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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die Russen haben jetzt ein Kainsmal auf der Stirn“

    „Die Russen haben jetzt ein Kainsmal auf der Stirn“

    Ein einziges Bild kann die Geschichte eines ganzen Landes erzählen: Ein Kloster wird zu einem Straflager und wieder zu einem Kloster mit angeschlossenem Strafvollzug. Frank Gaudlitz hat es in Kungur am Ural aufgenommen. Auf seiner letzten Reise durch Russland ist der Potsdamer Fotograf den Spuren von Alexander von Humboldt gefolgt. Nach 30 Jahren wollte er sich dem Land noch einmal auf neue Weise nähern. Dann befahl Wladimir Putin die Invasion der Ukraine, sein Volk folgte ihm und Gaudlitz brach sein Projekt ab. Im Interview spricht er über 30 Jahre Russland-Neugier und Russland-Verzweiflung. 

    Kungur / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kungur / Foto: © Frank Gaudlitz

    dekoder: Über 30 Jahre lang sind Sie regelmäßig für große Reportagen nach Russland gereist. Ihr letztes Projekt haben Sie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vorzeitig beendet. Bevor wir dazu kommen: Was hat ursprünglich Ihre Neugier für das Land geweckt? 

    Frank Gaudlitz: 1988 bin ich zum ersten Mal in die Sowjetunion gereist. Als Fotografiestudent an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig absolvierte ich im Sommer einen Arbeitseinsatz auf einer Baustelle der Erdgastrasse „Drushba“, die Gas vom Ural nach Osteuropa bringen sollte, und an der die DDR mitbaute. Ich komme aus Potsdam. In der Garnisonsstadt waren wir umgeben von russischem Militär, um nicht zu sagen „umzingelt“. Das war eher interessant als bedrohlich. Als dann 1991 der Abzug der sowjetischen Truppen beschlossen wurde, habe ich diesen Abzug mit der Kamera begleitet und wollte auch in Russland die Zeltstädte fotografieren, in denen die Offiziere und Soldaten zunächst untergebracht wurden, weil es keine Wohnungen für sie gab. In Sankt Petersburg angekommen, war ich erschrocken über die gesellschaftlichen Verwerfungen, die der Zusammenbruch der Sowjetunion mit sich gebracht hatte: Es ging mir nicht mehr nur um eine relativ elitäre Gruppe von Militärangehörigen, die in Containern lebten, es ging um etwas viel Größeres, eine Bruchstelle der Geschichte. Und da habe ich beschlossen, ich bleibe dran. 

     

    Vielen Russen sind die 1990er Jahre als Zeit des Zusammenbruchs in Erinnerung. Wenigen als Zeit des Aufbruchs. Wie geht es Ihnen? 

    Ich konnte in dieser Zeit den ganzen Kontinent bereisen – habe Lager des Gulags über dem Polarkreis besucht, die Schwerindustrie in Norilsk, die Kohlereviere in Sibirien, den Baikal und den Altai. Manchmal bin ich einfach über eine Mauer gestiegen und plötzlich stand ich zum Beispiel in einer Kokerei in Kemerowo. Klar, man wurde mal festgehalten und verhört, aber eigentlich kam man überall rein. Ich habe nie in Hotels gewohnt, meistens in Kommunalkas geschlafen oder unterwegs in Zügen. In der DDR waren die Möglichkeiten begrenzt gewesen, Weite und Abenteuer zu erleben. Nun konnte man auf einmal die Welt und damit auch einiges über sich selbst erfahren. Mit Abenteuer meine ich nichts Oberflächliches, sondern etwas, das ans Substanzielle geht. Ich war gewissermaßen getrieben von dieser Idee einer psychologischen Gesellschaftsstudie. Mir ging es nicht um die politischen Großereignisse, sondern darum, wie der Einzelne diese Auflösung der Gesellschaftsordnung erlebt. 

     

    Wie hat sich das Land seitdem verändert? 

    Als ich mich 2017/18 nach einer längeren Pause erneut Russland fotografisch zuwandte, fiel mir die Diskrepanz zwischen ideologischer Inszenierung und der Realität besonders auf. Wenn ich in den 90er Jahren ganz unmittelbar den Alltag fotografierte und eine große Nähe, auch emotional, zu den Menschen herstellen konnte, dann war das 2017/18 völlig anders. Ich habe gespürt, dass sich auch in mir selbst eine Distanz aufgebaut hatte, dass die Ereignisse sich eher wie auf einer Bühne abspielten und ich sie von außen betrachtete. Gleichzeitig sah man sich an eine alte Stilistik aus dem Kommunismus erinnert, verbunden mit einem patriotischen Pathos. Das war plötzlich ein völlig anderes Russland. Statt mit einzelnen Menschen in Beziehung zu treten, habe ich Orte gesucht, wo ein ideologisches Vokabular aufgerufen wurde und dann den Blick auf die Inszenierung und auf ihre Wirkung gelenkt. 

     

    Fällt Ihnen eine bestimmte Situation dazu ein? 

    2018 bin ich zur Präsidentschaftswahl nach Moskau gereist. Der Wahltermin war auf den 18. März gelegt worden, den Jahrestag der Krim-Annexion. Und am Abend gab es unterhalb des Roten Platzes ein patriotisches Festival unter dem Motto: „Rossija, Sewastopol, Krim“. Alles war umstellt von Polizei, aber ich bin irgendwie reingekommen. Die Männer die dort standen, die Stimmung, dieses Jubeln, das Fahnenschwenken, das hat mir Angst gemacht. Ich empfand die gesamte Situation als bedrohlich – nicht für mich, sondern allgemein. Und damals dachte ich: Die würden sofort alle in den Krieg ziehen. 

     

    Sie haben sich dann 2021 auf den Weg gemacht, um das Land noch einmal neu zu erkunden, und zwar auf den Spuren von Alexander von Humboldt. Wie kam es dazu? 

    Humboldt hat mich immer fasziniert. Vor vielen Jahren bin ich seinem Weg durch Südamerika gefolgt. Nun wollte ich auf der Route seiner Altersreise durch Eurasien die russische Provinz erkunden. Mit 60 Jahren ist Humboldt von Berlin aus circa 19.000 Kilometer in einer Postkutsche über den Kontinent gefahren bis an die chinesische Grenze. 

     

    Nachdem in ihren frühen Reportagen aus Russland die Menschen im Mittelpunkt standen, sieht man jetzt auf diesen Bildern gar keine Menschen, nur Gebäude.  

    Das ursprüngliche Konzept war, Bruchstellen zwischen urbanem Raum und der Landschaft zu fotografieren. Und als Gegenpol die Verantwortungsträger, am liebsten die Bürgermeister der durchreisten Orte, also nicht mehr Privatpersonen, sondern Vertreter der Staatsmacht. Aber das ließ sich leider nicht realisieren, weil ich trotz Unterstützung durch einen russischen Begleiter und die Russische Geografische Gesellschaft gar nicht an die Entscheidungsträger rankam. Als der erste Bürgermeister bereit war, sich fotografieren zu lassen, waren wir schon am Ural. In Kosmodemjansk hatten wir beispielsweise telefonisch einen Termin mit der Bürgermeisterin vereinbart. Aber statt der Bürgermeisterin kam der örtliche Chef des FSB in Lederjacke und stellte so lange Fragen, bis wir aufgegeben haben. 

     

    Nach welchen Motiven haben Sie gesucht?  

    Ich habe versucht, im urbanen Raum Architekturensembles zu finden, in denen sich Zeiten und Ideologien überlagern und die vielleicht etwas vom Leben der vorübergehend abwesenden Bewohner in der russischen Provinz erahnen lassen. Meine Dolmetscherin hat dann etwas ganz anderes in den Bildern gesehen, was mir gar nicht bewusst gewesen war. Sie sagte: „Da kommen die Soldaten her, die jetzt in der Ukraine kämpfen.“ Auf den Fotos sind sie abwesend. So betrachtet haben die Bilder eine Relevanz gewonnen, die zunächst nicht beabsichtigt war. 

     

    Ein Merkmal der postsowjetischen Zeit war auch, dass die Dinge nicht an ihrem Platz waren: Sportstadien wurden zu Schwarzmärkten, in Schuhgeschäften wurden plötzlich Computer verkauft. Auf vielen Bildern dieser Serie ist eine Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Epochen zu sehen, der Aufholprozess ist immer noch nicht abgeschlossen. 

    Ich glaube, der wird auch auf absehbare Zeit nicht abgeschlossen sein. Es ist offenbar einfacher, Krieg zu führen, als Straßen durch dieses riesige Land zu bauen. An vielen Orten herrscht die Gleichzeitigkeit einer gigantischen Zeitspanne. Je weiter man hinter den Ural fährt, desto absurder wird es. Da stehen riesige Denkmäler für den Großen Vaterländischen Krieg spiegelblank geputzt und ringsherum fallen die Häuser ein, in denen die Menschen leben. Ich frage mich auch immer wieder, wie man als Russe einem System glauben kann, das niemals wirklich offen mit den Verbrechen der Vergangenheit gebrochen hat? Das eigene Land hat Millionen der eigenen Leute einfach umgebracht zur Stalinzeit! Ich weiß gar nicht, wie man das gedanklich fassen kann. Das kann man wahrscheinlich nur ausblenden, um irgendwie weiterzuleben. Aber dann bleibt in diesem Volk auch die Angst stecken, die Angst, dass alles wieder passieren kann. 

     

    Das Bild aus Joschkar Ola zeigt sehr eindrücklich diese Gleichzeitigkeit und auch die Unsicherheit über die eigene Identität: Im Hintergrund bröckelnde Plattenbau-Riegel aus der Sowjetzeit. Und davor neu errichtete Fassaden, die einen mittelalterlichen Stil imitieren wie eine Filmkulisse. 

    Joschkar Ola ist die Hauptstadt von Mari El, einer der kleinsten Teilrepubliken Russlands. Das architektonische Ensemble geht auf Leonid Markelow zurück, der war 16 Jahre lang Oberhaupt von Mari El. Seine Leidenschaft galt der Adaption bekannter Gebäude aus der ganzen Welt. Bis er schließlich wegen Korruption im Zuge seines Großbauprojekts zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde. 

     

    In Kungur steht diese strahlend weiße Kirche neben einem zerfallenden Backsteinbau. Was war da drin? 

    Die Kirche ist ein ehemaliges Kloster, auf dessen Gelände ein Frauengefängnis errichtet wurde. Heute existieren beide parallel – die frisch renovierte Kirche und die Strafanstalt, heute ein offener Vollzug, soviel ich weiß. Hier der Kirchturm, dort die Wachtürme vom Gefängnis. Die sind auf einem anderen Foto zu sehen. 

     

    Ihre Geschichte mit Russland spiegelt gewissermaßen, was die deutsche Gesellschaft in den vergangenen 30 Jahren im Verhältnis zu Moskau erlebt hat: Von der großen Neugier und emotionalen Nähe über die wachsende Distanz bis zur Entfremdung. Wer nicht regelmäßig dort war, auf den musste die Krim-Annexion wirken wie eine kalte Dusche. 

    Ja, es geht vielen so. Und neben dem Schrecken ist auch eine große Trauer dabei. Und großes Unverständnis. Es gab in den vergangenen 30 Jahren immer wieder Momente, wo man dachte: Oh, toll, da kann sich etwas entwickeln, da ist eine Verbindung möglich! Zum Beispiel, wenn Visa-Verfahren vereinfacht wurden. Aber leider ist es dann völlig anders gekommen. Nach dem Überfall auf die Ukraine habe ich beschlossen, nicht mehr nach Russland zu fahren. Auch, weil ich Angst habe. Durch Putin haben die Russen für mich jetzt ein Kainsmal auf der Stirn. Das bedeutet aber nicht, dass ich dieses Lebensprojekt nicht mehr fortführen werde. Den zweiten Teil der Humboldt-Reise habe ich abgesagt. Stattdessen bin ich in ehemalige Unionsrepubliken gefahren, nach Moldau, nach Georgien, nach Armenien, und habe dort Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine porträtiert und russische Emigranten.  

     

    Glauben Sie, dass es für Ihren Zugang zu diesem Thema eine Rolle gespielt hat, dass Sie in der DDR großgeworden sind?  

    Ich denke, ja. Abgesehen davon, dass wir im Ostblock alle unter einer ähnlichen ideologischen Überfrachtung gelebt haben, gab es einfach auch mehr direkte Begegnungen. Zum Beispiel mit Soldaten, die man in Potsdam in der Kneipe getroffen hat.  

     

    Irgendwie schließt sich da ja ein Kreis: Am Anfang stand der Abzug der sowjetischen Soldaten aus ihrer Heimatstadt Potsdam. Und am Ende der Einmarsch der Russen in der Ukraine. In der Kneipe und am Küchentisch waren die Soldaten auch einfach Menschen. Und doch sind sie bereit, es wieder zu tun – wieder Land zu besetzen, ihr Territorium mit Gewalt auszuweiten und auch schreckliche Kriegsverbrechen zu begehen. 

    Ja. Es war nicht sonderlich schwer für Putin, patriotische Gefühle von verletzter Ehre aufzugreifen und anzufachen. Aus Putins Sicht war die Krim-Annexion innenpolitisch echt clever. Sie hat diese Gefühle bedient und seine Macht stabilisiert. Als zweites Element kommt die Angst dazu, vor den drakonischen Strafen, wenn man nicht einverstanden ist mit System und Krieg. Viele hat das eingeschüchtert, und viele sind gegangen. 

    Sankt Petersburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Sankt Petersburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Lipitzy / Foto: © Frank Gaudlitz
    Lipitzy / Foto: © Frank Gaudlitz
    Wolotschok / Foto: © Frank Gaudlitz
    Wolotschok / Foto: © Frank Gaudlitz
    Murom / Foto: © Frank Gaudlitz
    Murom / Foto: © Frank Gaudlitz
    Murom / Foto: © Frank Gaudlitz
    Murom / Foto: © Frank Gaudlitz
    Pokrowskoje / Foto: © Frank Gaudlitz
    Pokrowskoje / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kasan / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kasan / Foto: © Frank Gaudlitz
    Perm / Foto: © Frank Gaudlitz
    Perm / Foto: © Frank Gaudlitz
    Perm / Foto: © Frank Gaudlitz
    Perm / Foto: © Frank Gaudlitz
    Joschkar Ola / Foto: © Frank Gaudlitz
    Joschkar Ola / Foto: © Frank Gaudlitz
     © Frank Gaudlitz
    © Frank Gaudlitz
    Jekaterinburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Jekaterinburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Jekaterinburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Jekaterinburg / Foto: © Frank Gaudlitz
    Nischni Tagil / Foto: © Frank Gaudlitz
    Nischni Tagil / Foto: © Frank Gaudlitz
    Werchnjaja Tura / Foto: © Frank Gaudlitz
    Werchnjaja Tura / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kuschwa / Foto: © Frank Gaudlitz
    Kuschwa / Foto: © Frank Gaudlitz
    Tobolsk / Foto: © Frank Gaudlitz
    Tobolsk / Foto: © Frank Gaudlitz
    Tobolsk / Foto: © Frank Gaudlitz
    Tobolsk / Foto: © Frank Gaudlitz

     

     

    Fotos: Frank Gaudlitz, aus der Serie Kosmos Russland
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 4.12.2024
    Kosmos Russland ist ein Projekt des Deutschen Kulturforums östliches Europa e.V., gefördert vom Land Brandenburg.

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  • Maria Sacharowa

    Maria Sacharowa

    Seit 2015 spricht zum ersten Mal in der Geschichte eine Frau für das russische Außenministerium. In Talkshows, auf Social Media und beim wöchentlichen Briefing für die internationalen Korrespondenten erklärt Maria Sacharowa Moskaus Sicht auf die Welt – Lügen und Desinformation inklusive. Mit ihr ist ein neuer Kommunikationsstil in die russische Diplomatie eingezogen: Statt Verbindendes zu betonen und Kompromisse zu suchen, setzt er auf Konfrontation und Provokation.

    Um sich vor Augen zu führen, wie Maria Sacharowa Russlands Auftreten in der Welt geprägt hat, hilft es, drei Namen zu nennen: Alexander Lukaschewitsch, Andrej Nesterenko, Michail Kamynin.1 Wer kennt sie noch? Wahrscheinlich niemand. Und selbst in Russland dürfte sich kaum jemand an ihre Gesichter erinnern. Lukaschewitsch, Nesterenko und Kamynin waren Sacharowas Vorgänger als Sprecher des russischen Außenministeriums: altgediente Diplomaten in grauen Anzügen, die in formelhaften Sätzen Dinge sagten, die sich höchstens Spezialisten merken konnten. 

    Spott, Sarkasmus und Eskalation

    Maria Sacharowa ist in jeder Hinsicht anders: Jeder kennt ihr Gesicht, sie ist dauerpräsent auf allen Kanälen, schrill, bisweilen vulgär, und bei manchem, was sie sagt, würde man sich wünschen, man könnte es schnell wieder vergessen. Anstelle diplomatischer Formeln sind Spott und Sarkasmus ihre rhetorischen Mittel. Wenn sie nicht gerade in den Talkshows staatlicher Propaganda-Kanäle auf den verlogenen Westen und die Nazis in Kyjiw schimpft, setzt sie diese Agenda auf Facebook und auf ihrem Telegram-Kanal fort, gerne auch in Reimform.2 Dafür hat sie umso mehr Zeit, seit sie weniger auf Dienstreisen geht: Die Beziehungen mit Europa und den USA liegen seit dem russischen Überfall auf die Ukraine auf Eis, und auch der Name der Außenamtssprecherin steht auf den Sanktionslisten in Berlin, Brüssel und Washington.

    Die Ernennung von Maria Sacharowa zur Sprecherin des russischen Außenministeriums im August 2015 markiert tatsächlich einen Wendepunkt. Sowjetische und russische Diplomaten waren nie leichte Verhandlungspartner. Aber seit der Krim-Annexion zeigt Moskau immer häufiger, dass es gar kein Interesse an Verhandlungen hat (und begründet das damit, dass der Westen im Allgemeinen und insbesondere die USA ohnehin ein falsches Spiel spielten). Russland verlässt den Europarat,3 kündigt Verträge zu Rüstungskontrolle4 und als bereits mehr als hunderttausend russische Soldaten an der ukrainischen Grenze stehen, fordert Putin den Rückzug der NATO auf den Stand von 19975 – ein Ultimatum, von dem er weiß, dass es nicht erfüllt werden kann.

    Zu einer Politik der Drohungen passt eine Sprache der Häme und Eskalation. Nicht ein tragfähiger Kompromiss wird als Erfolg gewertet, sondern wenn ein saftiger Satz Sacharowas für die Politik-Talkshows des Fernsehens taugt und sich als Meme im Netz verbreitet. Die Formulierung: „Maria Sacharowa hat XY in die Schranken gewiesen“ taucht in hunderten Meldungen staatlicher Medien auf.6 Mal ist es ein britischer Journalist, den Sie „auf den Topf setzt“, mal der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. „Wenn Sie kein russisches Gas mögen, heizen Sie doch mit Ihrer Zeitung“, verspottet sie den Chefredakteur der italienischen La Repubblica.7

    Wenn Mittwochs das wöchentliche Briefing für die internationalen Medien stattfindet, ziehen die Korrespondenten im Pressezentrum des Außenministeriums schon vorsorglich die Köpfe ein: Früher haben Sprecher Fragen beantwortet. Sacharowa dagegen nutzt die Gelegenheit, um den Journalisten die Leviten zu lesen. Als sich ein finnischer Journalist 2017 nach dem Schicksal der Männer erkundet, die in Tschetschenien als schwul diffamiert, gefoltert und ermordet wurden, empfahl ihm Sacharowa, doch nach Grosny zu fahren, und diese Frage direkt an den Republikchef Ramsan Kadyrow zu richten – eine kaum verhohlene Drohung.8

    In den Fußstapfen des Vaters

    Dabei wird Maria Wladimirowna Sacharowa 1975 buchstäblich in die Welt der sowjetischen Diplomatie hineingeboren, die Weltläufigkeit ist ihr in die Wiege gelegt: Ihr Vater Wladimir Sacharow ist Asien-Spezialist im sowjetischen diplomatischen Dienst. Als Maria sechs Jahre alt ist, wird er an die Botschaft nach Peking versetzt und nimmt die ganze Familie mit. Ihre Mutter ist Kunsthistorikerin. Das China der 1980er Jahre wirkt im Vergleich zur UdSSR zurückgeblieben. Während in der Heimat die Ära der Stagnation andauert, können sich die sowjetischen Diplomaten in China als Vertreter des ersten sozialistischen Staates noch überlegen fühlen.
     
    Als die Familie 1985 nach Moskau zurückkehrt, beginnt Gorbatschow gerade, den Staat zu reformieren. 1990 geht es wieder nach Peking, und Sacharowa erlebt das Ende der Sowjetunion in China. Als sie 1993 erneut nach Moskau zurückkehrt, hat sich die alte Supermacht aufgelöst und die sowjetische Elite, in der Sacharowa aufgewachsen ist, hat ihre Privilegien verloren. Dennoch will sie in die Fußstapfen des Vaters treten, doch der hält nichts davon; die Diplomatie war in der Sowjetunion eine Männerdomäne. Also studiert Sacharowa an der Diplomatenschmiede des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) Auslandsjournalismus. Während des Studiums arbeitet sie in der Presseabteilung des Außenministeriums und als Fremdenführerin für chinesische Touristen in Moskau. Nach ihrem Abschluss 1998 bekommt sie ihre erste Stelle als Redakteurin der Monatszeitschrift Diplomatischer Bote, in der das Außenministerium Reden und Verträge veröffentlicht – eine nicht besonders aufregende Aufgabe. Von 2003 bis 2005 leitet Sacharowa die Abteilung im Außenministerium, die die internationale Presse auswertet. Dann wird sie nach New York versetzt als Pressesprecherin der russischen Vertretung bei den Vereinten Nationen.

    Als der Präsident Dimitri Medwedew 2009 zur Generaldebatte bei den Vereinten Nationen nach New York reist, wird seine Sprecherin, Natalja Timakowa, dort auf Sacharowa aufmerksam. Medwedew gilt damals noch vielen als liberale Hoffnung und seine Sprecherin pflegt einen moderneren und offeneren Kommunikationsstil, als er bisher im Kreml üblich war. Dem liberalen Fernsehsender Doshd steht Timakowa wohlwollend gegenüber.9 Auf ihre Empfehlung hin holt Sergej Lawrow Sacharowa zurück nach Moskau und befördert sie zur stellvertretenden Leiterin seiner Presseabteilung. Dort nimmt sie sich des Themas Social Media an, das bisher nur ein Nischendasein im Presseamt führte. Wie Twitter und Facebook funktionieren und welche Bedeutung sie haben, lernt Sacharowa ausgerechnet von Michail Sygar, dem späteren Chefredakteur von Doshd. In den frühen Medwedew-Jahren scheint eine Liberalisierung des Landes vielen noch wie ein Naturgesetz, ebenso wie der wachsende Wohlstand. Die Boheme aus Medienleuten und IT-Unternehmern trifft sich mit jungen Staatsbediensteten wie Sacharowa auf denselben Veranstaltungen und Partys. Mit Putins Rückkehr in den Kreml und der Niederschlagung der Proteste im Winter 2011/2012 beginnen sich die Lager zu teilen. Sacharowa geht als eine von wenigen Regimevertreterinnen weiter in die Sendungen von Doshd und ist regelmäßig auf Radio Echo Moskwy zu hören. Im Mai 2020 willigt sie sogar zunächst ein, eine Debatte mit Alexej Nawalny zu führen, der da schon lange von allen Staatsmedien totgeschwiegen wird, macht dann aber im letzten Moment einen Rückzieher. Zwei Jahre später lebt ein Teil der Menschen, mit denen Sacharowa verkehrte, in der Emigration und sie selbst befeuert im Fernsehen den staatlich verordneten Hurra-Patriotismus. Das US-Außenministerium porträtiert sie unter der Kategorie Faces of Kremlin Propaganda.10

    Wie bei ihrem Chef Sergej Lawrow paaren sich bei Sacharowa Intelligenz, großes Wissen, Arroganz und Chuzpe. Sacharowa spricht neben Englisch auch Mandarin und hat nebenbei noch promoviert. Als erste Frau in ihrem Amt hat sie ihrem Vater bewiesen, dass er Unrecht hatte: Neben dem Außenminister selbst ist sie heute das Gesicht und die Stimme der russischen Außenpolitik. Sacharowa hat einen neuen Stil geprägt. Einen Stil, in dem es nicht darum geht, Verbindendes zu finden, sondern zu polarisieren. Ihre schrillen Auftritte sind Teil dieses Programms: Mal posiert die Diplomatin in Hotpants für ein Selfie, mal beschwört sie in scharlachrotem Mantel zum Jahrestag der Krim-Annexion die traditionellen Werte eines heiligen Russlands. Mal isst sie mit frivoler Geste vor der Kamera Erdbeeren, mal tanzt sie zur Eröffnung des ASEAN-Gipfels in Sotschi Kalinka11 für die versammelten Staatsgäste. 

     

    Maria Sacharowa auf einem Konzert anlässlich des achten Jahrestags der Krim-Annexion am 18. März 2022 im Moskauer Lushniki-Stadion / Foto © Alexander Vilf/Itar-Tass, Imago

    Als Leiterin der Presseabteilung des Außenministeriums gehört Sacharowa seit 2015 auch zum Kreis derjenigen, die sich zu regelmäßigen Briefings in der Präsidialverwaltung einfinden. Dort gibt der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Alexej Gromow12 die Agenda für die staatlichen Medien vor. Er legt fest, welche Themen hochgezogen, und welche verschwiegen werden, wer gefeiert und wer verspottet wird und wie aktuelle Ereignisse zu deuten sind. Die Runde ist die Herzkammer zur Gleichschaltung der russischen Medien und Maria Sacharowa kommt dabei die Rolle zu, diesen Spin auch in den internationalen Medien zu platzieren.

    Argumente und Stringenz sind dabei nachrangig. Getreu der Linie des Kreml leugnet Sacharowa bewiesene Fakten wie den Abschuss der malaysischen Boeing auf Flug MH17 oder die Massaker der russischen Armee in Butscha und streut Desinformationen. Im November 2017 behauptet sie in einer Fernsehsendung, das Weiße Haus in Washington habe Osama bin Laden empfangen – das Bild, das den Initiator der Anschläge auf das World Trade Center beim Shake Hands mit Hillary Clinton zeigt, ist ein Fake, der schon lange im Netz zirkuliert.13 Er wird umgehend entlarvt, aber das ist egal: Es geht eben nicht um rationales Überzeugen, sondern darum, das Publikum von den (für Russland oft nicht besonders günstigen) rationalen Argument weg auf emotionales Glatteis zu führen. Und darin ist Sacharowa eine Meisterin. 


    1. Ministerstvo inostrannych del Rossijskoj Federacii: Stranicy istorii ↩︎
    2. Maria Zarachova/Telegram am 21. Juni 2022 ↩︎
    3. Spiegel Ausland: Russland leitet Verfahren für Austritt aus Europarat ein ↩︎
    4. Wachs, Lydia (Stiftung Wisschenaft und Politik, 03.03.2023): New Start vor dem Aus? Rüstungskontrolle als Teil Moskaus nuklearer Erpressungsstrategie ↩︎
    5. Fischer, Sabine (Stiftung Wissenschaft und Politik, 22.12.2021): Moskaus Verhandlungsoffensive ↩︎
    6. „Marija Zarachova postavila na mesto …“ ↩︎
    7. RIA Novosti: Zarachova predložila glavredu la Repubblica topit‘ dom svoimi gazetami ↩︎
    8. YouTube/Meduza: Marija Zarachova otpravljaet finskogo žurnalista v Čečniju iskat‘ geev ↩︎
    9. Novaya Gazeta: Natal’ja Sindeeva: «Medvedev ne sobiralsja u nas rabotat’» ↩︎
    10. U.S. Department of State: Faces of Kremlin Propaganda: Maria Zakharova ↩︎
    11. YouTube/Krym.Realii: Predstavitel‘ MID Rossii stancevala «kalinku» na sammite ↩︎
    12. Gromow war Putins erster Pressesprecher nach dessen Ernennung zum Präsidenten 1999, bis er 2012 von Dimitri Peskow abgelöst wurde. 2012 machte ihn Putin zu Beginn seiner dritten Amtszeit zum stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung. Zu seinen Aufgaben gehört die Gleichschaltung der Medien. ↩︎
    13. BBC: Reality Check: Was Hillary Clinton photographed with Osama Bin Laden? ↩︎

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  • Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Das Ende der Republik Arzach und die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach

    Mit einer handstreichartigen Operation hat das aserbaidschanische Militär am 19. September 2023 die Regierung der selbsternannten Republik Arzach in Bergkarabach zur Kapitulation gezwungen. Der Quasi-Staat hört zum Jahresende auf zu existieren. Fast alle Armenier sind aus der Enklave geflohen. Die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft blieben gleichwohl verhalten. Welche Rolle spielen Russland, die Türkei und der Iran bei dem Konflikt, und wie groß ist die Gefahr für Armenien? 
    Sieben Fragen an die Politikwissenschaftlerin Cindy Wittke, die sich am Leibnitz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung mit eingefrorenen Konflikten in der Region beschäftigt. 

    1. Am 19. September, als Aserbaidschan die Enklave eroberte, waren Sie zu einem Forschungsaufenthalt in Jerewan. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

    Die Stimmung war bereits angespannt, als ich Anfang September nach Armenien eingereist bin. Ich führe für meine Forschung unter anderem Interviews mit lokalen Expert*innen und auch mit Vertreter*innen von internationalen Organisationen in der Region. Meine Gesprächspartner*innen hatten für den September mit einer erneuten Eskalation des Konfliktes um Bergkarabach gerechnet. Schon der letzte Krieg um die zumeist von Armenier*innen bewohnte Region im Jahr 2020 hatte im September begonnen und wurde im November durch das von Russland vermittelte Trilaterale Statement zunächst beendet. Aserbaidschan sah sich selbst als Sieger des sogenannten 44-Tage Kriegs. Ein weiterer Ausbruch des Konfliktes war jedoch absehbar, da Aserbaidschan noch immer keine effektive politische und militärische Herrschaft über die Region Bergkarabach hatte. Im September 2022 gab es aserbaidschanische Angriffe auf das armenische Kern-Territorium an der Kontaktlinie und seit Dezember 2022 wurde der Latschin-Korridor, der Zugang von Armenien nach Bergkarabach, trotz der Anwesenheit sogenannter Friedenstruppen aus Russland durch Aserbaidschan blockiert. Die Lage war also seit 2020 nie vollkommen befriedet, sondern hatte stets Eskalationspotential.

    Dass der Konflikt immer im September eskaliert, hat unter anderem mit dem Klima zu tun: In den Bergen sind die Sommer sehr heiß und die Winter sehr kalt. Der Übergang zwischen den Jahreszeiten ist kurz. Die Situation, die man von September bis November militärisch schafft, wird sehr wahrscheinlich den ganzen Winter und darüber hinaus politisch eingefroren. Dazu kommt, dass der Winter den Armenier*innen in Bergkarabach und auch in Armenien jedes Mal ihre Verletzlichkeit vor Augen führt. Die Bevölkerung von Bergkarabach litt im vergangenen Winter unter Strom- und Gasmangel aufgrund der Blockade und auch Armenien selbst ist arm an Ressourcen und abhängig; die Energie-Infrastruktur ist weitgehend in russischer Hand.

    Eine weitere Rolle unter den Eskalationsfaktoren wird gespielt haben, dass sich in der Woche um den 19. September die internationale Staatengemeinschaft zur jährlichen Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York getroffen hat. Schon im Vorfeld gab es eine Sondersitzung des Sicherheitsrates zur Situation in Bergkarabach, auf der die Frage behandelt wurde, ob es sich bei der Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan um einen Genozid durch Aushungern handelt, wie es der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Moreno Ocampo, in einem öffentlichen Statement schrieb. Letztlich ging es Aserbaidschan meiner Ansicht nach darum, mit militärischen Mitteln Fakten zu schaffen und vor neuen international vermittelten Verhandlungen, sei es in Moskau, Washington oder Brüssel, faktisch das ganze Gebiet von Bergkarabach unter seine politische und militärische Kontrolle zu bringen.

    2. Tatsächlich gab es aus New York kaum Reaktionen. Der Sicherheitsrat hat nicht einmal ein Statement veröffentlicht. Liegt der Karabach-Konflikt zu sehr im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine?

    Die gleiche Frage habe ich meinen Gesprächspartner*innen in Jerewan auch gestellt. Einige waren der Ansicht, der 44-Tage-Krieg Aserbaidschans gegen Armenien 2020 sei der eigentliche Auftakt für die Zeitenwende gewesen. Damals habe Russland gesehen, dass die internationale Staatengemeinschaft weder mit Sanktionen und schon gar nicht militärisch einschreitet, wenn ein Land entscheidet, in einem ungelösten Territorialkonflikt, oder sogenannten eingefrorenen Konflikt, mit militärischen Mitteln abseits von Verhandlungen Fakten zu schaffen. Daraus schloss man, dass sich die Welt – insbesondere der sogenannte Westen – auch im Hinblick auf die Ukraine weitgehend auf Appelle beschränken und nicht militärisch intervenieren würde. Aktuell steht meiner Ansicht nach dieser Konflikt und sein Eskalationspotential über die humanitäre Katastrophe in Bergkarabach hinaus im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Die überregionalen Verflechtungen werden übersehen.

    3. In Aserbaidschan werden seit einiger Zeit Stimmen laut, die behaupten, es gäbe gar kein Armenien und keine Armenier. Sie bezeichnen Armenien als „West-Aserbaidschan“. Das erinnert an die russische Propaganda, die das Existenzrecht der Ukraine infrage stellt. Muss man fürchten, dass Aserbaidschan seine Angriffe auf armenisches Territorium ausweitet?

    Ich denke, dass man hier tatsächlich in gewisser Hinsicht dem Moskauer Vorbild folgt: Rhetorisch und diskursiv werden Bilder und Narrative geschaffen, denen dann militärische Operationen folgen – interessanterweise wurde das Vorgehen gegen Bergkarabach als militärische Anti-Terror-Operation bezeichnet. 2020 konnte Präsident Ilham Alijew argumentieren, dass Aserbaidschan lediglich seine territoriale Integrität in den international anerkannten Grenzen herstellen wolle und Bergkarabach von Armenien okkupiert sei. Das war nun in 2023 schon anders, und selbst wenn Bergkarabach de jure aserbaidschanisches Territorium ist und die Verfassung des Landes Aserbaidschan zum Beispiel keinen Autonomiestatus für ethnische Minderheiten vorsieht, heißt das nicht, dass Aserbaidschan mit den auf diesem Gebiet lebenden Menschen – also den Armenier*innen – tun und lassen kann, was es will. Trotzdem ist auch dieser weitere „Test“ aus aserbaidschanischer Sicht erfolgreich verlaufen; innerhalb von 24 Stunden hat Bergkarabach kapituliert und die de facto Regierung hat die Auflösung der selbsternannten, nicht anerkannten Republik Arzach für 2024 verkündet.

    International gab es im Vergleich zum Krieg gegen die Ukraine nur leisen oder mahnenden Protest im Hinblick auf die humanitäre Lage der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach, die nach heutigem Stand weitgehend nach Armenien geflohen ist. Die dringende Frage ist jetzt aber, ob Aserbaidschan noch weiter geht, und mit militärischer Gewalt etwa einen Korridor in die Exklave Nachitschewan herstellt, die von Armenien und Iran umschlossen ist und nur eine sehr schmale Grenze mit der Türkei hat. Wenn man Alijew zuhört – und ich glaube, das sollte man genauso tun, wie man Wladimir Putin vor 2022 hätte aufmerksam zuhören sollen – dann gibt es gute Gründe hier tatsächlich um die territoriale Integrität des armenischen Staates besorgt zu sein.

    Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck / Foto © Cindy Wittke

    4. Wer könnte Alijew stoppen?

    Die Akteure, die das tun könnten, sind zuvorderst unmittelbar in der Region zu suchen: die Türkei, Russland und der Iran. Ich fand es bemerkenswert, dass der russische Verteidigungsminister, einen Tag nachdem Aserbaidschan seine militärische Operation gegen Bergkarabach begonnen hatte, in Teheran war. Ich denke, dass man hier eventuell versichert hat, dass iranische Interessen hinsichtlich des Transits von Gütern durch Armenien oder Aserbaidschan gewahrt werden, und dass es keinerlei Ambitionen gibt, Aserbaidschans Territorium auch auf iranisches Territorium auszudehnen. Man darf nicht vergessen, dass im Iran eine Minderheit von circa fünf Millionen Aserbaidschaner*innen lebt. Wenn Alijew seine Visionen eines größeren Aserbaidschans skizziert, wird man in Teheran natürlich hellhörig. Die Balance der Kräfte ließe durchaus zu, dass unterschiedliche Akteure sich dafür einsetzen, dass Aserbaidschan nicht noch den nächsten Schritt tut.

    5. Das hört sich nicht so an, als könnte das die Armenier wirklich beruhigen.

    Armenien ist in einer der misslichsten politischen Lagen, die man sich denken kann. Die armenische Innen- und Außenpolitik hat das Schicksal des Landes immer eng mit dem der Karabach-Armenier*innen verbunden. Die Niederlage von 2020, der effektive Verlust Bergkarabachs im September 2023 und die verkündete Auflösung der Republik Arzach führen zu einer politischen und gesellschaftlichen Identitätskrise und setzen die Regierung von Nikol Paschinjan unter enormen Druck.

    In dieser Situation muss das Land nun noch Hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Armenien hat Erfahrungen mit dem Zuzug von Flüchtlingen. Es hat eine große Zahl von Christen aufgenommen, die vor dem Krieg in Syrien geflohen sind. Vor einem Jahr sind dann viele Russen vor der Mobilmachung und im Zuge der Sanktionen gegen Russland aus ihrer Heimat nach Jerewan gekommen. Armenien hat von den Sanktionen gegen Russland indirekt profitiert. Die IT-Branche boomt, die Wirtschaft wächst, und die Währung ist stark. Aber das ist kein nachhaltiges Wachstum, von dem die Gesamtbevölkerung und das Land nachhaltig profitieren. Die Mehrzahl der Menschen, die jetzt aus Stepanakert und anderen Orten aus Bergkarabach ankommen, haben oftmals alles zurückgelassen und blicken auf Krieg und Blockade zurück. Sie brauchen Unterkunft, sie müssen versorgt werden und irgendwann werden sie auch Wohnungen brauchen. Bei den Protesten, die ich in Jerewan mitbekommen habe, haben die Demonstrant*innen der Regierung vorgeworfen, das Land nicht ausreichend auf diese Situation vorbereitet zu haben.

    Sicherheitskräfte vor dem Regierungsgebäude in Jerewan, auf deren Schildern die Arzach-Flagge zu sehen ist, werden von aufgebrachten Demonstrierenden mit Bildern aus Karabach konfrontiert und als „Türken“ beschimpft / Foto © Cindy Wittke

    6. Wird die Regierung Paschinjan das überstehen?

    Ich war schon früher in Krisensituationen in Armenien, aber ich habe noch nie erlebt, dass sich Armenierinnen und Armenier auf der Straße angesichts ihrer unterschiedlichen Positionen anschreien. Diese emotionale Aufgeladenheit und Aggressivität kannte ich nicht; mir wurde berichtet, dass es 2020 nach dem Abschluss des Trilateralen Statements in Moskau – aus dem verlorenen Krieg – bereits ähnlich war. Menschen, die eine besonders starke Position für Arzach einnahmen, beschimpften gemäßigtere Armenier*innen sowie Polizei und Sicherheitskräfte als „Türken“. Das Land ist wirklich in einer Identitätskrise. Wenn das jetzt in einen politischen Selbstzerstörungsmodus umschlägt, käme das Moskau zupass, das gern wieder eine pro-russische Führung unter seiner Kontrolle installieren würde. Andererseits muss man sagen, dass die Regierung die Situation derzeit noch relativ gut gemanagt hat. Es wurden keine Wasserwerfer oder gepanzerten Fahrzeuge gegen Demonstrant*innen eingesetzt, die den Sitz der Regierung auf dem Platz der Republik stürmen wollten. Die Plätze der Hauptstadt wurden nicht gesperrt, die Regierungsgebäude wurden mit Menschenketten geschützt und die nach 2018 neu aufgestellte Polizei hat auf Dialog gesetzt, auch wenn es zu gewaltsamen Zusammenstößen und Verhaftungen kam. Die Situation ist existenziell für Armenien. Dennoch möchte ich die Hoffnung auf die Resilienz der Armenier*innen und des Demokratieprozesses nicht aufgeben. 

    7. Was war eigentlich Ihre Forschungsfrage, mit der Sie nach Jerewan gereist sind? 

    Seit mehreren Jahren untersuche ich die oft widersprüchlichen Völkerrechtspolitiken von Staaten im sogenannten postsowjetischen Raum aus einer vergleichenden Perspektive. Meine Fallstudien sind Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, die Ukraine und Russland. Das Projekt basiert auf der Beobachtung, dass die Staaten, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion (wieder) hervorgegangen sind, seit 1991 vor der enormen Herausforderung stehen, im Rahmen ihrer Staatsbildungs- und umfassenden Transformationsprozesse ihre eigene Völkerrechtspolitik zu formulieren und umzusetzen. Konflikte um Territorien wie um Bergkarabach haben diese Prozesse entscheidend geprägt. Für meine Forschung führe ich unter anderem Experten-Interviews mit Völkerrechtler*innen in der Region durch; so auch in Armenien. Die jüngere Generation – häufig im Westen ausgebildet – hat sich sehr dafür eingesetzt, Armeniens Position und die der in Bergkarabach lebenden Armenier*innen mithilfe des Völkerrechts zu stärken und Aserbaidschans politischen und vor allem militärischen Handlungsspielraum einzuschränken. Aber wenn es um mögliche politische Verhandlungslösungen zwischen Armenien und Aserbaidschan geht, herrscht auch unter diesen Expert*innen keine Einigkeit. Das unterstreicht einmal mehr die Zerrissenheit des Landes in dieser konflikthaften Gemengelage. Im Moment schauen wir vor allem auf die Vertreibung der Karabach-Armenier*innen und auf die humanitäre Katastrophe. Aber es geht noch um mehr. Es geht wirklich auch um den demokratischen Weg und letztlich um die bedrohte Staatlichkeit Armeniens.

    Expertin: Cindy Wittke
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am 04.10.2023

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  • Sergej Lawrow

    Sergej Lawrow

    Sergej Lawrow ist ein Profi, wie es keinen zweiten gibt auf der internationalen Bühne: Im März 2024 sind es 20 Jahre, die er als Außenminister Wladimir Putins Politik in der Welt vertritt. In dieser Zeit hat er sieben US-Außenministerinnen und Außenminister kommen und gehen sehen. Trotzdem sind die Momente rar, in denen sichtbar wurde, wofür Lawrow selbst eigentlich steht. Seine Rolle ist die eines äußerst erfahrenen, eloquenten und blitzgescheiten Beamten, der seine Talente ganz in den Dienst seines Präsidenten stellt und dessen Willen mit aller Härte durchsetzt – aber auch mit Tricks und Lügen.

    Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru
    Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen umweht Lawrow eine Aura des weltgewandten Gentlemans / Foto © kremlin.ru

    Das einzige Mal, als Sergej Lawrow Wladimir Putin öffentlich widersprochen hat, liegt inzwischen zwölf Jahre zurück: 2012 setzt der US-Kongress die Namen russischer Politiker und Beamter, die an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, auf eine Sanktionsliste. Als Antwort auf dieses sogenannte Magnitski-Gesetz will der Kreml die Adoption russischer Waisenkinder durch US-Bürger verbieten. Das trifft vor allem schwer kranke und behinderte Kinder, für die in Russland keine Adoptiveltern gefunden werden und für die es in russischen Kliniken keine angemessene medizinische Versorgung gibt.

    Lawrows Ministerium hat mit den Amerikanern in jahrelangen Verhandlungen Regeln für Adoptionen solcher Kinder ausgearbeitet. Als er auf einer Pressekonferenz im Dezember nach dem geplanten Adoptionsverbot gefragt wird, sagt er knapp: „Das ist falsch.“ Zehn Tage später unterschreibt Putin das Gesetz. Russische Medien berichten, der Präsident habe ein „hartes Gespräch“ mit seinem Außenminister geführt. Lawrow widerruft öffentlich und behauptet, er sei nie gegen das Adoptionsverbot gewesen.

    Die Magnitski-Liste und das darauf folgende Dima-Jakowlew-Gesetz markieren den endgültigen Schlusspunkt hinter dem Neustart-Versuch, den die Obama-Regierung vier Jahre zuvor mit Moskau unternommen hatte. Am 6. März 2009 hatten Lawrow und die US-Außenministerin Hillary Clinton in Genf einen symbolischen „Reset“-Knopf gedrückt, auf den die Amerikaner irrtümlich das Wort „перегрузка“ (peregruska, dt. Überlastung) geschrieben hatten anstelle von „перезагрузка“ (peresagruska) für Neustart. Nach dem Georgien-Krieg sollte noch einmal ein Versuch unternommen werden, das Verhältnis mit Russland zu retten. Der neue Präsident Dimitri Medwedew, so hoffte man in Washington, könnte dafür eine Gelegenheit bieten. Dieses Kapitel war mit der Rückkehr Putins in den Kreml abgeschlossen. Und genauso loyal wie Lawrow unter dem Interims-Präsidenten Medwedew mit den Amerikanern neue Abkommen verhandelt hatte, wickelte er nun die Annäherung wieder ab und schaltete um auf Konfrontation. 

    Der öffentliche Widerspruch an die Adresse seines Chefs blieb ein einmaliges Ereignis. Seitdem folgt Sergej Lawrow der außenpolitischen Linie, die in der Präsidialverwaltung vorgegeben wird, bis zur Selbstverleugnung. Als er 2015 auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor der versammelten außenpolitischen Elite der Welt die „Angliederung“ der Krim mit der deutschen Wiedervereinigung verglich und behauptete, sie sei konform mit der UN-Charta verlaufen, muss ihm klar gewesen sein, wie absurd diese Behauptung war. Tatsächlich vergaßen die anwesenden Diplomaten für einen Moment ihre Höflichkeit und brachen in spontanes Gelächter aus. Das muss schmerzhaft gewesen sein für einen, der über mehr Erfahrung im außenpolitischen Geschäft verfügt als irgendjemand sonst im Saal, und der Gesprächspartner auch gern seine Überlegenheit spüren lässt.

    Selfmade Tschinownik

    Möglicherweise kommt Sergej Lawrows großes Selbstbewusstsein auch daher, dass er weiß, dass er seine Karriere niemand anderem als sich selbst zu verdanken hat. Die Familie, in der er 1950 geboren wurde, gehörte nicht zur Sowjet-Nomenklatura. Über seine Eltern ist wenig bekannt. Als Abiturient schuftete er auf der Baustelle für den Moskauer Fernsehturm in Ostankino – wer keine Beziehungen hatte, konnte mit solchen Arbeitseinsätzen seine Chancen auf einen Studienplatz verbessern.

    Eigentlich habe er vorgehabt, Physik zu studieren, erzählte Lawrow vor einigen Jahren. Aber weil die Aufnahmeprüfungen für das Institut für Internationale Beziehungen schon früher stattfanden, habe er sich auf den Rat seiner Mutter hin dort beworben. Das Moskauer Staatliche Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) war die Kaderschmiede der sowjetischen Diplomatie und ist heute die Kaderschmiede der russischen Diplomatie. Sie hat ein eigenes kleines Museum, das inzwischen auch ein bisschen ein Lawrow-Museum ist: Hier hängt die Fahne seiner studentischen Wandergruppe und die Hymne der MGIMO, die Lawrow geschrieben hat und die heute von den Studierenden gesungen wird. Im eigenen Haus ist Lawrow mehr als ein Chef, er ist auch ein Vorbild. 

    Am MGIMO lernt er neben Englisch und Französisch auch Singhalesisch. Nach seinem Abschluss wird der junge Nachwuchsdiplomat 1972 auf seine erste Station an die sowjetische Botschaft in Sri Lanka geschickt. Vier Jahre später kehrt er zurück nach Moskau ins Außenministerium. 1981 wird er Erster Sekretär der sowjetischen Vertretung bei den Vereinten Nationen. Als er in New York ankommt, haben sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen gerade wieder verschlechtert: Nachdem Breshnew zunächst zaghafte Entspannungspolitik betrieben hatte, hat sich der Kalte Krieg mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen nach Afghanistan 1979 wieder verschärft. Auf ihrer sechsten Dringlichkeitssitzung forderte die  Generalversammlung mit 104 zu 18 Stimmen den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Lawrow vertritt stoisch die Linie der sowjetischen Propaganda: Die Soldaten leisteten „friedliche Aufbauarbeit und sozialistische Bruderhilfe“. 1982 stirbt Breshnew, zwei Nachfolger kommen und gehen, erst ab 1985 erfahren die Menschen in der Sowjetunion im Zuge von Glasnost vom tatsächlichen Krieg und den zahlreichen Toten. 

    Perestroika

    Lawrow bleibt bis 1988 bei der UNO. Derweil läuft zuhause die Perestroika auf Hochtouren. Zurück in Moskau wird er im Außenministerium stellvertretender Verantwortlicher für Wirtschaftsbeziehungen, später Referatsleiter für internationale Organisationen, stellvertretender Außenminister, und ab 1994 zehn Jahre lang UN-Botschafter. Bemerkenswert ist: In den Jahren des großen Umbruchs sind Wladimir Putin und Sergej Lawrow beide im Auslandseinsatz. Doch während der KGB-Offizier Putin im „Tal der Ahnungslosen“ des sozialistischen Bruderlandes DDR lebt und versucht, Gaststudenten für den KGB anzuwerben, lernt der Diplomat Lawrow in New York den American Way of Life kennen und Whiskey und Zigarren schätzen. Heute spricht noch immer der Gopnik aus Putin. Derweil ist sein Außenminister als Mann von Welt ein Unikat in der russischen Elite.

    Nach der jahrzehntelangen Feindschaft im Kalten Krieg stehen die Zeichen zu Beginn der 1990er Jahre ganz auf Freundschaft: Wenn Hilfe von außen erwartet wird, dann vor allem von den USA. Wenn bei einer Meinungsumfrage nach einem Land gefragt wird, mit dem Russland in erster Linie zusammenarbeiten sollte, auch dann nennen die Befragten in Russland zuerst die Vereinigten Staaten von Amerika. Die USA als Feind? Mitte der 1990er Jahre sehen das nur rund sieben Prozent der Befragten so.1 

    Wie die meisten Politiker durchlebt auch Lawrow eine eigene Perestroika und wird zu einem Freund Amerikas. Sozialisiert unter dem Außenminister des Kalten Krieges Andrej Gromyko – dem berüchtigten „Mister Njet“ – muss Lawrow von nun an die Vorgaben des neuen Außenministers Kosyrew erfüllen. Dieser gilt als „Mister Ja“, Kritiker werfen ihm den Ausverkauf russischer Interessen vor, Michail Gorbatschow klagte gar, das russische Außenministerium sei unter Kosyrew eine Filiale des US-amerikanischen gewesen.2 

    Neustart 

    Der erste Stimmungswandel kommt in den Jahren 1998 und 1999. Damals fallen viele Ereignisse zusammen: die NATO-Intervention im Kosovokrieg, der Zweite Tschetschenienkrieg und die erste NATO-Osterweiterung vom 12. März 1999. Die Wogen hatten sich gerade geglättet, da beginnen die USA 2003 den Krieg im Irak: Lawrow stimmt im Sicherheitsrat gegen ein militärisches Eingreifen und weiß dabei China, Frankreich und Deutschland an seiner Seite. Nach der großen internationalen Solidarität in der Folge des Terrors vom 11. September 2001 nimmt in vielen Ländern die kritische Einstellung zu den USA wieder zu. 

    Am 9. März 2004 ernennt Wladimir Putin Sergej Lawrow zum Außenminister. Mit seinen maßgeschneiderten Anzügen inszeniert sich der hochgewachsene Lawrow als ein weltgewandter Gentleman. Längst hat er einen Ruf als blitzgescheiter Verhandler, bei dem sich Sachkenntnis und ein kluger Humor paaren. Diplomaten aus aller Welt haben ihn bereits als UN-Botschafter respektiert.3 Putin pflegt eine Männerfreundschaft mit dem deutschen Kanzler Gerhard Schröder, Lawrow – mit seinem Counterpart Frank-Walter Steinmeier. Der Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Barack Obama im Juli 2009, der kurz danach proklamierte „Reset“ und der Richtungswechsel hinsichtlich des von George W. Bush forcierten Raketenabwehrschirms bewirken zunächst eine neuerliche Annäherung. Doch es bleibt nur ein kurzes Intermezzo.

    Antiwestliche Wende

    Die Frage, wann der Kreml die antiwestliche Wende vollzogen hat, ist strittig: Viele sehen in Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 den Startschuss. Die anderen argumentieren, dass der ab 2009 vollzogene Reset die Wogen tatsächlich zunächst geglättet habe, und die antiwestliche Kontinuität erst mit der Reaktion des Kreml auf die Massenproteste gegen Wahlfälschung und Machtmissbrauch im Winter 2011/12 ihren Lauf nahm. Der Kreml brandmarkte die Protestwelle damals schnell als ein Ergebnis des amerikanischen Einflusses. Dann folgten die Magnitski-Liste und das Dima-Jakowlew-Gesetz. 

    Seit er in der Frage der Adoption russischer Waisenkinder vor Putin eingeknickt ist, verwandelt sich Lawrows Rolle mehr und mehr von der eines geschickten Verhandlers und respektieren Diplomaten zu einem Werkzeug seines Präsidenten, der die Außenpolitik dazu nutzt, von innenpolitischen Problemen abzulenken und neue Feindbilder zu schaffen, um darüber seine Herrschaft zu legitimieren. Als hybrider Krieger dreht Lawrow gemeinsam mit Putin die Eskalationsspirale. Seit der Krim-Annexion und den ersten Sanktionen, die als Antwort darauf verhängt wurden, dreht sie sich noch schneller. Der russische Politikwissenschaftler Sergej Medwedew verglich in diesem Zusammenhang die russische Außenpolitik mit dem Verhalten eines Gopnik und schrieb: „Die hauptsächliche Exportware Russlands ist nicht Öl oder Gas, sondern Angst.“ 

    Drohung und Beleidigung als neue Mittel der Diplomatie 

    Wenn Diplomaten für die Kunst der Verhandlung und des Dialogs stehen, dann sind Gopniki ihr Gegenteil: Sie sind Meister der Drohung, der gewaltsamen Sprache und des Monologs. Tatsächlich wurde der Ton der russischen Außenpolitik im Zuge der Bolotnaja-Proteste derber, und spätestens seit der Krim-Annexion gehören Gossenjargon und Beleidigungen zum festen Repertoire russischer Diplomaten. Die Propaganda-Organe preisen ihre verbalen Ausfälligkeiten als „Bestrafungen“, Kritiker werten den ostentativen Hang zu stilistisch derberen Registern als Dialogverweigerung und kalkulierten Bruch mit der Welt. In Russland kommt dieses Auftreten derweil gut an: „Die haben (wieder) Angst vor uns“ wird zu einer gängigen Propagandaformel, „Lawrow hat … ausgelacht“ zu einem beliebten Motiv der Propagandamedien.4 

    Gentleman und Gopnik – Lawrow beherrscht beide Rollen

    Lawrow hat in seiner Karriere zahlreiche Kehrtwenden mitgemacht Er begann unter Gromyko als ein scharfer Gegner des US-Imperialismus, vollzog während der Perestroika eine Kehrtwende und wurde 2014 zu einem Wiedergänger Gromykos, wobei er mit den häufigen Vergleichen durchaus kokettiert.5 Lawrow beherrscht den Spagat zwischen Gentleman und Gopnik, Sachargument und Whataboutism. Er kann beides sein: Intellektueller und Apparatschik, Stimme der Vernunft und Scharfmacher. Letzteren gibt er etwa im Fall Lisa, als er 2016 deutschen Behörden vorwirft, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen. Sein einstiger Duz-Freund Frank-Walter Steinmeier wirft ihm daraufhin Propaganda vor.

    Außenminister Lawrow (links) und der russische Präsident Wladimir Putin während des Afrika-Gipfels in Sankt Petersburg im Juni 2023 / Foto © Yevgeny Biyatov/POOL/IMAGO/ITAR-TASS

    Lügen gehören inzwischen ebenso zu Lawrows Handwerkszeug wie die Litanei internationaler Spielregeln, Verträge und Präzedenzfälle, die er bei Bedarf im Schlaf aufsagen könnte. Seit der Krim-Annexion hat der Außenminister eine lange Liste von Lügengeschichten erzählt: Von der Behauptung, russische Soldaten kämpften nicht in der Ostukraine über die Fakes, die russische Auslandsvertretungen verbreiten6 bis hin zu den Vorwürfen, Washington betreibe Labore für Biowaffen in der Ukraine und arbeite an der „Endlösung der Russenfrage“7. Doppeldenk, Täter-Opfer-Umkehr, krude Verschwörungsmythen und primitiver Antiamerikanismus – das alles ist einem Ziel untergeordnet: Bewirtschaftung des Feindbildes zur Herstellung eines Ausnahmezustands und Rally ‘round the Flag Effekts. Die Argumentation ist schlicht und lässt sich auf fünf Punkte8 herunterbrechen:

    1. Die USA haben die NATO bis vor Russlands Grenzen ausgedehnt. Sie betreiben Revolutionsexport und führen Europa an der Leine. Im Ergebnis sind wir von Feinden (Nazis) umzingelt und müssen uns verteidigen (wie im Großen Vaterländischen Krieg).
    2. Sie („Pindossy“, „Gayropa“) sind moralisch verfault, wir stehen für die wirklichen Werte (Duchownost, Skrepy).
    3. Sie sind Heuchler und haben Doppelstandards (Kosovo, NATO-Osterweiterung, Irak), wir stehen für Gerechtigkeit („in der Wahrheit liegt die Kraft“, „Gott ist mit uns“, „Krim nasch“).
    4. Sie sind an allem Schuld, weil sie schon immer andere unterworfen und ausgebeutet haben (Kolonialismus, Imperialismus, Irak) – wir kämpfen immer für die Entrechteten und sind deshalb ihr nächstes Ziel.
    5. Wir haben die Atombombe. 

    Wofür Lawrow selbst steht, das lässt sich hinter dieser Rhetorik immer schwerer erahnen. Gewiss ist nur, dass Lawrows persönliches Interesse in einem Punkt deckungsgleich ist mit dem Interesse seines Landes: Lawrow erwartet Respekt. Früher wurde er ihm für seine Gescheitheit und seine Erfahrung entgegengebracht. Die Lacher auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 haben gezeigt, dass der Respekt verloren geht, je weiter Russland die Wahrheit verdreht. Im März 2023 wiederholte sich die Situation, als Lawrow auf einer Konferenz in Indien behauptete, Russland sei in der Ukraine der Angegriffene. Immer öfter greift Lawrow daher zur Drohung, um sich Respekt zu verschaffen. Am Ende dieser Entwicklung bleibt die Angst, die Russland mit seinen Atomkriegs-Szenarien auszulösen in der Lage ist, als letzter außenpolitischer Erfolg, den die Regierung noch erzielen kann.

    Überarbeitet am 8. März 2024


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