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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Russlands Resilienz hat Grenzen“

    „Russlands Resilienz hat Grenzen“

    Russland hat die Sanktionen wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine bislang besser weggesteckt als erwartet. Das Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr geringer aus als geplant, der Entwurf für das kommende Jahr sieht noch einmal deutliche Steigerungen bei den Verteidigungsausgaben vor. Das liegt vor allem am hohen Ölpreis und an der schwachen Währung. Der Ökonom und Russland-Experte Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärt, wo dabei die Risiken liegen und was was diese Entwicklung für die russischen Bevölkerung bedeutet.

    dekoder: Russland kurbelt seine Rüstungsproduktion massiv an. Im Haushaltsentwurf für 2024 wurden die Ausgaben für Verteidigung fast verdoppelt. Mehr als jeder dritte Rubel wird für Militär und Sicherheit ausgegeben. Ist das schon Kriegswirtschaft? 

    Janis Kluge: Aus meiner Sicht sind wir noch nicht an diesem Punkt. Um von Kriegswirtschaft zu sprechen, müssten etwa zivile Industrien per Dekret verpflichtet werden, für das Militär zu produzieren. So etwas hat es im Zweiten Weltkrieg gegeben. Wenn Fabriken, die vorher Autos herstellten, auf staatliche Anordnung hin gepanzerte Fahrzeuge vom Fließband ließen, wäre das Kriegswirtschaft. Letztlich ist das Planwirtschaft. In Russland sind aber marktwirtschaftliche Mechanismen bislang noch weitgehend in Kraft. Die Rüstungsproduktion läuft größtenteils über staatliche Unternehmen und gewöhnliche Marktprozesse. Im kommenden Jahr wird Russland insgesamt wahrscheinlich knapp zehn Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Militär und Rüstung aufwenden. Da kann man schon davon sprechen, dass die Wirtschaft auf das Kriegführen ausgerichtet wird. Aber obwohl die Kosten enorm sind, ist der wirtschaftliche Alltag davon noch relativ unbeeinträchtigt. Das wäre bei einer Kriegswirtschaft nicht mehr der Fall. 

    Wie finanziert Moskau diese Ausgaben?

    Trotz steigender Militärausgaben sollen die Ausgaben in anderen Bereichen nur leicht sinken. Dafür plant das Finanzministerium mit Mehreinnahmen in unterschiedlichen Feldern: Es gab im vergangenen Jahr eine Stundung von Sozialbeiträgen, die 2024 fällig werden. Im Öl- und Gassektor gibt es kleinere Steuererhöhungen. Dazu kommt eine neue Exportsteuer für viele Industrien, die steigt, wenn der Rubel fällt, und damit die Wechselkursgewinne der Exporteure abschöpft. Große Defizite sind nicht geplant, im Gegenteil: Das russische Haushaltsdefizit fällt in diesem Jahr sogar geringer aus als erwartet. Das Finanzministerium hatte für 2023 ein Defizit von zwei Prozent eingeplant, aktuell rechnet man nur noch mit einem Prozent. Die Kriegsausgaben lenken den Staat jedoch davon ab, nachhaltigen Wohlstand für die Bevölkerung zu schaffen.

    Welche Rolle spielt dabei der schwache Rubel?

    Der Staat profitiert von der schwachen Währung, weil er für jeden Dollar aus dem Export von Öl und Gas mehr Rubel in die Kasse bekommt. Umgekehrt werden Importprodukte teurer und der Lebensstandard der Bevölkerung sinkt. Auch Unternehmen spüren die Währungsschwäche, wenn sie zum Beispiel Maschinen aus China kaufen. Hohe Preise auf dem Weltmarkt und eine schwache Währung machen es für russische Unternehmen attraktiver, ihre Produkte zu exportieren. Der Staat hat deshalb zeitweilig den Export von Getreide und Benzin beschränkt. Denn wenn die Unternehmen mehr Geld mit dem Export verdienen können, sagen sie sich: Okay, dann erhöhe ich auch meine Preise im Inland. Für die Verbraucher wirkt die Rubelschwäche wie eine versteckte Besteuerung, im Ergebnis führt sie zu einer Umverteilung von den Bürgern in den Staatshaushalt.

    Wie lange macht die Bevölkerung das mit?

    Auf lange Sicht kann sich die Inflation zu einem Problem entwickeln. Der Staat wird deshalb auch die Renten und die Löhne staatlicher Bediensteter anpassen müssen. Auch deshalb will das Finanzministerium trotz der kurzfristigen Mehreinnahmen nicht, dass der Rubel weiter an Wert verliert. Im nächsten Jahr stehen außerdem Präsidentschaftswahlen an, und da ist es schlecht, wenn die Bevölkerung die gestiegenen Preise allzu sehr im Supermarkt spürt. 

    Wie sieht es mit dem Arbeitsmarkt aus? 

    Russlands Arbeitslosigkeit befindet sich derzeit auf einem Rekordtief, an vielen Orten herrscht Arbeitskräftemangel. Der ergibt sich aus mehreren Faktoren: Hochqualifizierte Fachkräfte verlassen das Land, weitere Arbeiter verschluckt die Mobilisierung. Außerdem treten aufgrund des demografischen Wandels aktuell ohnehin wenig junge Leute in den Arbeitsmarkt ein. Die niedrige Arbeitslosigkeit bedeutet auch: Viele Arbeitnehmer profitieren von der auf Krieg ausgerichteten Wirtschaft, denn durch die Knappheit steigen ihre Reallöhne stärker als die Inflation. Das trifft vor allem auf diejenigen zu, die in kriegsrelevanten Branchen arbeiten. Wenn einem der politische Hintergrund egal ist, ist die aktuelle Situation sogar ein guter Moment, um Karriere zu machen. Denen, die gut vernetzt sind und dem Krieg positiv gegenüberstehen, bieten sich durch die Abwanderung ausländischer Investoren viele Gelegenheiten. Deswegen fühlt es sich für viele Russinnen und Russen nicht wie eine Krise an.

    Welchen Einfluss haben da die Sanktionen?

    Von den Sanktionen sind besonders die Sektoren betroffen, die eng mit dem Westen verflochten waren, zum Beispiel die Automobilindustrie. Aber auch in vielen anderen, wirtschaftlich weniger wichtigen Branchen gibt es Auswirkungen: Kinos können sich zum Beispiel jetzt nicht mehr auf legalem Weg westliche Filme beschaffen. Hinzu kommt, dass die Sanktionen Fachleute dazu zwingen können, das Land zu verlassen, wenn sie weiterhin bestimmte westliche Software-Dienstleistungen nutzen oder Teil der vernetzten Welt sein wollen. Das macht sich vor allem in der IT-Branche bemerkbar. 

    Je nach Schätzung sind im letzten Jahr bis zu einer Million Russinnen und Russen emigriert.

    Ja, aber es haben auch einige Unternehmen ihre Zelte im Land abgebrochen. Es sind also nicht unbedingt so viele Stellen tatsächlich frei geworden, denn einige sind zurückgekehrt, nachdem sie den Schock der Teilmobilisierung überwunden hatten. Oder sie arbeiten aus der Ferne weiter für ihre russische Firma. Es ist also nicht so ganz klar, wie viele nun wirklich weg sind vom Arbeitsmarkt, deswegen ist der Effekt auf die Wirtschaftsleistung nicht eindeutig. Bei den weniger qualifizierten Berufen funktioniert weiterhin die Arbeitsmigration. Auch dieses Jahr sind wieder sehr viele Arbeitsmigranten vorrangig aus Zentralasien und dem Kaukasus nach Russland gekommen, die sind ein wichtiger Ersatz für russische Männer, die in die Armee eingezogen wurden. 

    Wo weniger gearbeitet wird, kann weniger produziert werden. Der Staat muss seine Verluste also irgendwie kompensieren. Da ist zum Einen die wachsende Rüstungsindustrie. Was noch?

    Der Staat versucht zu verhindern, dass die Produktion ausländischer Unternehmen wegfällt. Deshalb versucht die russische Führung, internationale Konzerne dazu zu zwingen, im Land zu bleiben oder ihre Unternehmen zu Spottpreisen an russische Eigentümer zu verkaufen, die das Geschäft fortführen sollen. Damit wird auch der Rubelkurs geschützt. Normalerweise müsste ein russischer Käufer, der ein deutsches Unternehmen übernimmt, erst einmal Euros besorgen, um es auszubezahlen. Der Abfluss ausländischen Kapitals schwächt aber weiter den Rubel, und das möchte man vermeiden. De facto werden Firmen wie Danone oder Carlsberg, die jetzt ihre Geschäfte aufgegeben haben, dadurch enteignet, selbst wenn sie nach den offiziellen Regeln spielen wollten.

    Volkswagen hat seine Produktion in Russland nach Beginn des Angriffskrieges eingestellt. Das Werk in Kaluga könnte an einen chinesischen Hersteller gehen / Foto © Boevaya mashina/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)
    Volkswagen hat seine Produktion in Russland nach Beginn des Angriffskrieges eingestellt. Das Werk in Kaluga könnte an einen chinesischen Hersteller gehen / Foto © Boevaya mashina/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)

    Und das funktioniert?

    Die Fortsetzung des Geschäfts nach so einem Eigentümerwechsel funktioniert unterschiedlich gut. Um das zu beurteilen, schaut man sich am besten die Lieferketten an. Je mehr das Unternehmen in westliche Lieferketten integriert ist, desto schwieriger ist es, die Produktion komplett vom vorherigen Eigentümer unabhängig zu betreiben. In der Automobilindustrie ist es bisher kaum gelungen, sie unter russischer Führung wieder in Gang zu bringen. Anders ist das zum Beispiel bei McDonald’s, weil es da von vornherein lokale Lieferketten gab. Aber das ist nicht alles, denn langfristig hat diese Unternehmen sicher noch mehr ausgezeichnet, als nur ein westliches Label auf irgendwelche russischen Dinge draufzuschreiben. Weil die Kommunikation mit dem Mutterkonzern jetzt abgeschnitten ist, werden wichtige Prozesse in den russischen Zombie-Unternehmen nicht weiter verbessert und dadurch fehlen Innovationen. 

    Wie lange kann der Westen den wirtschaftlichen Druck aufrechterhalten? 

    Für den Westen steht wirtschaftlich erst einmal nicht so viel auf dem Spiel wie für Russland, weil die Kosten der Sanktionen sich auf eine viel größere Volkswirtschaft verteilen, während der Schaden in Russland konzentriert auftritt. Für den Westen ist auch die Unterstützung der Ukraine nicht sehr teuer.

    Ist die Belastung des Westens durch den Krieg, die viel diskutierte „Ukraine fatigue“, nur Einbildung?

    Wenn die Unterstützer der Ukraine dauerhaft nur 0,3 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für Ukrainehilfen aufbringen würden, wäre das immer noch mehr, als Russland aktuell für den Krieg ausgeben kann. Das spürt der einzelne Bürger nicht in seinem Portmonee. Aber die Frage „Unterstützen oder nicht?“ ertrinkt immer mehr in Symbolik und wird zu einem Streitthema in Wahlkämpfen. Tatsächlich kommt Deutschland trotz des Sondervermögens nur mit Ach und Krach auf die von der NATO empfohlenen 2 Prozent an Verteidigungsausgaben. Der Westen schöpft seine wirtschaftlichen Möglichkeiten, sich dem Krieg entgegenzustellen, nicht aus.

    Wann könnte Russland doch noch in Schwierigkeiten geraten?

    Der Ölpreis ist entscheidend. Russland hat aktuell kaum Reserven, um niedrige Preise abzufedern. Früher hat der Staat bei hohen Ölpreisen Reserven in ausländischen Währungen gebildet. Wenn die Preise wieder sanken, wurden die Reserven in Rubel umgetauscht, um den Rubel zu stärken. Diesen Ausgleichsmechanismus kann Russland jetzt nicht mehr auf die selbe Weise nutzen, denn durch die Sanktionen kann die Zentralbank die noch vorhandenen Reserven nicht mehr verkaufen und zumindest selbst auch keine neuen Reserven in liquiden Währungen wie Dollar und Euro anhäufen. Wenn der Preis für Öl plötzlich einbräche, wie etwa 2014, würde das Russland jetzt viel stärker treffen. Danach sieht es zwar aktuell nicht aus, aber dennoch: Russlands wirtschaftliche Resilienz hat Grenzen.

    Experte: Janis Kluge
    Interview: Alexandra Heidsiek
    Veröffentlicht am 2.11.2023

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  • Bystro #34: Können Sanktionen Putin stoppen?

    Bystro #34: Können Sanktionen Putin stoppen?

    Kein einziger Staat weltweit ist derzeit mit so vielen Sanktionen belegt wie Russland. Über 6.000 einzelne Strafmaßnahmen – das sind mehr als gegenüber Iran und Nordkorea zusammen. Nun droht Russland der Bankrott, für die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist er nur eine Frage der Zeit

    Damit werden in Russland Erinnerungen an den Default des Jahres 1998 wach. Doch was bedeutet ein Staatsbankrott wirklich? Könnte er den Krieg stoppen, Russland in die Knie zwingen? Oder würden die Sanktionen dem System Putin womöglich gar in die Hände spielen? Ein Bystro mit Janis Kluge – in sieben Fragen und Antworten. 

    1. Russland steht vor dem Bankrott. Was bedeutet das? 

    Russland wird seine Verpflichtungen aus Staatsschulden und Anleihen nicht erfüllen – das hat allerdings weniger mit Russlands Zahlungsunfähigkeit, sondern vielmehr mit seiner Zahlungsunwilligkeit zu tun. Die russische Regierung hat unilateral Regeln beschlossen, auf welche Weise sie diesen Verpflichtungen nachkommt: Sie will die zu entrichtenden Zinsen zunächst auf eine Art Sperrkonto zahlen – und zwar in Rubel und nicht, wie vereinbart, in US-Dollar. Die vertragsgemäße Rückzahlung knüpft Russland an die Aufhebung von bestimmten Sanktionen: Die vom Westen teilweise eingefrorenen russischen Zentralbankreserven in Fremdwährungen sollen wieder aufgetaut werden. Russland verstößt also gegen die eigentlichen Vertragsgrundlagen und nimmt damit bewusst einen Default in Kauf: Einerseits will es damit politischen Druck aufbauen, damit seine eingefrorenen Finanzreserven (laut Finanzminister Anton Siluanow geht es um etwa 300 Milliarden von insgesamt 640 Milliarden US-Dollar) wieder aufgetaut werden, andererseits will der Kreml den Abfluss von Devisen reduzieren. Insgesamt wäre Russland mit seinen Exporten von Energieträgern (die in US-Dollar gehandelt werden) aber bestens in der Lage, die Zinszahlungen zu bedienen. 
    Dass der Staat als zahlungsunfähig eingestuft wird, hat aber zur Folge, dass auch russische Konzerne unter Umständen als zahlungsunfähig gelten werden. Westliche Banken etwa, die russischen Unternehmen Kredite vergaben, müssten diese Werte wegen des Defaults abschreiben oder Wertberichtigungen durchführen. Einzelne westliche Institute können dadurch Probleme bekommen. Deshalb richten derzeit viele den Blick auf westliche Banken, die sich in Russland engagiert hatten.

    2. Warum hat der Kreml seine Reserven eigentlich nicht vor dem Zugriff des Westens geschützt? Ist es ein Hinweis darauf, dass der Krieg nicht von langer Hand geplant war? 

    Russland hat schon 2018 begonnen, seine Reserven zu diversifizieren. Die Dollar-Abhängigkeit sollte reduziert werden: Was zuvor in US-Währung da war, wurde größtenteils in Euro, Yen oder das chinesische Renminbi umgeschichtet. Damals hat man aber offenbar nicht damit gerechnet, dass auch die Vermögenswerte in Yen und Euro eines Tage eingefroren werden könnten. Vermutlich ist der Kreml auch zunächst nicht davon ausgegangen, dass der Krieg so blutig und so umfassend werden würde und dass der Westen mit solch massiven Mitteln auf die Invasion reagiert. Aus heutiger Sicht scheint es absurd, dass Russland viele Jahre lang gespart und etwa eine Rentenreform durchgeführt hat, die politisch viel Kapital gekostet hat – all das, um eine Reserve aufzubauen, an die es heute nur teilweise drankommt: Geld, das für Krisenzeiten da sein sollte, ist jetzt schlicht nutzlos. Die Zentralbank hat sich da also eindeutig verkalkuliert. Da die wirtschafts- und finanzpolitische Elite des Landes offensichtlich nicht in die Kriegspläne eingeweiht war, ist es aber schwierig, ihr die Schuld dafür zuzuschieben.

    3. Einige Beobachter sagen, dass die Reserven noch hoch genug seien, um mittelfristig auch den bisherigen Sanktionen gegen Russland trotzen zu können. Andere betonen, dass gegen Russland weitaus mehr Sanktionen verhängt worden sind als gegen den Iran, Nordkorea oder Venezuela. Das System Putin stehe also vor dem Kollaps. Was ist richtig?

    Die Anzahl der Sanktionen sagt nicht viel über deren Härte aus. Der Iran ist heute immer noch härter sanktioniert als Russland. Bei der Verhängung von Sanktionen geht es um die Fragen, wie schnell sie wirken und wie viel Angriffsfläche es gibt. Wegen der enormen Abhängigkeit von der westlichen Technologie bietet Russland in der Tat sehr viel Angriffsfläche. Auch in Finanzfragen bietet Russland viel Angriffsfläche, weil es so gut in das globale Finanzsystem integriert war. Die Sanktionen wurden innerhalb weniger Tage verhängt. Deshalb ist es eine historische Situation: Noch nie wurde ein so großes Land innerhalb so kurzer Zeit so massiv mit Sanktionen belegt. Bei dieser Konstellation gibt es viele Variablen, weshalb nicht klar ist, wie es weitergeht.

    Solange Russland allerdings Öl und Gas exportieren kann, wird es immer genügend Deviseneinnahmen haben. Hinzu kommt, dass die russische Zentralbank den Devisenabfluss aus dem Land massiv eingeschränkt hat: Ausländische Investoren etwa dürfen ihre Vermögenswerte in Russland derzeit nicht verkaufen. Außerdem importiert Russland nun kaum noch etwas und Menschen aus Russland können derzeit fast keinen Urlaub im Ausland machen. Der Devisenabfluss ist somit vermutlich relativ gering, genaue Zahlen dazu gibt es noch nicht. Der Devisenzufluss dürfte aber immer noch hoch sein, angesichts hoher Gas- und Ölpreise. Aus diesen Gründen kann man Russland nur bedingt mit dem Iran oder Nordkorea vergleichen. Es wird zwar eine massive Wirtschaftskrise in Russland geben, diese wird aber einen ganz anderen Charakter haben als in den Staaten, die man an den Rand der Zahlungsunfähigkeit schubsen kann. Nur eine massive Reduzierung der Deviseneinnahmen aus dem Energieexport kann Russland ernsthaft gefährden. 

    4. Der Rubel ist im Zuge der Sanktionen abgestürzt, der Ölpreis ist gestiegen. Da der Staatshaushalt in Rubel gerechnet wird, der Ölpreis aber in US-Dollar, hat der Staat derzeit mehr Einnahmen. Einnahmen, mit denen er auch den Krieg finanzieren kann. Wäre es allein aus diesem Grund nicht naheliegend, ein Öl- und Gasembargo gegen Russland zu verhängen, um den Krieg zu beenden? 

    Die derzeit im Krieg eingesetzte Militärtechnik ist ja schon etwas älter. Wenn man so will, haben wir diese Technik – und diesen Krieg – in den vergangenen Jahren vorfinanziert, als wir Öl und Gas aus Russland kauften. Der föderale russische Staatshaushalt, der für das Militär verantwortlich ist, speist sich zu einem großen Teil direkt und indirekt aus den Exporten von Energieträgern. 
    Alles, was wir jetzt in diese Richtung tun würden, würde Russlands Fähigkeit, diesen Krieg weiterzuführen, nicht signifikant einschränken. Mit Sanktionen können wir den russischen Vormarsch in der Ukraine nicht stoppen. Wir können damit nur den Druck auf das System Putin erhöhen, damit es den Krieg selber stoppt. Mittel- bis langfristig können wir durch Sanktionen außerdem die militärischen Möglichkeiten Russlands in künftig denkbaren Kriegen oder militärischen Konflikten einschränken. 

    5. Laut Zentralbank soll die Inflation 2022 auf 20 Prozent klettern. Manche Analysten prognostizieren Schlimmeres: Sanktionen, so heißt es, können Massenarmut hervorrufen, Menschen auf die Straße treiben und zum Umsturz animieren. Können Sanktionen in solcher Weise die Regimestabilität gefährden?

    Das Kalkül hinter so einem Denkschema ist ja, dass man durch Sanktionen eine zweite Front aufmacht – eine innenpolitische. Da gibt es zwei Argumente: „Rally 'round the flag“ – das Volk stellt sich hinter den Präsidenten – oder die Menschen beschuldigen die Machthaber für die wirtschaftlichen Probleme. Ich bin ein Anhänger der zweiten These. Die Erfahrung aus den Sanktionen nach der Krim-Annexion 2014 zeigen, dass es für die Machthaber opportun schien, die Wirkungen der Strafmaßnahmen kleinzureden. Putin muss aus der Position der Stärke reden, wesentliche Wirkungen von Sanktionen auf die Wirtschaft zuzugeben hieße da ein Eingeständnis von Schwäche. In der Staatspropaganda wird berichtet werden, dass die Sanktionen zwar lästig sind, aber eigentlich kein großes Problem. Vor diesem Hintergrund dürfte sich aber bei den Menschen in Russland eine Diskrepanz auftun: Das Realeinkommen fällt ja schon kontinuierlich seit 2014, 2022 droht aber noch eine weitaus höhere Inflation als bei der optimistischen Prognose der Zentralbank. Eine hohe Arbeitslosenquote ist zudem nicht mehr ganz so unwahrscheinlich wie in vergangenen Jahren. Und damit auch fortschreitende Armut. Wenn den Menschen dann im Fernsehen etwas von der Wirkungslosigkeit westlicher Sanktionen erzählt wird, könnte sie das durchaus verärgern. Im berüchtigten russischen Bild vom Kampf des Fernsehens gegen den Kühlschrank könnte die Schere noch größer werden. Dass die Menschen ihre Verarmung aber nicht mit Sanktionen in Kausalzusammenhang stellen, sondern eher mit „denen da oben“ – das könnte den Effekt der „Rally 'round the flag“ reduzieren und für die Machthaber langfristig zum Problem werden. 

    6. Oft heißt es, dass die westlichen Sanktionen vor allem die Ärmsten in Russland treffen: durch Inflation würden sie noch ärmer. Ist das so, treffen Sanktionen am Ende die Falschen?

    Nein, die Sanktionen werden in erster Linie die Menschen treffen, die westliche Güter kaufen und mehr ins Ausland verreisen. Diese Menschen erfahren die höchsten Einbußen in puncto Lebensstandard. Im Gegensatz zu den vorangegangenen sanktionsbedingten Krisen kann es diesmal aber zu mehr Arbeitslosigkeit kommen: Da der Westen nun den Export von Technologiegütern größtenteils gesperrt hat, können einige russische Fabriken nicht mehr produzieren. Eine Zeit lang kann es zwar funktionieren, dass der Staat etwa die Lohnausfälle kompensiert, wie lange er das aber im großen Stil machen kann, ist fraglich. Die Sozialleistungen werden derzeit zwar erhöht, sie bringen aber wohl nur den Ärmeren in kleineren Städten und Dörfern etwas. Die urbane Mittelschicht dürfte damit zu den größten Opfern der Wirtschaftskrise werden. Dabei waren Konsum westlicher Produkte und Reisen in den Westen eine Art integraler Bestandteil des Systems Putin. Derzeit ist noch nicht klar, ob es sich von nun an nur noch auf Repressionen stützt, in der bisherigen Form ist das Modell heute allerdings nicht mehr denkbar. 

    7. Sanktionen würden Russland nur stärker machen, behauptet Putin. Sein Kalkül: Die Importe sollen substituiert werden, durch Autarkie (und niedrigen Rubelkurs) könne sich Russland selbst mit allem versorgen, die russische Wirtschaft könne gar international konkurrenzfähiger werden. Ist an dieser These etwas dran?

    Keine Volkswirtschaft kann heute Güter auf dem Stand der Technik alleine produzieren, nicht einmal die USA. Das sieht man beispielsweise am Flugzeugbau und in der IT-Branche: Die Einzelteile und das Knowhow kommen hier aus der ganzen Welt zusammen. Ohne Spezialisierung und Arbeitsteilung auf internationaler Ebene lassen sich auch solche Dinge wie Mikrochips nicht produzieren. Das heißt: Russland kann diese Dinge gar nicht replizieren, weil es eine kleine Volkswirtschaft ist und keine Erfahrung darin hat. Vor diesem Hintergrund haben die verhängten Sanktionen zur Folge, dass Russlands Wirtschaft schlicht primitiver wird und sich mehr und mehr in Richtung Petrostaat entwickeln wird. 
    Seit dem 2014 proklamierten Kurs der Importsubstitution gab es in den russischen Staatsmedien häufig Erfolgsmeldungen: Russland, so hieß es, habe bei dem und dem Produkt 80, 90, 95 Prozent der Importe substituiert. Wenn aber auch nur ein Prozent des Produkts importiert werden muss, es durch Sanktionen aber nicht geht, dann wird es dieses Produkt in Russland schlicht nicht geben.
    Ich bin überzeugt, dass Putin die russische Wirtschaft für viel autarker hält als sie eigentlich ist. Er unterschätzt die Abhängigkeit vom Ausland. Aus diesem Grund glaube ich, dass die russische Führung es derzeit überhaupt nicht überblickt, wie tiefgreifend die kommende Wirtschaftskrise sein wird.

     

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Janis Kluge
    Veröffentlicht am: 17. März 2022

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    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Die Wirtschaftskrise im Herbst 2014 hatte Russland ökonomisch vor eine unsichere Zukunft gestellt. Drei unabhängige Entwicklungen setzten die russische Wirtschaft gleichzeitig unter Druck: der Einbruch des Ölpreises, wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland sowie strukturelle Probleme, das heißt fehlende Anreize zu Investitionen und zur Steigerung der Produktivität. Erst mit der Erholung des Ölpreises 2017 kam es wieder zu einem leichten Wirtschaftswachstum.

    Schon 2013 war die russische Wirtschaft trotz hoher Ölpreise kaum gewachsen (+1,8 Prozent)1. Da in Russland schon seit vielen Jahren weniger investiert wird als in vergleichbaren Ländern, wird pro Arbeitsstunde in Russland noch immer nur halb so viel hergestellt wie im EU-Durchschnitt.2 Durch die fehlende Wachstumsdynamik und weniger Spielraum im Staatshaushalt war die Ausgangslage vor der aktuellen Krise deutlich schlechter als im Vorfeld der globalen Finanzkrise 2009 (Wachstum in Russland 2008: +5,2 Prozent3).

    Als der Ölpreis sich 2014 innerhalb weniger Monate halbierte, zog dies den Wert der russischen Exporte und damit auch die Nachfrage nach dem Rubel nach unten. Zusätzlich schwächten die westlichen Wirtschaftssanktionen die Währung. Großkonzerne wie Rosneft mussten Rubel in Dollar eintauschen, um ihre Kredite bei westlichen Banken zurückzuzahlen. Insgesamt flossen aus Russland 2014 netto 154 Milliarden US-Dollar Kapital ab – mehr als doppelt so viel wie 2013.4 Der Rubel verlor in der zweiten Jahreshälfte knapp 50 Prozent seines Werts zum Dollar.

     

    Über den schwachen Rubel wurde die Krise für die russische Bevölkerung deutlich spürbar. Fast alle importierten Güter verteuerten sich schlagartig. Dies betraf keineswegs nur die bei der Mittelschicht beliebten Waren wie Elektronik, Möbel und Autos, sondern auch Lebensmittel und Medikamente. Die Beschränkung des Lebensmittel-Angebots durch die russischen Gegensanktionen verschärften diese Entwicklung noch. Die Inflation stieg in der Folge auf über 15 Prozent, für Lebensmittel auf über 20 Prozent.5 Da die Gehälter stagnierten, senkte die Inflation die realen Einkommen der russischen Bevölkerung, was den privaten Konsum im ersten Quartal 2015 um 8,8 Prozent einbrechen ließ.6 Im Vergleich zum Vorjahr erhöhte sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen in Russland um 2,1 Millionen.7

    Der schwache Rubelkurs und die Inflation bewegten die russische Zentralbank im Dezember 2014 zu einer radikalen Erhöhung des Leitzinses auf 17 Prozent (zum Vergleich: In der Eurozone waren es zu diesem Zeitpunkt 0,05 Prozent).8 Höhere Zinsen können zwar eine Währung stärken und die Inflation dämpfen, allerdings erhöhen sich mit ihnen auch die Kosten der Kreditfinanzierung für Unternehmen und Privathaushalte. Durch den hohen Leitzins, das weiter sinkende Realeinkommen und die wetterbedingt besonders üppige Ernte stiegen die Verbraucherpreise im Jahr 2017 um nur noch 2,5 Prozent – für Russland ein historisch niedriger Wert.

    Die fehlende Konsumnachfrage und die gestiegenen Finanzierungskosten stellten die russischen Unternehmen in der Wirtschaftskrise vor große Probleme.9Im Jahr 2015 schrumpfte die russische Wirtschaft um 2,5 Prozent. Auch für 2016 gab die russische Statistikbehörde ROSSTAT noch ein leichtes Minus bei der Wachstumsrate bekannt (-0,2 Prozent).10

    Das russische Finanzministerium verzeichnete 2015 ein Defizit im Staatshaushalt in Höhe von 3,4 Prozent des BIP. 2016 fiel der Fehlbetrag mit 3,7 Prozent des BIP noch größer aus, wobei die Regierung ihre Bilanz durch (Teil)Privatisierung von Staatskonzernen um etwa ein Prozent des BIP aufbesserte. Bei dem Fehlbetrag schlagen vor allem die gesunkenen Einnahmen aus Öl-Exporten sowie die um ein Drittel gestiegenen Militärausgaben zu Buche. Das Defizit verringerte sich 2017 auf 1,5 Prozent und wurde, wie bereits in der Krise 2009, aus dem Reserve-Fonds finanziert, der etwa 5 Prozent des russischen BIPs beträgt. Im Jahr 2018 erwartet das Finanzministerium durch den wieder gestiegenen Ölpreis einen leichten Haushaltsüberschuss.11


    1. The World Bank: GDP growth (annual %) ↩︎
    2. OECD.Stat: Level of GDP per capita and productivity ↩︎
    3. The World Bank: Russia Economic Report 33: The Dawn of a New Economic Era? (hier interessant: S. 5) ↩︎
    4. International Monetary Fund: Russian Federation: 2015 Article IV Consultation – Press Release; And Staff Report ↩︎
    5. OECD.Stat: Consumer prices – annual inflation und OECD.Stat: Consumer prices – annual inflation, food ↩︎
    6. OECD.Stat: Key Short-Term Economic Indicators: Private consumption (volume) ↩︎
    7. The World Bank: Russia Monthly Economic Developments, August 2015 ↩︎
    8. The World Bank: Russia Economic Report 33: The Dawn of a New Economic Era? (hier interessant: Figure 19) ↩︎
    9. Eine Ausnahme sind exportierende Unternehmen außerhalb der Ölindustrie, die vom schwachen Rubelkurs profitieren. ↩︎
    10. Bis Juli 2015 belief sich das Defizit allerdings bereits auf 2,8 % des BIP, siehe: Ria Novosti: Deficit federalʼnogo bjudžeta Rossii za janwarʼ-ijulʼ sostavil 2,8 % VVP ↩︎
    11. Kluge, Janis (2018): Russlands Haushalt unter Druck, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 14/2018 ↩︎

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    Als Reaktion auf die Annexion der Krim und Russlands militärisches Eingreifen in der Ostukraine beschlossen sowohl die USA als auch die EU im Jahr 2014 diplomatische und wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Diese umfassten zunächst nur Einreiseverbote für unmittelbar in den Konflikt involvierte russische Politiker und Wirtschaftsführer sowie das Einfrieren von Vermögenswerten. Hinzu kam ein umfassendes Wirtschaftsembargo der annektierten Krim. Wegen russischer Unterstützung für die in der Ostukraine kämpfenden Milizen beschloss die EU Ende Juli und im September 2014 einen weitgehenden Finanzierungsstopp für russische Staatsbanken, Öl- und Rüstungskonzerne, sowie Einschränkungen beim Export von militärischen und militärisch verwendbaren Gütern.

    Im August 2017 unterschrieb der US-amerikanische Präsident Trump zudem ein vom Kongress ausgearbeitetes Gesetz, das die Sanktionen gegen Russland verstetigte und verschärfte. Die US-Linie unterscheidet sich bei den Sanktionen seitdem von der EU-Politik. Der US-Präsident ist nun verpflichtet, auch sekundär zu sanktionieren. Wenn ausländische Unternehmen bei der Umgehung von Sanktionen helfen, laufen sie nun Gefahr, selbst sanktioniert zu werden (US-amerikanischen Unternehmen drohen ohnehin strafrechtliche Konsequenzen). Am 6. April 2018 beschlossen die USA neue Sanktionen gegen russische Unternehmen und Individuen, darunter die drei Oligarchen Oleg Deripaska, Suleiman Kerimow und Viktor Wexelberg. Diesem Schritt waren keine unmittelbaren Aggressionen Russlands vorausgegangen. Die weit gefasste Begründung für die Maßnahme nannte die Besetzung der Krim, die Destabilisierung der Ostukraine, die Versorgung von Syriens Regime mit Waffen, die Einmischung in westliche Demokratien und Hackerangriffe. Die Finanzmärkte in Moskau taumelten, der Rubel verlor zwischenzeitlich rund zehn Prozent an Wert. Manche Analysten sprachen vom Schwarzen Montag an der Moskauer Börse.

    Als Reaktion auf die Angliederung der Krim beschlossen sowohl die USA als auch die EU1 im März 2014 wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Inhalt dieser ersten Stufe der Sanktionen waren vor allem Einreiseverbote und das Einfrieren von Vermögen.2 In den folgenden Monaten wurde die Liste der betroffenen Individuen mehrfach ausgeweitet. Die USA zielten dabei früh auch auf einflussreiche Unterstützer Putins (und die Bank Rossija)3, während die EU zunächst unmittelbar in den Konflikt involvierte Personen mit Sanktionen belegte. Geschäfte mit auf der Krim ansässigen Unternehmen wurden untersagt.4

    Aufgrund russischer Unterstützung für die in der Ostukraine kämpfenden Milizen erließ die EU Ende Juli 2014 ein separates Sanktionenpaket, das die Finanzierung russischer Staatsbanken in Europa einschränkt. Im September wurden diese Einschränkungen dann auf russische Rüstungs- und Ölkonzerne ausgedehnt. Daneben wurde der Export von Erdöl-Technik sowie von militärischen und militärisch einsetzbaren dual use-Gütern nach Russland verboten.5 Die Sanktionen wurden im August 2014 von Russland mit Gegensanktionen beantwortet, die vor allem die Einfuhr westlicher Agrarprodukte betreffen. Da die Beschlüsse des Abkommens von Minsk zur friedlichen Regulierung des Konflikts in der Ostukraine bislang nicht umgesetzt sind, verlängert die EU turnusmäßig ihre Wirtschaftssanktionen.6

    Die US-Sanktionen gegen die Bank Rossija machten sich schnell bemerkbar: Von dieser Bank ausgegebene Visa- und Mastercard-Kreditkarten wurden gesperrt.7 Daneben musste die russische Lowcost-Airline Dobrolet, mit der die Krim an Russland angebunden werden sollte, in Folge der westlichen Sanktionen aufgelöst werden.8 Fehlende Technik aus dem Westen zwang den Ölproduzenten Rosneft, Bohrprojekte um Jahre zu verschieben9. Die von den Kapitalbeschränkungen betroffenen russischen Konzerne konnten ab Herbst 2014 auslaufende Kredite nicht mehr durch neue, langfristige Anleihen aus der EU oder den USA ersetzen. Ausländische Investoren legten auch Projekte in nicht sanktionierten Branchen auf Eis.10 Durch die Überlagerung mit dem Sinken des Ölpreises lassen sich die Folgen der Sanktionen nur sehr schwer quantifizieren. Verschiedenen Schätzungen zufolge reduzieren die Sanktionen das russische BIP um 0,4 Prozent bis 0,6 Prozent (laut einer Studie russischer Ökonomen) beziehungsweise 1 Prozent bis 1,5 Prozent pro Jahr (laut Internationalem Währungsfond).11

    Tragen die mehrmalig verlängerten Sanktionen wie geplant zur Deeskalation in der Ukraine bei? Die finanziellen Einschränkungen beschleunigten Ende 2014 den Kapitalabfluss aus Russland, was den Druck auf den Rubel erhöhte. Außerdem zwangen sie den Kreml zur Unterstützung der betroffenen Banken und Unternehmen und belasteten damit den Staatshaushalt und die Reserven. Sie entfalteten vor allem in der Anfangsphase Druck und lasten seither auf den Wachstumsaussichten.

    Die im August 2017 und April 2018 beschlossenen Verschärfungen der US-Sanktionen könnten für Russland aber noch schmerzhafter werden. Die wirtschaftlichen Kosten für weitere Aggressionen in der Ukraine wären außerordentlich hoch – das dürfte im Kreml angekommen sein. Das Aufheben der Sanktionen gegen Russland würde die wirtschaftliche Lage hingegen nur mittel- oder langfristig verbessern12, was ihren Wert als Verhandlungsmasse einschränkt.13


    Zum Weiterlesen: The Economic Sanctions Against Russia, Swedish Defense Research Agency, September 2015

    1. Einige weitere Länder führten ebenfalls Sanktionen ein, darunter die Ukraine, Kanada und Japan. Für Kanada und Japan siehe: Oxenstierna, Susanne / Olsson, Per (2015): The economic sanctions against Russia: Impact and prospects of success ↩︎
    2. Official Journal of the European Union: Council Decision 2014/145/CFSP ↩︎
    3. The New York Times: Private Bank Fuels Fortunes of Putin’s Inner Circle ↩︎
    4. Official Journal of the European Union: Council Decision 2014/386/CFSP ↩︎
    5. Official Journal of the European Union: Council Decision 2014/512/CFSP ↩︎
    6. Zuletzt im März 2017. European Council: EU prolongs sanctions over actions against Ukraine’s territorial integrity until 15 September 2017 ↩︎
    7. BBC: Visa and MasterCard block Russian bank customers ↩︎
    8. World Airlines News: Dobrolet is forced to shut down due to European sanctions ↩︎
    9. The Moscow Times: Russia’s Rosneft Won’t Resume Sanctions-Struck Arctic Drilling Before 2018 – Sources ↩︎
    10. Forbes: Major Investments At Risk As Russian Sanctions Become More Nerve Wracking, wobei einige Investoren den günstigen Rubel als Chance sahen, siehe dazu: The Wall Street Journal: Schlumberger to Pay $1,7 Billion for Stake in Russia᾿s Eurasia Drilling ↩︎
    11. Vedomosti: Ėkonomika Rossii lišilasʼ 8,4 % rosta ↩︎
    12. Auch ohne Sanktionen würden die russischen Unternehmen derzeit kaum westliches Kapital finden. ↩︎
    13. Im Gegensatz zu den Export-Sanktionen gegen den Iran, deren Aufheben unmittelbar wirtschaftlich spürbar ist. ↩︎

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  • Alexej Kudrin

    Alexej Kudrin

    Alexej Kudrin ist der einzige Politiker aus dem engeren Kreis Putins, der sowohl im Ausland als auch bei einem Teil der oppositionell gestimmten Bürger Vertrauen genießt. Seit Beginn der russischen Wirtschaftskrise kehrt der promovierte Ökonom schrittweise in die Politik zurück.

    Als Finanzminister (2000–2011) genoss Kudrin nicht nur das Vertrauen Putins, sondern auch das ausländischer Anleger und internationaler Institutionen. Seine wirtschaftspolitischen Ansichten decken sich größtenteils mit den Empfehlungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF). Kudrin stand stets für eine Politik der makroökonomischen Stabilität und der Marktorientierung. Der von ihm konzipierte Stabilisierungsfonds machte den Staatshaushalt krisenfester. Die zurückgelegten Mittel wurden 2009, aber auch im Verlauf der Wirtschaftskrise ab 2014 dazu eingesetzt, Haushaltsdefizite zu finanzieren, den Rubel zu stützen und das Bankensystem zu stabilisieren. Ohne die Rücklagen wäre der Kreml 2015 zu deutlich schmerzhafteren Budget-Einschnitten gezwungen gewesen. Das hätte sowohl in der Elite als auch bei den Bürgern für großen Unmut gesorgt. Gleichzeitig lockte Kudrins Politik aber auch viele internationale Kapitalgeber nach Russland und verstärkte damit die Abhängigkeit Russlands von den internationalen Finanzmärkten – die die derzeitigen westlichen Sanktionen erst möglich machte.

    Kudrin wurde 1960 in Dobele in Lettland geboren, wo sein Vater, der für das sowjetische Militär arbeitete, stationiert war. Er studierte an der Staatlichen Leningrader Universität Wirtschaftswissenschaften und promovierte am Institut für Ökonomie der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Ende der 1980er Jahre engagierte er sich in verschiedenen wirtschaftsliberalen Klubs und Initiativen in Sankt Petersburg, in denen er unter anderem mit Anatoli Tschubais Konzepte für wirtschaftliche Reformen diskutierte. Seine politische Karriere begann – wie auch die von Wladimir Putin – in der Stadt Leningrad beziehungsweise Sankt Petersburg unter Anatoli Sobtschak. Dort leitete Kudrin das Komitee für Wirtschaftsreformen. 1996 wechselte er in den Kreml, bevor Putin ihn im Jahr 2000 zum Finanzminister machte. Diesen Posten behielt er bis 20111.

    Zerwürfnis mit Medwedew, Bolotnaja-Proteste

    Im September 2011 wurde Kudrin von Präsident Medwedew entlassen. Auslöser dieser Entlassung, die sich vor laufenden Kameras abspielte, war eine Bemerkung, die Kudrin wenige Tage zuvor während einer Sitzung des IWF in Washington gemacht hatte. Darin kündigte er an, nicht in einer Regierung unter Medwedew arbeiten zu wollen, da er mit diesem inhaltlich nicht übereinstimme – vor allem bezüglich der Höhe der Militärausgaben2. Ein sichtlich pikierter Medwedew stellte ihn daraufhin rhetorisch vor die Wahl, entweder zu erklären, es gebe keine Meinungsverschiedenheiten, oder seinen Posten zu verlassen3.

    Als infolge der Fälschungen bei den Dumawahlen 2011 zum ersten Mal seit Putins Amtsantritt tausende Menschen für einen Machtwechsel demonstrierten, unterstützte Kudrin die Anliegen der Demonstranten und trat am 8.12.2011 selbst auf dem Bolotnaja-Platz als Redner auf. Unter deutlich hörbaren Pfiffen forderte er die Absetzung des Wahlleiters, rief die Demonstranten aber gleichzeitig zum Dialog mit der Politik auf, um eine blutige Revolution zu verhindern4.

    Im April 2012 gründete Kudrin das Komitee der Zivilinitiativen, das einen offenen und kritischen, aber nicht personifizierten Dialog zwischen Bürgern und Regierung ermöglichen soll5. Daneben übernahm er den Posten als Dekan der Fakultät für Freie Künste und Wissenschaften an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg6.

    Nach Kudrins Absetzung äußerte Putin wiederholt sein großes Vertrauen in den ehemaligen Finanzminister. Seit Ende 2013 mehren sich die Anzeichen, dass Kudrin in die Politik zurückkehren könnte. Im Dezember 2013 wurde er von Putin in den neugegründeten Wirtschaftsrat des Kreml berufen7. Mit der fortschreitenden Wirtschaftskrise wurden die Gerüchte um eine Rückkehr auf einen verantwortungsvollen Posten konkreter8.

    Mitte April 2016 verkündete Putin, dass sein ehemaliger Finanzminister sich zwar lange geweigert habe, für die Regierung zu arbeiten, sich diese Haltung aber nun ändere.9 Wenige Tage später gab Kudrin bekannt, er werde künftig den Rat des Zentrums für strategische Entwicklung leiten, Putins wichtigster Denkfabrik. Im Rahmen einer internationalen Konferenz in Moskau forderte er kurz darauf umfassende Reformen im russischen Staatswesen, dem Bildungs- und Gesundheitssystem sowie der Justiz. Geschichtsträchtig fasste Kudrin zusammen: „Die Kultur und die Institutionen unserer Gesellschaft erlauben es, von der Staatsführung einen Umbau [Perestroika] zu verlangen.“10 Bei seinen Ratschlägen an den Kreml wird es nun nicht mehr nur um die Staatsfinanzen gehen.


     

     

    1. akudrin.ru: Biografija ↩︎
    2. The New York Times: Russian Finance Chief Publicly Objects to Leader Swap ↩︎
    3. YouTube.com: Medvedev predlagaet Kudrinu ujti v otstavku ↩︎
    4. YouTube.com:Aleksej Kudrin na mitinge v Moskve 24.12.2011 ↩︎
    5. Komitet graždanskich iniciativ ↩︎
    6. Saint Petersburg State University: Kudrin Aleksei ↩︎
    7. The Moscow Times: Enthusiastic Kudrin Returns to Kremlin’s Policymaking Table ↩︎
    8. bloomberg.com: Kudrin Said To Be in Talks for Top Job in Putin Government ↩︎
    9. Lenta.ru: Putin predrek Kudrinu mesto v ekspertnom sovete pri presidente ↩︎
    10. Interfax.ru: Kudrin predlozhil perestroit‘ sistemu gosupravleniia, obrazovanie i zdravookhranenie ↩︎

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  • Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

    Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

    In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Aufgrund von Fehlanreizen des Wirtschaftssystems und äußerer Faktoren wie dem Ölpreisverfall waren Konsumgüter oft rar. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.

    Die Reformen der Perestroika unter Michail Gorbatschow gingen mit einer ökonomischen Krise einher, allerdings war der Politikwechsel nicht alleine für sie verantwortlich. Der wirtschaftliche Niedergang der Sowjetunion begann bereits unter der Führung Leonid Breshnews in der sogenannten Ära der Stagnation. Das extensive Wachstum der Nachkriegsjahre (mehr Rohstoffe und mehr Arbeitskräfte führen zu gesteigerter Produktion) kam ab Mitte der 1970er Jahre schrittweise zum Erliegen. Dabei wurden die strukturellen Probleme des zentral geplanten Wirtschaftssystems immer deutlicher.

    Problematische Entwicklungen der Planwirtschaft

    Eines davon war die mangelnde Innovationsfähigkeit. So konnten die USA bspw. ab den 1970ern große Produktivitätsfortschritte durch den Einsatz von Computern erzielen – eine Entwicklung, die in der Sowjetunion kaum Fuß fasste. Die unternehmerische Energie, die die Digitalisierung in den USA bei Pionieren wie Steve Jobs und Bill Gates freisetzte, konnte in der Sowjetunion systembedingt nicht zur Geltung kommen. Intensives Wachstum (gleiche Produktionsfaktoren führen zu mehr oder besserem Output) blieb aufgrund der Fehlanreize der Planwirtschaft aus1.

    Außerdem setzte das System der zentralen Planung starke Anreize für die sowjetischen Betriebe und regionalen Parteikader, ihre Statistiken zu schönen und die Bilanzen zu frisieren. So wurden Produktionsmengen in schlechten Jahren aufgebauscht (pripiski) um nicht den zentralen Plan zu verfehlen, und in guten Jahren niedriger ausgewiesen, um eine höhere Zielvorgabe im nächsten Jahr zu vermeiden.

    Die Unzuverlässigkeit der wirtschaftlichen Daten veranlassten Gorbatschows Vorgänger Juri Andropow während seiner Zeit als KGB-Chef sogar dazu, eine Art Wirtschaftsgeheimdienst einzurichten, um ein realistischeres Bild der tatsächlichen Lage der Unternehmen zu bekommen. Die staatlich festgelegten Preise hatten gleichzeitig zur Folge, dass die Signale der Nachfrage – welches Gut wie dringend und wo benötigt wird – nicht bis zu den Planern durchdrangen. Die Produktion wich daher von den Wünschen und Bedürfnissen der Bürger ab. Die Wirtschaft wurde vor allem auf die Herstellung von Maschinen und Rüstung und zu wenig auf die Bereitstellung von Konsumgütern ausgerichtet2.

    Daneben ist indirekt auch die Ölkrise für die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion in den 1980ern verantwortlich: In der Zeit der hohen Ölpreise in den späten 1970ern hatte sich die sowjetische Wirtschaft von Ölexporten abhängig gemacht. Die Deviseneinnahmen wurden verwendet, um Maschinen und Nahrungsmittel aus dem Ausland zu importieren. Als der Ölpreis in den frühen 1980ern deutlich fiel, fehlten diese Devisen. Die Sowjetunion häufte Auslandsschulden an und musste ihre Importe reduzieren3. Schließlich belastete den sowjetischen Haushalt, dass die lukrative Alkoholproduktion im Rahmen einer drastischen Anti-Alkoholismus-Kampagne stark zurückgefahren wurde. Gleichzeitig zehrte der Afghanistan-Krieg am Budget.

    Gorbatschows Eingreifen

    Es war Michail Gorbatschow, der die wirtschaftlichen Probleme der Sowjetunion in einer Rede im Mai 1985 als erster Generalsekretär in der Geschichte der Sowjetunion offen ansprach. Gorbatschows zentrale Forderung führte den Begriff der Perestroika ein und wurde gleichzeitig das berühmteste Zitat des Politikers: „Offensichtlich, Genossen, müssen wir uns alle umstellen [„perestraiwatsja“]. Alle.“

    In der Folge versuchte die sowjetische Führung, die staatliche Wirtschaft zu flexibilisieren und durch privatwirtschaftliche Elemente zu ergänzen. Unter der Losung der Beschleunigung (Uskorenije) plante man parallel eine grundlegende Modernisierung aller Produktionsanlagen. Im Juli 1987 wurde es den Unternehmen erlaubt, ihre Produktion dem Bedarf der Abnehmer anzupassen und in der Beschaffung freie Preise auszuhandeln. Den Arbeitern wurde eine stärkere Selbstverwaltung der Unternehmen eingeräumt. Außerdem ermöglichte ein neues Gesetz zu Genossenschaften ab Mai 1988 zum ersten Mal seit den 1920ern in kleinem Umfang private Wirtschaftsorganisationen. Diese konnten durch die Abschaffung des staatlichen Außenhandelsmonopols auch im Ausland Geschäfte machen.

    Die Perestroika-Krise

    Obgleich zur Stärkung der Wirtschaft eingeführt, brachten diese späten Neuerungen die angeschlagene Wirtschaft nur zusätzlich aus dem Gleichgewicht. Die staatseigenen Betriebe konnten nun über vieles selbst entscheiden, ohne aber die finanzielle Verantwortung für ihre Entscheidungen zu tragen. Die Arbeiter bestimmten de facto ihre eigenen Gehälter, die 1989 und 1990 viermal schneller stiegen als die Produktivität. Um zu wachsen, vergaben viele Banken Kredite ohne eigene Reserven vorzuhalten, da auch ihre Risiken vom Staat getragen wurden. Das Ergebnis waren rapide steigende Verluste bei den Unternehmen, ein schnell wachsendes Haushaltsdefizit4 und galoppierende Inflation in den Jahren 1990 (19 %) und 1991 (200 %).5 Das sowjetische BIP schrumpfte alleine 1991 um 17 %6.

    In den letzten beiden Jahren der Sowjetunion wurden zusätzlich Konsumgüter knapp. Das System der Warenverteilung war 1990 zum Erliegen gekommen, da Städte und Regionen aus Sorge vor einer Hungersnot ihre Produktion zurückhielten7. Selbst in den vergleichsweise gut versorgten Großstädten wurden Lebensmittelmarken für einige Produkte wie Seife oder Butter eingeführt. Bis Anfang 1992 die Preise freigegeben wurden, blieben die Regale der Läden oft leer und für Rubel war – außer auf dem Schwarzmarkt – wenig zu bekommen. Die eigentliche Währung dieser Zeit waren Beziehungen, das Wissen, wo es etwas zu kaufen gab, sowie die Ausdauer beim stundenlangen Anstehen.

    Gorbatschows Reformen wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion häufig mit den Erfahrungen von Goethes Zauberlehrling verglichen. Letztlich war der sowjetische Staat nicht in der Lage, die neu entfesselten Marktkräfte in geordnete Bahnen zu lenken. Trotzdem kann die Perestroika nicht als wirtschaftspolitischer Fehler gesehen werden. Die Planwirtschaft hatte die Sowjetunion über Jahrzehnte in eine ökonomische Sackgasse geführt, die keinen einfachen Ausweg mehr offenließ.


    1. Bundeszentrale für politische Bildung: Stagnation, Entspannung, Perestroika und Zerfall ↩︎
    2. Götz, Roland (1994): Die Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur der UdSSR als Determinante der Perestroika, Köln ↩︎
    3. Inflationsbereinigt fielen die Importe von 45 Mrd. Dollar im Jahr 1980 auf 30 Mrd. Dollar im Jahr 1987: Gaĭdar, E.T. (2007): Collapse of an empire: lessons for modern Russia, Washington, D.C, S. 111 ↩︎
    4. The New York Times: Big soviet budget deficits are disclosed by Kremlin: Wasteful subsidies blamed ↩︎
    5. Auch bei staatlich festgelegten Preisen kann es zur Inflation kommen, bspw. wenn billige Güter nicht verfügbar sind und durch teure Alternativen ersetzt werden müssen, oder neue Versionen von Gütern ohne Mehrwert zu einem höheren Preis verkauft werden: Filatochev, I. and Bradshaw, R. (1992): The Soviet hyperinflation: Its origins and impact throughout the former republics, in: Soviet Studies, 44 (5), S. 739–759 ↩︎
    6. Countrystudies.us: Historical Background ↩︎
    7. The Baltimore Sun: Soviet food shortage not for lack of output Distribution, waste blamed for problem ↩︎

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    Die 1990er

    Die Wilden 1990er

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    Afghanistan-Krieg

    Perestroika

  • Eurasische Wirtschaftsunion

    Eurasische Wirtschaftsunion

    Die Eurasische Wirtschaftsunion (EAWU) ist das jüngste und bisher umfassendste Integrationsprojekt zwischen den großen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Bereits in den 1990er Jahren wurde im Rahmen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und der Gemeinschaft Integrierter Staaten, später dann als Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EURASEC) das Ziel einer engeren politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit verfolgt. Im Vergleich zu diesen Unionsbemühungen ist die EAWU allerdings mit deutlich tiefer greifenden Veränderungen verbunden.

    Auf der Grundlage der EURASEC wurde zunächst im Juli 2010 eine Zollunion ins Leben gerufen, die Belarus, Kasachstan und Russland umfasste. Ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, der den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit garantieren soll, trat im Januar 2012 in Kraft, bevor schließlich im Mai 2014 Belarus, Kasachstan und Russland die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion vereinbarten. Mit Armenien und Kirgisistan traten noch im ersten Jahr des Bestehens zwei neue Mitglieder bei.

    An einigen Stellen erinnern die Institutionen der EAWU an die Europäische Union. Analog zur EU-Kommission ist die paritätisch besetzte Wirtschaftskommission das wichtigste Entscheidungsgremium. Auch wirtschaftspolitische Vorgaben, die sich an den Maastricht-Kriterien orientieren, sind Teil des Vertragswerks. Ein Eurasisches Wirtschaftsgericht regelt zudem die Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten. Die EAWU verfügt über ein eigenes Budget in Höhe von etwa 95 Mio. EUR (7,7 Mrd. RUB1).

    Von außen betrachtet scheint die EAWU die Entwicklungsschritte der EU im Zeitraffer nachzuvollziehen. Allerdings hat sie noch nicht das politische Gewicht einer eigenständigen, supranationalen Organisation. Vor allem für die autoritär regierenden Präsidenten der zwei kleineren Gründungsmitglieder Kasachstan und Belarus ist die Souveränität ihrer Länder bisher wichtiger als der Integrationsgedanke. Immer wieder hatte Kasachstans langjähriger Präsident Nasarbajew darauf gepocht, dass es sich bei der EAWU um eine reine Wirtschaftsunion handeln solle2.

    Für die meisten Russen ist die EAWU nach Einschätzung des Soziologen Lew Gudkow ausschließlich ein Projekt politischer Eliten3. Anhand der Befragungen des Instituts WZIOM lässt sich allerdings nachvollziehen, dass die Zustimmung mit zunehmendem Alter der Befragten in Russland steigt und ein guter Teil sich im Rahmen der EAWU eine Neuauflage der Sowjetunion wünscht4.

    Die Notwendigkeit der eurasischen Integration ist dabei ein maßgebliches Anliegen des radikal-nationalistischen russischen Publizisten Alexander Dugin. Dessen Ideen sind allerdings nur im innerrussischen Diskurs von Bedeutung, nicht für die Rechtfertigung des Projekts nach außen: In Putins Gründungsansprache zur EAWU spielte Dugins Ideologie keine Rolle5.

    Tatsächlich  ist die Eurasische Wirtschaftsunion weder das von Dugin propagierte Imperium noch eine neue Sowjetunion, sondern vielmehr ein reines Zweckbündnis. Die Mitglieder im „Club der Diktatoren“ (Timothy Snyder7) haben unterschiedliche Ziele und sind nicht durch eine gemeinsame Idee verbunden. Freiheit und Menschenrechte werden im Vertragswerk8 der EAWU nur am Rande erwähnt und nicht – wie im Fall der EU – als Leitziele. Diese Rolle nehmen eindeutig pragmatischere Bestrebungen ein: Kasachstan ist vor allem am Zugang zu russischen Absatzmärkten gelegen, während Belarus auf Rohstofflieferungen aus Russland angewiesen ist. Für Armenien spielt die russische Militärpräsenz eine wichtige Rolle9.

    Der Prozess der Gründung und Integration der EAEU wird seit 2010 entschieden von Russland vorangetrieben. Im Gegensatz zu den 1990er Jahren verfügt Moskau heute durch sein ökonomisches und militärisches Gewicht gegenüber den anderen post-sowjetischen Staaten über viel Zuckerbrot und Peitsche. Dieser Druck ist vor allem für einige Länder der Östlichen Partnerschaft der EU deutlich zu spüren. Da EAWU-Mitglieder aufgrund der einheitlichen Zollpolitik nicht gleichzeitig Teil der EU-Freihandelszone sein können, wird mit einem EU-Assoziierungsabkommen der Beitritt zur EAEU erst einmal unmöglich. Als der ehemalige ukrainische Präsident Janukowitsch die EU-Assoziierung im Herbst 2013 auf russisches Drängen hin aussetzte, wurde dies zum Auslöser massiver Proteste in vielen ukrainischen Städten, die in Janukowitschs Absetzung und der Ukraine-Krise mündeten. Moskau belegte außerdem auch die Republik Moldau mit Wirtschaftssanktionen – Grund: die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU und die damit einhergehende Absage an die EAWU10.


    1. Evrazijskij Ėkonomičeskij Sojuz: O proekte rešenija Soveta Evrazijskoj ėkonomičeskoj komissii «O proekte rešenija Evrazijskogo mežpravitelʼstvennogo soveta «O proekte rešenija Vysšego Evrazijskogo ėkonomičeskogo soveta «O budžete Evrazijskogo ėkonomičeskogo sojuza na 2016 god» ↩︎
    2. kremlin.ru: Press statements following the Supreme Eurasian Economic Council meeting bzw. ausführlicher auf russisch: Izvestia: Evrazijskij Sojus: ot idei k istorii buduščego ↩︎
    3. Lewada.ru: Rossija, kotoruju vybiraet bolʼšinstvo, – kakaja ona? ↩︎
    4. Wciom.ru: Rossijane – o sozdanii Evrazijskogo ėkonomičeskogo sojuza ↩︎
    5. 3sat: Putins Eurasien: Die Ideologie hinter Russlands Expansionskurs ↩︎
    6. 3sat: Putins Eurasien: Die Ideologie hinter Russlands Expansionskurs ↩︎
    7. The New York Times: Don’t Let Putin Grab Ukraine ↩︎
    8. Das Vertragswerk in russischer Sprache: Dogovor o Evrazijskom Ėkonomičeskom Sojuse ↩︎
    9. Konrad-Adenauer-Stiftung: Die Eurasische Union: Ein Integrationsprojekt auf dem Prüfstand ↩︎
    10. Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wegen EU-Annäherung: Russland verhängt Sanktionen gegen Moldawien ↩︎

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    Alexander Dugin

    Krieg im Osten der Ukraine

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Die 1990er

    Auflösung der Sowjetunion

    Das Umfrageinstitut WZIOM

  • Importsubstitution

    Importsubstitution

    Eine von den meisten Ökonomen längst vergessene Wirtschaftspolitik feiert in Russland ihr spektakuläres Comeback. Seit dem Beginn der Ukraine-Krise hat sich die Importsubstitution zur zentralen wirtschaftspolitischen Zielsetzung entwickelt. Durch ein breit angelegtes Wirtschaftsprogramm sollen die Importsanktionen und der schwache Rubel dazu genutzt werden, die Abhängigkeit von Importgütern deutlich zu verringern.

    Importsubstitution ist eine entwicklungsökonomische Strategie, die auf das Ersetzen von Importen durch heimische Produktion abzielt. In den 1950er und 1960er Jahren versuchte eine große Zahl von Entwicklungsländern, auf diesem Wege Kapital und Know-How zu akkumulieren, um den Entwicklungspfad der Industrienationen nachzuahmen. Nach anfänglichen Erfolgen wurde aber deutlich, dass Importsubstitution mittelfristig einige Probleme mit sich bringt. Die Markteingriffe führten in den betreffenden Ländern zu Fehlanreizen und ineffizienter Kapitalnutzung, sodass Liberalisierung und Exportförderung in den Fokus der Ökonomen rückten. In den letzten beiden Jahrzehnten setzte sich dann im entwicklungsökonomischen Diskurs die Ansicht durch, dass ökonomische Entwicklung vor allem von Institutionen wie etwa dem Schutz von Eigentumsrechten abhängt1.

    Als Entwicklungsstrategie wird Importsubstitution heute – abgesehen von wirtschaftshistorischen Arbeiten – kaum noch diskutiert. Dennoch mauserte sie sich seit der Krim-Annexion zur neuen wirtschaftspolitischen Leitlinie Russlands (siehe Grafik). Am 9. April 2014 forderte Präsident Putin die Regierung auf, über Importsubstitution für Rüstungsgüter aus der Ukraine nachzudenken2. Die Substitutions-Debatte gewann mit den westlichen Sanktionen auf militärische Güter an Momentum und wurde im Rahmen der russischen Importverbote für Lebensmittel auf immer mehr Branchen ausgedehnt. Schließlich gab das Industrie- und Handelsministerium am 2. April 2015 in einer Reihe von Verordnungen für 19 verschiedene Branchen bekannt, wie die Importquoten in den kommenden Jahren zu senken seien3. So sollen bspw. die meisten der medizinischen Präparate, die 2015 zu 100 % importiert wurden, bis 2020 zu 90 % in Russland hergestellt werden. Allein schon der vorgesehene Zeitrahmen von fünf Jahren weckt dabei Erinnerungen an sowjetische Wirtschaftsplanung4.

    Doch nicht nur die Politik ist vom Substitutions-Fieber erfasst. Im Jahr 2015 fand in Russland eine Reihe ökonomischer und technischer Konferenzen5 statt, die nur diesem Thema gewidmet waren. Eine jährlich stattfindende Messe, auf der die Erfolge der Importsubstitution präsentiert werden, wurde ebenfalls ins Leben gerufen („Die anwesenden Spitzenpolitiker lobten die ausgestellten Produkte aus importersetzender Herstellung.“6). Sogar die Russisch-Orthodoxe Kirche hat sich für die nächste Substitutions-Messe im September 2016 angekündigt7. Angesichts dieser Begeisterung riefen zuletzt Ministerpräsident Medwedew und der Vorsitzende der Präsidialverwaltung Sergej Iwanow dazu auf, es bitte nicht zu übertreiben8.

    Als politischer Trend wirkt die Importsubstitution wie die nationalistische Schwester der unter Medwedews Präsidentschaft populären Modernisazija. Wieder werden (unerreichbare) wirtschaftliche Ziele gesteckt und wieder sollen sie durch zentrale Planung erreicht werden. Wieder haben Beamte und gut vernetzte Unternehmer schnell verstanden, dass sich das Schlagwort Importsubstitution dazu eignet, in den Genuss staatlicher Fördergelder zu kommen, was die begeisterte Rezeption der Idee in der russischen Elite erklärt. Der entscheidende Unterschied ist, dass Medwedews Modernisierung die russische Gesellschaft nach außen (d. h. vor allem nach Westen) öffnen sollte, während die Putin‘sche Importsubstitution das Land weiter isoliert.

    Wie steht es um die Erfolgschancen der russischen Bemühungen zur Importsubstitution? Tatsächlich importieren russische Unternehmen heute einen geringeren Anteil ihrer Anlagen und Vorprodukte als noch vor Jahresfrist9. Dafür sind aber nicht die Pläne und Subventionen des Industrieministeriums, sondern vielmehr die Devisenkurse verantwortlich: In Rubeln hat sich der Preis für ausländische Güter seit dem Sommer 2014 mehr als verdoppelt.

    Die staatlichen Maßnahmen mit der größten importsubstitutierenden Wirkung sind die abwechselnd außen- und hygienepolitisch begründeten Einfuhrverbote, die vor allem den Lebensmittel-Sektor betreffen. Durch sie steigen die Preise für Lebensmittel, was die Erlöse für die inländischen Produzenten steigert. Ob letztere allerdings – wie von der Regierung erhofft – deshalb in neue Produktionskapazitäten investieren, hängt von ihren Zukunftserwartungen ab. Lohnen würde es sich nur, wenn die Sanktionen für viele Jahre in Kraft blieben. Dabei haben die künstlich erzeugten Engpässe bei der Nahrungsmittelversorgung bereits unerwünschte Nebenwirkungen gezeigt: Die russische Lebensmittelaufsicht Roskomnadsor prüfte anhand einer Stichprobe die Zusammensetzung des in Russland verkauften Käses und stellte fest, dass einige russische Hersteller heimlich teure Milch durch billiges Palmöl ersetzten10. Für die Importsubstitution von Medikamenten sind das keine guten Vorzeichen.

    Doch selbst wenn es gelingt, die 19 Branchen aus dem Programm des Industrieministeriums von Importen unabhängig zu machen, ist dies aus ökonomischer Sicht kein Erfolg. Für den erzwungenen Aufbau von Industriezweigen werden zunächst die Verbraucher durch höhere Preise zur Kasse gebeten. Diese Form der Industriepolitik lässt sich rechtfertigen, wenn, wie bspw. im Fall der Energiewende, Pfadabhängigkeiten die Entwicklung von letztlich profitablen Industriezweigen verhindern. Die russische Importabhängigkeit geht aber eher auf Probleme wie mangelhafte Infrastruktur und Korruption sowie auf die Dominanz der Ressourcen-Exporte zurück (die sogenannte Holländische Krankheit). Deshalb werden die importsubstituierenden Betriebe in Russland dauerhaft am Tropf des Staatshaushalts hängenbleiben. Steigt der Ölpreis wieder, wird auch der Rubel wieder stärker und die ausländischen Güter konkurrenzfähiger in Russland. Sollten dann auch noch die Einfuhrverbote fallen, so wird die Industrie, um deren Aufbau man sich gerade bemüht, nur durch massive Subventionen überleben können. Abhängigere Unternehmen und mehr wirtschaftliche Kontrolle durch den Staat wären das Ergebnis – für den Kreml ist dies vermutlich kein Hinderungsgrund.


    1. Eine gute Übersicht zur Rolle der Importsubstitution in der Entwicklungsökonomik bietet: Bruton, Henry J. (1998): A Reconsideration of Import Substitution, in: Journal of Economic Literature, S. 903–936 ↩︎
    2. Ria Novosti: Putin poručil predstavitʼ predloženija o korrektivach po gosoboronzakazu ↩︎
    3. Ministerium für Industrie und Handel: Minpromtorg utverdil plany po importozameščeniju v 19 otrasljach promyšlennosti ↩︎
    4. Als Beispiel der Plan der pharmazeutischen Importsubstitution: Ministerium für Industrie und Handel: Prikaz ob utverždenii otraslevogo plana meroprijatij po importozameščeniju v otrasli farmacevtičeskoj promyšlennosti Rossijskoj Federacii ↩︎
    5. Siehe u. a.: Oficialʼnyj sait Administracii Sankt-Peterburga : V Peterburge prošla konferencija „Importozameščenie. Nepridumannaja istorija“ und ruscable.ru: Meždunarodnaja specializirovannaja vystavka „Ėlektričeskie seti Rossii“ sowie rsweek.ru: Strategičeskaja nezavisimostʼ gosudarstvennych i korporativnych informacionnych sistem Importozameščenie v cfere IKT ↩︎
    6. Imzam-expo.ru: 2-ja meždunarodnaja specializirovannaja vystavka „IMPORTOZAMEŠČENIE“ ↩︎
    7. Imzam-expo.ru: RPC primet učastie v vystavke „Importozameščenie 2016“ ↩︎
    8. The Moscow Times: Doing the Math on Importsubstitution und RBC.ru: Ivanov nazval «marazmom» stremlenie k totalʼnomu importozameščeniju ↩︎
    9. RBC.ru: Otečestvennoe ne berem: kak idet importozameščenie v Rossii ↩︎
    10. The Moscow Times: Doing the Math on Importsubstitution ↩︎

    Weitere Themen

    Präsidialadministration

    Gegensanktionen

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    Krym-Annexion

    Dimitri Medwedew

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Stabilisierung

  • Modernisazija

    Modernisazija

    Der Gedanke der Modernisierung hat in Russland eine lange Tradition. Viele Zaren, Generalsekretäre und zuletzt Präsidenten versuchten sich an der aufholenden Entwicklung zu einer stets im Westen liegenden Moderne. Als erfolgreichste unter ihnen würden die meisten Russen heute wohl Peter den Großen und Josef Stalin benennen. In der post-sowjetischen Geschichte Russlands ist das Schlagwort der Modernisierung vor allem mit der Präsidentschaft Medwedews verknüpft. Als Putin 2012 in den Kreml zurückkehrte, geriet Medwedews Vision eines modernen Russlands jedoch schnell in Vergessenheit.

    Im September 2009 wurde ein Artikel des damaligen Präsidenten Dimitri Medwedew veröffentlicht, der unter der Überschrift „Rossija vperjod“ (Russland, vorwärts) eine grundlegende Modernisierung Russlands forderte.1 Er prangerte die Rückständigkeit der russischen Wirtschaft, aber auch der russischen Politik und Gesellschaft an und stellte tiefgreifende Reformen in Aussicht. Durch technologischen Fortschritt sollte Russlands Wirtschaft hochproduktiv und vom Ölexport unabhängig, aber auch gerechter und weniger korrupt werden. Mehr politische Freiheit fand sich ebenfalls unter den von Medwedew verkündeten Zielen.2

    Für einige Jahre wurde die Modernisierung vor allem in der liberalen Elite Russlands intensiv diskutiert. Medwedew versuchte, seine Ideen in Vorzeigeprojekten zu manifestieren. In Skolkowo nahe Moskau sollte gemeinsam mit ausländischen Unternehmen ein Hightech-Industriepark ins Leben gerufen werden, um den Brain Drain der russischen Spitzenkräfte ins Ausland aufzuhalten.3 Auch im Ausland fanden die Pläne des dritten russischen Präsidenten Beachtung. Bereits im Jahr 2008, wenige Tage nach dem Amtsantritt Medwedews, sprach sich der deutsche Außenminister Steinmeier für eine „Modernisierungspartnerschaft“ zwischen Russland und Deutschland aus.4 Als Ziel dieser Modernisierungspartnerschaft nennt das Auswärtige Amt noch heute, die „demokratischen und marktwirtschaftlichen Institutionen mit der Unterstützung der Zivilgesellschaft zu stärken“5.

    Mit der Rückkehr Putins in den Kreml endete der Modernisierungsdiskurs in Russland 2012 abrupt.6 „Modernisazija“ fand in den Reden des Präsidenten keine Erwähnung mehr und verschwand aus den Nachrichten (siehe Abb. 1). Über Skolkowo wurde nur noch in Zusammenhang mit Korruptionsskandalen berichtet. Die Modernisierungspartnerschaft zwischen Deutschland und Russland verwaiste zu einer leeren Worthülse. Zwar stiegen die deutsch-russischen Handelsumsätze, allerdings war die Folge nicht institutioneller Wandel sondern vielfach die Reproduktion des Status quo.7 Heute scheint Russland von Medwedews Modernisierungsambitionen weiter entfernt denn je.

    Fraglos enthielten die Reformimpulse von Medwedew auch eine große Portion politischer PR. Allerdings zeigten sie auch, woran eine echte Modernisierung im heutigen Russland scheitert. Unter Stalin konnte die Produktivität durch erzwungene Industrialisierung noch mit Gewalt erhöht werden, ohne die Macht der Staatsführung zu gefährden. Heute wäre die ökonomische Modernisierung Russlands und der dafür notwendige Strukturwandel nur durch dezentrale unternehmerische Initiative zu erreichen.8 Dabei würde das ökonomische und politische Establishment unter Druck gesetzt. Für jede Form der politischen Reformen gilt dies umso mehr. Eine echte Modernisierung wäre für den Kreml mit einem Maß an Kontrollverlust verbunden, zu dem dieser zu keiner Zeit bereit war.


    1. Kremlin.ru: Rossija wpered! ↩︎
    2. Schröder, Hans-Henning (2009): Modernisierung “von oben”, in: Russland-Analysen 2009 (192), S. 2-6 ↩︎
    3. Br.de: Russlands Modernisierung ↩︎
    4. Auswaertiges-amt.de: Rede des Außenministers Frank-Walter Steinmeier am Institut für internationale Beziehungen der Ural-Universität in Jekaterinburg ↩︎
    5. Auswaertiges-amt.de: Partner in Europa ↩︎
    6. Bpb.de: Analyse: Vorwärts Russland! Die Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung ↩︎
    7. Burkhardt, Fabian (2013): Neopatrimonialisierung statt Modernisierung – Deutsche Russlandpolitik plus russischer Otkat, in: Osteuropa 2013 (8), Berlin, S. 95-106 ↩︎
    8. Yakovlev, Andrej (2011): Modernisazija: Wsgljad snisu ↩︎

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