Die belarussisch-polnischen Beziehungen sind gegenwärtig praktisch inexistent. In den offiziellen Verlautbarungen beider Regierungen überwiegen wechselseitige Anschuldigungen wegen feindseliger Aktionen. Dabei ist das Narrativ der belarussischen Seite weitaus konfrontativer, was auch daran liegt, dass die belarussische Außenpolitik mehr als je zuvor den Interessen des Kreml untergeordnet ist. Dies zeigt sich gerade in dem jüngsten Konflikt um die Wagner-Söldner, die nach Prigoschins Aufstand teilweise in Belarus gelandet sind, was die polnische Regierung als Bedrohung auffasst.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR Anfang der 1990er Jahre bot sich Polen und Belarus erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit, ihre Außenpolitik selbstständig als souveräne Länder zu gestalten. Rein theoretisch schienen die beiden Staaten auf eine Kooperation zum beiderseitigen Vorteil geradezu angewiesen zu sein. Minsk hatte keinen eigenen Zugang zum Meer und brauchte deshalb Partner unter den benachbarten Ostsee-Anrainerstaaten. Hier bot sich – neben Litauen – vor allem Polen an. Warschaus Außenpolitik wiederum orientierte sich an dem Konzept von Jerzy Giedroyc, das großen Wert auf die Unterstützung der Unabhängigkeit von Litauen, Belarus und der Ukraine legte. Darin lag eine Art Sicherheitsgarantie für Polen in der neuen politischen Geografie Europas nach dem Kalten Krieg. In der Praxis jedoch sah das alles ganz anders aus.
Die frühen 1990er: Eine kurze Phase der Offenheit
Da die polnische Elite für die Stärkung der Eigenstaatlichkeit der östlichen Nachbarländer in hohem Maße sensibilisiert war, erkannte Polen die Unabhängigkeit von Belarus – als eines der weltweit ersten Länder – schon im Dezember 1991 an. Beide Seiten konnten sich rasch verständigen und unterzeichneten schließlich am 23. Juni 1992 den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, in dem wichtige Fragen der bilateralen Beziehungen umfassend geregelt wurden. Gleichzeitig schloss der damalige belarussische Premierminister Wjatschaslau Kebitsch mit der polnischen Seite vorläufige Abkommen über die Nutzung der Hafeninfrastruktur in Gdańsk zum Umschlag belarussischer Güter. Zudem wurde der Bau einer eigenen Breitspur-Eisenbahnstrecke zwischen Belarus und Gdańsk vereinbart. Weiterhin war die Einrichtung eines belarussischen Konsulats in Gdańsk vorgesehen, das die Import- und Exportaktivitäten des Landes über Polen unterstützen sollte.1 Dieses Konsulat (bis 2018 tätig) wurde letztlich als einziges Ergebnis der Verträge tatsächlich realisiert. Als Seehafen und „Fenster zur Welt“ nutzte Belarus den näher gelegenen Hafen im litauischen Klaipeda. Trotzdem war diese Zeit auf beiden Seiten von größtmöglicher Offenheit gekennzeichnet, die in späteren Jahren so nicht mehr möglich sein sollte. Die beiden mitteleuropäischen Nachbarstaaten waren damals noch nicht durch gravierende ideologische Differenzen belastet und nach Kräften bemüht, freundschaftliche Beziehungen zu etablieren.
Divergierende geopolitische Orientierung
Mit Aljaxandr Lukaschenkas Amtsantritt als Präsident 1994 nahm die belarussische Außenpolitik eine ideologische Prägung an. Im Vordergrund stand jetzt die Integration des Landes mit Russland, die im Kontext des slawischen Einheitsgedankens präsentiert und mit dem Versprechen auf eine konjunkturelle Verbesserung dank der Protektion durch den „Großen Bruder“ verbunden war. Infolge der Wiederannäherung an Moskau verschärften sich die antiwestlichen Töne in Minsk. Dazu trug auch Lukaschenka persönlich mit seiner ausgeprägt sowjetischen Mentalität bei. In den Beziehungen zu Polen, das entschlossen die Mitgliedschaft in der NATO und der EU anstrebte, musste das fast zwangsläufig zu Spannungen führen. Die zunehmende geopolitische Distanz zwischen beiden Ländern kam beim Staatsbesuch des polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski zum Tragen, der am 30. März 1996 in der Puszcza Białowieska (belaruss. Belaweshskaja puschtscha) mit Lukaschenka zusammentraf. Die Differenzen in der Auffassung der regionalen Sicherheit und der Bündnisorientierung waren damals bereits so groß, dass die Gespräche über einen bloßen Meinungsaustausch nicht hinauskamen.2 Allein schon der Umstand, dass dies das einzige Treffen zwischen Lukaschenka und einem amtierenden Präsidenten Polens blieb, macht deutlich, wie sehr sich die fundamentale Begrenztheit der Verständigung zwischen den Regierungen beider Länder verfestigte.
Die polnische Seite verurteilte Lukaschenkas Bestrebungen, ein autoritäres Regierungsmodell zu etablieren, erhielt jedoch die bilateralen Beziehungen aufrecht. Diese Politik wurde als „kritischer Dialog“ bezeichnet.3
Die wachsenden Gegensätze zwischen dem autoritären Belarus und dem demokratischen Polen, das die Integration in den Westen vorantrieb, liefen unweigerlich auf eine Konfrontation zwischen beiden Ländern zu. Diese brach schließlich 2005 aus. Die belarussische Führung störte sich an der „übermäßigen“ Unabhängigkeit des Bundes der Polen in Belarus, eine der zahlenmäßig stärksten NGOs im Land, und nutzte die Vorstandswahlen dieser Organisation, um sie unter ihre Kontrolle zu bringen. Dieser Schlag gegen die polnische Minderheit markiert den Beginn einer tiefen Krise in den bilateralen Beziehungen. In der Folge entschied Polen, unter anderem in Minsk diplomatisch nur noch durch einen Geschäftsträger vertreten zu sein. Aus belarussischer Sicht dienten die Repressionen gegen den Bund der Polen in Belarus einfach der Vorbereitung für Lukaschenkas Wiederwahl 2006. Nach der Logik des autoritären Regimes war es hierfür notwendig, sich die Kontrolle über die größten NGOs zu sichern.4
Zugleich betrachtete die Minsker Regierung dieses Vorgehen als Verteidigungsmaßnahme gegen eine Fünfte Kolonne Polens, die ihrer Ansicht nach darauf hinarbeitete, Belarus unter polnische Kontrolle bringen und in extremen Fällen sogar die Ablösung der westlichen Teile des Landes im Zuge einer „Wiederherstellung der östlichen Grenzlande“ Polens anstrebte – also der Territorien, die von 1918 bis 1939 zur Zweiten Polnischen Republik gehört hatten. In dieser Wahrnehmung kam – nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal – ein gravierendes Problem zum Ausdruck, das zusätzlich zu den oben beschriebenen geopolitischen und systemischen Unterschieden auf den polnisch-belarussischen Beziehungen lastet: Die Führung in Minsk betrachtet die Warschauer Politik immer wieder durch das Prisma tief verwurzelter historischer Stereotype, wonach die Polen seit dem späten Mittelalter versucht hätten, die Vorherrschaft über die kulturell und politisch schwächeren Belarussen auszuüben.
Vom Dialog zur Konfrontation
2008 kam es vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf Georgien und der Anerkennung der abtrünnigen Republiken Abchasien und Südossetien durch Russland zu einem Neuanfang in den polnisch-belarussischen Beziehungen. Angesichts der aggressiven Politik des Kreml suchte Lukaschenka gezielt den Dialog mit dem Westen, um seine politischen Spielräume zu erweitern. Daher wurden im Sommer 2008 alle politischen Gefangenen freigelassen, darunter auch Lukaschenkas Gegner bei den Präsidentschaftswahlen von 2006. Als EU-Mitglied war Polen an der Neueröffnung der Verbindung Minsk-Brüssel nicht nur beteiligt, sondern trieb diese aktiv voran, weil es sie als Chance begriff, die Krise mit dem Nachbarn im Osten zumindest teilweise beizulegen. So wurde Belarus im Mai 2009 in die schwedisch-polnische Initiative „Östliche Partnerschaft“ einbezogen.5
Gleichwohl war der Dialog mit Belarus – sowohl EU-weit als auch auf der bilateralen Ebene – weiterhin von der politischen Systemgrenze geprägt. Lukaschenkas vorrangiges Ziel ist der Erhalt der eigenen Macht um jeden Preis. Die Stabilität des Regimes und die Unterdrückung abweichender Meinungen in der Bevölkerung sind für ihn deshalb seit jeher wichtiger als ein pragmatischer Blick auf die Vorteile, die sich aus dem Dialog mit dem Westen ergeben könnten. Nachdem im Jahr 2010 Demonstranten, die gegen die gefälschten Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen protestiert hatten, brutal niedergeschlagen wurden, kam es im Dezember zum Abbruch der Zusammenarbeit zwischen Belarus und dem Westen – einschließlich Polens, das von belarussischer Seite beschuldigt wurde, die Unruhen organisiert zu haben. Als Russland 2014 die Krim annektierte und die Separatistenrepubliken im Donbass unterstützte, folgte eine erneute Annäherung. Wie schon 2008 erkannte Lukaschenka auch diesmal die aggressive Politik des Kreml im postsowjetischen Raum als ernsthafte Bedrohung und ließ die politischen Gefangenen frei. So begann 2015 eine neue Phase des Dialogs, an dem Polen wieder führend beteiligt war. Diese recht intensive Zusammenarbeit, die von einer Reihe bilateraler Besuche auf Minister- und Parlamentspräsidentenebene begleitet wurde, endete jedoch 2020 mit den nächsten belarussischen Präsidentschaftswahlen.
Hier sei darauf hingewiesen, dass sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Polen und Belarus unabhängig vom Zustand der politischen Beziehungen fast vom Beginn der 1990er Jahre an dynamisch entwickelt hat. Über lange Zeit – praktisch bis zur Krise nach 2020 – gehörte Polen mit einem Handelswert zwischen zwei und drei Milliarden US-Dollar zu den zehn wichtigsten Wirtschaftspartnern von Belarus. Besonders erfolgreich waren dabei die Jahre 2013 und 2018/19. Ca. 500 Unternehmen in Belarus, die hauptsächlich in sechs Freihandelszonen angesiedelt waren, wurden mit polnischem Kapital gegründet – vorwiegend in Branchen wie dem Baugewerbe, IT, Lebensmittel, Möbel und Kunststoffe. Umgekehrt waren belarussische Exporteure und Investoren in Polen weit weniger aktiv. Belarus belegte unter den polnischen Handelspartnern einen Platz zwischen den Positionen zwanzig und dreißig, was vor allem an der geringeren Wirtschaftskraft der belarussischen Unternehmen lag.6
Nach 2020: Unumkehrbarer Zusammenbruch der bilateralen Beziehungen?
Die nächste Krise zwischen Minsk und Warschau dauert bis heute an. Sie begann scheinbar ähnlich wie die früheren. Nach den Präsidentschaftswahlen im August 2020 wies das belarussische Regime jegliche Kritik westlicher Länder – einschließlich Polens – ab, die sich empört über die gewalttätigen Repressionen nach den Protesten gegen die Wahlfälschung zeigten. Lukaschenka fühlte sich dadurch in der Überzeugung bestärkt, die westliche Elite habe sich gegen ihn verschworen. Die Propaganda des Regimes richtete sich hauptsächlich gegen Polen, das wieder beschuldigt wurde, es wolle die ehemaligen „östlichen Grenzlande“ annektieren. Gleichzeitig erhielt der Diktator die Unterstützung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der im Nachbarstaat Belarus, den der Kreml seiner unmittelbaren Einflusssphäre zurechnet, keinen Machtwechsel unter dem Druck der Straße riskieren wollte. Damit begann für Lukaschenka eine Zeit der Isolation im Verhältnis zum Westen, der seine Sanktionen gegen Belarus zunehmend verschärfte und unter anderem ein Handelsembargo verhängte.
Lukaschenka und seine Gefolgschaft unterstellten Polen, es plane einen bewaffneten Angriff zur „Wiedererlangung der ehemaligen östlichen Grenzlande“ und wolle „eine zweite Front gegen die in der Ukraine kämpfenden russischen Streitkräfte“ eröffnen. Zudem beschuldigt Minsk die polnische Führung, sie würde auf ihrem Territorium „belarussische paramilitärische Einheiten“ ausbilden, die einen Einmarsch in Belarus zum Sturz der „rechtmäßigen Regierung“ vorbereiteten. Dieses antipolnische Narrativ wird von verschiedenen Maßnahmen flankiert, die sich gezielt gegen Polen oder die polnische Minderheit in Belarus und das Erbe der gemeinsamen polnisch-belarussischen Vergangenheit richten. So wurden seit Juni 2022 eine Reihe polnischer Friedhöfe (vor allem in den westlichen Regionen von Belarus) und Gedenkstätten verwüstet. Aufgrund eines neuen Bildungsgesetzes ist der Gebrauch des Polnischen als Unterrichtssprache in den Minderheitenschulen in Hrodna und Waukawysk seit letztem Jahr fast vollständig abgeschafft. Auch der Druck auf den unabhängigen, nicht offiziell registrierten Bund der Polen in Belarus wird fortgesetzt. Der stellvertretende Vorsitzende der Organisation, Andrzej Poczobut, sitzt zurzeit eine achtjährige Gefängnisstrafe ab, und es gibt keine Anzeichen für eine mögliche Begnadigung oder Freilassung.
Als Grundlage für die Repressionen gegen Aktivisten der polnischen Minderheit dienen unter anderem die Ermittlungen zu Verbrechen gegen das belarussische Volk während des Zweiten Weltkrieges und danach, die das Untersuchungskomitee von Belarus 2021 einleitete. Sie wurden in den staatlichen Medien mit zahlreichen Beiträgen über angebliche Verbrechen gegen Belarussen begleitet, die unter anderem von Polen begangen worden seien. Eine antipolnische Stoßrichtung hat auch ein neu eingeführter Feiertag, der Tag der Nationalen Einheit. Er wird am 17. September begangen – dem Jahrestag des Einmarschs der Roten Armee in die östlichen Regionen der Zweiten Polnischen Republik, die damals gegen die deutschen Invasoren kämpfte.7 Zudem belastet die im Herbst 2021 offensichtlich von der belarussischen Führung lancierte Flüchtlingskrise das Verhältnis beider Staaten schwer, sowie die Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus.
Erstmals in der Geschichte der polnisch-belarussischen Beziehungen gibt es gegenwärtig keine reelle Möglichkeit für einen Ausweg aus der Krise. Die einzige Perspektive für einen Durchbruch wäre derzeit ein Machtwechsel in Belarus, im Idealfall als Ergebnis freier und demokratischer Wahlen.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.
Kłysiński, Kamil (2023): Iron curtain on Belarus’ western border: Does the crisis in Minsk’s relations with its Baltic neighbors threaten Belarusian independence? In: BSR Policy Briefing Series 4/2023↩︎
Snapkouski, Uładzimir (2003): Stosunki polsko-białoruskie (1990–2003), in: Polska i Białoruś/Беларусь i Польшча, Polski Instytut Stosunków Międzynarodowych, Warszawa, S. 19-22 ↩︎
Dębski, Sławomir (2003): Stosunki polsko-białoruskie – stan obecny i perspektywy, in: Polska i Białoruś/Беларусь i Польшча, Polski Instytut Stosunków Międzynarodowych, Warszawa, S. 14-15 ↩︎
Fedorowicz, Krzysztof (2019): Białoruś – zapomniany sąsiad Polski, in: Stosunki Polski z Litwą, Białorusią i Ukrainą 450 lat po unii lubelskiej, Instytut Europy Środkowo-Wschodniej, Lublin ↩︎
Polsko-białoruskie rozmowy gospodarcze, 12.02.19, in: Ministerium für Wirtschaftsentwicklung und Technologie ↩︎
Belaja Rus, deren Name sich auf die historische Bezeichnung belarussischer Gebiete bezieht, war ursprünglich als eine angebliche soziale Bewegung für die Staatspolitik Alexander Lukaschenkos gegründet worden. Nun hat sie sich als Partei konstituiert.
Warum dieser Schritt, ausgerechnet in diesem Jahr? Soll sie als Einheitspartei eine Rolle in der Umstrukturierung des belarussischen politischen Systems spielen? Wer ist ihr Vorsitzender? Und ist Lukaschenko wirklich daran interessiert, seine Macht zu teilen? Diese und weitere Fragen beantwortet der Politikwissenschaftler Kamil Kłysiński.
1. Wie kam es zur Gründung von Belaja Rus?
Im Unterschied zu vielen anderen undemokratischen Machtapparaten stützt sich das belarussische Modell nicht auf eine Partei. Die Entwicklung eines Parteiensystems hat Alexander Lukaschenko in den 1990er Jahren bewusst unterbunden. Er fürchtete, ein solches System könnte die Position der belarussischen Nomenklatura zu sehr stärken, vor allem die mittleren und hohen Beamten in zentralen Regierungsbehörden und die lokalen Führungskräfte. Da die staatlichen Funktionäre ohne institutionelle Repräsentation ihre (Gruppen)Interessen nicht artikulieren und schon gar nicht voranbringen konnten, blieben sie vom Präsidenten als faktisch einzigem Machtzentrum im Staat abhängig. Im Bewusstsein ihrer schwachen Stellung gründete die belarussische Beamtenschaft 2004 in Grodno die Bewegung Belaja Rus. Nachdem sie überall im Land Strukturen aufgebaut hatte, wurde sie 2007 schließlich als gesellschaftliche Organisation registriert. Dabei machten ihre Gründer von Anfang an keinen Hehl daraus, dass sie letztlich eine politische Partei etablieren wollten, die den Präsidenten und seine Politik bedingungslos unterstützt.
2. Welche Rolle spielt die Organisation im politischen System von Belarus?
Die Belaja Rus entwickelte sich rasch zur größten und am stärksten verankerten gesellschaftlichen Organisation der belarussischen Nomenklatura. Damit war und ist sie eine Stütze des belarussischen Herrschaftssystems. Ihre circa 200.000 Mitglieder werden in sämtliche Wahlkommissionen berufen, von den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bis hin zu den Kommunalwahlen. Zugleich werden die personellen Ressourcen und die Büroräume der Organisation für die Wahlkampagnen regimetreuer Kandidaten genutzt, insbesondere zur regelmäßigen Wiederwahl Lukaschenkos. Ein erheblicher Teil der Abgeordneten des belarussischen Parlaments gehört außerdem der Belaja Rus an, auch wenn dies nicht offiziell bekanntgemacht wird. Zudem haben die meisten Mitglieder gleichzeitig Staatsämter inne, was das Potenzial der Organisation noch weiter stärkt. Da auch regierungstreue Künstler und Wissenschaftler dazu gehören, kann sie viele soziale Projekte umsetzen, die in den staatlichen Medien beworben werden. Sie zielen vor allem auf gesellschaftliche Gruppen ab, die der Regierung besonders wichtig sind, etwa Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Kinder und Jugendliche oder Bauern.
3. Wer ist Oleg Romanow, der Vorsitzende von Belaja Rus?
Oleg Romanow wurde im Juni 2022 zum Vorsitzenden von Belaja Rus ernannt und ist bereits der dritte Leiter seit der Gründung. Anders als seine Vorgänger Alexander Radkow und Gennadi Dawydko hat Romanow bis dahin keine hohe Position in der Machthierarchie innegehabt. Er ist Professor für Philosophie und war Rektor der Universität Polazk, die nicht zu den führenden belarussischen Hochschulen gehört. In Polazk blieb er als radikaler Vertreter der imperialen russischen Ideologie der Russki Mir im Gedächtnis, der hart gegen die meisten pro-belarussischen Hochschullehrer vorging. Er sorgte persönlich für die Entlassung regimekritischer Beschäftigter und bevorzugte diejenigen, die sich nach Russland orientierten und sogar die kulturelle und nationale Identität der Belarussen leugneten. Dass ein so rückhaltloser Befürworter der Annäherung an Russland zum Vorsitzenden der Belaja Rus aufsteigen konnte, hat vor allem mit der politischen Gesamtkonstellation zu tun, in der sich Belarus seit 2020 befindet. In diesem Jahr kam der Dialog mit dem Westen völlig zum Erliegen. Einzig von Russland, seinem zentralen Wirtschafts- und Handelspartner und politischen wie militärischen Verbündeten, wurde Lukaschenko weiterhin unterstützt.
4. Warum hat Lukaschenko eine Einheitspartei immer abgelehnt?
Es kennzeichnet Lukaschenkos Regierungsstil, dass er den Anspruch der Nomenklatura auf institutionelle Repräsentation abblockt. Seit seinem Amtsantritt als Präsident 1994 hat er immer wieder betont, er wolle direkt mit den Bürgern kommunizieren, ohne politische Parteien als seiner Ansicht nach unnötige „Zwischenglieder“. Dies ist ein ideologisches Grundmerkmal des belarussischen Autoritarismus, in dem der Präsident als wichtigster (wenn nicht einziger) Garant für die Sicherheit der Bürger gilt. Nichts fürchtet Lukaschenko mehr als den Aufstieg einer im Staatsapparat verankerten Herrschaftspartei, die in der Lage wäre, die Interessen der Elite zu artikulieren und zu fördern. Denn eine solche Partei könnte seine Position im Staatsgefüge auf lange Sicht schwächen. Deshalb hat sich in Belarus während Lukaschenkos fast dreißigjähriger, ununterbrochener Regierungszeit kein Parteiensystem entwickelt. Die meisten Abgeordneten im – ohnehin unbedeutenden – Parlament sind parteilose Vertreter gesellschaftlicher Organisationen. Auch die Belaja Rus trat als solche auf.
5. Warum fand die Transformation von Belaja Rus in eine Partei ausgerechnet in diesem Jahr statt?
Die Belaja Rus hat wiederholt versucht, sich als politische Partei aufzustellen, stieß dabei aber jedes Mal auf Lukaschenkos Widerstand. Der Gründungskongress am 18. März 2023 war nun offenbar der entscheidende Wendepunkt in ihrer fast sechzehnjährigen Geschichte. Im Zuge der laufenden Rekonstruktion des belarussischen politischen Systems konnte sich Belaja Rus als Partei konstituieren. Ende 2022 sorgte Lukaschenko dafür, dass nur mehr Parteien anerkannt werden, die die politische Strategie des Regimes akzeptieren und kündigte die Auflösung aller noch zugelassenen Oppositionsparteien an. Im Februar 2023 wurde dann ein Verifikationsverfahren auf Basis der neuen Gesetze initiiert. Für den Frühling 2024 ist der erste Kongress der Allbelarussischen Volksversammlung angesetzt, die im Zuge der Verfassungsänderung von 2022 als neues Regierungsorgan eingeführt wurde. Diese Pseudo-Volksvertretung soll aus Abgeordneten bestehen, die unter anderem von einzelnen politischen Gruppierungen ernannt werden. Daraus erklärt sich die Notwendigkeit, ein der Regierung bedingungslos untergeordnetes Parteiensystem zu schaffen.
6. Welche Rolle wird die Partei im Machtgefüge von Belarus spielen?
In den letzten zwei Jahren hat Lukaschenko mehrfach öffentlich angedeutet, dass er das chinesische Modell bevorzugen würde, bei dem der Präsident nicht vom Volk, sondern von einer Delegiertenversammlung gewählt wird. Dies ist offenbar die Folge der Massenproteste gegen die abermalige Fälschung der Ergebnisse nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020, die er zweifellos als traumatisch erlebt hat. Bislang versichert die Regierung, das gegenwärtige Verfahren zur Wahl des Staatsoberhaupts werde beibehalten. Trotzdem ist nicht auszuschließen, dass es irgendwann zu einer weiteren Verfassungsänderung kommt, bei der die Allbelarussische Volksversammlung mit zusätzlichen, entscheidenden Vollmachten ausgestattet wird. Allerdings hat Lukaschenkos Begeisterung für das chinesische Modell ihre Grenzen. Er möchte nach wie vor keine politische Partei hochkommen lassen, die ähnlich erfolgreich agieren könnte wie in China und in anderen autoritären Systemen, etwa im Nachbarland Russland. Bei seiner jährlichen Rede zur Nation am 31. März 2023 hat er solchen Bestrebungen eine entschiedene Absage erteilt. Die Belaja Rus wird somit – trotz der Ambitionen ihrer Vertreter – im sterilen neuen System nur eine regimetreue Partei unter mehreren sein.
Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.