der aus schwarzen Kleidern hervorblickt. Er muss nur kurz aufblitzen – und schon ist der Mann der Besitzerin hoffnungslos verfallen und entscheidet sich für sie. 
    Die zweite Strategie kommt aus der Schönheitsindustrie: Die Frau soll immer noch attraktiver, sexuell aufreizender sein – denken wir nur daran, wie viel Geld, Kraft und Zeit Frauen in Kosmetik, Kleidung und Unterwäsche investieren. Als ich letztens einen BH für 1500 Euro gesehen habe, ist mir die Kinnlade runtergefallen. Bei dieser Strategie suggeriert die Frau, die sich durch Make-up und fehlende Kleidung maximal ausgestellt hat: Beachtet mich, und dann entscheide ich selbst, welchen von euch ich nehme.

    Da gibt es die albernsten Sachen, aber auch ein aktuelles, kulturanthropologisches Problem: Wie soll man heutzutage seine Kinder erziehen? Beispielsweise die Mädchen. Wonach sollen sie sich richten? Soll man ihnen rosa Kleidchen oder Jogginganzüge kaufen? Lackpumps oder Sportschuhe?

    Meine Enkelin Marianna hat von meiner Tochter immer nur mädchenhafte Kleidung bekommen, aber jetzt wo sie etwas älter ist und sich ihre Kleidung selbst aussucht, trägt sie nur geschlechtsneutrale Sachen: Jeans und Sportschuhe. Und auch wir tragen doch mittlerweile alle dieselben Kapuzenjacken, die sich höchstens dadurch unterscheiden, ob die Knöpfe rechts oder links sind. Ich bin da keine Ausnahme. 

    Sind Sie direkt vom Leder-Minirock auf Unisex-Garderobe umgestiegen?

    In meiner Jugend habe ich mir viel aus Kleidung gemacht, ich muss zugeben, ich war immer sehr extravagant angezogen. Meine Mutter geriet außer sich, wenn ich meinen Lederrock trug, dazu ein amerikanisches Militärhemd in Camouflage, das ich aus dem Second Hand-Laden hatte und mit einem Gürtel festzurrte, und 15 Zentimeter High Heels. Ich fand, ich sah sehr cool damit aus. Irgendwann hat das nachgelassen. Heute bin ich bei meiner Kleiderwahl viel gelassener, auch wenn nichts, was ich trage, zufällig ist. Aber natürlich gibt es Dinge, die ich nie anziehen würde.

    Was zum Beispiel?

    Ein Abendkleid. 

    Mein Mann sagte mal: ‚Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.‘

    Nicht einmal, wenn Sie den Nobelpreis bekämen?

    Nicht einmal dann. Mein Mann sagte mal: „Ljussja, wir sind Künstler. Wir können tragen, was wir wollen.“ Dieser Satz hat mich ein für alle Mal von der Idee befreit, ich müsste etwas anziehen, das mir nicht gefällt, statt etwas Bequemes, worin ich mich wohlfühle. Das kleine Schwarze? Nie im Leben!

    Und abgesehen vom Kleid, haben Sie mal über den Nobelpreis nachgedacht?

    Diese Frage hat sich für mich erledigt.

    Warum?

    Weil da ein ganz bestimmter Mechanismus am Laufen ist: Dieses Jahr bekommt ihn ein Amerikaner, nächstes Jahr ein Chinese, danach wäre ein Schwarzer nicht schlecht, und danach die Frauen nicht vergessen, und dann geben wir ihn am besten mal einem Querschnittsgelähmten. 
    Die Idee der politkorrekten Gleichberechtigung, die einem bei der ganzen Geschichte entgegenschlägt, hat meine bescheidenen Chancen völlig zunichte gemacht: Eine russischsprachige Frau hat den Nobelpreis schon bekommen – Swetlana Alexijewitsch. Und ich habe ihr von ganzem Herzen dazu gratuliert.    

    Damit waren Sie aber eine der wenigen, die ihr von Herzen gratuliert haben.

    Klar! Ihr Preis hat mich von der ganzen Anspannung und Nervosität befreit. Es sickern ja immer Informationen durch, ich wusste, dass mein Name dort auf irgendwelchen Listen auftauchte. Endlich konnte ich aufatmen.

    Als Alexijewitsch den Preis bekam, sind die Schriftsteller in Russland aus allen Wolken gefallen und kurz darauf brach die Empörung los: „Wie kann das sein? Nabokov hat ihn nicht bekommen, und sie schon!“ Aber die Sache ist die: In den Statuten der Nobelpreis-Stiftung heißt es, der Preis soll „denen zugeteilt werden, die […] einen für die Menschheit großen Beitrag geleistet haben“. Bei dem Preis geht es also um humanistische Ideale und streng genommen nicht um Literatur. Im Gegensatz zu etwa dem britischen Man Booker Prize – da geht es um Literatur. Die Booker-Nominierungen folgen ausschließlich literarischen Kriterien. Obwohl es auch da Nuancen gibt: Es ist viel wichtiger auf die Short List zu gelangen, als den Preis zu bekommen.

    Warum?

    Weil die Short List dort, wie bei vielen Preisen, eine ziemlich unabhängige Angelegenheit ist: Experten, die nichts miteinander zu tun haben, sprechen Empfehlungen aus. Aber sobald es um den ersten Preis geht, beginnen die Intrigen. Das ist in England nicht anders als bei uns. Dass ich dreimal auf der Short List des russischen Booker war, zählt für mich viel mehr, als dass ich ihn einmal bekommen habe.

    Jedes Mal, wenn ich die Nachrichten durchsehe, wundere ich mich, wie Sie es schaffen, überall gleichzeitig zu sein. Wozu machen Sie das?

    Wirklich? Ich habe eher den Eindruck, ständig hinterherzuhinken. Aber letzten Endes läuft alles eigentlich darauf hinaus, dass jeder von uns eine Aufgabe im Leben hat. Manchmal verlieren wir aus dem Blick, worin sie besteht. Meistens reagieren wir aber einfach, bevor wir überhaupt verstanden haben, worin unsere Herausforderung besteht. Ich für meinen Teil weiß ganz genau, dass ich meine großen Bücher schon geschrieben habe.

    Heißt das etwa, das war’s?

    Einen großen Roman werde ich nicht mehr stemmen. Ich habe ihn mir schon ausgedacht, er hängt irgendwo in der Luft, aber schreiben wird ihn jemand anders.

    Warum? Sind Sie müde? Haben Sie keine Lust mehr?

    Ich habe Angst, Katja. Ich bin 75, mir bleibt objektiv betrachtet wenig Zeit. Da liegt nicht mehr die Hälfte meines Lebens vor mir, und auch kein Drittel, sondern nur noch ein kleines Stück. Deswegen setze ich mir lieber kleine Ziele, und die erreiche ich auch.

    Was zum Beispiel?

    Ich habe ein paar Erzählungen geschrieben, darüber bin ich sehr froh, denn ich dachte, das wäre vorbei, aber plötzlich kam es wieder. Das macht mich sehr glücklich. Meine Arbeit interessiert mich immer noch, und ich mache sie gern. Aber ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst, du denkst sogar im Schlaf daran. Und wenn du dich mit jemandem über ganz andere Dinge unterhältst, denkst du trotzdem daran. Er verschlingt dich voll und ganz. Anders kann ich nicht arbeiten.

    Ein Roman – das sind vier Jahre, in denen du an nichts anderes denken kannst

    Andere können es. Boris Akunin zum Beispiel, letztens gab er bei einem Interview auf die Frage, wie er arbeite, die geniale Antwort: Morgens zwei Stunden. Das glaube ich ihm natürlich nicht: es ist unmöglich, in zwei Stunden so viel zu produzieren. 

    Sie nutzen ihre Lebenszeit aber letztendlich nicht für diese Arbeit, sondern um zu Dmitrijews Gerichtsverhandlung nach Petrosawodsk zu fahren oder mit einem Plakat für Senzow auf der Straße zu stehen. 

    Die Mahnwache dauerte ganze 15 Minuten. Und ich musste es tun. Denn so stark das Gefühl der Ohnmacht auch ist, nichts zu machen, ist noch schlimmer. Deswegen musste ich mich einmischen. Das war nichts Besonderes: ich brauche 10 Minuten zur Station Puschkinskaja, ich bin hin und habe dort 15 bis 20 Minuten gestanden, und es hat überhaupt nichts bewirkt. Es ist sogar bemerkenswert, wie wenig die Passanten uns beachtet haben: ein Grüppchen alter Irrer.

    Es waren nur „Ihre Leute“ da. Wie kommt das? Ist Ihre Generation stärker? Auch im moralischen Sinne?

    Ach nein, Unsinn.

    Aber es gibt doch Unterschiede?

    Ja, natürlich. Der wesentliche ist wohl, dass man in unserer Generation ohne einander gar nicht überleben konnte. So war das Leben damals. Wenn du zum Arzt gehen wolltest, musstest du eine Freundin bitten, auf das Kind aufzupassen. Wenn du ein Ticket nach Leningrad brauchtest, musstest du die Cousine einer Bekannten anrufen, damit sie es dir kauft. 

    Früher war man stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art

    Der Alltag war ungemein hart: Ich ging immer in den Keller einer Fleischerei, wo ich den Metzger kannte, und kaufte gleich sechs Stück Fleisch – für Nadja, Natascha, Tanja, Diana, Ira – weil ich ja nicht jeden Tag dort hinging und weil es verflucht selten überhaupt etwas zu kaufen gab. Diese sechs Stück schleppte ich heim, und dann ging es ans Teilen. Es ging viel sozialer zu als heute. Und man war stärker voneinander abhängig, aber auf eine freundschaftliche, liebevolle Art.

    Ist das gut oder schlecht?

    Weder noch, es ist einfach ein Merkmal. Heute ist es anders. Bei euch ist es eine individuelle Entscheidung, mit wem ihr zu tun habt. Der Alltag zwingt euch zu nichts: Man kann einen Babysitter rufen, sich das Fleisch nach Hause liefern lassen, einen Handwerker kommen lassen, um den Kühlschrank zu reparieren oder sonst noch was. Aber ich will meine gewohnte Welt der sozialen Bindungen nicht verlassen. Sie schafft nämlich eine enorme Lebensqualität: Ich fühle mich sicher hinter einer Chinesischen Mauer von Freunden.

    Aber wir haben doch das gesamte 21. Jahrhundert dafür gekämpft, dass man ohne Vetternwirtschaft Tickets bekommen, Lebensmittel kaufen oder sich medizinisch behandeln lassen kann? 

    Das ist keine Vetternwirtschaft, meine Liebe. Das läuft alles über Empathie. Daran ist überhaupt nichts falsch. Wenn ein Mensch keinen Krankenwagen rufen kann, wenn niemand kommt, um ihm zu helfen, ihn zu retten oder zu behandeln – das ist falsch. Aber wenn ich meine Bekannten Petja, Jura oder Natascha anrufe und sage: „Natascha, es geht mir beschissen. Was denkst du, schaff ich das oder soll ich einen Arzt rufen?“ – dann ist das ein großes Glück.

    Warum?

    Ganz einfach, weil du dankbar bist und diese Dankbarkeit auch von anderen spürst, wenn du etwas für sie tust. Es ist ungemein wichtig, sich auf positive Weise in die Gesellschaft eingebunden zu fühlen. 

    Dann müssen Ihnen all die Ideen des „verschönerten“ modernen Moskaus, wo alles effizient ist und automatisch läuft, sehr zuwider sein?

    Das stimmt, sie gefallen mir nicht. Ich denke, all diese Verschönerungen sind in Wirklichkeit nur geschmacklose Deko. 

    Wirklich alle?

    Ja, mein Auge protestiert, wobei ich mir dann selbst sage: „Halt! Beruhig dich, die Stadt braucht das: diesen Raum zum Spazieren, diese glatten glänzenden Bürgersteige, alles sieht viel ordentlicher aus als vor fünfzig Jahren.“ 

    Eine große Rolle spielt dabei sicher das, was man in der Biologie Prägung nennt: Die ersten Bilder, die ersten Gerüche, die ersten Wahrnehmungen, Anordnungen – all die Dinge, die für immer in uns bleiben und unser Leben lang bestimmen, was uns gefällt und was nicht. 

    Eine Stadt lebt und altert mit ihrer Geschichte. Eine alte, alternde Stadt ist organisch. Das heutige Moskau beachtet sein Erbe überhaupt nicht. Auf meinem ganzen Weg hierher zu unserem Treffen habe ich nichts gesehen, was gleichgeblieben wäre, außer dem Feinkostladen Jelissejew, ich glaube dort haben sie sogar noch dieselben Lampen. Der Rest verjüngt und erneuert sich ständig, hat Angst auch nur eine Sekunde stillzustehen. Jagt der schwindenden Jugend hinterher. 

    Gibt es an diesem Moskau auch etwas, das Ihnen gefällt? 

    Ja, hier und da gibt es hübsche Springbrunnen. Und es gibt mehr Licht. Aber wenn ich auf den Dritten Ring komme, habe ich den Eindruck im Nirgendwo zu sein. Ich verstehe nicht, was es für eine Stadt ist, wo sie sich befindet, auf welchem Kontinent, an welchem Punkt der Erde – so durchschnittlich ist dieser Ort. 
    Moskaus Stadtbild war tatsächlich immer sehr bescheiden, aber nun hat es sich nicht auf natürliche Weise verändert, sondern nach den Ideen von Architekten und Städtebauern. Das gefällt mir nicht, aber ich gebe zu: Es ist bequemer geworden. Ich habe mein Auto verkauft und fahre nur noch Metro, denn nur damit kann ich meine Fahrzeiten in dieser Stadt noch richtig kalkulieren.

    […]

    Für gewöhnlich ärgern sich Menschen in Ihrem Alter über Veränderungen.

    Nein, ich finde das oft cool. Ich ärgere mich nur über mich selbst, wenn ich nicht hinterherkomme, ich versuche immer dranzubleiben: Ich arbeite mit Computern, seit es sie gibt. Aber mein Enkel ist natürlich schneller.

    Denken Sie oft an den Moment, als Sie erfahren haben, dass Sie Krebs haben und fortan mit der Krankheit leben oder sogar an ihr sterben müssen?

    Nein. Das war zu erwarten, ich komme aus einer Familie mit Krebs und habe mich hin und wieder untersuchen lassen, weil ich wusste, dass es irgendwann so kommen würde. Ich habe mich nur geärgert, als sich herausstellte, dass die Ärztin, zu der ich gegangen war, meinen Krebs übersehen hatte: 
    Als ich mit der Therapie anfing, war der Krebs schon im Stadium III. Nach der OP sagte man mir: „Mensch, so einen großen Tumor haben wir noch nie gesehen“ oder „lange nicht gesehen“, ich weiß es nicht mehr genau.

    Hatten Sie Angst?

    Nein, überhaupt nicht. Ich war besorgt. Mein Leben ist geprägt von einem Gefühl der Dankbarkeit. Und das hat sich nur verstärkt, nachdem das an mir vorübergegangen ist, meine Krankheit hätte ja auch anders ausgehen können.

    Wie hat die Krankheit Sie verändert? Viele Menschen finden während einer schweren Krankheit Zuflucht im Glauben.

    Bei mir war es genau andersherum. Natürlich bin ich dem Schicksal und den höheren Mächten dankbar, dass ich dieses Geschenk – noch ein paar Jahre nach dem Krebs – bekommen habe. Aber in diesen Jahren bin ich vollkommen in Daniel Stein, also Oswald Rufeisen, aufgegangen. Die Bekanntschaft und der Austausch mit ihm haben mich und mein Verhältnis zum Glauben in eine tiefe Krise gestürzt.

    Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr

    In welcher Hinsicht?

    Er hat mir gesagt: Wir wissen nicht einmal wirklich, was Elektrizität ist, woher sollen wir wissen, wie Gott beschaffen ist? Mit diesem Satz hat er mich aus der furchtbaren Sklaverei befreit etwas zu tun, was ich selbst nicht vollständig verstehe. Ich entfernte mich allmählich von der Kirche und näherte mich Daniels Idee an, die im Wesentlichen eine apostolische Idee ist: die Tat. Ich versuche durch Taten zu leben … Dafür brauche ich keine Kirche. 

    Haben Sie denn keine Angst? Man sagt ja: In einem abstürzenden Flugzeug gibt es keine Atheisten.

    Ich bin keine Atheistin, Katja. Ich bin ein gläubiger Mensch, nur brauche ich für meinen Glauben keine Kirche mehr. 
    Aber je näher der Tod rückt, desto weniger interessiere ich mich für Religion.

    Wofür interessieren Sie sich dann?

    Für das Heute, für diese Minute. Mittlerweile lebe ich viel mehr im Hier und Jetzt als noch vor einigen Jahren. Mein Leben hat an Effektivität gewonnen. Mir ist es mittlerweile sehr wichtig, das, was ich gerade tue, gut zu machen. Damit meine ich nicht die literarische Arbeit. Wahrscheinlich bin ich heute ein viel glücklicherer Mensch, als ich es je in meinem Leben gewesen bin. Und ich bin mir bewusst, dass sich das jeden Moment ändern kann.

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  • „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    „Ich war beeindruckt, wie sie Widerstand leisten“

    Sie hatten die Gesichter grün bemalt, in Solidarität mit Oppositonspolitikern, die immer wieder mit Seljonka bespritzt werden, hielten Badeentchen in die Höhe: Unter den landesweit tausenden Demonstranten im März 2017 waren auffallend viele Jugendliche. Die Proteste damals waren laut Beobachtern die größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/12.

    Aufgerufen zur Anti-Korruptions-Demo hatte damals der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Zuvor hatte er mit seinem Fonds für Korruptionsbekämpfung Vorwürfe gegen Premier Medwedew publik gemacht. Außerdem hatte der Handymitschnitt von Schülern Furore im Runet gemacht, die ihrer Lehrerin und Direktorin politisch Paroli boten.

    Was für eine Generation ging da auf die Straße? Was treibt sie an? Und was sind ihre Ziele? Der bekannte Journalist Andrej Loschak spürt solchen Fragen in der mehrteiligen Filmdoku Wosrast Nessoglassija (dt: „Alter des Nicht-Einverstanden-Seins“) nach, die im unabhängigen TV-Sender Doshd ausgestrahlt wurde. Ein Interview.

    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei
    Andrej Loschak über die protestierenden Jugendlichen: „Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen.“ / Foto © gemeinfrei

    Katerina Gordejewa: Wessen Idee war es, eine Serie über junge Nawalny-Anhänger zu drehen?

    Andrej Loschak: Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das ein Auftrag gewesen wäre. Wenn Nawalny vorgeschlagen hätte: „Hör mal, willst du nicht einen Film über uns drehen?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den angenommen hätte – bei all meiner, sagen wir mal, tiefen Sympathie für diese Gruppe.

    Warum hast du beschlossen, das zu drehen?

    Wie so viele – ich glaube, auch du – habe ich mich im März 2017 gefragt, was denn da für Leute auf die Straßen gehen. Warum so viele Jugendliche, was das für ein Protest ist, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab. Ich wartete dann auf die nächste Protestaktion, um zu prüfen: Ist das wirklich eine wichtige Geschichte oder eine Ente, die zur Sensation aufgeblasen wird.


    Was ist das für ein Protest, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab?

    Am 12. Juni 2017 ging ich auf den Puschkinskaja-Platz. Und war echt baff, dass ich dort keinen einzigen Bekannten traf. Keinen von denen, mit denen ich immer demonstriert hatte. Alles war anders. Alles wirklich junge Leute. Mit guten Gesichtern. 
    Ich war beeindruckt: Wie sie reagierten, wie sie Widerstand leisteten. Sie waren keine Extremisten, wie etwa die Nationalbolschewiken und andere radikale Gruppierungen, die 2012 protestiert hatten. Nein. Vollkommen normale und sehr gesunde Menschen. Viel gesünder als die erwachsene Gesellschaft, die sie umgibt. Wobei es an diesem Tag auf dem Puschkinskaja-Platz gar keine erwachsene Gesellschaft gab. Wir haben diesen Protest nicht unterstützt, nicht demonstriert, nur zugesehen, wie Putin vor unseren Augen voller Selbstvertrauen  und unausweichlich seine nächste Amtszeit antritt.

    Du springst von der Beobachtung zur Schlussfolgerung: Erstens bist du der Meinung, Veränderungen könne man nur mit Straßenprotesten herbeiführen. Und zweitens: Wenn wir bei diesen Straßenprotesten nicht dabei waren, heißt das, dass nun nicht mehr wir die Welt verändern werden, sondern die Jungen. 
    Uns bleibt nur mehr, auf sie zu hoffen und in der Warteposition zu verharren. So?

    Ja. Wir waren und sind nicht dabei, und das heißt, die Entscheidung liegt nicht mehr bei uns.

    Aber es gibt noch eine, zudem tragische, Parallele: Sie sind die erste (wieder!) Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat. Sie haben 2012 und die darauf folgende bittere Enttäuschung nicht miterlebt, keine Repressionen und Strafen erfahren, sie kennen den scheußlichen Beigeschmack des Bolotnaja-Prozesses nicht und die maßlose Reaktion darauf, die, wie mir scheint, uns alle ertränkt und begraben hat. 
    Erinnerst du dich an die Meme über Moder und Ausweglosigkeit? Mit dieser Stimmung sind wir einfach nicht fertig geworden.

    Was wir vor allem nicht gemacht haben: Wir haben die Proteste nicht fortgesetzt. Waren denn viele von uns bei Verhandlungen im Bolotnaja-Prozess? Ich persönlich war auf keiner einzigen. Ich war nur bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude, wo etwa 300 bis 500 Leute zusammenkamen. Die haben alle ordentlich was abgekriegt, die OMON hat gewütet.

    Wer wusste davon? 99 Prozent von denen, die 2012 auf dem Bolotnaja-Platz waren, haben das lieber vergessen. So sieht bei uns kollektive Verantwortung aus. Dabei hatten die sich Leute aus unserem engsten Kreis gegriffen. Unsere politisch Gleichgesinnten. Und wir haben sie verraten. In Massen hätten wir vor dem Gericht stehen sollen und nicht aufgeben dürfen. Wenn Zehntausende bei Gericht erschienen wären, hätte das für die Situation einen realen Unterschied gemacht.

    Glaubst du das?

    Wie wir sehen, bewirkt der gesellschaftliche Druck etwas. Ich weiß nicht, ob Dmitrijew ohne diesen Druck nicht doch neun Jahre bekommen hätte.
    Die Bolotniki hatten keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Das ist unser Versäumnis. Meines. Außerdem habe ich Schuldgefühle den Teenies gegenüber, denen wir kein Vorbild waren und die wir jetzt, jung wie sie sind, für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben.

    Ich habe Schuldgefühle den Teenies gegenüber, die wir jetzt für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben

    Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen. Sie könnten sich jetzt friedlich ihrer Ausbildung widmen und an ihre Karriere denken. Wegen unserer Untätigkeit leben sie nun in einem Land, in dem die Notwendigkeit zu kämpfen nur immer dringlicher wird.

    Die Jugend braucht doch immer Widerstand. Pubertierende begeistern sich mal für Musik, mal für Kino, und mal eben für Politik. Ich glaube, das ist nichts Besonderes, was nur in unserer Zeit oder in unserem Land so wäre. Und das hat nichts mit unserer Schuld zu tun.

    Da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr lange keine politisierte Jugend mehr gesehen. Früher war Politik – auch für uns – uncool, uninteressant, man hatte ein derart infantiles Verhältnis dazu, dass ehrlich gesagt Hopfen und Malz verloren waren.

    Die Kindheit deiner neuen Helden aus Wosrast Nessoglassija ist auch kein Honiglecken. Aber sie sind offenbar zu ganz anderen Menschen herangewachsen. Warum?

    Sie sind weniger infantil. Erstens sind sie, nach russischem Maßstab, in einer Zeit mit relativ hohem Lebensstandard aufgewachsen. Zweitens sind sie die erste Generation, die mit dem Internet und nicht mit dem Fernsehen großgeworden ist.

    Aber doch nicht mit Nawalny!

    In gewissem Sinne doch! Als Politiker ist auch er gemeinsam mit ihnen im Internet großgeworden.

    Aber es geht nicht nur um ihn. Sie sind mit konkreten Entwicklungen unzufrieden. Weil die, ehrlich gesagt, ziemlich scheiße sind. Und die junge, unverdorbene Seele muss nach dem Ideal streben, eine Abweichung vom Ideal muss Protest auslösen und nicht den Wunsch nach Anpassung. Also sind jetzt Leute da, bei denen das alles eine normale Reaktion auslöst. Nicht wie bei uns. Wir haben unsere Chance verpasst.

    Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin

    Infantile Volltrottel waren wir. Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin, als wir uns darum hätten kümmern müssen. In den 1990ern hatten wir das Gefühl, wir hätten mehr oder weniger die richtige Richtung eingeschlagen. Dieses ganze Spektakel – die „Familie“, Beresowski, der betrunkene Jelzin – war mir zutiefst zuwider, beeinträchtigte mein Leben jedoch nicht, aber als Putin auftauchte, spürte ich intuitiv, dass jetzt eine irreparable Megascheiße beginnt. So war es auch.

    Was meinst du, denkt die Generation von Wosrast Nessoglassija auch so geringschätzig über uns,  die wir unsere Chance verpasst haben?

    Weiß der Geier. Diese Leute sind sehr viel verantwortungsbewusster. Sie diskutieren wirklich viel über Politik, Geschichte, das interessiert sie. Nawalny könnte sie nicht faszinieren, wenn sie nicht innerlich dazu bereit wären. Es sind fast noch Kinder, die ins Büro kommen, um Sticker abzuholen. Für sie ist die heutige Politik so etwas wie Mode – es ist einfach in. Wie es einer in dem Film ausdrückte: „Ich will nicht im Mittelalter leben.“ Sie beginnen, die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.

    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube
    „Die erste Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat.“ / Foto © Screenshot aus der Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“, Teil 3/YouTube

    Interessanterweise sagen ältere Leute, die die Serie sehen: „Oh, die Armen, was wird bloß aus denen werden.“ Sie geben sie von vornherein auf, projizieren ihre eigene Erfahrung auf sie, die traurige historische Erfahrung des Landes. 
    Auf die Jüngeren wirkt Wosrast Nessoglassija eher ermutigend, es lässt hoffen. Obwohl alle Zuschauer erschrocken und schockiert sind, wie die staatlichen Strukturen Andersdenkende bekämpfen.

    Und wie ist das für dich – hast du mehr Angst um sie oder mehr Hoffnung?

    Ich würde gern glauben, dass meine Protagonisten Teil einer unvermeidlichen Evolution sind. Also du weißt ja, was im so genannten dritten Sektor passiert. Du siehst ja, wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. Und dass diese Kids auftauchen, das bringt eine Veränderung zum Ausdruck, das sind die ersten sprießenden Keime des nahenden Frühlings.

    Kürzlich wurde bekannt, dass einer der Helden in deinem Wosrast Nessoglassija, Jegor Tschernjuk, von Beamten des Extremismuszentrums festgenommen, in die Musterungsbehörde gebracht und für militärdiensttauglich befunden wurde. Woraufhin ein Strafverfahren wegen Verweigerung des Wehrdiensts gegen ihn eingeleitet wurde. Was geschah weiter?

    Weiter fuhr Jegor nach Hause, stopfte seine Sachen in den Rucksack, verabschiedete sich von seinem Vater und reiste aus. Er hatte genau einen Abend, um zu verschwinden – am nächsten Tag war er bei der Ermittlungsbehörde vorgeladen. Der Vorteil eines Lebens in Kaliningrad ist, dass dich das feindliche Europa von allen Seiten umgibt, der Bus nach Vilnius kostet 800 Rubel.

    Natürlich schaffte es Jegor nur mit großen Abenteuern raus. Er wurde schon vorher an einer prestigeträchtigen Universität aufgenommen, wird in den USA studieren und ein Stipendium beziehen. Das Extremismuszentrum hat seine Abreise nur beschleunigt, jetzt muss er sein Studentenvisum früher beantragen.

    Er hat also mit der Heldentradition der unzufriedenen Generationen vor ihm – im Land zu bleiben und sich selbst zu opfern – gebrochen?

    Na ja, von den sowjetischen Dissidenten sind bei weitem nicht alle geblieben – das waren vereinzelte Helden wie Martschenko und Bukowski, der später gewaltsam des Landes verwiesen wurde. Der aktuelle Leviathan ist schäbig und kraftlos, das absolute Böse reizt ihn nicht, er ist einfach „graue Schmiere“. Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man die Möglichkeit hat, Computertechnologien dort zu studieren, wo sie erzeugt und entwickelt werden.

    Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man Computertechnologien dort studieren kann, wo sie entwickelt werden

    Jegor hat, finde ich, seinen Beitrag für die Heimat geleistet, indem er ein Jahr lang Nawalnys Mitarbeiter koordinierte und 15 Tage in Verwaltungshaft saß. Soll er doch in Zukunft das normale Leben eines modernen Menschen führen und sich nicht mit einem hinsichtlich seines Erfolgs so zweifelhaften Unterfangen wie der Rettung Russlands abmühen. Sein Verstand und sein Wissen werden, so Gott will, auch hierzulande noch nützlich sein. Nicht unter dieser Regierung natürlich.

    Deinem Film nach zu schließen, sind sie bereit, nach ihren Demos ins Ausland zu gehen.

    Ganz so ist das nicht. Aber ein gewisser Teil wandert natürlich aus. Weißt du, warum ich gleich zwei Helden reingenommen habe, die nach Amerika wollen? Mir war wichtig zu zeigen, dass Amerika für sie nichts Feindliches ist. Für sie ist es eine logische Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzusetzen, sich zu entwickeln, Geld zu verdienen, und sie verstehen, dass Amerika ihnen objektiv gesehen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland.Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht. Sie sind im Internet aufgewachsen, wo es keinerlei Grenzen gibt, sprechen Englisch auf einem Niveau, auf dem sie im englischsprachigen Netz surfen können.

    Sie wissen, dass Amerika ihnen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland. Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht

    Auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und uns, der Generation der 1990er. Wir haben Hollywood-Filme geschaut und uns ein ideales Bild ausgemalt. Aber heute kann sich jeder junge Mensch in sozialen Netzwerken mit Gleichaltrigen unterhalten, sich in Einzelheiten vertiefen und verstehen, was dort tatsächlich Sache ist.

    Nach dem Start der Serie Wosrast Nessoglassija gab’s natürlich einen Hype um die Jungs, sie hatten sofort einen Haufen Freunde in der ganzen Welt gefunden; der eine oder andere studiert bereits an einer Hochschule der Ivy League, gibt ihnen Tipps, bietet Hilfe bei der Wohnungssuche.

    Aber für sie wie für mich ist das Wesentliche an dieser Geschichte, dass sie konkret im Jahr 2017 versucht haben, etwas zu verändern.

    Glaubst du wirklich, dass man, um die Welt zu verändern, unbedingt Nawalny folgen muss?

    Im vergangenen Jahr gab es keine anderen Möglichkeiten. Aber auch diese Chance haben wir verpasst und haben uns niemandem angeschlossen. So haben wir uns die kommenden sechs Jahre unseres Lebens von vornherein versaut, einfach weil wir den richtigen Moment verpasst haben. 
    Unsere Skepsis, unser Unglaube, dass man überhaupt etwas verändern kann, dass es Menschen gibt, die etwas verändern können, haben verhindert, dass Nawalnys Kampagne ein neues Niveau erreicht.

    Die unerschrockene Jugend ist allein geblieben – und muss jetzt auch allein die Rechnung begleichen: Den einen verweisen sie von der Universität, den anderen stecken sie in Soldatenuniform, der nächste steht überhaupt schon mit einer völlig an den Haaren herbeigezogenen, fabrizierten Anklage vor Gericht.

    Ich weiß nicht, ob sie dazu mit allen Konsequenzen bereit waren, jedenfalls haben sie es in Kauf genommen. Und wir sitzen da und sehen zu.

    Da tun sich nun auch Leute zu lokalen Protesten zusammen – etwa gegen Mülldeponien in Wolokolamsk, Kolomna und so weiter. Vielleicht ist das für die Mehrheit ein vertretbarer Weg zu Veränderungen?

    Ich glaube das nicht. Und lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem!

    Ich lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff  trotzdem

    Ohne politische, institutionelle Veränderungen wird, scheint mir, nie etwas passieren. Und politische Veränderungen verlangen die Entscheidung eines jeden von uns. Es ist dumm, auf spontane Proteste zu hoffen, darauf, dass der Westen mit immer neuen Sanktionen etwas bewegt, oder dass Putin krank wird: Ich höre oft, wie das jemand mit träumerischer Miene sagt. Sogar auf die besagte Jugend zu hoffen ist dumm. Das ist alles nur die Abwälzung der Verantwortung auf die Schultern anderer. Wenn wir Veränderungen wollen, brauchen wir eine massive, bewusste politische Vereinigung.

    In Wosrast Nessoglassija stört mich, dass es die „Leute mit guten Gesichtern“ bei dir nur auf einer Seite gibt – bei Nawalny. Die andere Seite vertreten vom Fernsehen gehirngewaschene Omas. Aber die tun mir eher leid. Hast du keine anderen Gegenüber für deine Protagonisten gesucht?

    Diesem Vorwurf stimme ich zu, ich nehme ihn anstandslos an. Obwohl ich der Meinung bin, dass die Omas der Otrjady Putina im Film eine sehr wichtige Linie sind. Vor allem das, was in der letzten Folge mit ihnen passiert, als sie beginnen, über ihre Renten zu diskutieren, wo sie sich endlich an die Kamera gewöhnt haben und sich nicht mehr so wichtigmachen müssen. Andere Putinisten, die sich organisch in die Geschichte eingefügt hätten, hatten wir nicht – die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend.

    Die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend

    Offen bleibt die Frage: Unterstützen sie Putin wirklich oder haben sie Angst vor ihm? Ich glaube, sie haben eher Angst, als dass sie ihn unterstützen. Leute, die sich im Recht fühlen, würden wohl kaum ein Gespräch zurückweisen.
    Ich habe viele Audioaufnahmen, die die jüngsten Nawalny-Anhänger gemacht haben, als ihnen die Lehrer auf Befehl von oben die Gehirne wuschen. Wie infantil und erbärmlich klingen doch diese Erwachsenen und wie erwachsen argumentieren die Kinder dagegen!

    Wie wichtig ist für deine Protagonisten der Glaube an Nawalny? Gibt es in diesem Umfeld einen Nawalny-Kult?

    Ich habe da überhaupt keinen Nawalny-Kult wahrgenommen, von dem oft gesprochen wird, nichts dergleichen.

    In deinem Film wird er ständig Alexej Anatoljewitsch genannt. Das fand ich nervig.

    Er ist 20 Jahre älter, er könnte ihr Vater sein. Das ist normal. Seltsam wäre, wenn sie ihren Kandidaten Ljoscha nennen würden.

    Du und ich, wir sind offenbar die einzigen aus unserem letzten Team bei NTW, die keine Chefs und keine Downshifter geworden sind, nicht in PR oder Business gelandet sind, sondern unseren Beruf beibehalten haben. Ein gewisses Gefühl, keinen Platz im System ergattert zu haben, lässt mich nicht los. Macht dir das Sorgen?

    Ich bin kein eingefleischter Fan der Selbständigkeit, ich könnte nicht sagen, dass ich mich damit wohlfühle. Ich habe eine absolut unvergessliche und großartige Arbeitserfahrung mit Namedni hinter mir, danach mit Profrep. Jemandem, der so etwas nie hatte, kann man gar nicht erklären, wie paradiesisch das ist – die Arbeit in einem Team, wo alle Profis sind, wo man auf Tuchfühlung geht, Synergien entstehen. Das vermisse ich. Die Sehnsucht ist da. Aber ich stille sie von Zeit zu Zeit mit so spontanen und interessanten Team-Projekten wie Wosrast Nessoglassija – mit Drive und schlaflosen Nächten während der Postproduction. Das lindert den Phantomschmerz.


    https://www.youtube.com/watch?v=TeDHrVN9NQ8

     

    Die Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“ gibt es im YouTube-Kanal von Doshd zu sehen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Wer ihn einordnen will, der greift daneben: Regisseur Andrej Kontschalowski. Wie eine Art Zwitterwesen aus Konservativem und Liberalem changiert der ältere Bruder des berühmten Schauspielers und Regisseurs Nikita Michalkow zwischen den politischen Lagern. Seine Ideen über Russland sind noch gespeist von den Positionen russischer Philosophen wie Berdjajew. Als Opfer der Tauwetter-Zensur geht ihm die Freiheit jedoch über alles, 2012 unterschrieb er etwa einen Brief zur Unterstützung von Pussy Riot.

    Sein neuester Film Rai (dt. Paradies) kommt diesen Donnerstag in die deutschen Kinos, 2016 gewann Kontschalowski in Venedig den Silbernen Löwen dafür. Es geht darin um drei unterschiedliche Protagonisten – einen SS-Offizier, einen französischen Kollaborateur und eine emigrierte russische Aristokratin. Ihre Wege kreuzen sich während des Zweiten Weltkriegs.

    Katerina Gordejewa traf den Regisseur für Meduza, um mit ihm über den Film zu sprechen. Es ging dann aber vor allem um den besonderen Weg Russlands, die Beziehung zum Westen, bäuerliches Bewusstsein und die Notwendigkeit von Zensur. Immer wieder ist das Gespräch auch eine kleine Lehrstunde in Mansplaining.

    Schwierig einzuordnen – Regisseur Andrej Kontschalowski /  Foto © Pjotr Bystrow/Kommersant
    Schwierig einzuordnen – Regisseur Andrej Kontschalowski / Foto © Pjotr Bystrow/Kommersant

    Meduza: Ihr Film Paradies hat mich extrem beeindruckt. Ich verstehe, dass man Sie in Venedig mit stehenden Ovationen gefeiert hat.

    Andrej Kontschalowski: Danke.

    Auch das russische Kulturministerium war an Paradies beteiligt. Das scheint mir ja mal eine richtig gute Investition. Noch nie sind Gelder, die für Propaganda bewilligt wurden, derart intelligent eingesetzt worden: Ein glänzend gemachter Film erzählt der Welt – ganz europäisch – von der Wichtigkeit und Größe der russischen Idee. Hat Ihnen das von vorneherein so vorgeschwebt?

    Das Kulturministerium wird sich durch Ihre Meinung geschmeichelt fühlen, nehme ich an. Mir fällt es schwer, in solchen Kategorien zu denken und über irgendwelche Interessen zu sprechen. Jedenfalls kann man in dem Moment, in dem man an einen Stoff herangeht, schwer die Aussagen im Kopf haben, die sich im Laufe des Schaffensprozesses möglicherweise entwickeln. 

    Sie fragen einen Komponisten ja auch nicht, welche Idee er der Welt offenbaren, wovon er die Menschheit überzeugen wollte, denn Musik ist eben Musik.

    Was Komponisten nie daran gehindert hat, sich auf kreative Weise zu diversen aktuellen, auch politischen Fragen zu äußern. Aber sprechen wir über Paradies. Ihr Film berührt gleich mehrere Themen, die für die verschiedenen Länder und Kulturen äußerst schmerzhaft sind: den Holocaust, die französische Résistance, die Idee der Auserwähltheit der Russen als Retter und Befreier der gesamten Menschheit. 

    All das, was sie nennen, ist schließlich das Ergebnis. Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz. 

    Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen – das ist ein etwas anderes Thema als der Holocaust. Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein ….

    … der Tschechow liebt …

    Ja, der Tschechow liebt, ein aristokratischer, schöner Mensch, eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Für mich ist es sehr wichtig, dass er diesen trüben Fluss des Bösen betritt und die Strömung ihn fortträgt.

    Welche Reaktion in Frankreich erwarten Sie vor dem Hintergrund, dass zum Beispiel Alexander Sokurows Francofonia, ein Film, der ebenfalls das Thema Résistance und Kollaboration aufwirft, in Frankreich Probleme mit dem Verleih hatte: Das Außenministerium intervenierte gegen die Vorführung in Cannes, das französische Kulturministerium und sogar der Louvre haben sich quasi von dem Film distanziert. Wie es aussieht, sind die Franzosen nicht gerade erpicht darauf, dass Außenstehende sich dieser Themen annehmen. 

    Ich habe Sokurows Film leider noch nicht gesehen, aber ich bedaure sehr, wie die Jury in Venedig mit ihm umgegangen ist [Francofonia lief 2015 im Wettbewerb, erhielt aber keine der wichtigen Auszeichnungen – Anm. Meduza]. Das war sehr ungerecht. 

    „Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz“ / Filmstills © ALPENREPUBLIK
    „Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz“ / Filmstills © ALPENREPUBLIK

    Den Franzosen ist es außerordentlich unangenehm, ihre eigene Vergangenheit wieder ans Licht zu zerren. Und es war eine vollkommen richtige Entscheidung von de Gaulle damals, alle Akten von Kollaborateuren für 60 Jahre zu sperren. Erst heute, wo die Leute alle schon gestorben sind, werden die Archive geöffnet. 

    Wissen Sie, warum de Gaulle diese Entscheidung getroffen hat? Weil er verstanden hatte, dass man die Gesellschaft nicht spalten darf. Halb Frankreich hatte ja mit den Deutschen kollaboriert, also wenn wir ganz ehrlich sind, sogar der überwiegende Teil der Franzosen. 

    Finden Sie das wirklich richtig? Auf unser Land übertragen würde das ja heißen: Das Unglück liegt nicht darin, dass es 1991, als die KPdSU zerschlagen und die UdSSR aufgelöst wurde, keine Lustration gab. Sondern darin, dass man überhaupt angefangen hat diejenigen zu benennen, die Menschen hinter Gitter gebracht, denunziert und erschossen haben?

    Jede Geschichte hat ihre Ambivalenzen und es geht um weitaus tieferliegende Zusammenhänge von Ursache und Wirkung als um die bloße Auflistung der Verbrechen irgendwelcher Bastarde. Davon handelt im Grunde auch mein Film. 

    Was die Auflösung der Kommunistischen Partei betrifft, kann man das kaum als glückliche politische Entscheidung bezeichnen. Man darf nicht vergessen, dass die kommunistischen Ideen das Hoffen und Streben einer großen Zahl von Menschen verkörperten. Diese Menschen glaubten inbrünstig und aufrichtig an diese Ideen. Das waren ganz normale, ehrliche Leute. Sicher waren sie auch mit manchem unzufrieden, aber die 1960er Jahre – sprich die Zeit nach der Entstalinisierung – war für sie keine gute Zeit. Sie konnten nichts gegen die in der Chruschtschow-Ära entstandene, nennen wir es, Gedankenwelt tun, aber sie träumten keineswegs davon, dass man ihr Leben und ihre Ideale in den Dreck zog.

    Eine andere Zeit war angebrochen: All die Ideen, an die sie geglaubt hatten, waren in Verruf geraten, und Stalin wurden alle Sünden angehängt, die eigentlich diejenigen zu verantworten hatten, die die Entstalinisierung eingeleitet hatten. 

    Na und dann, wie ging es weiter? Sind alle Russen gute Menschen geworden? Haben sie aufgehört, in den Hauseingang zu pissen? Und ihren Müll aus dem Fenster zu werfen? Dass ich nicht lache.

    Die Mentalität des Volkes verändert sich nicht dadurch, dass plötzlich beschlossen wird, mit der Vergangenheit abzuschließen

    Die Mentalität des Volkes verändert sich nicht dadurch, dass plötzlich beschlossen wird, mit der Vergangenheit abzuschließen. Zumal es unmöglich ist, damit abzuschließen. Nehmen Sie zum Beispiel China: der Mao-Kult ist bis heute ungebrochen, und mit dem Land geht es voran.

    Also ich würde ungern China als Beispiel nehmen und ungern so leben wie in China. Sie vielleicht?

    Ich schlage Ihnen ja nicht vor, in China zu leben, sondern die politischen Probleme zu lösen wie die Chinesen. Ein politisches Problem in einem archaischen Land zu lösen ist eine völlig andere Sache als in Jugoslawien oder sonst irgendwo in Osteuropa. 

    Leben wir denn in einem archaischen Land?

    Meiner Ansicht nach lebt ein gewaltiger Teil unseres Landes in einem archaischen Wertesystem. Bei uns ist das Heidentum mit dem Kommunismus verwoben und der Kommunismus mit der Orthodoxie. Und jede Regierung in Russland, auch die jetzige, ist die Regierung eines sozial ausgerichteten Staates. 

    Inwiefern? 

    Insofern, als dass die Regierung sich verpflichtet fühlt, Menschen zu versorgen, die kein Interesse daran haben, viel zu arbeiten und zu verdienen und sich mit wenig begnügen. Man kann Menschen schwerlich gegen ihren Willen dazu bringen, „Business“ zu treiben. Es geht nicht darum, dass jemand sie nicht lässt, sondern darum, dass dem russischen Menschen daran nichts liegt. 

    Weder am Business noch an der sagenumwobenen Freiheit ist der Mehrheit der Russen etwas gelegen

    Weder am Business noch an der sagenumwobenen Freiheit ist der Mehrheit etwas gelegen. Würde ihnen etwas daran liegen, würden sie sie sich ohne Weiteres nehmen. Freiheit wird einem schließlich nicht gegeben, man nimmt sie sich! Aber den Menschen liegt nichts daran. Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir von der russischen Nation sprechen und nicht von den Bürgern, die innerhalb des Moskauer Gartenrings leben.

    Das erinnert daran, wie sich die Rhetorik Wladimir Putins gewandelt hat: Zu Beginn seiner Präsidentschaft hob er ja gerne auf die europäischen Werte und auf Russland als Teil Europas ab, später war davon dann immer weniger und heute ist davon überhaupt nicht mehr die Rede.

    Mir scheint, Sie haben eine falsche Wahrnehmung von dem, was passiert ist. Russland hatte sich tatsächlich darum bemüht, zum europäischen Gebiet dazuzugehören. 

    Der Westen hat Russland abgewiesen, weil ihnen an uns als starkem Land nichts liegt, ihnen liegt an uns nur, solange wir vollkommen am Boden sind wie zu Zeiten der Perestroika

    Das war Putins Plan, der von seinen Überzeugungen her selbstverständlich der größte Europäer im ganzen Land ist. Doch der Westen hat Russland abgewiesen, hat Putin abgewiesen, weil ihnen an uns als starkem Land nichts liegt, ihnen liegt an uns nur, solange wir vollkommen am Boden sind wie zu Zeiten der Perestroika: ein großartiges Land mit einer Menge Scheiße ringsherum und einer bettelarmen Armee. Putin hat das verstanden. Und es blieb ihm kein anderer Ausweg, als die Armee aufzubauen und Verbündete im Osten zu suchen.

    Behagt Ihnen diese Kehrtwende?

    Ich war früher ein Befürworter der Westorientierung Russlands und glaubte damals auch, Russland hätte nur einen Weg – nämlich den nach Westen. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es diesen Weg für uns nicht gibt. Und Gott sei Dank sind wir auf dem Weg in diese Richtung stark zurückgefallen.

    Europa steht am Rande der Katastrophe – so viel scheint klar. Man darf die Menschenrechte eben nicht über alles stellen

    Denn Europa steht am Rande der Katastrophe – so viel scheint klar. Die Ursachen dieser Katastrophe liegen darin, dass man die Menschenrechte eben nicht über alles stellen darf. Die Rechte eines Menschen sind immer im Zusammenspiel mit seinen Pflichten zu sehen. [In Europa] hat man sich von den traditionellen europäischen, also den christlichen, Werten verabschiedet.

    Für Sie ist Wladimir Putin also wirklich ein Europäer?

    Für Sie nicht? Das liegt wahrscheinlich daran, dass Sie nicht den gesamten Verlauf seiner Präsidentschaft im Blick haben. Er ist Europäer, ja, und zwar sowohl vom Kopf her als auch durch seine persönliche Erfahrung, er hat ja in Europa gelebt.

    „Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein …“
    „Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein …“

    Ich glaube, als er die Führung des Landes übernahm, hatte er bestimmte Ideen, die sich unter dem Druck der inneren und äußeren Umstände später stark verändert haben. Er kam in ein vollkommen zerstörtes Land und stand vor der Aufgabe, eine gigantische archaische Masse von Menschen zu regieren, die dem Staat gegenüber extrem ablehnend eingestellt waren. Seine Bemühungen waren zuallererst darauf gerichtet, den Zerfall abzuwenden. Im Grunde finde ich es unvorstellbar, wie er das geschafft hat.

    Putin als Westler, als Mensch, der hervorragend deutsch spricht und mit der Weltkultur vertraut ist, hatte natürlich die Illusion, dass Russland nach Europa zurückkehren müsse. Doch in Europa sagten sie zu ihm: „Wer seid ihr überhaupt? Auf euch haben wir hier nicht gewartet.“ 

    In Europa sagten sie zu Putin: ,Wer seid ihr überhaupt? Auf euch haben wir hier nicht gewartet.‘


    Putins Münchner Rede war das Resultat einer kolossalen Enttäuschung hinsichtlich seiner Europa-Ideen, verbunden mit der Einsicht, dass ein Leben in dem Teil der Welt bevorsteht, der von einer Zivilgesellschaft noch weit entfernt ist. 

    Das sind alles äußerst schwierige Probleme, die für uns beide, die wir hier innerhalb des Moskauer Gartenrings sitzen, nicht erkennbar sind, aber das Land zu führen ist ohne diese Einsicht nicht möglich.

    Meine Schlussfolgerung wird Ihnen nicht gefallen: Wir sind nicht Westeuropa und wir werden es nie sein, und es hat auch keinen Sinn, sich darum zu bemühen.

    Wann ist Ihnen das klar geworden? Wie hat sich diese Veränderung vollzogen: Bis zu einem bestimmten Moment waren Sie Kontschalowski, der zum Beispiel mir immer durchaus wesensverwandt schien, und dann …

    … wann ich zu Michalkow geworden bin, meinen Sie?

    Ja. Danke, dass Sie das jetzt selbst ausgesprochen haben.

    Strengen Sie mal Ihr hübsches kleines Köpfchen an und denken Sie so an die 20 Jahre nach – da werden Sie sich auch verändern. Denkende Menschen ändern öfter mal ihren Standpunkt. Nur Idioten verändern sich nicht. Was mich stark beeinflusst hat, war mein Leben an dem See Kenosero, wo ich den Postboten gedreht habe. Das Leben mit Menschen, die mit allem, was sie tun, im Einklang sind, die weder Wladimir Putin noch Wladimir Posner etwas angeht. Sie leben in der reinsten Archaik, in der geradezu bewundernswerten Welt ihrer shakespearehaften Harmonie. Oder gar der einer antiken Tragödie.

    Wie äußert sich das?

    Diese Menschen dort streben nach nichts. Die lassen sich weder in den Kapitalismus noch ins private Unternehmertum treiben. Natürlich gibt es dort absolut großartige Menschen, aber ein Bürgertum, das dynamisch ist und Verantwortung für das Land empfindet, ist das nicht. Ein Bürgertum hat es nie gegeben und gibt es bis heute nicht. Auch das ist eins der Probleme der russischen Geschichte – das sollte man nicht einfach so übergehen.

    Sie waren also früher Liberaler und dann haben Sie sich unters Volk begeben und sind als vollkommen neuer Mensch zurückgekehrt. Kann man das so sagen?

    Jetzt tun Sie doch nicht so naiv. Warum müssen Sie denn derart vereinfachen? Ich habe drei Filme in einem russischen Dorf gedreht, ich lebe in diesem Land, und ich kenne mein Volk – besser als Sie, das liegt auf der Hand, schon allein deshalb, weil ich 40 Jahre älter bin als Sie. 

    Jetzt tun Sie doch nicht so naiv. Ich habe drei Filme in einem russischen Dorf gedreht, ich lebe in diesem Land, und ich kenne mein Volk – besser als Sie, das liegt auf der Hand

    Und ich bin nach und nach zu der Überzeugung gelangt: Wenn man das Land verändern will, muss man die Mentalität verändern. Und um die Mentalität zu verändern, muss man das kulturelle Genom verändern. Und um das kulturelle Genom zu verändern, muss man es zuerst in seine Bestandteile zerlegen, gemeinsam mit den großen russischen Philosophen – also den Zusammenhang von Ursache und Wirkung begreifen, der in unserem Land bis heute noch nicht erforscht ist. Und erst dann kann man entscheiden, wohin es gehen soll.

    Wenn man das Land verändern will, muss man die Mentalität verändern

    Es ist naiv zu glauben, wenn alle lesen und schreiben können, verändert das den Menschen. Zum Beispiel gilt „Business“ in der russischen Vorstellung als Diebstahl. Vom Moskauer Gartenring aus ist das keineswegs augenfällig, aber so ist es. Und das ist nicht alles. Dort draußen, hinter dem Ring, hinter Moskau, da gibt es vollkommen andere Werte und Menschen: Die wollen, dass der Staat sie in Ruhe lässt. Und das heißt, sie sind keine Staatsbürger, sondern Bevölkerung. Millionen Russen sind schlicht Bevölkerung. Von welchen Bürgerinitiativen reden wir da?

    Sie sprechen von einem kulturellen Code, der die Russische Nation prägt. Was genau meinen Sie?

    Bei uns herrscht ein bäuerliches Bewusstsein. Der russische Mensch hat vorbürgerliche Werte: „Das Hemd ist mir näher als der Rock“, „Rühr mich nicht an, dann rühr ich dich nicht an“ „’Ach, wählen gehen – wozu soll das gut sein.’ ‘Hingehen muss man, sonst kommen sie und scheuchen einen oder bestrafen einen sogar.’“

    „Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen“
    „Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen“

    Das bäuerliche Bewusstsein ist die Abwesenheit des Wunsches, an der Gesellschaft teilzunehmen. Alles, was außerhalb der Interessen der eigenen Familie liegt, löst im besten Falle Gleichgültigkeit, im schlimmsten Falle feindselige Reaktionen aus. 

    Die Entstehung des Bürgertums in Europa hat das republikanische Bewusstsein hervorgebracht. Die Republik ist ja die Gesellschaft der Bürger. In Russland gab es ein republikanisches Bewusstsein in ganzen zwei Städten, und zwar in Pskow und in Nowgorod. Und darüber hinaus niemals und nirgends. Im Übrigen wurde auch diese Wiege [des Republikanischen – dek] plattgemacht. 

    Das Plattmachen gehört ja nun zu den Traditionen, die in unserem Land von jeher akkurat befolgt werden. Kaum dass irgendetwas Neues, Frisches sein Haupt erhebt, fängt es sich schon eine klatschende Ohrfeige ein: Bleib bloß weg hier, wag ja keine Experimente, untersteh dich, irgendwelche Gefühle zu beleidigen. Wir leben in einer Zeit der Renaissance von Denunziation und des Triumphs der Zensur.  

    Ganz ehrlich: Was Sie hier vortragen, ist nicht mit anzuhören. Ihren Fragen entnehme ich, dass Sie keine Ahnung haben, was wirkliche Zensur und echtes Denunziantentum bedeuten. Ich persönlich bedaure, dass es keine Zensur gibt. Die Zensur hat die Menschen noch nie daran gehindert, große Kunst zu erschaffen. Cervantes hat zur Zeit der Inquisition Meisterwerke geschaffen, Tschechow schrieb all das, was er der Zensur wegen nicht in einem Theaterstück unterbringen konnte, in Prosa.

    Ganz ehrlich: Was Sie hier vortragen, ist nicht mit anzuhören

    Denken Sie vielleicht, Freiheit bringt Meisterwerke hervor? Niemals. Große Kunst wird durch Beschränkungen hervorgebracht. Schöpferisch bringt die Freiheit dem Künstler gar nichts. Zeigen Sie mir mal diese Scharen von Genies, auf die die Zensur Druck ausübt? Die gibt es nämlich nicht.

    Leider ist es mit der Kultur im umfassenden Sinne des Wortes bei uns vorbei, es gibt keine Regisseure mehr. Denn bei Lichte besehen – was ist Regie? Regie bedeutet Reichtum an künstlerischen Assoziationen, das ist die unermessliche kulturelle Basis, ohne die ist alles nichts, alles andere sind Späßchen und Pointen. Die findet man bei unseren heutigen jungen Regisseuren jede Menge, aber künstlerische Assoziationen – Fehlanzeige. Darin liegt das Unglück und nicht in irgendeiner angeblichen Zensur. Da werden einfach Begriffe vertauscht.

    „Ich versuche eine neue Kinosprache für mich zu erkunden“
    „Ich versuche eine neue Kinosprache für mich zu erkunden“

    Genauso wie man heute gerne behauptet, es werde die Geschichte umgeschrieben, Ereignisse würden unterschlagen … In den letzten 20 Jahren ist so viel sogenannte Wahrheit geschrieben worden, die sich dann später als Nicht-Wahrheit erwiesen hat. Und wissen Sie warum? Weil Geschichte immer subjektiv ist. Die Wahrheit in der Geschichte kann überhaupt nicht triumphieren, weil Geschichte immer im Sinne desjenigen interpretiert wird, der sie interpretiert. Objektive Geschichte – das ist eine gewaltige Illusion. Wieder einmal eine. Nun ja, das Leben besteht aus Illusionen.

    Es hat wohl niemand irgendwelche Zweifel daran, dass Hitler ein blutiger Verbrecher war. An den Verbrechen des Nationalsozialismus zweifelt keiner. Wenn wir es rein rechnerisch betrachten wollen: Stalin hat eine vergleichbare Anzahl von Menschen getötet, sogar seine eigenen Leute. Aber heute ist diese Tatsache bei uns offenbar wieder strittig.

    Nehmen Sie einen chinesischen Kaiser aus dem 13. Jahrhundert, zu dem die Chinesen ins Mausoleum strömen – der hat innerhalb von zwei Wochen vierhunderttausend Menschen umgebracht. Ich frage also: „Aber der hat doch viele Leute getötet?“ Und kriege zur Antwort: „Stimmt, hat er, aber er ist doch ein Teil unserer Geschichte. Und wir besuchen hier sein Grab.“

    Na sicher, wenn ein Tyrann die Menschen umbringt, das ist eine eindeutige – und blutige – Katastrophe. Und natürlich war Hitler ein Wahnsinniger, aber vergessen Sie nicht, dass der Großteil der Deutschen ihn gewählt hat.

    Ich würde gerne noch einmal auf Ihren Film zurückkommen. Am Schluss von Paradies heißt es „Wir sind Russen, mit uns ist Gott“, fast wörtlich wird das so gesagt, ohne dass es mit irgendwelchen Reflexionen verbunden wäre. Quasi: So ist es halt – alles wissenschaftlich erwiesen. 

    Glauben Sie wirklich, das könnte unsere Nationalidee sein und damit könnten wir im Westen für uns Werbung machen?

    Derart frontal wird das im Film nicht gesagt. Die Protagonistin spricht allgemein davon, was menschliche Selbstaufopferung bedeutet - das ist ja ihr Lebensthema. Die ganze Erfahrung dieses Films ist für mich neu. Ich muss dazu sagen, dass mit meinem letzten Film, dem Postboten Trjapizyn, mein neues Regie-Leben angefangen hat. Paradies ist jetzt der zweite Film in diesem Leben, bei dem ich meine Rolle als Filmschaffender oder Künstler anders verstehe.

    Was heißt das?

    Ich versuche, die Gesetze des Films zu verstehen, die nicht offenliegen. Es ist nämlich eine Illusion, dass wir wissen, wie man Kino macht. Bei den Surrealisten hat es Versuche gegeben, das herauszukriegen, Buñuel in den naiven 1920er Jahren. Aber dann wurde Buñuel sehr tiefsinnig, und seine formale Suche nach anderer Bedeutung hatte ein Ende. Und jetzt versuche also auch ich diese neue Kinosprache für mich zu erkunden, solange ich noch am Leben bin. 

    Ich habe Abstand zu dem gewonnen, was ich früher gemacht habe, und inzwischen eine ganz neue Haltung zum Film als Ton- und Bildkunst entwickelt. Mit einem Mal habe ich begriffen, dass es nicht mehr braucht als Ton und Bild, das sind ausreichend Ingredienzien für eine ganze Symphonie, verstehen Sie? Bloß Ton und Bild. Keinerlei unnötiges Beiwerk.
     

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