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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Schnur hält die Fäden zusammen

    Schnur hält die Fäden zusammen

    Er füllt Clubs und Konzerthallen zuverlässig: Musiker und Rüpel Sergej Schnurow mit seiner Ska-Punk-Band Leningrad. Er ist das Aushängeschild des russischen Undergrounds. So sehr, dass Schnurow eigentlich schon wieder kein Underground ist: Weil er zu den beliebtesten Musikern in Russland zählt. Jedenfalls für die Menschen, bei denen er mit seinem exzessiven Schimpfwortgebrauch – in Russland ist so etwas ein absolutes Tabu – den Ton für ein Lebensgefühl trifft. Und das seit knapp 20 Jahren. Wie schafft er das, fragt sich Jan Schenkman in der Novaya Gazeta? Ein Porträt.

    Wir bringen den Menschen Lachen und Freude – Sergej Schnurow / Foto © Gennadi Guljaew/Kommersant
    Wir bringen den Menschen Lachen und Freude – Sergej Schnurow / Foto © Gennadi Guljaew/Kommersant

    Angst, blöd rüberzukommen, kennt Schnurow nicht, das ist ihm schon lange scheißegal. Seit vielen Jahren sagt er immer dasselbe, verändert nur die Form, aber mit ihm zu reden, ist immer wieder interessant. Der Bandleader von Leningrad versteht es wie sonst niemand, die kompliziertesten Dinge auf das Wesentliche zu reduzieren. Jede Antwort ein Aphorismus, wie der Refrain: „Nüchtern bin ich ein Leningrader, betrunken ein Petersburger.“ 

    – Wovor haben Sie am meisten Angst?

    – Ich habe manchmal Anfälle absoluter Furchtlosigkeit. Das macht mir Angst.

    Eine blitzschnelle Reaktion, aber man sieht sofort, wie müde er ist. 2017 feiert Leningrad Jubiläum – 20 Jahre. Nach wie vor macht es Schnurow Spaß, Lieder zu schreiben und zu spielen, das gelingt ihm immer noch gut. Aber was er echt nicht versteht: Wieso soll er für das gesamte Gefüge der Welt geradestehen und Fragen zum Thema „Wie gestalten wir Russland“ diskutieren? Warum wählt ihn das Männermagazin GQ mit beneidenswerter Regelmäßigkeit zum Mann des Jahres, und das ganze Land freut sich? Warum ändert sich so lange nichts?   

    Ganz einfach. Man kann gut und gerne sagen, Russland sei hoffnungslos in den 2000er Jahren stecken geblieben und könne sich nicht davon lösen – und der wichtigste Gestalter der 2000er ist nun mal Sergej Schnurow. Er hat die Tür nach den 1990-ern eigenhändig geschlossen und sich dabei als letzter unter unseren Rockstars eingereiht, obwohl er sich gar nicht als Rocker sieht. Von daher haben viele das Gefühl: Es hatte doch alles so gut begonnen – Grebenschtschikow, Zoi, Schewtschuk – und am Ende dann: Schnur. Haben wir etwa davon geträumt? Sind das nicht Anzeichen von Verfall?

    Die Kritik trifft den Falschen. Jede Zeit hat ihre Lieder, und für die Zeit, in der wir leben, hat er ein sehr genaues und feines Gespür. Die 2000er Jahre haben, ganz ihrem Namen entsprechend, alle Werte annulliert und uns von der Pflicht befreit, klug, ehrlich und gut zu sein. Genau das hat auch Schnur getan, noch dazu auf geistig und künstlerisch hohem Niveau. Seine zentrale Botschaft: Ja, so missraten sind wir, aber drauf geschissen, entspannt euch, besaufen wir uns, und komme, was da wolle.    

    Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht

    Oh, wie euphorisch wir in den Clubs abgetanzt haben! Zu Ljudi ne letajut (dt. Menschen fliegen nicht) und Po kakoj-to gluposti nam wsem moshet powesti (dt. Aus Dummheit kann jeder mal Glück haben). Das war der nächste Schritt nach Mamonows Ja gadost, ja dran, sato ja umeju letat (dt. Ich bin widerlich und dreckig, aber dafür kann ich fliegen!). Nicht mal fliegen war also unbedingt nötig. Ja, so sind wir, na und? Wir können nichts, wir wollen nichts, Hauptsache der Ölrubel rollt, bei Auchan ist Ausverkauf, und ein Türkeiurlaub kostet sowieso nichts.

    Er sang: Nikowo ne shalko, nikowo, ni tebja, ni menja, ni ewo (dt. Leid tut einem niemand, nicht du, nicht ich, nicht er). Und wenn einem niemand leid tut, kann man sich alles erlauben. Lügen und Betrügen, Diebstahl und Besäufnis, dumme Weiber und debiles Gerede über Handys und Kohle. Ja, so sind wir.     

    Klingt fürchterlich, aber man kann es auch anders sagen: Schnurow hat uns erlaubt, wir selbst zu sein und uns darüber keinen Kopf zu machen. Die PR-Agenten von Pelewin, falls sich noch jemand erinnert, haben Unruhe verkauft, Schnur hingegen wirkt trotz seiner Exzentrik tröstlich. „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen“, sagte er bei Posner, „und es damit auch ein klein wenig überwinden. Die Energie der russischen Selbstzerfleischung verwandeln wir in eschatologische Begeisterung.“  

    https://youtu.be/Lq7gJqXobcE?t=14m

     
    Sergej Schnurow bei Wladimir Posner: „Du kannst damit leben, es als Teil von dir annehmen.“

    Sein liebster Trick – die Latte so tief zu hängen, dass man gar nicht tief fallen kann. Er identifiziert sich weder mit  Großmachtstreben noch mit Antitotalitarismus, weder mit Avantgardekunst noch mit den Klassikern der russischen Literatur, so etwas nervt ihn ernsthaft. Es widerspricht seinem inneren Grundprinzip, sich selbst als schwarzes Schaf zu lieben. Sein Credo: Was auch immer der Mensch aus sich gemacht hat, von seinen Höhlen bewohnenden Vorfahren hat er sich nicht weit entfernt. Egal ob im Beamtensessel, unter der Brücke, auf dem Bolotnaja-Platz oder auf der Baustelle – alle sind gleich und ebenbürtig, wie nackt in der Banja. Niemand ist besser.

    Wegen seiner landesweiten Popularität, seiner Ausgelassenheit und seines zwielichtigen Anstrichs wird Schnur oft mit Jessenin und Wyssozki verglichen. Hört man allerdings genau hin, dann ist die Analogie eine andere, nämlich Dowlatow:

    „Tolja“, sage ich zu Naiman. „Lass uns doch Lew Ryskin besuchen.“ – „Nein, will ich nicht. Der ist so sowjetisch.“ – „Wie, sowjetisch? Sie irren sich!“ – „Na, dann eben antisowjetisch. Ist doch egal.“ 

    In diesem Sinne ist Schnurow natürlich eine Klammer. Einen anderen, der es schafft, unsere entzweigerissene, hasserfüllte Gesellschaft zu vereinen, haben wir schlichtweg nicht. Dass in seinem Lied 37 nicht das Jahr ist, in dem die stalinistischen Repressionen ihren Höhepunkt fanden, sondern lediglich eine Schuhgröße, ist ja kein Zufall. Und es ist auch kein Zufall, dass im Clip zu V Pitere – pit (dt. Piter – das heißt Trinken) ein Verkehrspolizist zuerst in die Newa geworfen wird, und später säuft man dann gemütlich miteinander. Denn eine Uniform lässt sich ausziehen und zu 1937 kann man so oder so stehen, aber Frauen wollen Kleider und Männer wollen Wodka – das wird keine Ideologie der Welt jemals ändern.     

    Mir gegenüber hat er diesen Gedanken mal anders ausgeführt: Die Band Leningrad stehe für Party und Liebe. Selbst wenn man eins hinter die Löffel bekommt, am Schluss müssen sich alle umarmen. Seine Lieblingsplatte sind die Bremer Stadtmusikanten, und das erklärt einiges: „Wir bringen den Menschen Lachen und Freude.“

    Man findet bei ihm massenhaft vulgäres Mat, auch Brutalität und Grobheiten, aber nie Bosheit und Aggressionen. Wissenschaftlich sind schwere Schlägereien bei Leningrad-Konzerten jedenfalls keine belegt. Und selbst wenn etwas passiert, liegen sich am Ende tatsächlich alle in den Armen. Es gibt keinen Grund, einander ernsthaft böse zu sein.   

    Nur wenige bemerken, dass diese Musik eigentlich sehr warmherzig ist. Die Lippen formen sich von selbst zu einem Lächeln, alle sind glücklich. Das Geheimnis ist einfach: „Ich verspüre keinen Hass auf mein Volk“, sagt Schnurow. „Ich lebe hier, ich bin genau so, und ich bin auch nicht von mir begeistert. Man braucht sich nur nicht über andere zu stellen, dann ist niemand sauer.“

    Aber gerade das ist es, was sie sauer macht – die einen wie die anderen: Liberale genauso wie Patrioten. Dass der im Großen und Ganzen harmlose und apolitische Schnur auf einmal so viele aufregt, ist ein zuverlässiges Zeichen für tektonische Verschiebungen in der Gesellschaft.  

    Folgendes ist passiert: Als er jegliche moralische Ansprüche auf null herunterschraubte und den Leuten ihr wahres Wesen zurückgab, war Schnur sich sicher, dass dieses Ass nicht übertrumpft würde. Für die 2000er Jahre stimmte das auch. In den 2010er-Jahren zeigte sich aber, dass es auch unter null geht. Schnur hat sich nicht geändert, er hat im Grunde getan, was er immer getan hat: Freude verbreitet, den Skomoroch, den Possenreißer gespielt. Ich weiß noch gut, wie bei einer Feier in seinem Betrieb Männer im Smoking und Frauen im Abendkleid einträchtig das Drei-Buchstaben-Wort schrien, das die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor verboten hat. Genau das gleiche taten die einfach gekleideten Besucher auf seinen Stadionkonzerten. Und alle waren happy.

    Doch dann kam es irgendwie unbemerkt zu einem Aufwallen von Wut. Schnur ist allerdings bis dato überzeugt, dass sich der Shitstorm hauptsächlich auf das Internet beschränkt, während im echten Leben eigentlich alle ganz normal sind. Dass alle, wie Babel schrieb, nach wie vor nur daran denken, ein gutes Gläschen Wodka zu trinken, irgendwem eins auf die Schnauze zu geben, und an die eigenen Pferde – sonst nichts.   

    Nicht alle. Sonst hätte sein Song mit dem Refrain Ty wse Rossiju proslawljajesch, a lutsche b musor wynosil  (dt. Dauernd lobst und preist du Russland, bring doch lieber Müll runter) nicht so viele negative Gefühle hervorgerufen. Ja, sogar die völlig harmlosen Louboutins, die ein Publikum der Bevölkerungszahl Finnlands begeisterten, kamen auf einmal irgendwem sexistisch vor. Die Liberalen motzen: Im Land herrscht Totalitarismus, und er singt von Titten. Nichts anderes als ein Handlanger des Regimes. Und so weiter … Man braucht ja nur Nachrichten zu lesen, um sich ein Bild vom Ausmaß des Unheils zu machen, von der Zerrüttung in den Köpfen.  

    Nun gut, Schnur hatte ernsthaft gedacht, es sei unmöglich, die Latte niedriger zu hängen als er, aber die Gesellschaft hat sich ordentlich ins Zeug gelegt und das fertiggebracht. Und es ist erstaunlich: der Einzige, der dem entgegensteht, ist er. Er  behält seine Position bei, aufseiten der Normalität, und verteidigt diese Normalität nach Leibeskräften. Denn Punk sein bedeutet heute nicht, auf facebook über Russland zu schimpfen und Fotoausstellungen zu demolieren, sondern man selbst zu bleiben und sich nicht dem Irrsinn hinzugeben.  

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  • Die Plakat-Partisanen

    Die Plakat-Partisanen

    Mitten in Moskau war er zu sehen: Putin mit Panamahut à la Johnny Depp und der Frage „Welches Panama?“. Das Plakat prangte unmittelbar nach Veröffentlichung der Offshore-Recherchen auf Bushaltestellen im Stadtzentrum.
    Nach den harten Haftstrafen für Teilnehmer der Bolotnaja-Proteste und seit immer mehr Pikety von der Staatsmacht unterbunden werden, haben Russlands Kreative eine neue, stille und anonyme Form des Protests gefunden: Plakate.

    Jan Schenkman sprach für die Novaya Gazeta mit zwei Machern und stellt einige ihrer aufsehenerregendsten Aktionen vor.

    Sie sind plötzlich da. An Haltestellen, auf Werbetafeln. Wo sie das nächste Mal auftauchen, weiß man nicht. In der Uliza Pokrowka war es ein Plakat, das einen Gratis-Käse in einer Mausefalle zeigte. Hätte das womöglich Sozialmarketing sein können? Ohne weiteres, rein äußerlich war der Unterschied kaum zu erkennen. Bloß hatte der Käse auf diesem Bild die deutlich ausgeprägten Umrisse der Halbinsel Krim. Und tauchte just an dem Tag auf, als Russland die Angliederung der Krim feierte.

    Die Krim – ein Gratis-Käse in der Mausefalle? Foto © Ilya Varlamov
    Die Krim – ein Gratis-Käse in der Mausefalle? Foto © Ilya Varlamov

    Am 5. März, dem 63. Todestag Stalins, wurde ein neuer Slogan geboren: „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere.“ Das ist ebenfalls ihr Werk. Der Text steht auf einem professionell gemachten Plakat, das plötzlich an den Haltestellen hing. Stalins Totenmaske und dazu dieser Spruch. Die Leute gehen vorbei und denken: „Haben wir etwa eine neue Regierung?!“

    Welches Panama?

    Auf den Offshore-Skandal neulich folgte dann eine vollends lakonische Reaktion: das Portrait des russischen Präsidenten in Gestalt eines der Protagonisten von Fear and Loathing in Las Vegas. Dazu die rhetorische Frage: „Panama? Welches Panama?“ Soll heißen: Wovon reden Sie, noch nie gehört … Und das alles mitten auf dem Moskauer Gartenring.

    Welches Panama? Foto © Oleg Kaschin
    Welches Panama? Foto © Oleg Kaschin

    Professionelle Plakatierer sagen, das sei alles keine große Kunst. Übermannshohe Werbebanner auszutauschen dagegen, das sei wirklich knifflig. Das erfordere Erfahrung im Industrieklettern und entsprechende Fähigkeiten. Die Vitrinenkästen hingegen könne man in der Regel mit einem Universalschlüssel oder einem gewöhnlichen Stemmeisen öffnen. Ist man zu zweit und hat etwas handwerkliches Geschick, dann sei die Sache in einer halben Stunde erledigt. Selbst im Dunkeln.

    Zumal die Aktivisten die meisten Plakate außen auf die Scheibe draufkleben, der Kasten also nicht einmal geöffnet wird. Und der materielle Schaden: verschwindend gering, es geht ja nichts kaputt. Na, und wie viel mag es kosten, den Glaskasten zu putzen? Höchstens 5000 Rubel [70 Euro].

    Putins größte Hits

    Die Aktionen der vergangenen Monate sind keineswegs die erste Attacke auf den städtischen Raum. Als der Präsident im vergangenen Dezember eine Pressekonferenz gab, tauchten am selben Tag in Moskau gleich zwei Plakate auf: Auf dem Plakat beim Theater Sowremennik hing die Ankündigung für die abendliche Vorstellung. [Gegeben wurde TschaikaDie Möwe von Anton Tschechow – dek.] Im Prinzip sah fast alles aus wie immer, nur unten links in der Ecke stand: Warum man die Möwen (ru. Tschaiki) nicht einbuchtet – Monolog, gelesen von Juri Tschaika. Eine eindeutige Anspielung auf [den Korruptionsskandal um] den russischen Generalstaatsanwalt.

    Das zweite Plakat sah aus wie eine Konzertankündigung des russischen Schlagerstars Filipp Kirkorow, bloß dass Wladimir Putin hier abgebildet war. „Auf allen Fernseh-Bildschirmen des Landes! Seine größten Hits!“ Darunter verschiedene Zitate: „2015 wird sich ein Drittel aller Russen eine Eigentumswohnung leisten können“, „Der Rubel fällt – die Einkommen steigen“ und weitere Sprüche dieser Art.

    Völlig neue Proteststrategie

    Diese Proteststrategie ist für Moskau vollkommen neu. Das heißt, ein paar Versuche gab es früher schon, doch jetzt wird sie zum Trend. In Zeiten, in denen sämtliche nichtgenehmigte und mitunter auch genehmigte Pikety und Kundgebungen unterbunden werden, sieht es so aus, als gäbe es im öffentlichen Raum keine andere Form mehr, die eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen.

    Und nicht nur in der Hauptstadt: Die Praxis verbreitet sich im ganzen Land. In der Nähe von Rostow war an einer völlig kaputten Straße ein Banner aufgetaucht mit dem Aufruf, die regierende Partei zu wählen: „Gib deine Stimme dem Einigen Russland, und dein Leben sieht so aus wie diese Straße hier.“ Wenn man genau hinschaut, stößt man in allen möglichen Städten auf solche Aktionen. Und das ist erst der Anfang.

    Keiner weiss, wie reagieren

    Auch die Anonymität irritiert die Leute. Bis heute wurde kein Mitwirkender an den Plakataktionen verhaftet. Und man kann ihnen ja auch nicht wirklich etwas vorwerfen: Es gibt keine vulgäre Sprache, auch keine Aufrufe zum Sturz der bestehenden Ordnung. Es geht einfach nur um den Witz, und der ist nicht einmal besonders boshaft. Die Behörden stecken in einer Sackgasse und wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Okay – illegales Plakatekleben. Aber das ist auch alles.


    Jewgeni Lewkowitsch: „Ich wollte einfach, dass die Leute lächeln“

    „Das ist eine ziemliche punkige Aktion“ – Plakataktivist Jewgeni Lewkowitsch. Foto © Novaya Gazeta
    „Das ist eine ziemliche punkige Aktion“ – Plakataktivist Jewgeni Lewkowitsch. Foto © Novaya Gazeta

    Der Einzige, der sich zu dem Plakat mit Putin à la Kirkorow bekannt hat, ist der Moskauer Aktivist und Gründer der Vereinigung Julia & Winston

    „… der sich dazu bekannt hat” – das stimmt so nicht ganz. Wir haben unsere Urheberschaft nie geheim gehalten. Von Anfang an haben wir alles ganz offen gehandhabt, alles auf Facebook gepostet. Ich finde es sinnlos, vor etwas Angst zu haben, in einer Situation, wo sie dich wegen nichts auf der Straße aufgabeln können. Es kommt sowieso aufs Gleiche raus. Die Leute werden eingebuchtet, weil sie irgendwelche Posts geteilt oder geliked haben, also wovon reden wir hier? Entweder man hat vor gar nichts Angst oder vor allem. Alles, was ich weiß, ist, dass sich die Firma, der die Plakatvitrinen gehören, beim Ermittlungskomitee beschwert hat. Aber ich verfolge das nicht weiter, ehrlich gesagt. Es kommt, wie es kommt.

    Wie viele Exemplare gab es insgesamt?

    Vier, wenn ich mich recht erinnere. Das Ganze ist eine ziemlich kostspielige Angelegenheit: Es sind selbstklebende Hochglanzposter, und dann in dieser Größe. Rund 15.000 Rubel [200 Euro] haben die vier Plakate gekostet. Und das war schon mit Rabatt, über Beziehungen.

    Ich finde es sinnlos, vor etwas Angst zu haben, in einer Situation, wo sie dich wegen nichts von der Straße wegschnappen können

    Ich würde am liebsten ständig welche aufhängen, Ideen habe ich jede Menge. Aber woher soll ich jeden Monat 15.000 Rubel nehmen? Wir haben für die Aktion Geld im Netz gesammelt. Haben es direkt so formuliert: „So viel Geld, wie wir zusammenbekommen, so viel Plakate werden wir machen.“

    Putins größte Hits – Konzertplakat mit Zitaten des Präsidenten. Foto © Julia & Winston

    Und wie lange hat der Pseudo-Kirkorow gehangen?

    Bis zum nächsten Abend. Die Leute liefen vorbei und haben geguckt. Manche haben geschimpft, anderen hat’s gefallen. Und dann haben wir die Leute befragt, mit der Kamera: Welche Putin-Schlager kennen Sie? Manche dachten tatsächlich, es gebe ein Konzert und der Präsident würde auftreten und singen.

    Worum geht es mehr bei dieser Aktion – um Performance oder um politischen Protest?

    Es ist eher eine Notlösung. Sich mit Plakaten auf die Straße zu stellen ist heutzutage komplett sinnlos. Da steht man und niemand guckt, und wenn jemand guckt, dann das Zweite Operative Regiment der Polizei. Unser Plakat hing wesentlich länger als ich mit ihm auf der Straße hätte stehen können. Es ist größer, es ist farbenprächtiger, fällt doller auf, mehr Leute sehen es. Und ich riskiere in dem Moment nicht, verhaftet zu werden. Es ist in etwa das Gleiche wie ein Einzelprotest, aber um ein Vielfaches effektiver. Wenn das jemand als Performance begreift – bitteschön, aber ich persönlich sehe das nicht so.

    Da steckt kein tieferer Sinn dahinter, ich wollte einfach, dass die Leute mal lächeln und sich ein bisschen freier fühlen

    Ich komme vom Punk, und aus meiner Sicht ist das mit den Plakaten eine ziemlich punkige Aktion. Da steckt kein tieferer Sinn dahinter, ich wollte einfach, dass die Leute mal lächeln und sich ein bisschen freier fühlen. Unsere Stadt ist in dieser Hinsicht vollkommen tot, jede kleine Umtriebigkeit macht sie schöner.

    Das einzige, wogegen ich bin – man darf nicht zum Mord aufrufen. Ich fand schon unser Plakat „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere“ vom ethischen Standpunkt aus ziemlich an der Grenze. Jemandem öffentlich den Tod zu wünschen, das ist irgendwie naja. Man muss Mensch bleiben, sonst unterscheiden wir uns durch nichts von all diesen Blutsaugern.

    Aber ich kann auch Menschen nicht verurteilen, die in Extreme verfallen. Ich kann mich auch nicht immer beherrschen. Ich kenne eine Masse anständiger Leute, die Putin unterstützen. Wenn die auch nur ein böses Wort oder derben Ausdruck über ihn sehen, betrachten sie gleich die gesamte Opposition als übles Gesindel.


    Alexej Zwetkow, Schriftsteller, Theoretiker der linken Bewegung: „Die Plakatmacher machen mit der Staatsmacht einen Idiotentest.“

    „Eine andere Welt ist möglich“ – Alexej Zwetkow. Foto © Novaya Gazeta
    „Eine andere Welt ist möglich“ – Alexej Zwetkow. Foto © Novaya Gazeta

    „Das Verfahren ist altbekannt, es nennt sich Aneignung. Es geht darum, nicht gemäß den Regeln, sondern mit den Regeln zu spielen. Im Westen machen das die radikalen Linken, weil sie nicht an die Demokratie glauben. Sie betrachten sie als Spektakel, das die Eliten für die naiven Massen veranstalten.

    Es geht darum, nicht gemäß den Regeln, sondern mit den Regeln zu spielen

    Bei uns bezweifeln die Leute, die die Plakate kleben, dass ihnen das System auch nur die geringste Möglichkeit gibt, Politik mitzugestalten. Interessanterweise formuliert die Staatsmacht sämtliche Beanstandungen an den Plakaten in wirtschaftlichen Termini: nichtbezahlte Werbefläche, Eigentumsverletzung. Die politische Botschaft wird dabei in keiner Weise kommentiert. Es sei unbefugte Werbung, heißt es. Aber Werbung wofür? Für Protest?

    Das Plakat mit der Käsekrim hat eine doppelte Bedeutung: Auf der einen Seite die Krim als geopolitischen Köder, durch dessen Einverleibung die Staatsführer sich und alle anderen zur Isolation und dem Status von Ausgestoßenen verdammt haben.
    Auf der anderen Seite aber haben die meisten Kommentatoren sofort auf den Gratis-Käse in der Mausefalle abgehoben – was die Logik einer Welt offenbart, in der alles zur Ware wird und in der es einst überhaupt nichts mehr umsonst geben wird.

    „Tschaika“ [Möwe] – Wortspiel mit Tschechows Theaterstück und dem gleichnamigen Generalstaatsanwalt. Foto © Olga Romanowa
    „Tschaika“ [Möwe] – Wortspiel mit Tschechows Theaterstück und dem gleichnamigen Generalstaatsanwalt. Foto © Olga Romanowa

    Bei der Tschaika-Aktion hat man sich die Marke des Theaters Sowremennik [dt. Zeitgenosse – dek] angeeignet, ein fremdes Image mitbenutzt. In Europa wird in der Regel die Marke eines offenkundigen Gegners benutzt. Nun bringt kaum jemand das Theater Sowremennik mit staatlicher Propaganda in Verbindung, hier ging es offensichtlich um das Wortspiel.

    Interessanter ist das Plakat mit Stalin und dem Satz: „Der eine ist tot. Und irgendwann stirbt auch der andere”. Das hat das System als eindeutig gefährlich wahrgenommen, Polizisten versuchten sich vor das Plakat zu stellen und es zu verdecken, so dass die Leute es nicht fotografieren konnten.

    Doch kaum hatten sie das Plakat abgenommen, tauchten in der Stadt neue Plakate auf: mit demselben Text, aber einer Darstellung des ägyptischen Gottes Thot.

    Die Plakatmacher machen mit der Staatsmacht gewissermaßen einem Idiotentest: Ab welchem Niveau hört das System auf, einen Inhalt als gefährlich wahrzunehmen, was muss das für ein Bild sein, wie absurd muss es sein?

    Das war eine Revolution im Miniaturformat

    Die ersten Aneignungsaktionen gab es in den sechziger Jahren in Westeuropa und den USA, von jungen Rebellen, die sich Situationisten nannten. Die Aneignung war ihrer Meinung nach das Gegenstück zu der für den Kapitalismus grundlegenden Entfremdung. Und der war permanent Gegenstand ihres kreativen Spotts. Jede ihrer Aktionen war das Versprechen, dass die Menschheit die ganze Welt vereinnahmen und alles allen gehören wird.
    Das war eine Revolution im Miniaturformat: den Sinn von Plakaten, Reklameschildern oder den damals modernen Comics zu verändern, indem man ihnen einen subversiven Inhalt unterlegte.

    Diese Tradition hat sich bis heute gehalten. Globalisierungsgegner brachten [2008 bzw. 2009] jeweils täuschend echte eigene Versionen der New York Times und der ZEIT heraus. Perfekte Kopien in Schrift und Layout, in denen es hieß, die wesentlichen Ideen der Globalisierungsgegner seien Wirklichkeit geworden: die Ungleichheit werde abgebaut, die Kriege würden beendet, Börsenspekulationen verboten, Wohnraum sei von nun an kostenlos, die Welt auf dem Weg zu einer ökologischen Produktionsweise usw.
    So wurden, in spielerischer Form, virale Botschaften in die Welt gesetzt und die Losung „Eine andere Welt ist möglich!“ versinnbildlicht.

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