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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Karriere in Uniform

    Karriere in Uniform

    „In der ganzen Welt wünschen sich Eltern für ihre Kinder eine Karriere als Arzt“, schreibt Jewgeni Karassjuk auf Republic. In Russland, so legt er dar, steht daneben noch etwas anderes hoch im Kurs: der Dienst beim Militär oder bei Sicherheitsorganen.

    Wie kommt das? Gerade die Armee hatte eine Mehrheit laut einer Umfrage noch vor sechs Jahren als Zukunft für ihre Kinder abgelehnt, zu viel Angst vor Gewalt, Willkür und politischer Verantwortungslosigkeit gaben die Befragten als Gründe an. Das hat sich geändert. Es sind heute meist Eltern ärmerer Schichten, die für ihren Nachwuchs eine Karriere in der Armee oder bei den Sicherheitskräften erträumen. Wo Jobs fehlen, wo Perspektiven ausbleiben, bietet sich hier zumindest die Aussicht auf ein stabiles Gehalt: Je nach Dienstgrad und -jahren kann zum Beispiel ein Berufssoldat rund 1000 Euro im Monat verdienen. Ärzte bekommen Umfragen zufolge oft nur rund 310 Euro. Entsprechend legendär sind die Wsjatki, Bestechungsgelder, die Patienten oft an Ärzte zahlen.

    Karassjuk erklärt auf Republic, weshalb es nicht nur an Propaganda, Ukraine und Syrien liegt, dass viele Russen ihren Kindern eine Karriere ausgerechnet dort wünschen – und verdeutlicht das mit anschaulichen Infografiken.

    „Innenministerium, Geheimdienst und Armee spielen heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle“ / Foto ©  Verteidigungsministerium <br> der Russischen Förderation/Wikipedia CC BY-SA 4.0
    „Innenministerium, Geheimdienst und Armee spielen heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle“ / Foto © Verteidigungsministerium <br> der Russischen Förderation/Wikipedia CC BY-SA 4.0

    Vergangenen Herbst hielt Wladimir Mau, Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst, einen Vortrag an der privaten Wirtschaftshochschule Skolkowo. Dort sprach er über die Zukunft der Bildung in Russland und zeigte dem Publikum erneut auf, welche Zukunft sich die Russen für ihre Kinder wünschen: Reichere Familien erwägen eine Karriere als Manager in einem staatlichen Unternehmen, ärmere Familien eine Laufbahn beim Militär oder bei den Sicherheitsbehörden.

    „Eine unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“

    Die Armut im Land nimmt weiter zu, dem entsprechen auch die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM: Über die Hälfte der Bürger (53 Prozent) ziehen als zukünftigen Arbeitsplatz für ihre Kinder die Polizei-, Justiz- oder andere Sicherheitsbehörden in Betracht. Den Staat mit seiner jetzigen Beschäftigungsstruktur – eine „unanständige Menge Bürokraten und Millionen Bewacher“ – nennt Alexander Idrissow, Chef der Strategy Partners Group, eine Katastrophe. Doch das Interessanteste steht womöglich erst noch bevor. Denn die kommende Generation von Russen folgt vielleicht dem elterlichen Rat und schlüpft massenhaft in Uniformen. Warum halten die Russen eine Karriere als Militärangehöriger, Polizist oder Mitarbeiter der Geheimdienste für eine gute Idee?

    In ihren Präferenzen unterscheiden sich russische Eltern gar nicht so sehr von Eltern in anderen Ländern. Fast alle Untersuchungsergebnisse sind mit den Daten ähnlicher internationaler Erhebungen vergleichbar – einzige Ausnahme: der Wunsch nach einer Karriere in den Sicherheitsbehörden.



     * Die Angaben zu den Berufswünschen Ärzte, Unternehmer, Lehrer und Wissenschaftler sind einer Studie entnommen, die die Higher School of Economics 2013 durchgeführt hat. In der Umfrage waren mehrere Antworten möglich. Laut dieser Studie haben 14 Prozent der Befragten eine Karriere bei der Armee als bevorzugt angegeben. Quelle: Republic (WZIOM, HSE)


    Quelle: Republic (WZIOM)

    Assoziation einer längst vergessenen Stabilität

    Eltern aus 16 Ländern, die von der [weltweit agierenden Bank] HSBC im Rahmen der Studie Learning for Life befragt wurden, wollten im Schnitt, dass ihre Kinder Ärzte (19 Prozent), Ingenieure (11 Prozent) oder Programmierer/Software-Entwickler (8 Prozent) werden. Die russischen Daten zu diesen Berufswünschen fallen ähnlich aus: 21, 13 und 14 Prozent. Doch spielen das Innenministerium (MWD), der Inlandsgeheimdienst FSB und die Armee heute im gesellschaftlichen und Wirtschaftsleben eine immer größere Rolle, wenn es um die Prioritäten geht, die in Familien gesetzt werden.

    In den letzten Jahren wecken Menschen in Uniform bei Russen Assoziationen einer fast vergessenen Stabilität. Die monatliche Vergütung für Militärangehörige steigt. 2015 betrug sie im Schnitt 62.200 Rubel [rund 1000 EUR – dek], was mehr als das Doppelte des Durchschnittslohns ist.

    Außerdem steigen die Renten und Pensionen, die ein Großteil der Mitarbeiter in den Militär- und Sicherheitsstrukturen bereits früher beziehen (vor dem üblichen Renteneintrittsalter: 55 Jahre bei Frauen und 60 Jahre bei Männern). In Zeiten der Krise, so verkündete die stellvertretende Verteidigungsministerin Tatjana Schewzowa stolz, „gelingt es, die finanzielle Vergütung der Militärangehörigen auf dem Niveau der führenden Wirtschaftsbranchen zu halten“. Im Jahr 2015 haben auch erstmals in der neuesten Geschichte Russlands mehr Berufssoldаten (300.000) als normale Wehrdienstpflichtige (276.000) in der Armee gedient.



    * Mittelwerte für die Offiziershochschulen Blagoweschtschensk, Nowosibirsk, Rjasan
    ** Mittelwerte für die MGTU, MIFI und MFTI 2014-2016
    Quelle: Republic (Universitäten, Verteidigungsministerium)

    „Ich beschäftige mich seit langem mit den Aufnahmeprüfungen an den Militärhochschulen. Eine derartige Konkurrenz wie in diesem Jahr hat es noch nie gegeben“, meinte im Jahr 2015 der stellvertretende Verteidigungsminister Nikolaj Pankow. Verteidigungsminister Sergej Schoigu zufolge ist die Zahl der Abiturienten, die auf Militärhochschulen gehen, im Laufe des vergangenen Jahres um 36 Prozent gestiegen. „Heute haben wir, wie es aussieht, den größten Andrang auf unsere Ausbildungsstätten“, erklärte der Minister.

    Gleichzeitig steigt auch die Nachfrage nach Plätzen in den Nachimow– und Suworow-Militärschulen und Kadettenkorps (2015 gab es 3,5 Bewerber pro Platz). An den zivilen technischen Hochschulen werden sogenannte Wissenschafts-Kompanien eingerichtet, und auch da ist der Andrang groß.

    Selbstisolierung spielt Militär in die Hände

    Der explosionsartige Beliebtheitssprung bei militärischen Berufen erfolgt vor dem Hintergrund einer fortschreitenden Selbstisolierung der Bevölkerung, auch im Bildungssektor. Für jene, die sich von Feinden umringt fühlen (laut Lewada-Zentrum 68 Prozent), die meinen, dass man Russland in der Welt fürchte und dass das gut sei (75 Prozent laut FOM), wäre es merkwürdig, davon zu träumen, die Kinder zum Studium ins Ausland zu schicken.

    68 Prozent der Russen, die 2015 im Rahmen der Studie Integrationsbarometer der Eurasischen Entwicklungsbank befragt wurden, konnten oder wollten kein einziges Land nennen, in das sie ihre Kinder theoretisch zwecks Studium fahren lassen könnten. Zum Vergleich: Den Daten der HSBC zufolge denken in westlichen und asiatischen Ländern 77 Prozent der Eltern mit Kindern bis 23 Jahre daran, die Kinder für Bachelor-, Master- oder Doktoranden-Programme ins Ausland zu schicken.

    Die Russen in Uniform fühlen sich sicher

    Es wäre zu einfach, das gestiegene Interesse der Russen an einer Arbeit in den Sicherheitsbehörden mit den Ereignissen in der Ukraine und in Syrien zu erklären oder mit der speziellen Art, wie darüber in den staatlichen Medien berichtet wird. Das Internationale Konversionszentrum Bonn (BICC) führt Russland bereits seit vielen Jahren unter den zehn (und häufiger noch: fünf) am stärksten militarisierten Staaten. Dem Ranking des internationalen Zentrums liegen mehrere Faktoren zugrunde, beispielsweise die Haushaltsausgaben für Militär im Verhältnis zu denen im Gesundheitssektor, das Zahlenverhältnis von Militärangehörigen (inklusive Milizen, aber ohne Mitarbeiter von Polizei und Justiz) und Ärzten zur Gesamtbevölkerung sowie die Menge schwerer Waffen bezogen auf die Bevölkerungszahl.



    Quelle: Republic (Finanzministerium)

    Viele Russen fühlen sich in Uniform sicher – und zwar ungeachtet der Wirtschaftskrise und planmäßigen Kürzungen sowie der außerplanmäßigen Reformen in einigen Behörden. Was die Staatsfunktionäre auch immer sagen mögen über die Unterstützung aller Beschäftigten im öffentlichen Dienst – die Silowiki erfahren die Fürsorge des Staates zuerst. So bedeutet der Anstieg der Ausgaben für den öffentlichen Dienst, wie er im Haushaltsplanentwurf 2017 bis 2019 vorgesehen ist, in erster Linie eine Ausgabensteigerung für die Staatsanwaltschaften, das Ermittlungskomitee, den FSB und andere privilegierte Behörden des Innen- und Verteidigungsministeriums.

    Auch die immaterielle Motivation wird immer größer. „Ränge, Auszeichnungen, die Vertikale der Macht und das Unterordnungsprinzip gehören zu den Grundsätzen einer militärischen Organisation der Gesellschaft. Und diese Prinzipien zeigen sich wieder im alltäglichen Leben des heutigen Russland“, schreibt Cyril Bret vom Pariser Institut für politische Studien (Sciences Po).

    Wie es aussieht, ist die Mehrheit der Russen aufrichtig davon überzeugt, dass diese Kasernenstruktur im Land noch lange Bestand haben wird. Wenigstens für die Kinder wird’s reichen.

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  • Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    In Moskau wurde in den vergangenen Jahren die ganze Stadt umgekrempelt. Neue Fußgängerpassagen entstanden, Parks wurden modernisiert, Straßen saniert. Der strahlende Glanz der Hauptstadt täuscht darüber hinweg, dass sehr viele Menschen in Russland nach wie vor in Armut leben. Seit einigen Jahren steckt das Land zudem in einer tiefen Wirtschaftskrise – mit der deutlich hervortritt, wie groß die Abhängigkeit des russischen Staatshaushalts vom Ölpreis ist und dass Wirtschaftsreformen fehlen. Die Sanktionen wirken ebenfalls auf das Land. Im Mai machte ein Video im russischen Internet die Runde, in dem sich Premier Dimitri Medwedew bei Rentnern auf der Krim ziemlich salopp rechtfertigt: „Im Moment haben wir einfach kein Geld.” In den Regionen wachsen unterdessen Sozialproteste.

    Auf slon.ru hat sich Jewgeni Karassjuk gefragt, wo der russische Präsident die Ursachen der Armut sieht. Aus Putin-Zitaten der vergangenen zehn Jahre hat er vier Thesen formuliert –  und sie kritisch hinterfragt.

    Foto © Viktor Korotajew/Kommersant
    Foto © Viktor Korotajew/Kommersant

    Im vergangenen Jahr ist laut der Statistikbehörde Rosstat die Anzahl der Armen in Russland drastisch gestiegen, auf 19,2 Millionen – das sind 3,1 Millionen mehr als im Vorjahr. 2016 verschlechterte sich die Lage weiter. In den Monaten Januar bis März galt jeder Siebente in Russland als arm (22,7 Millionen Menschen). Ein derart starker Anstieg der Armut, die von Experten der Moskauer Higher School of Economics bereits als Massenarmut bezeichnet wird, bringt die Regierung in eine verfängliche Situation: Einerseits kann sie sich nicht erlauben, die Dimension dieses Problems allzu oft und allzu offen anzusprechen, genauso wenig wie sie die wirre Suche nach Lösungen nicht zu offen zeigen sollte. Andererseits darf die Regierung darüber offensichtlich auch nicht schweigen und so tun, als wäre nichts.

    In den 17 Jahren an der Spitze des Landes hat sich Putin in der Öffentlichkeit einige zwar kurze, aber ideologisch gehaltvolle Bemerkungen zum Thema Armut erlaubt. Zusammengenommen geben sie einen guten Einblick, wie die Regierung in Russland das Problem wahrnimmt und warum die Armut wohl auch in Zukunft weiter zunehmen wird.


    These: Armut als Erzeugnis der 1990er Jahre

    Wladimir Putin: „Die Menschen tragen keine Schuld daran, dass ein Teil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt; wir haben sie über die vergangenen 15 Jahre dorthin getrieben.“ (2008)

    „Im Jahr 2000 lebten 30 Prozent der Bürger jenseits der Armutsgrenze. Jetzt sind es 11,2 Prozent.“ (2013)

    Das erste Zitat zeigt den Wunsch des Präsidenten, die Verantwortung für die Armut in der Bevölkerung auf die Politik der 1990er Jahre und deren führende Köpfe abzuwälzen, also auf die Liberalen, die unter Jelzin in der Regierung saßen. Die 15 Jahre waren hierbei nur eine ungefähre Zeitangabe. Fünf Jahre später dann wurde Putin ganz konkret: Seit dem Jahr 2000, also seit seinem Einzug in den Kreml, hat sich die Armut um zwei Drittel verringert.

    Tatsächlich war der heftige Ausschlag des Armutsniveaus im Jahr 2000 eine unmittelbare Folge der Krise von 1998, die – ohne Zutun der damaligen russischen Regierung – nur ein Glied in der Kette von Erschütterungen im Finanzwesen von Asien bis Lateinamerika war. Insgesamt war die soziale Entwicklung in den 1990er Jahren gar nicht so negativ gewesen. In der Studie Ausmaß und Profil der Armut in Russland von den 1990er Jahren bis heute1 der Higher School of Economics heißt es: Das Ausmaß der Armut habe sich von 1992 bis zum Crash im August 1998 verringert und zwar deutlich spürbar. Im Zeitraum von nur zwei Jahren (1993 und 1994) sei der Anteil der von Armut Betroffenen um ein Drittel zurückgegangen. Später dann habe er sich allerdings bei einem Wert um 22 Prozent eingependelt. Dass jeder fünfte Bewohner des Landes von Armut betroffen ist, ist natürlich eine krasse Zahl. Aber man darf nicht vergessen, dass dies die Zeit war, als sich die Sowjetbürger von gestern an eine kapitalistische Realität anpassen mussten, die nicht durch einen dreistelligen Ölpreis geschönt wurde. (Der Preis für ein Barrel Urals-Öl lag davor im Jahr 1990 bei 22,7, 1995 bei 16,6 und 2000 bei 26,6 US-Dollar [heute liegt er bei 50 US-Dollar – dek]).


    These: Armut als Paradox eines rohstoffreichen Landes

    Wladimir Putin:Russland ist ein sehr reiches Land, aber leider, und dafür schäme ich mich sehr, gibt es immer noch sehr viele Arme in der Bevölkerung. Wir werden alles dafür tun, dass  Lebensstandard und  Lebensqualität der Bürger von Jahr zu Jahr steigen. Ich gehe davon aus, dass wir diese Aufgabe nicht erst in ferner, historischer Zukunft lösen werden, sondern in den nächsten Jahrzehnten.“ (2006)

    Hier ist vor allem vom Anteil der „natürlichen Ressourcen und Bodenschätze“ an der Volkswirtschaft die Rede, der nach Auffassung des Präsidenten äußerst groß war,  ist und wohl auch bleiben wird. Die Staatseinnahmen stammten im vergangenen Jahr [2015 – dek] zu 44 Prozent aus Öl- und Gaslieferungen; das bedeutet eine kleine Einbuße gegenüber dem Spitzenwert von 51,3 Prozent im Jahr zuvor. Vor zehn Jahren, im Jahr 2006, aus dem Putins obige Überlegungen zur Armut in einem reichen Land stammen, hatten Öl und Gas knapp 47 Prozent der Haushaltseinnahmen Russlands ausgemacht. In diesen Zahlen zeigt sich ein scheinbarer Widerspruch: Rohstoffreichtum einerseits und Lebensqualität der Bevölkerung andererseits.

    Tatsächlich besteht hier überhaupt kein Widerspruch. In der Wirtschaftswissenschaft ist der Begriff Ressourcenfluch enorm verbreitet. Anhand solider Statistiken belegt etwa der US-amerikanische Politologe Michael L. Ross, Autor des Buches The Oil Curse: How Petroleum Wealth Shapes the Development of Nations, dass der Zugriff auf große Mengen fossiler Bodenschätze für ärmere Länder nur von Nachteil ist – vor allem für die breite Bevölkerung, die nur ein winziges Stück vom Kuchen abbekommt. Russland ist hierfür ein besonders unansehnliches Beispiel; erst jüngst wurde es von der Consulting-Firma Capgemini zur weltweit ungerechtesten großen Volkswirtschaft erklärt. 62 Prozent des nationalen Reichtums gehören den Dollarmillionären, weitere 26 Prozent den Dollarmilliardären. Beide Gruppen zusammen machen 0,1 Prozent der Bevölkerung des Landes aus. Die Jahre unter Putin waren durch einen gehörigen Anstieg der Kennzahlen von Einkommensunterschieden geprägt (Gini-Index und Gegenüberstellung der reichsten 10 und der ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung ).


    These: Armut durch Systemversagen bei Umverteilung zwischen den Regionen

    Wladimir Putin: „Die Lebensqualität der Menschen, die Steigerung ihrer Einkommen, die Verbesserung des sozialen Bereichs und der Infrastruktur hängen unmittelbar vom Zustand der Haushalte in den Regionen und Kommunen Russlands ab. […] Heute sind die Unterschiede der regionalen Haushaltsausstattung offensichtlich. […] Und zwar bei der Entlohnung von Arbeitskräften, bei der Finanzierung sozialer Projekte und bei Infrastrukturmaßnahmen. Wir müssen Lösungen finden, um diese Schieflagen auszubalancieren, und die Regionen in die Lage versetzen, ihr finanzielles Fundament zu festigen.“ (2016)

    In diesem aktuellen Vorschlag des Präsidenten ist nicht von der Armut der Bevölkerung an sich die Rede, sondern von den bedürftigen regionalen Haushalten. Aus der Forderung „Schieflagen auszubalancieren“, wird deutlich, welchen Ausweg Putin aus der kritischen Situation mit der Armut sieht, insbesondere in der Provinz: Die Instrumente staatlicher Subventionierung müssen umgestaltet werden, ohne das zu sprengen, was der Nobelpreisträger Paul Krugman „Kultur der Abhängigkeit“ genannt hat.

    Tatsächlich ist nicht ein mangelhaftes Umverteilungssystem Schuld an dem kümmerlichen Zustand der regionalen Haushalte, sondern die jahrelange Politik des Kreml. Bereits vor der Krise hatte das Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung prognostiziert, dass das Defizit in den  konsolidierten Regionalhaushalten von 50 Milliarden Rubel im Jahr 2012 auf 1,8 Billionen Rubel im Jahr 2018 ansteigen wird – vor allem aufgrund der Mai-Erlasse Präsident Putins. In seiner programmatischen Haushaltsbotschaft für die Jahre 2013 bis 2015 hatte der Präsident einer Erhöhung der Gehälter öffentlicher Angestellter – „die geringer sind als die in der freien Wirtschaft und bisweilen gerade einmal oberhalb des Existenzminimums liegen, was völlig unzulässig ist“ – äußerste Priorität gegeben. Der Präsident räumte dabei ein, dass die „Qualität der Arbeit im öffentlichen Sektor die Bürger nicht zufriedenstellt, obwohl Jahr für Jahr mehr Mittel in den sozialen Bereich fließen“. Wobei es parallel zu der riesigen Belastung der Haushalte zu einer ständigen Ausweitung des staatlichen Sektors kommt: 2011 betrug der Anteil der in staatlichen Einrichtungen und Firmen Beschäftigten nach Angaben der OECD rund 30,6 Prozent und stieg in der Folge weiter an.

    In der Theorie kann die finanzielle Unabhängigkeit der Regionen, von der Putin spricht, dem Problem der Armut in der jeweiligen Region die Schärfe nehmen. Und in der Praxis? Die üppigen Zuschüsse aus Moskau haben die Republik Mordwinien nicht vor der Versuchung bewahrt, noch mehr Schulden zu machen. Diese sind nach Einschätzung der Soziologin Natalja Subarewitsch auf phantastische 165 Prozent des (natürlich höchst defizitären) regionalen Haushalts angewachsen. Es ist bezeichnend, dass an der Spitze einer der ärmsten Regionen Russlands in den letzten zwanzig Jahren zwei Gouverneure standen, die sich beide an der Macht halten. Nikolaj Merkuschin, der Mordwinien seit den 1990er Jahren bis zu seiner Ernennung zum Oberhaupt der Oblast Samara regierte, wurde von Wladimir Wolkow abgelöst. „Ende letzten und Anfang dieses Jahres hatten wir wirtschaftliche Schwierigkeiten“, erstattete Wolkow dem Präsidenten [im Sommer 2015 – dek] Bericht, „doch [die] haben wir jetzt bereinigt“.


    These: Armut als Folge von Hilfe aus dem Westen

    Wladimir Putin: „[Die Länder des Westens] müssen den Entwicklungsländern helfen, und zwar nicht nur, indem sie einfach Geld geben und eine neue Armutsspirale erzeugen. Es geht darum, die Bedingungen des Welthandels zu ändern.“ (2009)

    „ … Wenn wir durch die derzeit bestehenden Regeln des Welthandels die Armut in den Entwicklungsländern ständig erneuern, dann können wir diesen Ländern ewig irgendwelche Hilfsleistungen zukommen lassen; aber das wäre, ehrlich gesagt, kein anständiges Verhalten.“ (2013)

    Die erste Äußerung machte der Präsident in Davos auf dem Höhepunkt der weltweiten Finanzkrise; sie war zum Teil ein Kommentar zu einer erneuten Sackgasse in den Verhandlungen über einen Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation (der Beitritt erfolgte erst zwei Jahre später).

    Die zweite Äußerung fiel zu einem späteren Zeitpunkt bei einem Treffen des Präsidenten mit Vertretern der Jungen Zwanzig (Y 20). Beide Zitate zeigen Putins negative Einstellung gegenüber jeder Form ausländischer Hilfe zur Lösung innerer Probleme – eine solche Hilfe wird im Kreml stringent als Angriff auf die Souveränität wahrgenommen. So ist es denn auch schon 18 Jahre her, dass Russland seinen letzten Kredit vom IWF erhalten hat. Das Land hat vor langem und vorzeitig seine Schulden beim Pariser Klub beglichen. Die fast nur symbolische Unterstützung, die Russland von der Weltbank erhält – vor allem für Förderprojekte zur Erteilung von Mikrokrediten – kann hier vernachlässigt werden.

    Putins Ansichten zur fehlenden Effektivität der IWF- und Weltbank-Hilfen sowie von anderen internationalen Institutionen für Entwicklungsländer sind nicht unbegründet. Der ehemalige Weltbank-Experte William Easterly zeigt in seinem berühmten Buch The Elusive Quest for Growth den verheerenden Einfluss ausländischer Kredite: Durch sie wird bei den entsprechenden Regierungen der Anreiz vermindert, gesellschaftliche Reformen voranzutreiben. Den Argumenten Easterlys, die durch persönliche Erfahrungsberichte und langjährige Statistiken gestützt werden, ist nur schwer zu widersprechen.

    Dass die Aufrufe Putins zu Korrekturen beim Welthandel kaum ernstzunehmen sind, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Bis 2020 wird der Anteil Russlands an der Weltwirtschaft – so die Schätzung des ehemaligen Finanzministers Alexej Kudrin – auf ein Rekordtief von 2,6 Prozent absinken, und auch Kirill Termassow, der im Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung für die Prognosen verantwortlich zeichnet, hat kürzlich eine zielstrebige Entwicklung in dieser Richtung bestätigt. Die „neue Spirale der Armut“, die Putin mit Blick auf die Länder der Dritten Welt verurteilte, hat nun Russland voll erwischt – und das ganz ohne fremde Hilfe.


    1.Ovčarova, L. N./Birjukova, S. S./Popova, D. O./Vardanjan, E. G. (2014): Uroven‘ i profil‘ bednosti v Rossii: ot 1990ch godow do našich dnej

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