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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die Kommentare zu den USA offenbaren die Spaltung in Russland“

    „Die Kommentare zu den USA offenbaren die Spaltung in Russland“

    Der grausame Tod von George Floyd hat in weiten Teilen der russischen Gesellschaft weniger für eine Debatte gesorgt als vielmehr die Ausschreitungen und Proteste danach. „Seit zwei Wochen gibt es in den USA Massenproteste gegen Polizeigewalt und Rassismus – und etwa genauso lang gehen in Russland die Debatten darüber, ob die systemische Ungerechtigkeit des Staates einzelne Gewaltakte seitens der Randalierer rechtfertigt“, schreibt etwa Meduza. Und in der Moskauer Ausgabe von The Village heißt es: „Die Bilder von eingeschlagenen Schaufenstern und umgekippten Autos waren bei manchen Russen eher Thema als Rassismus oder Polizeigewalt.“

    Warum ist das so? Beide Medien befragten dazu den russischen Historiker und USA-Experten Ivan Kurilla, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg. dekoder bringt Ausschnitte aus beiden Interviews. 
     

    Meduza: Warum herrscht in Russland solch große Aufregung ob der Unruhen in den Vereinigten Staaten?

    Für Russland sind die Vereinigten Staaten traditionell der „Significant Other“. Darauf, was in den USA passiert, schauen sowohl die Regierung als auch die Gesellschaft. Doch in einer Krisensituation sucht sich (auf der Erfahrungsgrundlage jenes Anderen) jeder das aus, was ihm nah und wichtig erscheint. In diesem Sinne offenbart die Masse an Kommentaren zu Amerika nicht nur, was man derzeit in Russland über die USA weiß – sondern auch die Spaltung in Russland selbst. 
    Wenn die Menschen über die Vereinigten Staaten sprechen, müssen sie sich nicht zensieren. Wobei die Überlegungen über die amerikanischen Proteste ein kompliziertes Bild der russischen Gesellschaft zeigen: Rassistische Ausbrüche, eine Spaltung in Rechts und Links, Unterstützung für die Polizei – all das wird weitaus offener ausgesprochen, als dieselben Leute dies tun würden, wenn es um Ereignisse im eigenen Land ginge.

    Wenn die Menschen über die Vereinigten Staaten sprechen, müssen sie sich nicht zensieren

    Die Russen reproduzieren die wesentlichen Spaltungen, die auch innerhalb der USA charakteristisch sind. Doch typisch in Russland ist, dass nur ganz wenige die gewalttätige Komponente des Aufruhrs rechtfertigen. Eingeschlagene Schaufenster und geplünderte Läden gelten als offensichtliche Verbrechen, die durch keinen guten Zweck geheiligt werden. 

    Tatsächlich besteht ein heftiger Kontrast zwischen betont friedlichen Protestversuchen in Russland in den letzten zehn Jahren und den Bildern aus US-amerikanischen Städten. 
    Kommentatoren aus Staatsmedien verweisen gerne darauf, dass jeglicher Protest gesetzeswidrig ist und dass friedliche Demonstranten Plünderungen den Weg ebnen. Diese Idee fügt sich gut ein in die alte Anti-Maidan-Sichtweise des Kreml.

    Die Fernsehbilder könnten bei den Menschen jedoch auch einen anderen Effekt haben: So also kann politischer Protest auch aussehen! Und sollten wir als Folge der Aufstände ernsthafte Veränderungen in der amerikanischen Politik sehen, so wird auf die Frage „Wollt ihr die gleichen Zustände haben wie in New York?“ die Antwort vielleicht lauten: „Ja, das wollen wir.“

    The Village: Könnte es Aufstände wie in den USA auch in unserem Land geben?

    100-prozentig ausschließen kann man nichts, aber in Russland ernsthafte Massenproteste vorherzusagen, ist quasi unmöglich. Bisher sind solche Vorhersagen immer missglückt. Das gegenwärtige System hat immer noch ein Sicherheitspolster, und das ist dicker, als Beobachter manchmal denken.

    Die moderne russische Polizei ist gewappnet, Menschen zu verjagen, die auf die Straße gehen. Sowohl die technische Ausstattung als auch die Ausbildung der Nationalgarde und Polizei ist darauf ausgerichtet Massenunruhen niederzuschlagen, die es in Russland derzeit nicht gibt und schon recht lange nicht mehr gegeben hat. Im Fall der amerikanischen Polizei dagegen sind Massenunruhen nicht das Problem Nummer eins, auf das man sich vorbereitet. 

    Mit Blick auf Amerika sieht unser Regime jetzt, wie Protest-Szenarien Wirklichkeit werden können. Und das kann seine Angst verstärken

    In Russland haben die Menschen Angst vor der Nationalgarde und der Polizei. Eine der Strategien des Regimes besteht darin, dem Volk zu zeigen, wie viele Polizisten es gibt, wie stark sie bewaffnet sind und wie sie Demonstranten auf den Kopf schlagen. Die Nationalgarde und die russische Polizei sind quasi ausgebildet für das, was in den USA jetzt gerade vor sich geht.

    Doch Angst haben beide Seiten: Dass unser Regime die Polizei derart trainiert, zeigt, wie sehr es solche Ereignisse wie in den USA fürchtet. Und mit Blick auf Amerika sieht unser Regime jetzt, wie solche Szenarien Wirklichkeit werden können. Und das kann die Angst verstärken (aber vielleicht sind das nur meine Mutmaßungen).

    Meduza: Ist Trump an allem Schuld?

    Man hört oft, dass die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten die Spaltung vertieft hat. Mir scheint aber vielmehr, dass Trump nur ein Symptom für die Spannungen war, die die amerikanische Gesellschaft schon lange vor 2016 erlebte.

    Diese Spannungen in Amerika werden gemeinhin als Culture Wars bezeichnet: Dazu gehören Religionskonflikte oder Konflikte in Familienfragen, das Recht auf Abtreibung, die Einstellung zu Feminismus und zu neuen Geschlechterrollen, zu leichten Drogen, zu Klimawandel und natürlich zur Frage der Hautfarbe.

    Trump war nur ein Symptom für die Spannungen, die die amerikanische Gesellschaft schon lange vor 2016 erlebte

    Aber die Krise, in der sich Amerika seit einigen Jahren befindet, hat gezeigt, dass die Annahme, während der Culture Wars würden sich gesamtgesellschaftliche Grundwerte herausbilden, illusorisch war. Ein großer Teil der Amerikaner war nicht bereit zu solch einem raschen Diskurswandel und wurde allmählich unzufriedener. Trumps Erfolg hat diesem Teil der Amerikaner lediglich ermöglicht, aus dem Schatten zu treten.

    Für die Organisation des Aufruhrs gibt er weiterhin den linken Antifa-Genossen die Schuld, und er droht, sie als terroristisch einzustufen. Dabei ist das Problem nicht nur, dass es wahrscheinlich überhaupt keine monolithische Antifa gibt. Viel schlimmer ist vielleicht, dass diese Anschuldigungen nur die Rhetorik einiger Politiker der Demokraten widerspiegeln, die den gegenwärtigen Konflikt ebenfalls aus dem Handeln externer Kräfte heraus erklären – am ehesten aus Russland. Keine der beiden Seiten blickt der Realität in die Augen. 

    The Village: Warum wittert man in den USA schon wieder eine russische Spur?

    Das ist nichts Neues: Für ein politisches System ist es sehr bequem, die Verantwortung für eine Krise im Land zu exportieren. Denn wenn die Verantwortlichen im eigenen Land sind, dann wird das wahrgenommen als Krise der politischen Elite, und die muss gelöst werden. Wenn es aber ein äußerer Feind ist, dann muss man eh nicht mit ihm verhandeln – man muss ihn anprangern und politisch ausgrenzen.

    Es ist eine nahezu instinktive Reaktion der Eliten in beiden Ländern – sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben

    Es gibt einen alten Diskurs aus Zeiten des Kalten Krieges, der nach Trumps Wahl wiederbelebt wurde: Jeder in Amerika weiß, dass Russland böse ist, und dass es alles Böse in Amerika nur deshalb gibt, weil Russland sich wieder eingemischt hat. Gleichzeitig grassiert in Russland der Antiamerikanismus: Amerika ist schlecht und will Böses. Wenn in Russland jetzt etwas losbricht, dann hören wir sofort, dass das an den Amerikanern liegt. Es ist eine nahezu instinktive Reaktion der Eliten in beiden Ländern – sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben.

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  • „Bolotnaja wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen“

    „Bolotnaja wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen“

    Am 6. Mai sind es fünf Jahre, dass der Marsch der Millionen auf dem Bolotnaja-Platz mit heftigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten endete. Doch Bolotnoje Delo, der Fall Bolotnaja, ist noch nicht vorbei: Aktivisten der sogenannten Bolotnaja-Bewegung, die damals festgenommen wurden, wird bis heute der Prozess gemacht. Diese Verfahren werden von Medien und Gesellschaft kaum beachtet, dabei sind sie nach russischem Recht öffentlich.

    Zum Jahrestag sprach The Village mit Leuten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Prozesse zu besuchen – wie sie zuvor mitunter auch die Prozesse gegen Pussy Riot oder Chodorkowski besucht hatten.

    Foto © Polina Kibaltschitsch
    Foto © Polina Kibaltschitsch

    Polina Kibaltschitsch
    22 Jahre, Kunsthistorikerin
    Hat über 100 Verhandlungen besucht

    Ich habe schon als Kind politische Nachrichten verfolgt und erinnere mich noch gut an Fernsehreportagen über Protestaktionen zum Fall Chodorkowski. In der Schule habe ich die Bücher von Soja Swetowa und Vera Wassiljewa gelesen. Damals wurde mir klar: Du musst zu Gerichtsverhandlungen gehen, wenn du gegen das System bist.

    Zum ersten Mal bin ich im Frühling 2012 zum Gericht gegangen, zum Prozess gegen Pussy Riot, aber da wurde niemand reingelassen, wir mussten draußen bleiben. Im Herbst desselben Jahren war ich dann zum ersten Mal bei einer Verhandlung. Da wurden im Zuge der Bolotnaja-Prozesse vor dem Basmanny-Amtsgericht die Haftstrafen von Artjom Sawjolow und Denis Luzkewitsch verlängert. Ich war am 6. Mai auf dem Bolotnaja-Platz gewesen und hatte gesehen, wie unfair das alles zuging, deswegen beschloss ich, die Leute zu unterstützen.       

    Viele Justizwachtmeister kennen mich bereits. Manche denken, ich bekomme Geld dafür, dass ich zu den Verhandlungen gehe. Ich weiß jetzt alles über Gerichte: die Verfahrensordnung, wie man mit Justizbeamten richtig umgeht, was man mitnehmen darf und was nicht. Wenn die Wachtmeister etwa Flugblätter oder Buttons in einer Tasche entdecken, lassen sie einen nicht hinein. Einmal haben sie bei mir eine stumpfe Nadel gefunden und wollten mich nicht durchlassen, außerdem hatte ich eine Schere dabei, die sie bei der Kontrolle nicht bemerkten. 

    Du musst zu Gerichtsverhandlungen, wenn du gegen das System bist

    Und einmal haben sie vor dem Moskauer Stadtgericht einem Mann ein T-Shirt mit der Aufschrift „Freiheit für Ildar Dadin“ ausgezogen, und er ist mit nacktem Oberkörper in das Gebäude hineingegangen. Wenn dem Wachtmeister nicht gefällt, wie du aussiehst, kommst du nicht in den Saal. 
      
    Die Justizwachtmeister wenden oft körperliche Gewalt an, nach Ende der Sitzung werfen sie die Leute buchstäblich hinaus. Im Basmanny-Gericht haben sie schon mal jemanden die Treppe hinuntergestoßen oder auf die Straße hinaus. Einmal bekam ein Mann dadurch einen Herzinfarkt und musste vom Rettungswagen abgeholt werden.

    In vier Jahren war ich bei über 100 Verhandlungen

    Das System ändert sich nicht von allein, man muss den Staatsapparat austauschen, die Vetternwirtschaft hält ja alles zusammen. Natürlich packt mich manchmal ein Gefühl der Ohnmacht, aber ich gehe weiterhin ins Gericht. Hauptsächlich zu Verhandlungen der Bolotnaja-Prozesse – in vier Jahren war ich bei über 100 davon.

    Zuletzt war ich im Februar bei einer Sitzung im Fall Maxim Panfilow. Zu seiner Unterstützung kamen nur Maxims Verwandte, ich war die einzige, die ihn nicht persönlich kannte – nicht mal Journalisten waren da. Obwohl zu Beginn der Bolotnaja-Prozesse pro Versammlung noch bis zu zehn Freiwillige gekommen waren. 

    Die Leute wollen sich nicht belasten. Wenn sie auf dem Weg ins Café oder ins Kino keinem Polizisten über den Weg laufen, dann denken sie, es sei gar nicht so schlimm mit dem Polizeiregime, alles ok. Aber in Wahrheit liegt alles im Argen, und das sehe ich vor allem bei Gericht.

    Verwandte von Angeklagten sagen, die Anwesenheit von Freiwilligen helfe ihnen sehr, deswegen gehe ich weiter zu Verhandlungen. Mit meiner Gegenwart vor Gericht signalisiere ich dem System, dass die Gesellschaft über die Willkür im Land Bescheid weiß. 


    Foto © Jelena Sacharowa/Facebbok
    Foto © Jelena Sacharowa/Facebbok

    Jelena Sacharowa
    68 Jahre, Konzertmeisterin
    Hat über 70 Verhandlungen besucht

    An meine ersten Verhandlungen kann ich mich noch sehr gut erinnern. Das war 2013, am Nikulinski-Gericht, der Saal knallvoll. Acht Leute wurden gebracht – darunter Luzkewitsch, Barabanow und Kriwow. Den Prozess leitete eine kalt dreinblickende Richterin namens Nikischina. 

    Plötzlich sackte Kriwow, der zu dem Zeitpunkt seit etwa 40 Tagen im Hungerstreik war, zusammen und sank bewusstlos auf die Bank. Verteidiger Makarow rief sofort nach Ärzten. Die eilten schnell herbei, doch die Richterin verweigerte ihnen den Einlass – die Ärzte verschwanden unverrichteter Dinge. Kriwow kam nicht wieder zu sich, also rief Makarow erneut Rettungsleute. Nikischina wies die Justizwachtmeister an, die Türen zu versperren. Die Sanitäter verstanden nicht, was los war, und bummerten gegen die Tür. Die Situation spitzte sich zu: Vor unseren Augen stirbt ein Mensch, und wir können nichts dagegen tun. 

    Die Hälfte des Saales sprang auf, die Leute fingen an zu schreien, die Justizwachtmeister fischten mich und ein paar weitere Personen aus der Menge und zerrten uns zur Tür raus, einen Mann stießen sie die Treppe hinunter. Nie im Leben hatte ich so eine Angst wie damals. Klar, danach besuchte ich alle Sitzungen zum Bolotnaja-Fall – bis zur Urteilsverkündung. 

    Manche Anwälte fühlen sich wie auf einer Großdemo, andere ziehen eine Ein-Mann-Show ab

    Ich habe solche und solche Anwälte und Verteidiger erlebt. Die einen fühlen sich wie auf einer Großdemo, die anderen ziehen eine Ein-Mann-Show ab. Mein letzter Anwalt war so ein zugeknöpfter Lord: Seiner Meinung nach muss man gezielt durch die erste Instanz, dann Berufung einlegen und dann eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichen. 

    Ich wurde 14 Mal festgenommen, meistens wegen Artikel 19.3 („Ungehorsam gegen die behördliche Anordnung eines Polizeibeamten“ – Anm. The Village), aber lange wurde ich nie auf dem Revier behalten. Meistens war das wegen Einzelprotestaktionen gegen den Krieg in der Ukraine, die ich unter anderem mit Ildar Dadin unternommen hatte. Ein paarmal wurde ich von der SERB provoziert, die haben mich sogar mit schwarzer Farbe übergossen. 

    Manche Leute können sich Aktionen nicht erlauben. Zum Beispiel, weil sie ohnehin schon mal durch Zutun der Extremismuszentren ihre Arbeit verloren haben, oder weil ihre Kinder noch klein sind, oder weil sie schon so viele Verwaltungsdelikte haben, dass ihnen das nächste Mal eine strafrechtliche Anzeige droht. Das sind die Leute, die dann zu Verhandlungen gehen. Und mein Mann geht zum Beispiel nur zu großen Demonstrationen, wo es nicht gefährlich ist.    

    Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe

    Ich glaube, die meisten Silowiki waren nicht besonders gut in der Schule und sind dann in der Polizeifachschule gelandet. Denen hat niemand Bücher vorgelesen, vielleicht wurden sie zu Hause sogar geschlagen. Die Neigung dieser Leute zu Gewalt und Obrigkeitshörigkeit – das sind reine Minderwertigkeitskomplexe. Einmal habe ich in einem Gefängnistransporter einen Polizisten gefragt: „Was würden Sie tun, wenn Sie auf Demonstranten schießen müssten? Die neuen Gesetze erlauben das ja.“ Er sagte: „Ich gehe in zwei Jahren in Rente – ich hoffe, bis dahin bekomme ich keinen solchen Befehl.“
     
    Das Personal der obersten Behörden muss ausgetauscht werden, auch die Richter: Das sind gebrochene Individuen. Als Richter Kaweschnikow das Urteil über Wanja Nepomnjaschtschich verlas (er wurde im Bolotnaja-Fall zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt – Anm. The Village), stand ich im Saal, sah dem Richter in die Augen und stellte ihm in Gedanken die Frage: „Was geht in deinem Kopf vor, wenn du einen völlig unschuldigen Menschen einsperren lässt?“

    Im Januar dieses Jahres war Kaweschnikow mein Richter bei einem Verwaltungsdelikt. Ich kam in einem T-Shirt mit einem Portrait von Nepomnjaschtschich zur Verhandlung und legte ein Foto von ihm in meine Passhülle. Den habe ich Kaweschnikow direkt in die Hand gedrückt – sein Gesicht zeigte null Reaktion. 

    Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein

    Gerichtsanhörungen sind für mich kein Vergnügen, sondern unliebsame Notwendigkeit. Es ist enorm öde. Ich schlafe bei dem monotonen juristischen Gebrabbel immer fast ein. In letzter Zeit „koordiniere“ ich die Angeklagten draußen auf dem Korridor. Nach der Demonstration am 26. März fanden am Twerskoj-Gericht fast jeden Tag Verhandlungen statt. Massen wunderbarer junger Leute kamen herein. Die meisten hatten vor Nawalnys Film noch nie was von Korruption gehört. Sie wurden zum ersten Mal vor Gericht zitiert, kannten sich überhaupt nicht aus, einen Anwalt hatte kaum jemand. Ich fing sie an der Tür ab, fragte: „Sie sind wegen dem 26. hier, haben Sie einen Anwalt, welcher Paragraph?“, und empfahl ihnen einen Verteidiger. 

    Ich glaube, der Bolotnaja-Fall wird uns noch wie ein Kindergeburtstag vorkommen. Irgendwo sitzt jetzt ein ganzer Trupp von Ermittlungsbeamten, die alle Videoaufzeichnungen von der Aktion am 26. März durchsehen und Material für neue Anklagen sammeln.  


    Foto © Natalja Mawlewitsch/Facebook
    Foto © Natalja Mawlewitsch/Facebook

    Natalja Mawlewitsch
    66 Jahre, Übersetzerin
    Hat über 20 Verhandlungen besucht

    Bis 1987 habe ich in der inneren Emigration gelebt, das war die Zeit meines passiven Widerstands gegen das System. Als in den 1990ern eine neue Zeit anbrach, wurde mir bewusst, dass ich das Leben hier verbessern kann: Dieses Land ist meines, die Stadt gehört mir. Mit Putins Machtantritt gab es aber immer weniger Freiheit, und es hat sich gezeigt, dass viele sie auch gar nicht brauchen. Das war eine bittere Erkenntnis, aber ich habe mich nicht in mein Schneckenhaus verkrochen.   

    Zum ersten Mal war ich bei Gericht, als der Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew lief. Die Sitzung fand am Basmanny-Gericht statt, niemand wurde hineingelassen, die protestierende Menge stand auf der Straße. Während dem ersten YUKOS-Prozess hatte ich noch Zweifel, was die Schuld der Angeklagten anging, aber die wurden mit Beginn des zweiten komplett hinfällig. Der Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd.

    Der YUKOS-Prozess lief auf eine Inszenierung von Kafka oder Ionesco hinaus – er war offensichtlich absurd

    Das bedeutendste Gerichts-Ereignis der letzten Jahre ist natürlich der Bolotnaja-Fall. Mir ist eine Sitzung im Gedächtnis geblieben, bei der es um den geschädigten OMON-Mann German Litwinow ging, dem angeblich in den Finger geschnitten worden war. Litwinow änderte im Laufe des Prozesses seine Meinung: Von ihm hing nämlich das Schicksal von zwölf Menschen ab – und im Endeffekt sagte er, er betrachte sich nicht als Geschädigten, und wechselte in den Zeugenstand. Ich fuhr danach mit ihm im Lift und sagte irgendwas Pathetisches über Ehrlichkeit, und er antwortete: „Ja, ehrlich bin ich, aber wo soll ich jetzt arbeiten?“ Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.    

    Man trifft bei Gericht immer dieselben 20 Leute

    Normalerweise trifft man bei Gericht immer dieselben 20 Leute, die am sechsten jedes Monats Einzelwachen abhalten und auf der Nemzow-Brücke stehen. Es sind wenige, sie haben es schwer, und deshalb macht es mich traurig, dass manche sie „Großstadtirre“ nennen. 

    Früher war die politische Willkür im Land wie eine Straße, auf der immer mal eine Glasscherbe liegt: Wenn du drauftrittst, tut es weh. Aber jetzt ist es, als würdest du auf Schmirgelpapier laufen – der Schmerz ist dumpf und zur Gewohnheit geworden.

    Politische Gerichtsprozesse gibt es mittlerweile so viele, dass ich, würde ich zu allen hingehen, nicht mehr zum Arbeiten kommen würde. Das letzte Mal war ich vor ein paar Jahren bei Gericht, auf einer Verhandlung zum Bolotnaja-Fall. Aber ich verfolge die Prozesse immer noch – und werde auch wieder hingehen.   


    Foto © Karina Starostina/Facebook
    Foto © Karina Starostina/Facebook

    Karina Starostina
    52 Jahre, Bibliothekarin
    hat über 40 Sitzungen besucht

    Ich habe mein Leben lang in der Gebrüder-Grimm-Kinderbibliothek gearbeitet. Meine Vorgesetzten wussten immer, dass ich politisch aktiv bin, und verbaten während meiner Arbeitszeit Gespräche über Politik. Trotzdem ließen sie mich in Ruhe – ich war eine hochgeschätzte Mitarbeiterin, in bibliothekarischen Kreisen bekannt. Jetzt werde ich woanders arbeiten. Wie es dort wird, weiß ich nicht. Für alle Fälle habe ich in sozialen Netzwerken meinen Nachnamen geändert.  

    Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Zu Prozessen von Nationalisten gehe ich nicht

    Meine erste Bolotnaja-Verhandlung war die gegen Mischa Kossenko vor dem Samoskworezki-Gericht am 8. Oktober 2013 – der wurde damals für unzurechnungsfähig erklärt. An sich bin ich feige, aber an diesem Tag waren die Umstände günstig: Ich hatte früher Feierabend, und außerdem interessiere ich mich für Psychiatrie. Ich wurde damals nicht in den Saal gelassen und stand im Endeffekt mit einer Gruppe von Unterstützern im Hof.

    Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig

    Ich habe eine ganz einfache Motivation: Die Leute des Bolotnaja-Falls haben für uns alle gesessen. Deswegen muss, wer kann, zu diesen Prozessen gehen. Ich gehe nur zu denen, deren Ideen ich verstehe. Viele Liberale gehen auch zu Prozessen von Nationalisten. Ich gehe da nicht hin.

    Das Urteil steht oft schon im Vorhinein fest, die Schablone ist fertig. Wobei es unmöglich ist, den Ausgang eines Falles vorherzusagen, egal, was rundherum passiert und wie gut die Anwälte sind. 

    Ich gehe kein Risiko ein, gebe acht, nicht im Polizeitransporter zu landen. Ich wurde viermal festgenommen, aber es wurde nie ein Protokoll aufgenommen. Meistens war das bei Mahnwachen auf der Nemzow-Brücke.    

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