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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Putin – Geisel der 1990er Jahre?

    Putin – Geisel der 1990er Jahre?

    Winston Churchill wird ein Satz zugeschrieben, den im heutigen Russland wieder viele zitieren: Stalin, so der damalige britische Premierminister, habe das Land mit dem Pflug übernommen und mit der Atombombe hinterlassen. Als Wladimir Putin vor 20 Jahren an die Macht kam, war er ein weitgehend unbeschriebenes Blatt: Kaum jemand in Russland wusste etwas über den neuen Mann im Kreml. Vielerorts herrschte aber gleichzeitig Optimismus: Nach den katastrophalen 1990er Jahren, so der Tenor, könne es nur besser werden. 

    Obwohl der Präsident nach zwei Jahrzehnten weit davon entfernt scheint, von der Macht abzulassen, ziehen nun viele in Russland eine Bilanz seiner Politik. Was hat Putin von seinem Vorgänger Boris Jelzin übernommen? Und wie steht es um das heutige Russland?

    In einem Parforceritt durch die neueste Geschichte Russlands geht auch der Journalist Juri Saprykin diesen Fragen für Vedomosti nach. 

    Die dramatischen Ereignisse im Russland der späten 1990er Jahre – der Krieg zwischen Oligarchen und Regierung, der krisengebeutelte August 1998, das Wechselspiel um die Ministerpräsidenten, der Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs, Jelzins Rücktritt und die Wahl seines Nachfolgers – waren eingerahmt von der Veröffentlichung zweier Filme von Alexej Balabanow um ein und denselben Protagonisten. Der Zweiteiler Brat [dt. Der Bruder] hat, wie es heute scheint, den Nerv der gesellschaftlichen Erwartungen wie nichts anderes getroffen, er formulierte die Forderung an die zukünftige Regierung und sagte in vielem die Logik ihrer Entwicklung voraus. 

    „In der Wahrheit liegt die Kraft“

    Die nationale Idee, an deren Entwicklung in Jelzins Auftrag ganze Intellektuellenstäbe geschuftet hatten, wurde von Danil Bagrow in ein paar wenigen lakonischen Sätzen auf den Punkt gebracht. Brat-1 formulierte die Forderung nach einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit in ihren grundlegendsten Formen: Die Schwachen müssen geschützt und die enthemmten Starken in die Schranken gewiesen werden. Brat-2 fing das Gefühl der nationalen Demütigung ein, die aus der Niederlage im Kalten Krieg und dem Auseinanderbrechen der gewohnten Lebensordnung folgte. Die mittlerweile abgegriffene Phrase „in der Wahrheit liegt die Kraft“ las sich 1999 nicht als Verweis auf eine geheimnisvolle russische Seele, sondern als Appell an einfache ethische Grundregeln, als Hoffnung auf ein Leben, in dem nicht alles von Geld oder roher Gewalt bestimmt wird, in dem es ein Oben und ein Unten gibt, Schwarz und Weiß. Die rasant wachsende Zustimmung für Putin Ende 1999 war die Hoffnung auf einen Leader, der zwischen Gut und Böse unterscheiden und das Böse abwehren kann. Wer die Wahrheit hat, hat die Kraft.

    Notwendiger Preis für die Erlösung aus dem Notstand 

    Das Publikum, dem Charme von Sergej Bodrow jr. gänzlich erlegen, verzeiht seinem Helden die unlauteren Methoden. Genau so verschloss die Gesellschaft Anfang der 2000er Jahre die Augen vor der Tatsache, dass die Wiederherstellung der Spielregeln in Wirtschaft und Medien mit einer gewaltsamen Einverleibung des Privateigentums einherging und die Spezialeinsätze gegen Terroristen mit exorbitanten zivilen Opferzahlen. Das wahllose Geballer im Film und die ausufernden Gewaltmethoden in der russischen Politik lassen sich auf die außergewöhnlichen Umstände schieben: Die Menschen sahen darin den notwendigen Preis für die erhoffte Erlösung aus dem Notstand und die Wiederherstellung der Normalität. 

    Der Staat unter Putins erster Amtszeit zwang niemandem seine Ideologie auf, mischte sich nicht ins Privatleben ein; er schuf die Bedingungen für Wirtschaftswachstum und neue Konsummöglichkeiten, und selbst die Serie von Katastrophen und Tragödien Anfang der 2000er Jahre (Kursk, Nord-Ost, Beslan) vermochte nicht das Vertrauen zu erschüttern, dass das Leben sich in die richtige Richtung bewegt. Wir fliegen nach Hause.

    Putin als Geisel der Weltsicht

    Allmählich entwickelte die Regierung ihren eigenen Stil, ihre eigenen Manieren – und dieser Verhaltenskodex war dem von Danila Bagrow verdächtig ähnlich. Was im Film als groteskes Detail daherkommt, ein Produkt der Ironie des Regisseurs, ließ sich am einfachsten umsetzen: der Antiamerikanismus, der Gossenslang, die Sowjetnostalgie, die vetternwirtschaftliche Solidarität – das alles ging in die Alltagspraxis der Staatsmacht über, während die Wiederherstellung der Gerechtigkeit und die endgültige Rückkehr zum normalen Leben in noch weitere Ferne rückten. Das politische Regime, das sich unter Putin formierte und seine Legitimität weitgehend aus dem Versprechen zog, es werde „keine Rückkehr in die wilden 1990er“ geben, wurde de facto zur Geisel der Weltsicht und der Methoden jener 90er Jahre, wo Wohlstand von der Nähe zum Thron abhing, Gesetze per Handsteuerung umgesetzt wurden und die Kraft letzten Endes immer in Geld bemessen wurde. 

    Der gegen Banditen kämpfende Danila schafft es nicht, sich im friedlichen Leben zurechtzufinden – und genauso beginnt auch die neue Staatsmacht, nachdem sie die Krisenzeiten der 2000er Jahre überlebt hat, die Krisen selbst zu generieren. Die Yukos-Affäre, Einschüchterungsaktionen durch kremltreue Halbstarke, der Druck auf die Presse, die Ermordung Anna Politkowskajas – das war sicher nicht das, was die Gesellschaft im Sinn hatte, als sie sich einen starken und gerechten Leader erhoffte, aber die Staatsmacht hatte bereits begonnen, nach ihrer eigenen Logik zu leben, in der sie die zunehmenden Spannungen mit sportlichen Siegeszügen und einer aggressiven außenpolitischen Rhetorik ausbügelt.

    Für die am Westen orientierte Schicht wurde der Staat ein Dienstleister

    Das Bedürfnis nach Stabilität in ihrer zutiefst kleinbürgerlichen Variante – der Regeneration des täglichen Lebens – wurde in den 2000er Jahren von unten erfüllt, durch einen Konsum-, Tourismus- und Gastronomieboom. Die Großstadtbevölkerung gewöhnte sich an den Gedanken, dass „man gut leben muss“, und begegnete auch der Regierung mit derselben Konsumentenhaltung: Für die am westlichsten orientierte Schicht wurde der Staat nur einer von vielen Dienstleistern, und er sollte effektiv arbeiten, zusätzliche Annehmlichkeiten schaffen und für die öffentliche Kontrolle transparent sein. 

    Die Modernisierungsrhetorik der Medwedew-Epoche stützte diese Erwartungen, während sie ihre Erfüllung weiter auf eine undefinierte Zukunft verschob. In der Praxis sahen sich die Bürger zunehmend mit korrumpierten Beamten, polizeilicher Willkür und Gerichten konfrontiert, die manuell gesteuert werden. Die per Handsteuerung entschiedene Machtfrage signalisiert deutlich, dass dieses Lebenskonstrukt unverändert bleiben und die in die Zukunft verschobene „Normalisierung“ endgültig von der Tagesordnung gestrichen wird. Über der unter Putin aufgewachsenen Mittelschicht liegt eine Wolke der Hoffnungslosigkeit, im russischen Facebook diskutiert man die Möglichkeiten der äußeren oder inneren Emigration. Der Anfall der kollektiven Depression entlud sich in den aufflammenden Protesten im Winter 2011/12, woraufhin Stabilität und Gerechtigkeit endgültig zu rhetorischen Figuren verkamen, die nur dazu da sind, beim Direkten Draht des Präsidenten mantraartig wiederholt zu werden.

    In den Protesten 2011/12 entlud sich eine kollektive Depression 

    Seit 2012 versucht der Staat nicht mehr, eine in der Luft umherflirrende nationale Idee einzufangen oder einer unausgesprochenen gesellschaftlichen Forderung nachzukommen. Er formuliert erstmals in seiner postsowjetischen Geschichte eine eigene offizielle Quasi-Ideologie, die das Fundament der nationalen Identität bilden soll. Russland sei ein besonderes Land. Seine Basis sei eine starke Führung, der Patriotismus, die Ehrfurcht vor der Religion und traditionellen Familienwerten. Es ist (und war schon immer) umzingelt von Feinden, die ihm seine Naturreichtümer und moralische Erhabenheit neiden. Außerdem habe Russland den Faschismus besiegt und würde das im Notfall wiederholen. Diese Ideologie wird durch eine Reihe von Propagandakampagnen untermauert, die die Gesellschaft gegen eine herbeikonstruierte äußere Gefahr mobilisieren, etwa Aktionskünstler und -künstlerinnen, die den orthodoxen Glauben verhöhnen, homosexuelle Propaganda, die an den Grundfesten der intakten Familie rüttelt, oder Ausländer, die russische Kinder außer Landes bringen

    Dieser Mobilisierungsimpuls kulminiert in einem neuen „Krieg gegen den Faschismus“, der 2014 auf den Fernsehbildschirmen entfacht wurde, wobei seine wichtigste territoriale Eroberung und die begleitende nationale Euphorie nicht das Ergebnis waren, sondern der Geschichte vorausgingen.

    Über den höheren Sinn der Notwendigkeit, mit Schlagstöcken auf Jugendliche einzudreschen

    Die neue Ideologie ist nicht nur eine Quasi-, sie ist eine Soft-Ideologie: Sie erfordert weder aufrichtigen Glauben noch Enthusiasmus, es genügen ritualartige Loyalitätsbekundungen. Auch ihr Anwendungsradius ist begrenzt: Sie kann einem Omon-Mitarbeiter erklären, worin der höhere Sinn der Notwendigkeit besteht, mit einem Schlagstock auf einen Jugendlichen einzudreschen, sie kann als Kompensationsmechanismus für die Bewohner von Mono-Siedlungen fungieren, die ohne jede Perspektive ihr Dasein fristen – und sich vor der Hoffnungslosigkeit in das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem großartigen Land retten. Aber diese Version der nationalen Identität beantwortet in keiner Weise das Bedürfnis, aus dem die heutige Staatsmacht einst geboren wurde – das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, dem Einhalten ethischer Normen, nach verständlichen und allgemeingültigen Spielregeln. 

    Die nationale Idee findet sich heute in populären YouTube-Serien

    Die Konfrontation zwischen gesellschaftlichen Kräften einerseits – die von der Staatsmacht fordern, sie solle sich ändern (oder veränderbar werden) – und der Staatsmacht andererseits – die weder das eine noch das andere zu tun gedenkt – könnte sich noch lange hinziehen und selbst zu einer nationalen Besonderheit Russlands werden. Es ist jedoch interessanter, sich etwas anderes anzuschauen: nämlich jene Formen von Patriotismus und nationaler Identität, die heute von unten entstehen, unabhängig vom Staat, und die die Gesellschaft in Zukunft einen könnten.

    Die Neuformulierung der nationalen Idee, die sich in den 1990ern in Brat konzentrierte, findet sich heute verstreut in populären YouTube-Serien und -Shows, in den Aufnahmen der neuen Generation von Hip-Hop-Musikern und in den Arbeiten von Street Art-Künstlern. Da ist ein lokaler Patriotismus – ein Gefühl der Zugehörigkeit nicht zu einer staatlichen Abstraktion, sondern zu einem konkreten Ort, den man mit Sorgfalt, Respekt und Aufmerksamkeit behandeln muss. Das macht sich im Erstarken der Heimatkunde und der Neubewertung des regionalen historischen Erbes bemerkbar, aber auch im boomenden Inlandstourismus, dem Trend zur Landwirtschaft und regionalen Produkten und so weiter.

    Das Leben in Russland rockt

    Da ist die Ästhetisierung des Alltags in der russischen Provinz, eine Aufwertung ihrer noch so unansehnlichen Erscheinungsformen, seien es Plattenbauten oder Trainingsanzüge als die Uniform der Außenbezirke. Da ist eine völlig andere Sicht auf die 1990er Jahre – nicht als das „wilde“ Jahrzehnt oder die „Zeit der Freiheit“, sondern als die tragische und heldenhafte Epoche, der wir alle entstammen. Da ist die allmählich erworbene Fähigkeit zur Zusammenarbeit, zum gemeinsamen gesellschaftsrelevanten Handeln, dem Zusammenschluss mit Nachbarn, Arbeitskollegen und Gleichgesinnten für ein gemeinsames Ziel, sei es, um gegen die Abholzung des Parks vor der Haustür zu kämpfen oder um einem Waisenhaus in der Nachbarschaft oder einem unschuldig verhafteten Kommilitonen zu helfen. Da ist der neue Umgang mit den Tragödien der Vergangenheit, eine neue Art der Erinnerungskultur, in der nicht nur Kriegshelden der kollektiven Erinnerung und Ehre würdig sind, sondern auch die Opfer eines verbrecherischen Regimes oder einfache Bürger, die dessen Inkompetenz mit ihrem Leben bezahlen mussten. Da ist nicht zuletzt die Überwindung des nationalen Minderwertigkeitskomplexes, der der älteren Generationen eigen ist, hin zu einem nüchtern-gelassenen Gefühl, dass die „Russen schon okay“ sind (wie es im Videoprojekt von Jelisaweta Ossetinskaja heißt) und das Leben in Russland trotz allem „rockt“ (wie es [Juri] Dud auf seinem Instagram-Account formuliert).


    Und da ist dieser Graben zwischen Staatsmacht und Gesellschaft – einer Gesellschaft, die bereit ist, ihre Geschichte und Identität anzunehmen und zu reflektieren, ohne darauf zu warten, dass diese Prinzipien oktroyiert werden, die bereit ist, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, ohne darauf zu warten, dass der Staat ihre Probleme löst – das ist möglicherweise die am meisten hoffnungsspendende Nachricht des ausklingenden Jahrzehnts.

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  • Was ist Krieg?

    Was ist Krieg?

    Ein schönes Format in Russlands Medienlandschaft sind „Vorlesungen“: Ein Journalist oder Wissenschaftler erzählt über ein bestimmtes Thema. Ausführlich. Zunächst live, ein Auszug wird dann danach veröffentlicht. Auf Inliberty hat der bekannte Journalist und Kulturkritiker Juri Saprykin nun eine ganze Vorlesungsreihe bestritten zu den großen Themen des Lebens, und zwar aus russisch-kulturwissenschaftlicher Perspektive: Liebe, Krieg und Freiheit – und andere russische Fragen.

    In einer der ersten Vorlesungen beschäftigt er sich mit Krieg: Wie kann Krieg einen Wert darstellen? Und was soll das besondere russische Verständnis von Krieg sein? 

    In der Liste der „wichtigsten russischen Fragen“ wirft das Wort Krieg die meisten – entschuldigen Sie die Tautologie – Fragen auf. Wie kann Krieg bitteschön einen Wert darstellen? Wir sind doch friedliche Menschen. Und inwiefern soll sich das russische Verständnis von Krieg von anderen unterscheiden? 

    Es stimmt zwar, dass die Ursprünge der russischen Literatur in Kriegsepen liegen (wie übrigens jeder Literatur). Die ältesten uns überlieferten weltlichen Werke sind das Igorlied, das Epos von der Schlacht am Don oder die Sage von der großen Schlacht gegen Mamai. Sie bestehen nahezu komplett aus Beschreibungen von Kriegshandlungen. Sie sind die Grundpfeiler unserer Kultur, ob wir wollen oder nicht. Aber damit sind wir keineswegs allein.   

    Seit den vergangenen Jahrzehnten gibt es neben diesen Grundpfeilern, die schon fast in den Tiefen der Geschichte versunken und unsichtbar sind, eine weitere tragende Säule: den Großen Vaterländischen Krieg. Die Rolle, die er für die aktuelle Staatsideologie, die nationale Identität, die Erinnerungskultur oder das kollektive Bewusstsein spielt – nennen Sie es, wie Sie wollen – ist einzigartig. 

    Wenn wir heute das Wort „Krieg“ sagen, sagen wir das ganz allgemein, aber fast augenblicklich wird es zu einem konkreten Krieg, mit Großbuchstaben: „Krieg“ ist immer der „Große Vaterländische Krieg“, der Zweite Weltkrieg, das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts, an dem das zeitgenössische Russland ansetzt und worin es nicht nur seine Bestimmung und Legitimation sieht, sondern auch das grundlegende Existenzmodell. 

    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Großen Vaterländischen Krieg / Foto © Skaramanga_1972/lievejournal
    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Großen Vaterländischen Krieg / Foto © Skaramanga_1972/lievejournal

    Dieser Krieg gibt eine Matrix vor, in deren Sprache sich alles Alltägliche leicht übersetzen lässt – ob lokale bewaffnete Konflikte oder internationale politische Ereignisse, bis hin zu den absurdesten Fällen, wenn das Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft zur Fortsetzung der Schlacht bei Stalingrad wird oder das Spiel gegen Kroatien zum Kampf gegen die Ustascha, stets wie aus der Maschinenpistole aufgeladen mit der Beschwörungsformel „Wir können das wiederholen“. 

    Der Krieg des 19. Jahrhunderts

    Aber dieses Verständnis von Krieg ist nicht das einzig mögliche. Es war einmal anders, wie auch Krieg selbst anders war. Bei dem oft zitierten Satz „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist der klassische Krieg vom Typ des 19. Jahrhunderts gemeint. Dabei wird ein Streit weitergeführt, den Diplomaten nicht lösen konnten, es wird neues Gleichgewicht hergestellt und es werden, im Falle von Kolonialisierung, Einflusssphären erweitert und gleichzeitig zivilisatorische Missionen ihrer Vertreter erfüllt. So ein Krieg ist ein Spezialfall mit eigenen Regeln und Gesetzen.

    Die Sichtweise auf den Krieg liegt im Auge des Betrachters. Nehmen wir zum Beispiel den Kaukasuskrieg. In der Regel sind solche Texte aus der Perspektive eines adeligen Offiziers geschrieben, der den Krieg als romantisches Abenteuer erlebt. Für ihn ist der Krieg die Möglichkeit, seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen und zu Ruhm und Ehre zu kommen. Im Blick des Offiziers stehen in erster Linie edle Gefühle, starke Leidenschaften, große Taten oder exotische Bräuche und Sitten anderer Völker, auf die er stößt. Das ist eine erstaunliche und verblüffende Welt, die den Menschen die Chance bietet, sich von ihrer besten Seite zu zeigen.

    Dabei entgeht dem Blick des adligen Offiziers natürlich nicht, dass er nicht der einzige ist in diesem Krieg, dass es auch Menschen gibt, für die er weder eine Reise noch ein Abenteuer darstellt. Das sind die vielzähligen Maxim Maximytschs, die Hauptakteure dieses Krieges. Die sind nicht so begeistert und nicht so romantisch gestimmt. Für die ist es vor allem hartverdientes Brot, wie die Arbeit in der Landwirtschaft. 

    Kaukasuskrieg: Treffen auf die absolute Andersheit

    In diesem Krieg gibt es weitere Akteure: die Bergvölker, mit denen man kämpfen muss und die es zu zivilisieren gilt. Sie haben kein Recht auf eine eigene Stimme, wie wahrscheinlich in jeder Art von Kolonialliteratur. Ihre Sitten, Bräuche und Gewohnheiten können beschrieben, ihr Mut bewundert und ihr Äußeres bestaunt werden, aber bis auf Hadschi Murat wird keinem Kaukasier bis Ende des 19. Jahrhunderts das Wort gegeben. 

    Der Vaterländische Krieg erscheint als nationale Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus / „Die Schlacht bei Borodino“, Louis Lejeune, 1822
    Der Vaterländische Krieg erscheint als nationale Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus / „Die Schlacht bei Borodino“, Louis Lejeune, 1822

    Es ist klar, dass es in jedem Kriegsbericht Leerstellen geben muss, Gruppen, die schweigen, und Schichten, die in diesem historischen Drama im Hintergrund bleiben, während nur den Siegern die Autorität zugesprochen wird, über den Krieg zu sprechen. In der Literatur wird der Kaukasuskrieg zu einem „Treffen auf die absolute Andersheit“, auf einen Menschen, der nach grundlegend anderen, nicht nachvollziehbaren und zuweilen faszinierenden, zuweilen erschreckenden Regeln lebt.      

    Der erste große Prosatext zum Vaterländischen Krieg von 1812 wird erst 1830 veröffentlicht. Es ist Michail Sagoskins Werk Roslawlew oder die Russen im Jahre 1812. Darin zeigt sich das Verständnis vom Krieg als einer Angelegenheit des Volkes mit oberster Priorität, die uns gewöhnlich und natürlich scheint. Im Namen des Krieges vereinen sich alle Stände und vergessen alle Unterschiede, vorübergehend wird die komplexe russische Gesellschaftsstruktur einfach und homogen. Alle verschmelzen zu einer stählernen Faust im Schlag gegen den Feind. Mit diesem neu aufkommenden Verständnis von Krieg als nationaler Aufgabe, als Vereinigung aller im gemeinsamen Enthusiasmus um das heilige Zarenreich, rutscht Russland in den Krimkrieg, der sich als bittere Enttäuschung entpuppt.    

    Lew Tolstoi: Krieg als universelle Erfahrung

    Neben einigen politischen Folgen führt die Erfahrung dieser Niederlage zu einer völlig neuen Auffassung von Krieg, die Lew Tolstoi aus den Batterien von Sewastopol mitbringt. Sein Blick ist nicht mehr der romantische Blick eines Offiziers, der nach Abenteuern sucht, es ist der Blick eines Kriegsteilnehmers, eines Menschen als solchem. 

    Tolstoi berichtet über den Krieg aus der Sicht eines Teilnehmers und macht deutlich, dass diese Erfahrung universell ist. Es gibt keine Offiziere oder einfache Soldaten, Feldherren oder gewöhnliche Menschen, die unbemerkt im Hintergrund vorbeiziehen. Es gibt nur den Menschen, und jeder Mensch, auf den ein Geschütz zufliegt, hat in diesem Moment mehr oder weniger dieselben Empfindungen. Und das sind Empfindungen, die kein Mensch durchmachen sollte. Krieg widerspricht der menschlichen Natur völlig , es ist etwas Unerträgliches, das es nicht geben darf. 

    Wie so oft, nimmt Tolstoi auch hier eine radikal neue Position ein, die vorherrschende Auffassungen vehement ablehnt, da diese versuchen, den Krieg in edle weiße Gewänder zu hüllen und ihn zu rechtfertigen mit der Verteidigung nationaler Interessen, Anlass seinen Heldenmut unter Beweis zu stellen oder der Möglichkeit Russlands Territorium zu vergrößern. 

    Laut Tolstoi redet man sich damit den Krieg schön, während in Wirklichkeit der einzelne Mensch mit aufgeschlitztem Bauch auf dem Schlachtfeld liegt und ihm weniger als eine Sekunde zu leben bleibt. Und das ist das einzige, was zählt.

    Jede Rechtfertigung oder Rationalisierung des Krieges ist Betrug, eine Illusion, die entlarvt werden muss. In Wirklichkeit sind die Gründe für einen Krieg eher profaner, pragmatischer Art. Für Fürst Schtscherbazki in Anna Karenina ist der Krieg – während er sieht, wie sich die Bevölkerung in einen patriotischen Taumel hineinsteigert – nichts weiter als eine fixe Idee des Adels. Sein äußerst treffender Satz ließe sich als Kommentar so manchem Sofaexperten entgegnen: „Sie meinen, ein Krieg sei notwendig? Wunderbar. Wer den Krieg predigt, kommt in eine besondere, vorgeschobene Legion, und dann – auf zum Sturm, zur Attacke, allen voran!“ Meistens verteidigen diejenigen die Kriege, die letzten Endes für ihre Worte nicht geradestehen müssen. Wenn es deine tägliche, schwere Arbeit ist, wirst du wohl kaum viele Worte darüber verlieren, außer ganz schlichte, vulgäre.

    Das Schlachtfeld als Chaos

    Tolstois Darstellung steht im Widerspruch zu der damals etablierten Tradition, den Krieg als Ausdruck von Größe und Bedeutung historischer Persönlichkeiten zu sehen. So ist Woina i Mir (dt. „Krieg und Frieden“​) eine groß angelegte Polemik gegen jene, die meinen, dass Kriege von Napoleon, Alexander oder Kutusow gewonnen werden, dass Kriege den Befehlen bedeutender Autoritäten gehorchen. Das Schlachtfeld ist ein Chaos, das von fast mystischen, unergründlichen Kraftlinien bestimmt wird, vom Trieb ganzer Nationen. 

    Es ist durchaus interessant, dass es um den Zeitpunkt der Veröffentlichung von Woina i Mir einen Skandal gab, der sehr an die Skandale der letzten Jahre erinnert: Tolstoi wird buchstäblich beschuldigt, die Kriegsveteranen zu verunglimpfen. Pjotr Wjasemski schreibt, Tolstois Roman sei eine Schmähschrift auf den Krieg, er habe dieses heroische Ereignis dargestellt, als würden da Menschen im Dreck herumwuseln und selbst nicht verstehen, was sie tun und wohin es geht. Eine zentrale Frage, die Tolstoi beschäftigt, lautet: Was bringt Menschen dazu, sich zusammenzurotten und in dieselbe Richtung zu marschieren, mehr noch, etwas zu tun, das der menschlichen Natur absolut widerstrebt?  
    Trotz seiner seitenlangen geschichtsphilosophischen Überlegungen, muss Tolstoi vor dieser unsichtbaren überwältigenden Kraft in gewisser Hinsicht kapitulieren. Er spürt ihre Wirkung, kann sie aber nicht genau greifen. Natürlich ist die ordnende bürokratische Maschinerie der Moderne eine treibende Kraft für das organisierte Heer, und das Unpersönliche und Maschinenhafte ist an sich schon erschreckend. Und trotzdem bleibt das Gefühl, dass hinter diesem bürokratischen Apparat etwas Größeres steht, irgendwelche unergründlichen Schicksalskräfte. Etwas Unbestimmtes, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durchsetzt. Und Tolstois Vergleiche vom zerstörten Ameisenhaufen oder Bienenstock weichen komplett den Metaphern vom Wetterleuchten, lodernden Himmel und anderen metaphysischen Verklärungen. 

    Denn die Ereignisse des 20. Jahrhunderts in ihrem vollen Ausmaß haben tatsächlich nichts mit Bienenstöcken gemeinsam. Sie sind unfassbar, katastrophal und monströs. „Karger Himmel der Tode in Scharen“, wird später Ossip Mandelstam schreiben. 

    Um die Jahrhundertwende fängt es an, wird immer deutlicher, dass der Krieg nicht mehr Anlass ist, Ruhm zu erlangen, und auch keine Aufgabe der Nation. Er ist ein weltumspannendes Grauen, das der menschlichen Natur zuwiderläuft und gleichzeitig die Menschen einer fatalen Zwangsläufigkeit unterwirft.  

    Karger Himmel der Tode in Scharen

    Wahrnehmbar wurde dieser „karge Himmel der Tode in Scharen“ erstmals am Vorabend des Ersten Weltkriegs – jenes Krieges, der von späteren tragischen Ereignissen aus dem Gedächtnis gedrängt wurde, der aber eine weitere, eine wichtige Erkenntnis mit sich brachte. Nämlich, wie gefährlich der, wie Lenin es nannte, „Übergang des imperialistischen in den Bürgerkrieg“ ist, dieser auflodernde Patriotismus und die Vereinigung aller Volkskräfte gegen einen Feind.

    Jeder kann zum Feind werden. Nicht nur Ungläubige oder Imperialisten, diabolische Deutsche oder Japaner, auch dein Nachbar oder dein Bruder. 
    Dieser Krieg schwelt gewissermaßen ständig in uns, denn durch Russland ziehen sich unzählige Sprenglinien. Zwischen den bildungsfernen Schichten und der Elite, zwischen Arm und Reich, zwischen Bauern und Großgrundbesitzern, zwischen Stadt und Land, zwischen dem Chanson und dem iPhone, zwischen Liberalen und Patrioten. Jeder dieser Konflikte lässt sich im Handumdrehen bis zu dem Punkt hochschaukeln, wo plötzlich eine wahrhaft dunkle Macht, die vernichtet werden muss, gleich neben einem ist. 

    Das Gerede darüber, dass sich verschiedene Bevölkerungsgruppen zusammenschließen müssen für ein übergeordnetes Ziel, der Patriotismus, der Nationalstolz und der gemeinsamen Sieg – all das sind Beschwörungsformeln, die die Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen bewahren sollen. Und vor dem Krieg jeder gegen jeden. 

    Russischer Existenzialismus, ohne papierene Klugscheißerei

    Aber noch ein paar Worte zum Großen Vaterländischen Krieg. Selbstverständlich erschöpft sich sein Stellenwert im kulturellen Gedächtnis nicht darin, dass sich das ganze Volk vereint und den Feind besiegt habe. Es gab da etwas Größeres, das den vorherigen Kriegen nicht eigen gewesen war oder sich zumindest nicht in diesem Ausmaß in die Kultur eingeschrieben hat. Für alle, die den Krieg überlebt haben – und das wissen wir nur zu gut – war dieser Krieg das wichtigste Ereignis ihres Lebens. Für alle, die an der Front waren, für alle, die im Hinterland waren, überhaupt für jeden. Etwas Wichtigeres konnte es danach nicht mehr geben. Es war der Augenblick der Wahrheit, der den Menschen das Maximum an Kraft abverlangt und sie mit der absoluten Ausnahmesituation konfrontiert hatte. Ständig an der Grenze zwischen Leben und Tod trafen sie dringlichste moralische Entscheidungen. Auf welcher Seite stehst du? Wie verhältst du dich? Wofür entscheidest du dich? Bist du bereit, Risiken zu tragen? Zu sterben? Und wenn ja, wofür? Das war russischer Existenzialismus ohne papierene Klugscheißerei, es war der Augenblick, in dem Millionen Menschen solche Fragen für sich selbst beantworten mussten, ohne irgendwelche Autoritäten, Religionen oder Ideologien. Fragen über Leben und Tod.  

    Zuweilen vermittelte der Krieg manchen Menschen an manchen Orten den Eindruck von unwahrscheinlicher Freiheit und Glück. In Wassili Grossmans Roman Shishn i Sudba (dt. „Leben und Schicksal“) gibt es eine Beschreibung vom Grekow-Haus, dem das Pawlow-Haus in Stalingrad als reales Vorbild diente, jenes umstellte Haus, das Soldaten monatelang mit dem Leben verteidigten. 

    Wenn du dich plötzlich an so einem Ort wiederfindest, in ständiger Lebensgefahr, aber immer wieder überlebst, entsteht ein unglaublich starkes Gefühl von Brüderlichkeit, Gemeinschaft und einem Sinn des Lebens, sprich von etwas, das man durchaus als Glück interpretieren könnte. 
    All diese Dinge, die während des Großen Vaterländischen Krieges mit einer nie gekannten Intensität erlebt wurden – sie sind der Grund für die starke Erinnerung an ihn. Es versteht sich von selbst, dass uns diese Erinnerung nicht einfach durch die aktuelle Politik aufgezwungen wird, sie sitzt tief in uns. Ist seit 1945 immer präsent. 

    In den Kellern saßen die Kinder und wollten unter die Panzer

    Bei Wyssozki heißt es in der Ballada o Detstwe (dt. „Ballade über die Kindheit“): „In den Kellern und Souterrains saßen die Kinder und wollten unter die Panzer.“ Dieses Gefühl, man sei zu spät geboren und hätte das wichtigste Ereignis im Leben verpasst, war der ersten Nachkriegsgeneration besonders eigen. Aber auch heute flammt es hier und da auf. 

    Ich möchte an dieser Stelle nicht über Sachar Prilepin sprechen. Es versteht sich von selbst, dass die ganze Geschichte mit dem Donbass für Prilepin wie für viele andere nicht nur mit dem Wunsch herumzuballern einhergeht, sondern auch mit der obengenannten Sehnsucht nach dem wichtigsten Krieg im Leben, nach dem Großen Vaterländischen, wo das absolute Gute auf das absolute Böse trifft. Hier wird für viele plötzlich alles nochmal durchgespielt, und zwar buchstäblich, mit denselben Begrifflichkeiten: Man führt Krieg gegen die Faschisten, gegen die Henker. Die Sehnsucht nach Wahrheit und Sinn, die der Große Vaterländische mit sich brachte, ist so stark, dass man bereit ist, jeden Krieg zum Großen Vaterländischen zu erklären.

    Es gibt noch etwas Wichtiges, das nicht als Nachklang der Kriege entstanden ist, sondern als eine Art therapeutisches Mittel im Umgang damit: die Lieder von Viktor Zoi

    Wir denken, wir lieben Zoi, weil er so großartige Lieder schrieb – schön, melodiös, energiegeladen und ein bisschen rätselhaft. Aber ich weiß noch sehr gut, welche Zeilen den Jugendlichen am stärksten im Gedächtnis blieben, als das alles 1988/1989 aufkam. Für die meisten waren es zweifellos die Bilder des Krieges: „Wünsch mir Glück im Gefecht“, „ich will niemandem den Fuß auf die Brust setzen“, „wie die Krieger wankend ihre Schwerter am Gras abwischten“, „was sind tausend Worte wert, wenn es auf die Armeskraft ankommt“. 

    Ich bin mir vollkommen sicher, dass  diese Worte genau in jenem Moment gesagt werden mussten: „zwischen Himmel und Erde herrscht Krieg“. Was bedeutet das? Es sind nicht die Worte eines Militaristen oder Propagandisten, der den Krieg überhöht oder behauptet, wir könnten den ganzen Planeten in radioaktive Asche verwandeln. Es sind Worte, die etwas vollkommen Unrussisches durchweht, vielmehr ist es eine östliche Auffassung vom Krieg als Teil eines großen, kosmischen Zyklus. Ich will niemandem den Fuß auf die Brust setzen, aber es ist vom Schicksal vorherbestimmt, es ist Ausdruck eines Naturgesetzes, eines natürlichen Zyklus, der sich immerzu zwischen Himmel und Erde vollzieht. „Nach einer Stunde ist es bloß noch Erde, nach zwei wachsen auf ihr Blumen und Gras, nach drei ist sie wieder lebendig.“

    Zwischen Himmel und Erde herrscht Krieg

    Man achtet da nicht unbedingt drauf, aber es ist bemerkenswert, wie in der ersten Strophe des Liedes Swesda po imeni Solnze (dt. „Ein Stern namens Sonne“) der Blick wandert. Anfangs ist er auf den Boden geheftet, weißer Schnee, graues Eis auf der aufgeplatzten Erde; dann schnellt er hinauf und zeigt uns die Stadt im Verkehrsknoten; plötzlich steigt er noch höher, Wolken ziehen über die Stadt und spiegeln das Licht des Himmels; bis er in der fünften Zeile im fernen Kosmos verschwindet, zum Planeten namens Sonne. In diesen Zeilen sehen wir den gesamten kosmischen Zyklus, in dem ein zweitausend Jahre andauernder Krieg als natürliches und unabdingbares Element erscheint. 

     

    Viktor Zoi, „Swesda po imeni Solnze“ im Film „Igla“ von Raschid Nugmanow, 1988

    Warum mussten diese Worte gesagt werden? Oder warum hatten sie zu jener Zeit so eine starke Wirkung? Weil sie, wie mir scheint, für die Menschen, die sie mit 15 oder 16 zum ersten Mal hörten, eine unwahrscheinliche Hilfe waren, die 1990er Jahre zu überstehen. Denn sie hatten sich plötzlich im Epizentrum gleich mehrerer Kriege wiedergefunden: Im Krieg, der auf den Straßen der russischen Städte tobte und der sich auf unterschiedlichste Weise äußerte – vom Putsch bis zur Straßenschießerei

    Zudem hatten sie den ersten Tschetschenienkrieg miterlebt, bei dem es keine ritterlichen Hoffnungen mehr gab, kein Gefühl der großen, gemeinsamen Sache. Nur die absolute Sinnlosigkeit, Absurdität und den Schrecken des Zusammenpralls mit einem äußerst brutalen Gegner, der gleichermaßen der Eigene, der Fremde, der Andere und sonst noch wer war. 

    Diese aus dem Mund eines fünfundzwanzigjährigen Petersburger Jungen unerwartete Weisheit in Bezug auf Krieg – nicht einfach als patriotische Aufwallung, sondern als eine harte, aber absolut notwendige menschliche Angelegenheit, hat den Menschen in den 1990ern sehr geholfen. Und dieses Verständnis hat bis heute nicht an Aktualität verloren.

    Die 1990er wurden durch Afghanistan so, wie sie waren

    In Zusammenhang mit den Kriegen in Afghanistan und Tschetschenien hat auch der Film Brat (dt. „Bruder“) von Alexej Balabanow eine besondere Bedeutung. Er zeigt den Krieg als eine Erfahrung, die im Menschen eine feste, kristalline Struktur erzeugt, welche er dann auch in Friedenszeiten um sich herum aufbaut. 

    Das alles ist sehr nah an dem posttraumatischen amerikanischen Film nach dem Vietnamkrieg, in dem Veteranen von der Front zurückkehren, aber den Krieg nicht aus dem Kopf bekommen. 

    Der Film „Brat“ zeigt den Krieg als traumatische Erfahrung, die Veteranen nicht aus dem Kopf bekommen / Filmstill aus dem Film „Brat“/CTB Film Company
    Der Film „Brat“ zeigt den Krieg als traumatische Erfahrung, die Veteranen nicht aus dem Kopf bekommen / Filmstill aus dem Film „Brat“/CTB Film Company

    In Balabanows Film schwingt sogar mit, dass die 1990er durch den Afghanistankrieg so wurden, wie sie waren, denn die charismatischsten, leidenschaftlichsten und energischsten Menschen dieser neuen Verhältnisse waren Leute, die nur einen Verhaltensmodus kannten: sich mit einer Handvoll Vertrauter, quasi Brüder, im Schützengraben zu verschanzen und um sich zu schießen. Sind ringsum keine Feinde, werden sie künstlich geschaffen. 

    Einen anderen Verhaltensmodus kennen Menschen nach einer Kriegserfahrung nicht. Weder die gemeinsame Sache, noch patriotische Aufwallung, noch Ehre oder Heldenmut, sondern das Gefühl eines Soldaten, der im Schützengraben sitzt und sich nach allen Seiten vor Feinden verteidigen muss – das war ihr Beitrag zum Frieden. 

    Vor diesem Hintergrund wird vieles verständlich: angefangen bei den Besonderheiten der russischen Privatisierung bis zu den Besonderheiten der russischen kriminellen Szene. 

    Die unterschiedlichen Auffassungen von Krieg haben allerdings eines gemeinsam. Und das konnten wir in den letzten Jahren sehr deutlich spüren: Sie stehen allesamt auf sehr wackligen Füßen. Beim kleinsten Druck von oben kippen wir als Individuen oder als Gesellschaft in Kriegsszenarien. 

    Soldaten auf dem Sofa 

    Plötzlich fühlen wir uns wie Soldaten, auch wenn wir bloß auf dem Sofa sitzen und Kommentare bei Facebook tippen oder den Fernseher anbrüllen. 

    Der Krieg ist eine große Versuchung. Er lockt mit der Möglichkeit, doch noch jene wichtige Sache zu erleben, die alles mit der absoluten Wahrheit auflädt und alle Schulden erlässt. 

    Wir glauben sehr leicht an Geschichten von dunklen Mächten, die unser aller Existenz bedrohen. Und je leichter wir daran glauben, je leichter wir darauf reinfallen, desto schneller geraten wir in die Hände ganz anderer dunkler Mächte, die Menschen zu einer Masse zusammendrängen und in den Tod schicken, wie schon Tolstoi sagte. 

    Je leichtfertiger wir in gewöhnlichen Facebook-Posts eine Sprache des Krieges verwenden, je leichtfertiger wir unsere Widersacher mit Insekten, Parasiten, Käfern und anderem Getier vergleichen, desto näher rücken wir der Ansicht, sie seien Unmenschen, die vernichtet werden müssen. Das Einzige, was uns davor bewahren kann, ist die durch die russische Geschichte buchstäblich leidvoll errungene Erkenntnis, dass die letzte Wahrheit nicht in exaltierten Losungen oder den patriotischen Notizen eines Graf Rastoptschin liegt. Sondern in der Angst, im Schmerz und im Chaos, die im Hirn eines Menschen toben, der irgendwo auf dem Schlachtfeld bei Sewastopol liegt und nur noch eine Sekunde zu leben hat. 

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  • Krieg bleibt Krieg

    Krieg bleibt Krieg

    UPDATE (30. Mai, 16.45 Uhr): Arkadi Babtschenko ist am Leben. Gemeinsam mit dem ukrainischen Geheimdienst SBU gab er eine Pressekonferenz vor Journalisten in Kiew. Die Mordinszenierung hat im russischen Internet heftige Debatten ausgelöst, die wir in unserer Debattenschau abgebildet haben.

    Juri Saprykin, Autor des unten stehenden Nachrufs auf Babtschenko, schreibt unterdessen auf Facebook:

    Wisst ihr was? Er lebt, Gott sei Dank. Nicht eines der gestern Nacht geschriebenen Worte nehme ich zurück. Zugleich hat sich Valentina Iwanowna M. als Mensch gezeigt. Und diesen, hm hm, schwierigen Gefühlskomplex, den die neuesten Nachrichten hervorrufen, werden wir irgendwie überleben (genau wie es jetzt auf allen Seiten richtig wäre, für ein paar Wochen die Sozialen Netzwerke zu kappen und sich keinem Fernseher zu nähern).


    Am 29. Mai wurde der russische Journalist und Schriftsteller Arkadi Babtschenko im Treppenhaus seines Wohnhauses in Kiew erschossen. Hinterrücks, was an die Ermordung anderer Regimekritiker erinnert, wie etwa an die des Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Ein Schwall von Beschuldigungen erfüllt heute die Sozialen Netze. Tenor: Babtschenko sei für das System Putin genauso unbequem gewesen wie Nemzow, sein Tod sei seiner massiven Kritik am System geschuldet. Beweise bleiben aus, wahrscheinlich wird man nie den eigentlich Schuldigen finden und verurteilen, genauso wie im Fall Nemzow. Unmittelbar nach Babtschenkos Ermordung in Kiew begannen gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen ukrainischen und russischen offiziellen Stellen.

    Babtschenko betrieb eine Art aktivistischen Journalismus. Putin sei ein Faschist, Russland sei Mordor – mit solchen Provokationen und Übertreibungen sprach der Journalist vielen aus der Seele, auf Facebook hatte er über 190.000 Follower. Sein Ton war oftmals wütend und schonungslos, seine Wortwahl Mat-durchsetzt. Er brach bewusst Regeln des klassischen Journalismus – was ihm Freunde, aber auch viele Feinde einbrachte – und verschaffte sich damit eine einzigartige Stellung in der russischen Medienlandschaft.

    Neben seinen wütenden Kommentaren zum politischen Tagesgeschehen in Russland und im Donbass rief Babtschenko oft dazu auf, für karitative Zwecke zu spenden. Obwohl er in seinem Blog oftmals seine Mittellosigkeit ansprach, adoptierte seine Familie sechs Heimkinder.

    Im Februar 2017 verließ der Moskauer Journalist Russland in Richtung Prag; laut Eigenaussage, weil er gewarnt wurde, dass sein Leben in Moskau nicht mehr sicher sei. Im August 2017 kündigte er an, „auf einem NATO-Panzer zurückzukehren“. Von Prag ging er zunächst nach Israel, später in die Ukraine.

    Babtschenko sprach oft über den Tod. Er kämpfte in beiden Tschetschenienkriegen, als Kriegsreporter berichtete er auch über die Gräuel im Donbass. Seine Bücher über einzelne Kriegsgeschehnisse sind auch auf Deutsch erschienen, zuletzt der Band Ein Tag wie ein Leben (2014). Einige Male schrieb er darüber, wie er dem Tod entronnen sei. Letztes Jahr ist der Journalist gefragt worden, ob es ihm Angst mache, jetzt zu sterben. Es „macht immer Angst zu sterben“, sagte er, „vor zwanzig Jahren und auch jetzt. […] Ich will mehr leben, als sterben.“

    Am 29. Mai wurde Schriftsteller und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko in Kiew erschossen / Foto © Sergej Bobylew/ITAR-TASS
    Am 29. Mai wurde Schriftsteller und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko in Kiew erschossen / Foto © Sergej Bobylew/ITAR-TASS

    Er war ein Mensch des Krieges. Er hat ihn gesehen, und er hat viel von ihm verstanden.

    Vor rund drei Jahren hat Colta.ru auf einer Veranstaltung eine Reihe von Kurzfilmen gezeigt, in denen DNR– und ATO-Kämpfer von den Filmemachern begleitet wurden. Nach der Vorführung sagte Arkadi Babtschenko, der Film sei natürlich interessant, aber es käme zu keinem Finale, in gewissem Sinne könne es auch gar keines geben. „In den ersten ein zwei Monaten gibt es noch die Chance, [die Kämpfe – dek] zu stoppen, später aber, wenn alles durcheinander geht, dann ist der Krieg, sofern er nicht ausbrennt und erlischt, nicht mehr zu stoppen. Ich bin gar nicht so sehr verschreckt durch das, was wir gesehen haben, sondern eher davon, wie lange es noch dauern wird und wohin das alles führt, auch für uns.“

    Babtschenko hat in beiden Tschtschenienkriegen gekämpft und war als Kriegskorrespondent in Südossetien. Über seine Kriege hat er in der Erzählung Alchan Jurt geschrieben, die 2002 in der Literaturzeitschrift Nowy Mir erschien, und in Kurzgeschichten, die in das Buch Woina (dt. „Krieg“) eingingen. Babtschenko selbst sagte dazu: „Das ist keine Literatur, das ist Rehabilitation.“

    Wie viele, die Krieg miterlebt haben, schreibt er, dass es beinahe unmöglich ist, aus einem Krieg zurückzukehren, ihn aus sich herauszuätzen. Er selbst ähnelte, sogar äußerlich, einem Soldaten nach der Entlassung aus dem Kriegsdienst: gleichzeitig locker und konzentriert, als wäre er jeden Moment bereit, sich in den Kampf zu stürzen oder in Deckung zu gehen. Sogar sein Nickname im LiveJournal [Starschina Sapassa, dt. „Reserveältester“ – dek], sah nicht aus wie ein geheimnisvolles Bilderrätsel oder gekünstelt Pseudonym, sondern wie eine Zeile aus dem Truppenausweis.

    Ein Soldat schaut anders auf die Welt als ein Zivilist, und das Pathos des Publizisten Babtschenko kann man in einer Frage auf den Punkt bringen: Warum seht ihr denn das Offensichtlichste nicht? Angefangen mit dem berühmten Posting im LiveJournal über ein Schneeräumfahrzeug (laut Babtschenko hätten die Teilnehmer der Proteste im Winter 2012 dieses Fahrzeug klauen und in Richtung Lubjanka lenken sollen, um die dortigen Sperrungen zu durchbrechen – dafür blühte ihm gleich ein Strafverfahren), spricht er beinahe wie mit unverständigen Kindern: Versteht ihr denn nicht – ein erlaubter Protest ist kein Protest, eine mit gewaltsamen Methoden angegliederte Krim ist nicht Russland, das, was im Donbass vor sich geht, das ist Krieg, das ist Schande; und an all dem Schuld ist kein abstraktes „Wir“, sondern seid ganz konkret ihr – die, die brav gewählt haben und die, die keinen Widerstand geleistet haben. Ihr, die Zivilbevölkerung, die ihr das Offensichtlichste einfach nicht seht.

    Schon klar, wie aus Babtschenkos Position heraus seine Moskauer Gesinnungsgenossen wirkten: wie schwache, zu endlosen Kompromissen bereite Konformisten. „Sie standen mit weißen Luftballons im Pferch und gingen dann auseinander.“

    Seine Haltung von unbedingter moralischer Richtigkeit schreckte viele ab. Sein Konzept von kollektiver Verantwortung – in dem die Schuld für das vergossene Blut der letzten Jahre nicht nur bei denen liegt, die Hand angelegt haben, sondern bei jedem, der nicht aktiv Widerstand geleistet hat, sprich: bei praktisch allen Bewohnern Russlands – war dermaßen ungemütlich, dass man es häufig auf die angeschlagenen Nerven oder die schwierigen Lebensumstände schieben wollte. Babtschenko war jedoch bereit, bis zur letzten logischen Grenze darauf zu beharren, und diese Grenze war immer wieder der Tod.

    In Postings weigerte er sich demonstrativ, Trauer zu zeigen für aus dem Leben geschiedene Landsleute – ob bei bekannten Schauspielern oder den Opfern der TU-154-Katastrophe – weil diese Russlands Handlungen auf der Krim und im Donbass aktiv unterstützt oder stillschweigend befürwortet hatten. Das verschaffte ihm einen lautstarken und bösen Ruhm. Für die „Trauer-Polizei“, die sich in den vergangenen Jahren auf Facebook und im Fernsehen gebildet hat und die sich auf alle stürzt, die auf ungehörige Weise über Verstorbene schreiben, war Babtschenko das Hauptziel.

    Derartige Postings von Babtschenko konnte man tatsächlich nur schwer unterschreiben, und als er dann nach mehrfachen Drohungen Russland verließ, löste das kaum Protest oder Mitleidsbekundungen aus. Der persönliche Krieg Babtschenkos wurde zu einem Partisanen-Ritt in ferne Grenzgebiete der Moral und Ethik, wohin zu gehen nur wenige bereit waren. Manchmal schien es, als würde der Autor bereits automatisch die vom Publikum geliebte Todesnummer abspielen, um damit gleichzeitig eine Welle des Hasses und eine Lawine mitfühlender Likes auf sich zu ziehen. Aber irgendwo in den Tiefen stand hinter diesen Zeilen trotz allem lebendiger Groll und starker Schmerz. Das Gefühl eines Menschen, der sich in die Schlacht stürzt, ohne über die Folgen nachzudenken; Krieg bleibt Krieg.

    Foto © Arkadi Babtschenko/Facebook
    Foto © Arkadi Babtschenko/Facebook

    Obwohl er sich mit den derbsten Äußerungen zu den sensibelsten Themen einen Namen gemacht hatte, war er doch ein überraschend sanfter Mensch. Ständig fuhr er mal nach Krymsk, mal in den Fernen Osten, half Flutopfern, sammelte Geld, verteilte Lebensmittel und schaufelte selbst im Dreck. In seiner Familie gibt es sechs adoptierte, sehr schwierige Kinder: Das Sorgerecht hat seine Mutter übernommen, gekümmert haben sich alle. Selbst in seinem ständig wiederkehrenden Mantra „Warum habt ihr denn nicht auf mich gehört?“ war kein Hochmut, sondern nur ein müdes Bedauern: Wenn ihr auf mich gehört hättet, 2011 oder ein wenig später, dann wären Tausende noch am Leben, die Menschen im Donbass, die Passagiere des MH17-Flugs, Nemzow, Scheremet und noch viele mehr. Seiner Logik zufolge – hätten wir auf ihn gehört – wäre auch er selbst jetzt noch am Leben. Es fällt schwer Argumente zu finden, um darüber zu streiten – ja, außerdem mit wem denn noch?

    Seine Sturheit, Unversöhnlichkeit und seine Überzeugung von der Richtigkeit seiner eigenen Position waren wie aus einer anderen Zeit. Man hätte sie problemlos in einer Altgläubigen-Skite verorten können oder in irgendeinem Bauernkrieg aus der Reformationszeit, und das auf beliebiger Seite.

    Es ist absehbar, wie sich die Ermittlungen zu seinem Mord nun abspielen werden: Die Konfliktparteien werden sich endlos gegenseitig die Schuld zuweisen und erklären, wer mehr davon profitiert, der kollektive Putin oder der weltweite Anti-Putin. So ist das postfaktische Zeitalter beschaffen, in dem es angeblich entweder keine Wahrheit mehr gibt oder man unmöglich zu ihr vordringen kann. Für Babtschenko hat es sie zweifellos gegeben und er war bereit, für sie bis zum Äußersten zu gehen. Er war ein Mensch des Krieges, der einst begonnen hat, gegen den Krieg zu kämpfen. Und der Krieg hat sich dafür an ihm gerächt.

    Schlaf gut, Soldat.

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  • Die Schlacht ums Narrativ

    Die Schlacht ums Narrativ

    Im Mordfall Litwinenko gibt es vom Londoner High Court herbe Anschuldigungen gegen den russischen Präsidenten. In ihrem 329 Seiten starken Bericht schlussfolgern die britischen Ermittler, dass der Mord „wahrscheinlich” von Putin gebilligt worden sei. Beweise dafür gibt es allerdings keine – so geht es nun vor allem um die Deutungshoheit. Und hier steht viel auf dem Spiel, denn zugleich wird in dieser Diskussion um das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verhandelt. Juri Saprykin hat für The New Times die Erzählstränge im Fall Litwinenko entwirrt.

    Marshall McLuhans berühmter Ausspruch „The medium is the message“ ist nun schon über fünfzig Jahre alt, und allmählich dürfte seine Kernaussage jedem Erstklässler geläufig sein: Egal welches Kommunikationsmittel man benutzt, es verändert unmerklich die Aussage, die es transportiert, und beeinflusst deren Gewicht und Status. Geburtstagsglückwünsche klingen unterschiedlich, je nachdem ob sie in Form einer Postkarte, eines Telefonanrufs oder eines Postings in der Facebook-Chronik ankommen. Kadyrows Drohungen gegen die Opposition wären nicht weiter aufgefallen, hätte er sie in einem Nachrichtenbeitrag auf Grosny-TV geäußert, im warmen, gemütlichen Instagram-Umfeld dagegen wirken sie verheerend. Der Name des Präsidenten der Russischen Föderation direkt neben Schilderungen von Mordkomplotten und Drogenhandelsrouten hätte keinerlei Aufsehen erregt, wäre er in diesem Zusammenhang auf der Website Kavkaz Center aufgetaucht – in einer dicken Akte mit der Aufschrift British High Court dagegen machen derlei logische Verknüpfungen einen ganz anderen Eindruck, und die oft gehörten Worte sind auf einmal mehr als nur Worte.

    Aber das gewählte Kommunikationsmittel ist nicht das einzige, was den Kern einer Mitteilung verändert: Alles hängt davon ab, in welche Geschichte, in welches Narrativ sich eine Aussage einfügt. Schon in den ersten Stunden nach der Veröffentlichung des Litwinenko-Berichts begann in Russlands Medien die Schlacht ums Narrativ. Die Fakten wirken ganz anders, wenn man den Bericht von vorneherein als Polit-Farce oder einen weiteren aggressiven Akt des britischen Geheimdiensts darstellt oder zumindest den Namen „Putin“ weglässt. Doch all das sind Tricks für den Hausgebrauch. Für diejenigen, die den Bericht im Original lesen, ergibt sich aus den Dokumenten der Untersuchung natürlich eine ganz andere Geschichte. Diese Geschichte handelt nicht von einer Teekanne mit Polonium und auch nicht vom Schicksal der Person Litwinenko, sondern davon, wie Russlands Machtspitze politische Gegner umbringt, nicht zuletzt auch auf fremdem Staatsgebiet, und zumindest in einem Fall unter Verwendung von radioaktiven Stoffen. Und diese Geschichte kann nicht folgenlos bleiben. Natürlich, wir sind gewohnt, in einer Welt zu leben, wo auch die krassesten Statements der hochrangigsten Personen oft schon am nächsten Tag vergessen oder bedeutungslos geworden sind, doch der Status des Londoner Obersten Gerichts wird verhindern, dass diese Geschichte sich in Luft auflöst, als hätte es sie nie gegeben.

    Denkt man an die Folgen, sieht man vor dem inneren Auge zunächst ein Brainstorming in Downing Street oder in der Nähe des Oval Office: Wie ist zu reagieren auf die Ergebnisse der Untersuchung, was könnte man noch beschränken, verbieten, einfrieren, ohne dass es nach endgültigem Bruch und Trennung aussieht (zumal die Entwicklung derzeit eher in Richtung Aufhebung der wegen der Krim verhängten Sanktionen geht)? Doch das ist nur der erste und offensichtlichste Teil der Gleichung: Im nächsten Schritt, das haben uns die letzten Jahre gelehrt, entsteht eine Lawine gegenseitiger Kränkungen, die Gott weiß wohin rast. Selbst wenn nur personenbezogene Sanktionen gegen Andrej Lugowois und Dimitri Kowtuns unmittelbare Vorgesetzte verhängt werden, ist als Gegenmaßnahmen mit allem zu rechnen: von einem Ale- und Stout-Verbot in Russland über die Absage des P.-J.-Harvey-Konzerts bis hin zu Bomben auf Woronesh. Selbst wenn der Name Putin aus weiteren Prozessunterlagen verschwindet, bleibt die persönliche Kränkung in der Welt und kann sich in völlig unvorhersehbaren Formen äußern. Sollte es nicht irgendwann zu einem Gerichtsurteil kommen (was schwer vorstellbar ist), gibt es immer noch die westlichen Staatschefs, die Presse, die öffentliche Meinung, die mit diesem Wissen irgendwie leben müssen. Und wenn das nächste Mal ein gemeinsames Vorgehen an irgendeinem Krisenherd zur Debatte steht, wird es unweigerlich wieder hochkommen.

    All das – der gegenseitige Argwohn, die sich auftürmenden Kränkungen, der Wettlauf von Sanktionen und Gegensanktionen – ist im Grunde nicht neu. Na gut, wir treten noch zwei Schritte auf die Frontlinien des Kalten Krieges zu, aber ein Einreiseverbot und ein paar eingefrorene Konten mehr (genau wie der Vorwurf der Gegenseite, es gehe darum, in Russland einen Umsturz herbeizuführen) beeindrucken niemanden mehr. Und auch die beiden großen Geschichten, in deren Zusammenhang die Widersacher die jüngst veröffentlichten Fakten bringen, existieren nicht erst seit gestern. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es auf russischer Seite zum Fall Litwinenko nicht nur eine, sondern ganze drei Geschichten gibt.

    Die erste ist die offizielle Geschichte, verbunden mit dem Namen Maria Sacharowa: Es handele sich nicht um Untersuchungsergebnisse, sondern nur um haltlose Spekulationen, die den Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien schaden sollen. Die zweite ist die geopolitische, die aus dem Volk, erzählt von Couchpublizisten auf Facebook: Ihr Engländer bringt doch selber weltweit heimlich Leute um, James Bond ist das beste Beispiel – warum sollen wir das dann nicht dürfen? Die dritte, unverhohlen menschenverachtende Geschichte erzählen die Organisatoren jener Kundgebung in Grosny, bei der der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow erklärte: „Für jedes Wort, dass diese Leute gegen das Oberhaupt der Republik Tschetschenien oder gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin sagen, werden sie einstehen müssen! Vor dem Gesetz und ohne Gesetz werden sie einstehen müssen! Selbst wenn sie sich im Ausland aufhalten sollten, denn ausländische Gesetze erkennen wir nicht an!“ Und allein die Tatsache, dass diese drei Geschichten nebeneinander existieren, kann man als weiteren Beweis nehmen für die Seite der Anklage des Londoner High Court.

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  • Blindlings strategisch

    Blindlings strategisch

    Dank des Staatsfernsehens ist heute jeder in Russland auf dem Laufenden darüber, wieviele Raketen während der letzten 24 Stunden in Syrien abgefeuert worden sind. Geopolitik ist zum Partygespräch geworden, schafft nationale Identität und hebt das Selbstwertgefühl. Jedenfalls kurzfristig, sagt Juri Saprykin in seinem Kommentar. Denn die globale Machtverteilung wird längst nicht mehr von den Schachzügen der Militärs bestimmt: Wer sich in strategische Planspiele verrennt, stellt sich schnell selbst ins Abseits.

    In Zeiten wie diesen sind wir alle ein bisschen Geopolitiker. Noch vor einem Monat sah es so aus, als ob unsere Kenntnisse über Syrien sich auf dem Niveau der sprichwörtlichen Blondine bewegen, die fragt, wie man denn richtig schreibt: Iran oder Irak. Jetzt hingegen kann man jeden Schüler nachts um drei aus dem Bett holen, und wenn er vor dem Schlafengehen die Nachrichtensendung Wremja gesehen hat, wird er munter drauflosreden: über Hama und Homs, die Militärbasen in Latakia und Tartus, was die Saudis damit zu tun haben und was der Iran darüber denkt, und vor allem – welche Bedeutung das alles im Kontext des Großen Kriegs der Kontinente hat. Natürlich sind die Militärschläge auf die Stellungen des IS aus Sicht dieser schülerhaften Geopolitik nicht etwa deshalb wichtig, weil sie den Stellungen des IS schaden, sondern vielmehr, weil wir es denen gezeigt haben, weil man uns deshalb wieder beachtet, weil jetzt ohne uns nichts mehr geht. Und die Beachtung steigt nach dieser Logik mit der Anzahl der Bombardements: So hat etwa der Schriftsteller German Sadulajew bereits verkündet, dass der Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch den Schiffen der Kaspischen Flottille zu verdanken sei – „nur 26 Marschflugkörper – und schon interessierte sich die ganze Welt wieder dafür, was sich in der Welt der russischen Sprache und der russischen Literatur tut.“ (Ich sehe direkt vor mir, wie die Mitglieder der Schwedischen Akademie in einer außerordentlichen Sitzung panikartig slawische Namen in die Kandidatenliste eintragen und dabei aus den Augenwinkeln die Nachrichten im CNN verfolgen).

    Die schon rein rechnerischen Unstimmigkeiten dieser Interpretation (wie etwa der Umstand, dass die Kräfte der Anti-IS-Koalition im Laufe des letzten Jahres hundertmal mehr Angriffe gegen den IS unternommen hat als dies Russland bisher gelungen ist) brauchen unseren Geopolitiker nicht weiter zu kümmern – schließlich gilt: Wer im Besitz der Wahrheit ist, ist auch der Stärkere. Und er muss sich auch nicht daran erinnern, dass wir noch vor ein paar Monaten die gleichen geopolitischen Ziele (dass man uns beachten, mit uns rechnen, sich mit uns verständigen soll) in den Regionen Donezk und Lugansk verfolgt haben: Geopolitiker, auch wenn sie in die Tiefe der Jahrhunderte blicken, haben heute ein kurzes Gedächtnis. Aber stellen wir uns einmal auf den von unseren Protagonisten schmerzvoll erkämpften weltanschaulichen Standpunkt, zumal dieser ja richtig ist: Russland ist in der Tat ein zu großer und bedeutender Faktor auf der Weltkarte, als dass Fragen der globalen Weltordnung ohne seine Beteiligung entschieden werden könnten. Bringen Bombensalven auf Hama und Homs das Land diesem Status näher?

    Wer die Mitte der 80er Jahre bewusst miterlebt hat, wird es bezeugen: Gegen Ende der Sowjetzeit wurden ähnliche Ziele verfolgt (allerdings von einer ungleich eindrucksvolleren Ausgangsposition aus) – dass man uns respektieren, uns nicht bedrohen, unsere vitalen Interessen nicht verletzen, sich mit uns verständigen soll. Und in den Jahren vor der Perestroika war sehr klar, wie man diese Ziele erreichen kann: Wenn die Amerikaner anfangen, in einer für uns wichtigen Region Unruhe zu stiften, werden Waffen, im Notfall auch Truppen, dorthin geschickt; wenn Europa auf unerfreuliche Ideen verfällt, werden die Atomraketen an die äußersten Grenzen verlegt; wenn plötzlich Waffen in den Weltraum geschafft werden sollen, muss eine asymmetrische, aber gleich starke Reaktion im interstellaren Raum gefunden werden. In letzter Zeit herrscht die Ansicht vor, dass der Fall des Ölpreises der Wirtschaftskraft der UdSSR den entscheidenden Schlag versetzt hat. Dabei ist ein anderer Faktor in Vergessenheit geraten, der in dieser Zeit eine Rolle spielte: das Wettrüsten, dem die zunehmend schwächere Sowjetunion weder finanziell noch technologisch standhalten konnte. Die Erinnerung daran ist peinlich, weil das Programm „Star Wars“ ein grandioser Bluff war – die Reagan-Regierung zwang die Sowjetunion zum Wettbewerb auf einem Feld, auf dem sie gar nicht erst vorhatte, selbst anzutreten. Man hat auch deshalb keine große Lust, die Vergangenheit wieder hervorzukramen, weil unsere bereits eingetretene Zukunft zeigt: Im Wettbewerb zwischen den beiden Systemen waren letztlich nicht mehr die Pläne entscheidend, die im Generalstab oder im Pentagon entworfen wurden, sondern die Mikrochips, die bärtige junge Männer im Silicon Valley zusammenlöten. Der Gedanke, dass ausgerechnet diese leicht verpeilte Division die maßgebliche geopolitische Vormacht sichern würde, lag jenseits der Vorstellungskraft der Patriarchen im Kreml.

    Auch Sofa-Geopolitik hat ihre Zyklen, die so unerbittlich sind wie der Wechsel der Jahreszeiten: Der Begeisterungsrausch über die Stärke, die das Land plötzlich zeigt, die Überzeugung, dass Marschflugkörper absolut alle Probleme lösen, die in den sozialen Netzwerken geteilten Agitationsberichte darüber, wie Tausende von IS-Kämpfern schon beim Anblick eines russischen Flugzeugs entsetzt auseinanderrennen – all dies ist nur das erste Stadium. Am Ende wird zwangsläufig das Gefühl stehen, dass wir global übertölpelt worden sind, dass man uns in eine Sackgasse gelockt hat, aus der es keinen Ausweg gibt und uns veranlasst hat, Zeit und Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Und das wäre im Prinzip noch in Ordnung und man könnte es ruhig abwarten, wenn der Preis für diesen Weg sich nicht, wie immer in der Geschichte, in Hunderten von Leben nichtsahnender Menschen bemessen würde.

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  • Das Woronesh-Syndrom

    Das Woronesh-Syndrom

    Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die russische Führungselite wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigene Bevölkerung zu leiden hat, sagt der Journalist Juri Saprykin. Und sie treffen gerade die schwächsten Glieder der Bevölkerung und die schutzwürdigsten Initiativen. Dieser scheinbar paradoxe Mechanismus ist an mehreren Stellen zu beobachten, und das Internet hat sogar einen Namen für ihn.

    Der Ausdruck Bomben auf Woronesh tauchte im Netz unmittelbar nach der Verabschiedung des Dima-Jakowlew-Gesetzes auf. Ein Facebook-Spaßvogel schrieb damals: Wenn die Amerikaner mit ihren Sanktionen gegen russische Staatsbeamte fortfahren, lasst uns doch einfach einen draufsetzen und selber anfangen, unsere Städte zu bombardieren.

    Begreift man das Antiwaisengesetz als Reaktion auf die amerikanischen Sanktionen gegen die russischen Bürger, die auf der Magnitski-Liste stehen, so ist es ein wahres Grauen: Die Duma reagiert auf die Beschneidung von Handlungsfreiheiten der Führungselite mit einem Gesetz, das die Zukunft, die Gesundheit, ja sogar das Leben der am meisten benachteiligten russischen Staatsbürger gefährdet, nämlich das der Waisenkinder, darunter kranker und behinderter. Und all das wurde noch mit einer dicken Schicht Lügen bedeckt: dass man in den USA vorsätzlich russische Kinder quäle und wir sie nun selbst adoptieren und aufpäppeln würden. Genau das nennt man Bomben auf Woronesh: Als Antwort auf einen Schaden, den die Führungsklasse erlitten hat, schlägt man auf die eigenen Leute ein, noch dazu auf die schwächsten. Bei der Geschichte mit den Lebensmittel-Sanktionen gab es weniger offensichtlichen Schaden, dafür aber mehr Lügen: Bald schon ein Jahr lang will man uns weismachen, dass unter den Sanktionen nur die polnischen Bauern leiden würden sowie russophobe Kreativlinge, die vom Leben nur Serrano-Schinken und Parmesan wollen. In Wirklichkeit waren das wieder Bomben auf Woronesh: Als Reaktion auf die europäisch-amerikanischen Sanktionen gegen die Datschen-Kooperative Osero und die staatlichen Banken wurden Maßnahmen ergriffen, unter denen die eigenen Leute zu leiden haben, und wieder die schutzlosen – die, die jetzt gezwungen sind, qualitativ minderwertige Waren zu überhöhten Preisen zu kaufen.

    Auch gibt sich niemand große Mühe zu verbergen, dass die momentanen Probleme der gemeinnützigen Stiftung Dinastija gar nichts mit ihrer eigentlichen Stiftungsarbeit, sondern mit darüber hinausgehenden gesellschaftlich-politischen Aktivitäten ihres Gründers Dimitri Simin zu tun haben. Simin setzt den Verkaufserlös seines Anteils am Telekommunikationsunternehmen VimpelCom nicht so ein, wie es ihm höherstehende Kuratoren aufgetragen bzw. erlaubt hatten: Er bezuschusst die Arbeit unabhängiger Medien, sponsert Vorträge und Bildungsprogramme nicht ganz linientreuer Färbung, und vor allem verheimlicht er seine liberalen Überzeugungen nicht und auch nicht die Absicht, seine privaten Mittel weiterhin für die Stärkung dieser Überzeugungen einzusetzen. Solche Absichten im rechtlichen Rahmen zu bekämpfen, ist unmöglich. Folglich nehmen die Bombenflieger Kurs auf Woronesh. Die Aufnahme der Stiftung Dinastija in die Liste der „ausländischen Agenten“, was für sie das Aus bedeuten könnte, wird Simin sicher nicht davon abhalten, sein Geld in politiknahe Projekte zu stecken, doch die Förderung von exakten und Naturwissenschaften, von aufklärerischen Publikationen sowie die Finanzierung von Preisen und Vorträgen ihrer Autoren wird er aufgeben müssen. Als Reaktion auf Gefahren, die der Führungsklasse drohen – in unserem Fall sind sie sehr vage und vielleicht gar nicht existent –, werden somit wieder einmal Maßnahmen ergriffen, unter denen die Schwachen und Schutzlosen leiden werden.

    Die Vorkommnisse um Dinastija sind zweifelsohne ein Signal – in erster Linie für den Teil der Elite, der seine Entscheidungen immer noch relativ selbstbestimmt trifft (zumindest wenn es darum geht, in welche gesellschaftlich relevanten Projekte es sich lohnt, Geld zu investieren). Deuten kann man das unterschiedlich, und jede Lesart wird teilweise richtig sein. Dass die Finanzierung von oben missbilligter gemeinnütziger und politischer Projekte den direkten Weg in die Verbannung und Emigration bedeutet, weiß man seit dem ersten Yukos-Prozess nur allzu gut. Aber es kommen neue Bedeutungsnuancen hinzu: Die finanzielle Förderung von Wissenschaft und Bildung, die Publikation von Büchern darüber, was die Welt zusammenhält – das heißt doch der Freigeisterei Tür und Tor zu öffnen! Nach dem Motto: Ihr veröffentlicht hier Bücher von Richard Dawkins, da steht drin, dass es keinen Gott gibt, dass Natur und Evolution auch ganz gut ohne auskommen – wollt ihr etwa auch behaupten, wir bräuchten keinen Putin? Spendet euer Geld lieber für die Errichtung eines Fürst-Wladimir-Denkmals – und das Glück wird über euch kommen. Doch auch diese Interpretation ist am Ende vielleicht zu oberflächlich: Es geht gar nicht darum, dass das Justizministerium (oder die, die dem Justizministerium den entsprechenden Befehl gaben) der Wissenschaft schaden wollte, sie war einfach nur im Weg. Es ist vielmehr so: Wenn du einer von oben nicht sanktionierten gesellschaftlichen Tätigkeit nachgehst, dann ist nicht so sehr diese Tätigkeit in Gefahr, sondern das Selbstlose, Gute und Ungeschützte in deinem Leben. Diejenigen, die von dir abhängen, die dich brauchen. Nicht Kapital, Vermögen und Geldanlagen, sondern Verwandte, gegen die ein Strafverfahren in Gang gesetzt wird, Kinder, die man für eine Krankenhausbehandlung nicht ausreisen lässt, Wissenschaftler, die nicht mehr forschen dürfen, Bücher, die nicht gedruckt werden. Jeder – er muss nicht einmal gegen das Regime kämpfen, sondern sich einfach nur gesellschaftlich für etwas vom Staat nicht Sanktioniertes einsetzen wollen – muss darauf gefasst sein: Woronesh ist ins Visier geraten, seine Einwohner in Geiselhaft. Der Pilot zu allem bereit.

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