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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Delo Seti – Protokolle von Willkür- und Folterjustiz

    Delo Seti – Protokolle von Willkür- und Folterjustiz

    Sie hätten „geplant, Terrorakte zu planen“ – so lautete die Anklage der russischen Staatsanwaltschaft gegen sieben jungen Männer im sogenannten Fall Set (dt. Netzwerk). Am 10. Februar wurden sie in der Stadt Pensa, 550 Kilometer südöstlich von Moskau, schuldig gesprochen. Die Richter folgten mit den sechs- bis 18-jährigen Haftstrafen in vollem Umfang der Forderung der Staatsanwaltschaft. Set gehört nun neben IS und Taliban zu den in Russland „verbotenen terroristischen Organisationen“. Dabei ist nicht mal klar, ob es diese Vereinigung wirklich gab, ob sich die einzelnen Verurteilten überhaupt untereinander kannten.

    Die meisten der Verurteilten haben keinen Hehl aus ihren linken und antifaschistischen Überzeugungen gemacht, außerdem spielten sie gerne Airsoft, ein Geländespiel mit Softairwaffen. Viele Menschenrechtler in Russland bringen die Strafen allerdings nicht damit zusammen, sondern halten sie schlicht für drakonische Abschreckungsmaßnahmen: Die Verhaftungen seien willkürlich, der Fall selbst konstruiert, um die Menschen im Land einzuschüchtern, so der Tenor. 

    In der Tat ist die Beweislage dünn – es gibt auch keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Verurteilten einen terroristischen Anschlag während der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 „geplant [haben] zu planen“. Bei Hausdurchsuchungen wurden Waffen gefunden – doch konnte deren Herkunft nicht nachvollzogen werden. Demgegenüber gibt es aber Hinweise, dass sie den Männern untergeschoben wurden.

    Zahlreiche Hinweise gibt es auch darauf, dass die 23- bis 31-jährigen Männer ihre „Geständnisse“ unter Folter abgelegt haben. Die Menschenrechtsorganisation Memorial etwa, listet die Verurteilten als „politische Gefangene“, deren Aussagen unter Folter erzwungen wurden. Massive Verletzungen sind zwar genauso dokumentiert wie die Aussagen der Angeklagten, sie wurden bei dem Prozess aber nicht als Beweise der Verteidigung zugelassen. Diese Aussageprotokolle finden sich nun allerdings auf Meduza – zur Verfügung gestellt von Mediazona-Journalist Jegor Skoworoda. Drei davon hat dekoder übersetzt.

    Die sieben jungen Männer im sogenannten Delo Seti wurden zu bis zu 18 Jahren Strafkolonie verurteilt. / Foto © 7×7

    Dimitri Ptschelinzew – verurteilt zu 18 Jahren Strafkolonie unter verschärften Haftbedingungen

    „Einer von ihnen trug weiße medizinische Gummihandschuhe. Er nahm eine Dynamomaschine und stellte sie auf den Tisch, kratzte zwei Kabel mit einem Cuttermesser, forderte mich auf, den großen Zeh auszustrecken. Der zweite tastete am Hals meinen Puls, das machte er die ganze Zeit immer wieder, er kontrollierte meinen Zustand. Er wunderte sich, dass ich so einen ruhigen Puls hatte und nicht aufgeregt war – das kam daher, dass ich anfangs nicht wusste, was geschah.

    Dann begann der mit den Handschuhen die Kurbel der Dynamomaschine zu drehen. Der Strom drang bis zu den Knien, meine Wadenmuskeln krampften zusammen, Lähmungsschmerz packte mich, ich schrie los, schlug mit Rücken und Kopf gegen die Wand. All das dauerte ungefähr zehn Sekunden, doch während der Folter erschien es mir wie eine Ewigkeit […] Sie wiederholten hartnäckig: ‚Du bist der Anführer.‘ Damit sie mit der Folter aufhören, antwortete ich: ‚Ja, ich bin der Anführer.‘ ‚Ihr hattet vor, Terroranschläge zu verüben.‘ ‚Ja, wir hatten vor, Terroranschläge zu verüben.‘”

    Diesen Bericht über seine ersten Tage nach der Inhaftierung – die Beschuldigten waren ihren Worten zufolge noch in Untersuchungshaft von FSB-Mitarbeitern gefoltert worden – übergab Dimitri Ptschelinzew seinem Anwalt Anfang Februar 2018, ein halbes Jahr nach seiner Festnahme. Schon am 14. Februar 2018 zog er seine Aussage zurück – wie sich später herausstellte, aufgrund neuerlicher Folter. Ptschelinzew erinnert sich:

    „Sie zogen mir meine Socken aus, Hose und Unterhose wurden mir bis zu den Knien runtergezogen. Sie stülpten mir etwas eng Anliegendes über den Kopf, so etwas wie eine Sturmhaube, und befestigten sie unter meinem Kinn. Ein Begleitmann wickelte mir Drähte um die großen Zehen. Sie versuchten, mir einen Knebel in den Mund zu stecken, aber ich hielt ihn geschlossen, also haben sie den Knebel mit Klebeband befestigt. Beim vorigen Mal waren mir durch den Knebel eine Menge Zähne abgebrochen. Während sie auf mich eindroschen haben wir kaum gesprochen. Als sie aufhörten, mir ins Gesicht und in den Magen zu schlagen, bekam ich Stromschläge. […]

    Nach ein paar weiteren Elektroschocks sagten sie mir: ‚Zieh die Aussage zurück: Sag, dass das mit der Folter gelogen war. Künftig wirst du das tun, was der Ermittler sagt. Wenn sie dir weiß zeigen und dir sagen, dass es schwarz ist – dann sagst du schwarz. Hacken sie dir den Finger ab und sagen, du sollst ihn essen – dann isst du ihn.‘ Dann haben sie mir noch ein paar  Stromschläge verpasst, damit ich’s mir merke.“

    Vor Gericht hat Dimitri Ptschelinzew ausführlicher über die Folter gesprochen und wie er danach mit den FSB-Mitarbeitern sein Geständnis verfasste.

    Andrej Tschernow – verurteilt zu 14 Jahren Strafkolonie unter verschärften Haftbedingungen

    Laut seinen eigenen Worten wurde Tschernow nicht mit Strom gefoltert, allerdings wurde er auch geschlagen und eingeschüchtert. Vor Gericht sagte er:

    „Die FSB-Mitarbeiter haben mich aus der Werkhalle geführt und ins Auto gesetzt. Der Fahnder Schepeljow und zwei Mitglieder der Spezialeinheit haben mich verhaftet. Schepeljow hat sich auf den Beifahrersitz gesetzt, die Spezialkräfte links und rechts neben mich. Noch bevor wir das Fabrikgelände verließen, gleich nachdem die Autotüren zugefallen waren, haben sie angefangen, mich zu schlagen. Ein paar Mal ins Gesicht. Ohne Umschweife schlugen sie mir dann in den Bauch, mit den Ellbogen auf den Rücken und auf den Kopf. Den ganzen Weg ging das so. […]

    Ich habe nicht verstanden, was los ist, und habe gesagt, dass ich einen Anwalt brauche. Schepeljow hat mir auf der ganzen Fahrt gedroht, dass man meinen ‚Bruder einbuchten, allen Verwandten kündigen und die Finger abhacken wird.‘ Er hat gesagt: ‚Dein Leben ist vorbei, du wirst sterben.‘ […] 

    Anfangs wusste ich nicht, wo sie mich hinbrachten. Erst später, als ich zur ersten Vernehmung gefahren wurde, war mir klar, dass es das FSB-Gebäude ist. Ich wurde reingeführt, immer wieder wurde ich von den Spezialkräften getreten. Dann kam ich in den Raum, wo die  Zellen waren, da war auch schon Ptschelinzew. In einer solchen Verfassung hatte ich ihn noch nie gesehen, er war völlig verschreckt, auf der linken Gesichtshälfte hatte er eine Schürfwunde oder eine Prellung. Wir durften nicht miteinander reden. Das einzige, was Ptschelinzew mir sagen konnte, war: ‚Brauchst nicht mal versuchen, es auszuhalten – du wirst es nicht schaffen.‘“ 

    Wassili Kuksow – verurteilt zu neun Jahren Strafkolonie unter allgemeinen Haftbedingungen

    Während der Urteilsverkündung trug Kuksow einen Mundschutz – in Untersuchungshaft hatte man bei ihm eine offene Tuberkulose diagnostiziert, ihn aber trotzdem im selben Gefängniswagen wie die übrigen Beschuldigten transportiert und ihn im Gerichtssaal in dasselbe Aquarium gesetzt [ein Glaskasten, in dem die Angeklagten während des Prozesses sitzen – dek]. Im Laufe des Prozesses erinnerte er sich an seine Verhaftung: 

    „Es war ein Wochentag. Ich kam nach der Arbeit mit einer Marschrutka nach Hause. Ging in den Laden und kaufte Milch und Brötchen. An meinem Hauseingang stand ein Mann in Zivil. Er hatte ein Telefon in der Hand oder ein Foto und verglich mich mit dem Bild. Dann sah ich drei Männer auf mich zurennen, mit Tarnuniformen, Masken und Maschinengewehren. Sie schlugen mich nieder, schlugen mir in den Magen und auf die Nase. Sofort strömte Blut. Sie zogen mir die Kapuze über den Kopf und schleppten mich zum UAZ Patriot. Ich weiß noch, dass ich schrie: ‚Leute, helft mir!‘ Ich dachte, es sei ein Traum oder eine Verarschung.

    Auf dem Weg schlugen sie mir auf die Wirbelsäule und sagten: ‚Jetzt bist du dran, dein Leben ist vorbei‘. […] Sie brachten mich in ein Gebäude, führten mich nach oben. Ich machte einen Schritt ins Büro und bekam sofort einen Schlag auf den Solarplexus. Ich höre jemanden sagen: ‚Sachte, sachte, das ist übertrieben.‘ Dann legten sie mich mit dem Gesicht auf den Boden und schlugen mit einem Metallgegenstand hart neben mein Ohr. Sie sagten: ‚Du hast sowieso nur noch eine halbe Stunde zu leben. Wenn du die Fragen beantwortest, dann anderthalb Stunden.‘ 

    Sie sagten irgendwelche Namen, ich kannte nur Sorin und Schakurski. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits eine Blutlache gebildet. Sie wollten mir den Finger abhacken, hatten meine Hand schon hingelegt, haben ihn dann aber doch nicht abgehackt. Und erst dann sagten sie mir: ‚Du bist beim FSB, Wassili. Beschuldigt wegen Terrorismus.‘“

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  • „In jenem Jahr kündeten die Ikonen von Unglück“

    „In jenem Jahr kündeten die Ikonen von Unglück“

    Jegor Skoworoda nimmt den Leser mit tief ins sibirische Nirgendwo, wo der Wald „ganz dicht“ ist, „überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken“. Er stellt unterschiedliche Gruppierungen von Altgläubigen vor und die abgelegenen Klöster, sogenannte Skiten, der Tschassowennyje. Zu ihnen führen keine Wege, „man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet“. 

    Skoworoda protokolliert außerdem die Geschichte von Jelisaweta, einer jungen Amerikanerin russischer Abstammung. Sie floh aus einem Kloster am Dubtsches, 40 Kilometer zu Fuß, weiter mit dem Boot – aber erst 15 Jahre nachdem ihre Verwandten sie zu einem „Besuch“ ins Kloster gebracht hatten. 

    Skoworodas Bericht über Jelisawetas Schicksal erfuhr einige Aufmerksamkeit, er ist einer der mit Abstand meistgelesenen Beiträge auf dem unabhängigen Portal Mediazona. Dort sind auch die O-Töne Jelisawetas zu hören. dekoder hat ihre Geschichte nun ins Deutsche übersetzt.

    Illustrationen © Anja Leonowa/Mediazona
    Illustrationen © Anja Leonowa/Mediazona

    Die Skiten am Dubtsches bilden das geistige Zentrum der Tschassowennyje, einer Strömung innerhalb der priesterlosen Altgläubigen. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten flohen viele Tschassowennyje zunächst nach China und zogen später nach Süd- oder Nordamerika weiter. Diejenigen, die das Land nicht verlassen hatten, wichen immer weiter in die Peripherie zurück, um der Verfolgung und Kollektivierung zu entgehen.

    So fanden sie sich Ende der 1930er Jahre in der tiefsten Taiga im Turuchanski Krai wieder – mitten in der rauen, sumpfigen Wildnis. Von dort, wo der Dubtsches in den Jenissei mündet, sind es noch 500 Kilometer bis nach Krasnojarsk. Stromaufwärts einsam am Dubtsches liegen die kleinen Skiten, Klöster und Höfe der Tschassowennyje. Dorthin gelangt man nur auf dem Wasserweg und nur bei hohem Wasserstand.

    In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück

    1951 wurden die Skiten von der Sowjetmacht entdeckt und zerschlagen. Die Häuser wurden in Brand gesteckt und ihre Bewohner gewaltsam deportiert.

    „In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück. Sie knarzten und knackten. Die Starzen verspürten Unruhe in ihren Herzen. Die Ikonen würden von etwas künden, sagten sie …“, so schildert Afanassi Gerassimow die letzten Tage vor dem Einfall der Strafexpedition.

    Auch er wurde festgenommen, konnte jedoch fliehen. Die Gefangenen wurden auf einem Floß transportiert. Als die Aufseher eingeschlafen waren, sprang Afanassi ins Wasser. Heute weiß man, dass außer ihm noch ein paar anderen Altgläubigen die Flucht gelungen ist.

    Viktor Makarow, einer der Soldaten von damals, erinnert sich ebenfalls an den Gefangenentransport:

    „Die Männer aus der Taiga haben mit unserer Hilfe Flöße gebaut, und als der Dubtsches über die Ufer trat, machten wir uns zur Abfahrt bereit. Man hatte Fladenbrot gebacken und irgendwelche anderen Speisen als Proviant vorbereitet, alles ohne Salz. Kurz vor der Abfahrt setzte noch ein Mitarbeiter der Staatssicherheit das Kloster in Brand. […] Der Wasserpegel war hoch. Auf den Flößen befanden sich etwa 130 Personen, wir trieben Tag und Nacht mit dem Strom, wie Eisschollen. Das Wetter war kalt und regnerisch. Es donnerte und blitzte unaufhörlich. Durchnässt bis auf die Knochen trieben wir mehrere Tage so dahin. Als wäre das nicht genug, lief unser Floß auch noch auf eine Wurzel auf und zerschellte. Plötzlich waren die Menschen im Fluss, und wir mussten einen nach dem anderem aus dem eiskalten Wasser ziehen. Unter großer Anstrengung gelang es uns, anzulegen, wir machten Feuer und wärmten uns ein wenig auf. Während dieser Rast baten zwei oder drei Leute, austreten zu dürfen und kamen nicht wieder. Sie liefen zurück in die Taiga.“

    Von denen, die bis Krasnojarsk gebracht wurden, wurden 33 wegen „geheimen antisowjetischen Zusammenschlusses von altgläubigen Sektierern“ zu zehn bis 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Vater Simeon, der Gründer der Klöster am Dubtsches starb im Lager. 
    Ziemlich bald nach Stalins Tod, im Jahr 1954, wurden alle verurteilten Tschassowennyje amnestiert und kehrten allmählich an den Dubtsches zurück, wo sie ihre Höfe und Klöster wieder aufbauten.

    Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten

    „Auch der unter den Altgläubigen hochgeschätzte Vater Antoni kehrte in die Taiga am Dubtsches zurück. Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten, er unterlag strengster Geheimhaltung. Um sich keiner Gefahr auszusetzen, pflegte Vater Antoni sehr einseitigen Kontakt mit den Weltlichen und seinen geistlichen Zöglingen und suchte sie für seelenrettende Gespräche und Abnahme der Beichte in den Ortschaften auf. Begleitet von Jungmönchen nahm er stets einen anderen Weg, um zu vermeiden, dass sich Pfade herausbilden“, schrieb der Diakon Alexander Kolnogorow nach seinem Besuch bei den Skiten Anfang der 2000er.

    Anfang der 1970er verstarb Vater Antoni, und Vater Michail nahm seinen Platz ein. Er war es auch, der den Skiten bis vor kurzem vorstand. Nach dem Zerfall der Sowjetunion lebte die Beziehung zwischen den Tschassowennyje aus der Taiga und ihren Glaubensbrüdern im Ausland wieder auf. Seitdem besuchen Nachfahren der Emigranten regelmäßig die Skiten oder schließen sich sogar der Klostergemeinschaft an.

    „Die Zahl der Klosterbrüder wächst beständig, und die Zahl der Schwestern hat sich sogar verdreifacht“, berichtet Kolnogorow. „Derzeit wird die gesamte Klosteranlage erneuert. Eine Kapelle wird errichtet, ein Refektorium und neue Klosterzellen entstehen. Vor allem aber werden die leicht abgelegen vier Frauenklöster ausgebaut.“

    Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören

    Laut Kolnogorow stammen die meisten Mitglieder der heutigen Klostergemeinschaft aus anderen altgläubigen Ortschaften. Als der Diakon Mitte der 2000er Jahre über die Skiten schrieb, lebten „in den Männer- und Frauenklöstern insgesamt über 3000 Personen“. Dabei seien es in den 1990ern gerade mal „60 bis 70 Personen im Männerkloster und circa 300 Personen in den vier Frauenklöstern“ gewesen.

    Vor allem seit ein Teenager aus den USA in das Kloster gezogen ist, weil er so beeindruckt von der Strenge der Skiten-Ordnung war, festige sich der Kontakt der Tschassowennyje mit den US-amerikanischen Altgläubigen. „Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören, auch wenn ihnen das Beten auf Englisch bisher verboten ist“, heißt es in Kolnogorows Aufzeichnungen.

    Aber nicht alle entscheiden sich freiwillig für ein Leben in den sibirischen Klöstern. Gut möglich, dass der Diakon Kolnogorow bei seinem Besuch Anfang der 2000er Jahre auch auf Jelisaweta traf (ihr Nachname bleibt auf ihren Wunsch hin ungenannt – Mediazona) – eine US-Amerikanerin, die von ihren altgläubigen Verwandten noch als Teenagerin unter falschem Vorwand in die Skiten am Dubtsches gebracht wurde. Erst nach 15 Jahren gelang der jungen Frau die Flucht.

    Jegor Skoworoda hat ihre Geschichte aufgeschrieben:


    Ich heiße Jelisaweta. Eigentlich bin ich aus Oregon in den USA. Meine Großeltern waren richtige Russen, sie haben noch da gelebt. In der Stalinzeit mussten sie nach China fliehen und versteckten sich dort in den Bergen, meine älteren Onkel kamen in China zur Welt. Irgendwann haben sie gehört, dass es in Südamerika besser sein soll, weil man da wegen der Religion nicht verfolgt wird. Also gingen sie nach Südamerika, dort wurde meine Tante geboren. Und dann haben sie gehört, dass es in den USA noch besser sein soll und sind dahin weitergezogen. Dort kamen dann meine Mutter und ihre zwei Brüder zur Welt. Sie alle waren Altgläubige.

    Mit 16 ist meine Mutter von zu Hause abgehauen und mit einem Amerikaner zusammengezogen. Das war mein Vater. Mamas Brüder und Schwestern sind alles Altgläubige, aber sie wollte weg von der Religion. Unser Vater hat uns verlassen, als ich fünf war. Sie waren beide Alkoholiker, haben Drogen genommen.

    Mama wollte weg von der Religion, zwischendurch war sie im Knast

    Eine Weile wohnte ich bei einer Tante, später bei einem Onkel, noch später beim Großvater. Zwischendurch war Mama im Knast. Ich hatte immer mehr mit meiner Tante zu tun, und mit ihren Kindern. Sie hatte elf. Wir standen uns sehr nahe. Im Sommer war ich oft bei ihnen zu Besuch. Meine beste Freundin war auch eine Altgläubige.

    Mir wollten sie das Altorthodoxe auch nahebringen und haben mir gezeigt, wie man betet. Als ich 13 war, haben sie ihre Kinder in die Klöster nach Sibirien geschickt. Zu mir sagten sie, ich könne sie dort besuchen. Ich hab damals nicht weiter drüber nachgedacht, weil ich gar nicht vorhatte, dahin zu fahren. Ich ließ mich taufen, aber nur, weil ich später mal einen Christen heiraten wollte. Die Taufe hatte noch gar nicht stattgefunden, da hat meine Tante einen Reisepass für mich machen lassen, heimlich, ohne mir ein Wort zu sagen. Sie hatte  schon alles geplant – wie sie mich nach Russland schickt, in die Klöster. Nur ich wusste davon nichts.

    Meine Tante hatte heimlich einen Reisepass für mich machen lassen

    Ich wurde also getauft, und kurz nach der Taufe … es waren grad mal zwei Wochen vergangen, am 10. Mai 2000, da sagt die Tante zu mir: „Du fährst morgen ins Kloster.“ Ich reiß die Augen auf: „Wie bitte?! Ich kann nicht mal Russisch und du willst mich dahin schicken?!“ Die Koffer waren längst gepackt, die Tickets gekauft, also überredeten sie mich, wenigstens für zwei Wochen auf Besuch dahin zu fahren, einfach nur, um mir Russland anzusehen. Keiner hat mir gesagt, dass es keine Rückfahrtickets sind. Die haben mich angelogen und dahin geschickt. Wir kamen zum Kloster, und da blieb ich dann die nächsten 15 Jahre.

    Jetzt bleibst du für immer hier

    Im Turuchanski Krai mündet ein kleiner Fluss in den Jenissei – der Dubtsches. Den genauen Ort, wo wir gewohnt haben, findet man auf keiner Karte. Aber den Jenissei kennt jeder. Wo wir gewohnt haben, fließen auch noch der Tyna und der Tugultsches. Wenn man etwa 48 Stunden auf dem Dubtsches mit dem Boot fährt, kommt man in das Dorf Sandaktsches. Von Sandaktsches sind es dann noch circa 300 Kilometer bis zu uns. Dahin führen keine Straßen mehr, dahin kommt man nur noch zu Fuß.

    Entlang des Dubtsches erstrecken sich immer wieder kleine Höfe, hier ein paar Hütten, da drei oder vier, dort vielleicht zehn. Aber das größte Dorf ist Sandaktsches. Dort gibt es sicher um die 200 Familien und genauso viele Häuser. Alles Altgläubige, wirklich alle. 

    Am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß

    Wir hatten einen Flug bis Moskau. Da war ein junger Russe, Andrej Muratschew. Er war für ein halbes Jahr bei Mamas Stiefschwester (in den USA – Mediazona) zu Besuch gewesen, und als er wieder zurückflog, musste ich mit. Er konnte kein Englisch und ich kein Russisch. Es war sehr hart. Fünf Tage war ich bei seiner Familie in Tscheremschanka, dann ging es weiter nach Krasnojarsk. Erst da traf ich auf andere Amerikaner. Ich wusste gar nicht, dass wir jemanden treffen sollten. Aber es war schon alles ausgemacht. Wir flogen mit einem Hubschrauber nach Sandaktsches, fuhren dann zwei Tage mit einem Motorboot, und am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß.

    Der Wald ist da ganz dicht, überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken. Kiefern gibt’s auch, aber nicht so viele. Man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet.

    Dort gibt’s sieben Klöster, jedes Kloster hat seine eigene Kirche. Männer und Frauen leben getrennt, nicht in Familien. Da, wo ich gewohnt habe, waren wir 150 Frauen. Es gab noch drei andere Frauenklöster, in allen zusammen waren wir um die 700 bis 800. Manche Klöster liegen drei Kilometer auseinander, andere 15, wieder andere 30. Das weiteste Kloster war rund 60 Kilometer entfernt, würde ich sagen.

    Je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt

    Man hat uns nett empfangen, die sind dort … es sind gute Menschen, sie haben nur ganz andere Vorstellungen, ganz anders als der Rest der Welt. Sie meinen zum Beispiel, dass wir der Welt entgegengesetzt leben müssten. Damit wir nicht zugrunde gehen. Sie haben so einen ganz strengen Glauben. Sie denken, je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt. Sie denken, wenn du hinausgehst in die Welt, wirst du zugrunde gehen. Du musst dort leben und dort sterben.

    Ich war 15 als wir dort ankamen. Wir blieben alle, es war noch ein anderes Mädchen dabei. Die Amerikaner sagten mir, sie würden in zwei Wochen fahren. Aber sie sind eher gefahren und haben uns nichts gesagt, sind einfach weggefahren. Wie sollte ich da wegkommen? Ich war ja grad mal 15.

    Wenn du da weg willst … 40 Kilometer musst du laufen, dann fährst du mit dem Boot – und wie sollte ich allein Boot fahren? Ich brauchte ja jemanden, der mich fährt. Später, als ich schon eine Weile da gelebt habe … ich war schon vier Monate da – kamen die Amerikaner nochmal zu Besuch. Es waren sogar Verwandte von mir dabei. Aber die wollten mich auf keinen Fall wieder mitnehmen, da war nichts zu machen. Ich habe geweint, gebettelt, sie angefleht. Ich hatte ja kein Geld und gar nichts, aber sie wollten nicht für mich zahlen.

    Ich saß dort fest. Vier Jahre später haben sie dann meinen Pass verbrannt. Jetzt bleibst du für immer hier, haben sie gesagt.

    Einen Pflug hatten wir, aber ziehen mussten wir ihn selbst

    Ich wurde nicht geschlagen. Sie haben mich einfach nur dazu gezwungen, genauso ein strenges Leben zu führen wie sie. Wir haben ständig gefastet – jeden Montag, Mittwoch und Freitag. Und dann noch vor Weihnachten und Ostern. Fleisch aßen wir überhaupt nicht. Zu essen gab es nur zweimal am Tag – mittags und abends, alles andere war verboten. Gekocht wurde in der Küche, da kam man hin und musste essen, was da war. Alle aus einer Schüssel. Zur Großen Fastenzeit war es noch strenger: Die erste Woche durfte man nichts Gekochtes essen – nur ein klein bisschen Möhren und Rote Bete und das auch nur einmal am Tag.

    Für mich war es besonders schwer, weil ich ja kein Russisch konnte, und mit Englisch kommt man da nicht weit. Ich glaube, ungefähr nach einem Jahr konnte ich es so einigermaßen. Lernte langsam lesen und schreiben. Die ganzen Jahre habe ich weitergelernt.

    Alles dort war selbstgemacht. Wir hatten noch nicht mal Vieh. So weit draußen wie wir lebten, gab es auch keine Geschäfte, alles musste selbst angebaut werden. Es war richtig harte Arbeit – kochen, sägen, Holz hacken und schleppen. Wir haben alles auf Schlitten geladen und sie selbst gezogen. Die ersten Jahre hatten wir keine Pferde, wir haben alle Felder von Hand umgegraben. Dann bekamen wir einen Pflug, aber den mussten wir auch selbst ziehen. Erst in den letzten Jahren, als wir schon ein Pferd hatten, hat dann das Pferd die Felder umgepflügt. Die Schlitten mussten wir selbst ziehen, wir mussten Brennholz heranschaffen. Und unser Boden da war sehr schlecht, wie Lehm. Deshalb haben wir am Fluss weiche Erde gesucht, sie in große Säcke geschaufelt und heimgeschleppt. Dann wurde noch Erde verbrannt und alles miteinander vermischt. Wir lebten in Blockhütten, die Kerben schlugen wir mit der Axt in die Baumstämme. In einem Haus wohnten zwischen vier und zehn Personen.

    Und die Mücken! Furchtbar, wie viele es waren! Einfach nicht auszuhalten. Wir liefen den ganzen Sommer in Netzen herum, ohne konntest du gar nicht vor die Tür. Und dann auch noch diese kleinen Stechfliegen! Immer musste man langärmlige Sachen tragen, Hosen, zwei Paar Socken – alles aus ganz festem Stoff. Die kommen nämlich durch alles durch. Deswegen liefen wir immer in Netzen rum, wirklich immer.

    Altgläubige kamen von überall her und zahlten, damit man für sie betete

    Ich war so ein Leben nicht gewohnt. Im ersten Sommer war es sehr heiß, aber nachts gab es Minusgrade. Die Kartoffeln durften keinen Frost abkriegen, deswegen machten wir Lagerfeuer rund ums Feld, deckten alles mit Stoff ab, deckten den Kohl zu. Geschlafen haben wir kaum. Dort liegt nur drei Monate im Jahr kein Schnee, in denen muss man alles schaffen. Morgens musste man gleich weiterarbeiten. Und nachts wieder alles abdecken. In diesem Winter hatten wir fast keine Kartoffeln.

    Die Leute dort [im Kloster – dek] haben viel gebetet, deswegen kamen Altgläubige von überall her und wollten, dass man für sie betet, sie zahlten dafür, brachten einfach Spenden. Man kommt aber nur rein, wenn man getauft ist. Also kommen Verwandte, die selbst Altgläubige sind, zu Besuch und bringen Geld oder Milch mit.

    Im Frühling fuhren wir mit dem Boot in die Stadt, holten Mehl, Zucker, Getreide. Ich meine natürlich, nicht wir, sondern die Männer fuhren ins Dorf. Sie fuhren mit dem Boot nach Krasnojarsk. Sie blieben lange fort, mehrere Monate.

    Ich war in den 15 Jahren kein einziges Mal woanders, ich durfte nicht. Und dann bin ich weggelaufen.

    Bald wirst du sterben und dann kommst du in den Himmel

    Nach vier Jahren hatte ich mich etwas eingelebt, mich an das alles ein bisschen gewöhnt. Sie sagten mir noch, dass … dass ich ein gutes Leben haben werde. Sie haben das jeden Tag wiederholt und geredet und geredet, man darf dies nicht, das ist nicht gut, und jenes führt ins Verderben. Mach es so, dann kommst du in den Himmel. Das haben sie mir immer und immer wieder gesagt. Irgendwie glaube ich immer noch an Gott, aber so wie sie leben, das ist grausam.

    Ich war sehr traurig, niedergeschlagen, dass sie meinen Pass verbrannt hatten, aber … in dieser Zeit habe ich auch noch Asthma bekommen, und sie sagten mir die ganze Zeit, dass ich bald sterben und in den Himmel kommen würde. All diese Jahre, elf Jahre war ich krank, konnte ich nicht sterben.

    Mir ging es damals immer schlechter, die letzten zwei Jahre war ich dann sehr krank. Im Frühling 2015 konnte ich mir nicht mal mehr selbst die Haare kämmen, hatte nicht genug Kraft. Ich war verzweifelt, wusste einfach nicht weiter …
    Sie ließen mich keine Medizin nehmen. Erst durfte ich ein bisschen, aber dann sagten sie, es wäre Gottes Wille, mein Kreuz. Du musst das ertragen.

    Und dann wurde ich einfach wütend

    Und dann, weißt du, dann wurde ich einfach wütend. Ich kann nicht leben, kann nicht gesund werden, und sterben kann ich auch nicht. Ich wurde wütend, überlegte, wie ich von da wegkomme. Ich fing an, heimlich was gegen das Asthma zu tun, ging nachts mit einem anderen Mädchen zum Fluss, wir bauten uns Holzwannen, dann machten wir in einem Bottich Wasser warm und legten da Fichtenzweige rein. Ich hatte gelesen, dass das gegen Asthma hilft.

    Dann fing ich an zu essen, weil … also, wir hatten dort keine Kühe, keine Milch. Sechs Jahre lang hab ich nichts mit Milch gegessen, nur Brei und eingekochte Beeren. Kein Brot, kein Gebäck, nichts. Ich habe sehr abgenommen. Sie haben mich ständig ermahnt, ständig kontrolliert. Dann fing ich an, mir einfach was aus der Küche zu holen, aus dem Keller, und nahm es mit in meine Hütte. Im Sommer sammelte ich Beeren und sowas. Mit dem Essen und den Kuren ging es mir langsam besser.

    Wir kommen vom Kloster, Geld haben wir nicht

    Sie sagten mir, es gäbe keine Hoffnung, ich müsse sterben und Punkt. Aber als es mir etwas besser ging, fing ich an zu überlegen, wie ich von da wegkomme. Ich wollte nur ins Krankenhaus fahren, wissen, was mit mir los ist.

    Wir hatten dort Klöster für Frauen und für Männer. Als alle schliefen, bin ich weggerannt, zu Fuß – da ist so ein Kloster am Dubtsches, das war näher an der Stadt. Da habe ich mich mit einer verabredet, und eine andere wollte uns ins nächste Dorf bringen.

    In dem Kloster blieb ich vielleicht zwei Wochen, dann hörten wir, dass in dem Dorf, es lag 15 Kilometer entfernt, eine Frau schwer krank war und in die Stadt ins Krankenhaus wollte. Also sind wir dorthin und haben sie gebeten, uns mitzunehmen. Das sind Altgläubige, sie wussten, dass wir aus dem Kloster sind und kein Geld haben. Wir haben nichts bezahlt, und sie wollten auch nichts haben. Wir sind bis nach Sandaktsches gefahren, und von da aus mit anderen Leuten bis Jenisseisk.

    In Jenisseisk haben die Amerikaner, die wir unterwegs aufgegabelt hatten, ein Taxi genommen, und wir sind einfach mitgefahren.

    Sie sagten mir, ich sei allergisch gegen Kälte

    Das war im August 2015. Ich hatte zwei Telefonnummern, rief von Krasnojarsk aus in Amerika an, bei meinen Verwandten, und sie schickten mir Geld. Die Tante, die mich hergeschickt hatte, war schon tot, seit fünf Jahren. Ich habe meinen leiblichen Bruder angerufen, meinen Onkel, Mamas leibliche Schwester, meine leibliche Tante, und alle schickten ein bisschen Geld. Dann bin ich zu verschiedenen Ärzten, ließ mich untersuchen.

    Die Ärzte bezahlte ich sofort, alles funktionierte (ohne Pass und Papiere – Mediazona). Das ist das Gute an Russland, da ist das alles viel einfacher, hier in Amerika ist es schwieriger. Ich lag dann sogar im Krankenhaus, ohne Papiere. Sogar Inhalatoren gaben sie mir, ich habe nie groß etwas dafür bezahlt.

    Ich hatte Freunde in Krasnojarsk, die haben auf ihren Namen eine Wohnung gemietet, die habe ich bezahlt. Ohne Pass konnte ich nichts mieten.

    Der Fluss war schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr

    Im Oktober dann … ich wollte ja eigentlich zurück ins Kloster, da man mir gesagt hatte, wenn du irgendwohin fährst, wirst du kein Glück haben, du wirst sterben. Das war alles in meinem Kopf. Außerdem hatte ich keinen Pass. Keinen Pass, kein Visum. Ich bin ja mit 15 weg, ich wusste nichts.

    Ich dachte, einfach wegfahren ist unmöglich. Am wichtigsten war für mich, dass die Krankheit ein bisschen besser wird. Im Oktober habe ich dann ein Ticket gekauft für das letzte Schiff von Jenisseisk nach Worogowo, glaube ich, in irgendein Dorf da oben. In diesem Dorf gab es Altgläubige, die sollten mich bis Sandaktsches bringen, und wieder andere Altgläubige von Sandaktsches aus weiter.

    Aber am 6. Oktober bin ich zum Arzt. Es hatte sich rausgestellt, dass ich allergisches Asthma habe, und ich brauchte den passenden Inhalator. Naja, später haben sie mir dann gesagt, dass ich Asthma und eine Kälteallergie habe. Ich würde Kälte nicht vertragen.

    Ich saß da bei diesen Ärzten, und plötzlich bekam ich keine Luft mehr, bekam einen Anfall. Sie riefen den Notarzt, und ich kam sofort ins Krankenhaus und blieb dort eine Woche. Da war der Fluss schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr. Ich saß fest, bis der Schnee kam.

    Ich kaufte mir das billigste Smartphone und meldete mich bei facebook an

    Im Kloster habe ich ohne Strom gelebt, ohne Technik, ohne Telefon. Als ich 2000 weg bin, gab es noch keine Smartphones. Aber als ich in Krasnojarsk war, habe ich für 2000 Rubel [knapp 30 Euro – dek] das billigste Smartphone gekauft. Ich wusste nicht genau, wie es funktioniert, aber im Krankenhaus hatte ich nichts zu tun und brachte es mir bei und meldete mich bei facebook an. Da haben mich dann meine leiblichen Brüder gefunden. Ich hatte meine Brüder seit 15 Jahren nicht gesehen, nicht gesprochen. Meine Brüder – die sind keine Altgläubigen, sie sind nicht getauft, haben vom Glauben noch nie was gehört. Die sind einfach nur Amerikaner.

    Sie wollten, dass ich nach Hause komme: Wir schicken dir Geld, wir kaufen dir ein Ticket, komm nach Hause. Ich war eine ganze Woche im Krankenhaus, und die ganze Zeit hörte ich von den Ärzten: „Du darfst nicht in Russland leben, es ist hier zu kalt für dich. Du hast sowieso keine russischen Papiere, du kannst hier nicht leben, fahr zurück nach Amerika.“ Das kriegte ich jeden Tag mehrmals zu hören. Ich überlegte hin und her und beschloss, nach Amerika zurückzugehen. Weil die Ärzte zu mir gesagt haben: „So lange du hier in Sibirien bist, so lange wirst du krank bleiben.“ Da wo ich gelebt habe, im Turuchanski Krai, wurde es manchmal bis zu -60° C kalt.

    Da, wo ich gelebt habe, wurde es bis zu -60° C kalt

    Meine Brüder haben mir geholfen, mir Telefonnummern gegeben. Meine Freunde in Krasnojarsk haben mir auch geholfen, wir sind zur Polizei und haben erzählt, dass ich meinen Pass verloren hätte. Die haben mir (eine Bescheinigung – Mediazona) ausgestellt, dass mein Pass weg ist. Dann bin ich zum Migrationsamt UFMS, und die haben mir gesagt, dass ich nur in Moskau oder in Wladiwostok einen Pass bekomme, weil es da amerikanische Botschaften gibt. Aber ich war in Krasnojarsk.

    Bei diesem Amt hat man mir gesagt, ich müsse dort erst eine Strafe zahlen, danach würden sie mich irgendwo einsperren, kein richtiges Gefängnis, aber man sitzt da einen Monat, und dann würden sie mich rauslassen. Ich sagte: „Nein.“ Ich war schon 15 Jahre eingesperrt gewesen.

    Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau suche Mitfahrer

    Also suchte ich nach anderen Möglichkeiten, meine Freunde halfen mir dabei. Erst dachten wir, vielleicht mit dem Zug, aber das ging auch nicht, dafür braucht man einen Pass. Irgendwann suchten wir einfach im Internet, und kaum hatten wir angefangen, stießen wir auf eine Anzeige: „Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau, allein, suche Mitfahrer, nehme fünftausend Rubel [knapp 70 Euro – dek].“ Das war perfekt für mich. Aber das war schon morgen, ich war nicht vorbereitet, hatte für den nächsten Monat schon die Wohnung gemietet. Naja, ich rief da erst mal an, unterhielt mich ein bisschen mit ihm, er klang nett.

    Als ich meinen Freunden davon erzählte, sagten sie: „Du spinnst doch, du kennst ihn gar nicht, wie kannst du da mitfahren?“ Ich sagte, ich habe keine Wahl, ich will nicht irgendwo festsitzen, will keine Strafe zahlen, ich fahre einfach. Das war meine einzige Möglichkeit.

    Moskau – Seattle

    Ich beeilte mich, packte alles zusammen, und wir fuhren los. Ich habe immer noch Kontakt zu diesem Menschen. Ich hatte auch Angst, weil ich in Moskau niemanden kannte, mein Geld war fast alle, reichte nur noch für ein Ticket. Er hatte einen Freund, der in Moskau in einem Wohnheim lebte, und zu dem brachte er mich, sein Name war Anatoli. Ein sehr guter Mensch. Da blieb ich einen Monat, weil ich auf die Tickets wartete. Ich kam im Dezember dort an, Neujahr und Weihnachten standen vor der Tür, deswegen waren die Tickets furchtbar teuer, bis zu 100.000 oder 150.000 Rubel [1300 bis knapp 2000 Euro – dek]. Ich wartete bis zum 15. Januar und kaufte dann für 25.000 [330 Euro – dek] ein Ticket nach Seattle.

    In der Botschaft haben sie mir innerhalb von drei Stunden einen Pass ausgestellt, ich hatte ja diesen Schein von der Polizei, dass ich ihn verloren hatte, dadurch ging das alles sofort, ich musste 150 Dollar bezahlen, glaube ich. Und dann, ach, dann bin ich durch ganz Moskau zu diesem Amt für Migration, weil die einen sagten, dass ich ein Visum brauche, die anderen sagten, ich brauche keins … Das ist es, was ich nicht mag an Russland: Sie lieben es, dich irgendwohin zu schicken, geh hierhin, geh dorthin. Niemand will einem helfen, sie schicken dich bloß ständig irgendwohin.

    Ich fuhr quer durch Moskau, und niemand wollte mir helfen. Dann wurde ich zum Chef geschickt, ich musste ganze zwei Stunden auf ihn warten, und dann sagte der: „Geh zur Polizei, sag, ich bin Amerikanerin, habe 15 Jahre hier gelebt und kein Visum, alles ist abgelaufen, bitte lassen sie mich raus.“ Ich ging zur Polizei, aber da hat man mich ausgelacht und gesagt: Kauf dir ein Ticket und fahr. Also bin ich geflogen.

    Nach meiner Rückkehr habe ich meine alten Freunde wiedergetroffen, aber andere Altgläubige nicht. Ich habe noch Verwandte, die Altgläubige sind, aber die finden nicht gut, dass ich zurückgekommen bin.

    Irgendwie ist alles glücklich ausgegangen für mich, obwohl sie mir im Kloster immer gesagt haben, dass ich kein Glück haben werde, kein Leben – aber es ist alles gut ausgegangen. Ich habe nicht damit gerechnet, ich kannte niemanden, hatte kein Geld, und trotzdem ging alles irgendwie gut, alles hat geklappt.

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