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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Christ-Erlöser-Kathedrale

    Christ-Erlöser-Kathedrale

    Die Christ-Erlöser-Kathedrale steht am linken Ufer der Moskwa in unmittelbarer Nähe zum Kreml. Sie wurde als Denkmal des Sieges über Napoleon konzipiert und entwickelte sich zum zentralen Gotteshaus der Russisch-Orthodoxen Kirche. In den 1930ern wurde die Kathedrale gesprengt, in den 1990ern originalgetreu wieder aufgebaut. Ihre Rolle im heutigen Russland ist dabei weiter kontrovers: Den Status als Heiligtum der Orthodoxie hat die Christ-Erlöser-Kathedrale längst wiedererlangt – verkörpert jedoch zugleich das enge Band zwischen Staat und Kirche.

    So groß und einzigartig wie der Sieg gegen Napoleon im Vaterländischen Krieg für Russland war, so groß und einzigartig sollte das Denkmal für dieses Ereignis sein. Die europäische Großmacht wollte schließlich auch architektonisch ihren Geltungsanspruch herausstreichen.1 Der erste Entwurf aus dem Jahr 1812 sah daher nichts weniger vor, als die größte Kathedrale der Welt zu errichten.2

    Als sich der Baugrund an den Sperlingsbergen im Südwesten Moskaus als unzureichend erwies und der Architekt Alexander Witberg sich zudem in eine Korruptionsaffäre verstrickte3, erhielt an seiner Stelle 1832 Konstantin Thon den Zuschlag. Wittberg wurde nach Sibirien verbannt. Auf Anweisung des Zaren Nikolaj I. wurde die Kathedrale ab 1839 in fußläufiger Entfernung zum Kreml errichtet4 und, nach über vierzigjähriger Bauzeit, im Jahr 1883 eingeweiht.

    Im Unterschied zu Witbergs klassizistischem Projekt steht der realisierte Entwurf Thons in der russisch-byzantinischen Architekturtradition. Diese nimmt Bezug auf die seit den 1830er Jahren entwickelte Politik der offiziellen Volkstümlichkeit Nikolajs I. Als Vorlagen dienten Thon zum einen die altrussischen Kirchen Moskaus und Wladimirs, zum anderen die Sophienkathedrale in Kiew. Die Kathedrale sollte zum Nationaltempel werden, der dem Krieg als wichtigstem Ereignis in der nationalen Geschichte gewidmet wurde und die damit verbundene nationale Mythologie untermauerte. Als größte Kirche im orthodoxen Raum verkörpert das Gebäude auch die im 19. Jahrhundert wiederbelebte Idee, Moskau repräsentiere als Zentrum des orthodoxen Christentums das dritte Rom. Mit der Verbreitung der Slawophilie-Ideologie wurde die Idee des dritten Roms wiederbelebt, in dieser Kirche ist sie verkörpert.5

    Mit ihren 103 Metern Höhe war die Kathedrale von vielen Punkten der Stadt aus sichtbar. Die unmittelbare Nähe zum Kreml symbolisierte dabei die wechselseitige Abhängigkeit und enge Verzahnung von geistlicher und weltlicher Macht im zaristischen Russland.6 Die Symbolwirkung dieses Ortes an der Moskwa unterstreicht auch der brutale Umgang der Sowjetmacht mit dem Gebäude: Im Jahr 1931 wurde die Kathedrale gesprengt, um Platz zu schaffen für ein monumentales Bauprojekt, das als Symbol der Revolution bereits 1918 diskutiert wurde.7 Der Palast der Sowjets sollte mit einer Höhe von 450 Metern und einer über 50 Meter hohen Lenin-Statue die Großmachtsymbolik fortsetzen. Er wurde freilich – wegen erneuter Baugrundmängel und der Belastungen des Zweiten Weltkriegs – nie fertiggestellt. Ab 1960 wurden seine Fundamente kurzerhand zum größten Freibad der Welt umfunktioniert, das bis 1993 betrieben wurde.8

    In der sowjetischen Epoche waren die orthodoxe Kirche und ihre Repräsentanten oft Repressionen ausgesetzt.9 Umso bedeutsamer war der Entschluss, die Kathedrale nach dem Ende der Sowjetunion wieder aufzubauen: im alten Stil und am selben Ort zu Füßen des Kreml. Jelzin selbst erklärte, die Kathedrale sei für die russische Nation eine heilige Stätte. Mit ihrer Hilfe werde es leichter gelingen, „sozialen Konsens” in einer neu aufzubauenden Gesellschaft herzustellen.10 Die Wiedererrichtung wurde in der Bevölkerung wohlwollend aufgenommen, zur Finanzierung trugen neben einer staatlich geförderten Stiftung auch Spenden maßgeblich bei. Allerdings blieb es auch diesmal nicht ohne Skandale: Wie beim ersten Entwurf im 19. Jahrhundert wurde der verantwortliche Architekt Alexej Denisow ausgetauscht, seinen Platz nahm der seit Sowjetzeiten berühmte Bildhauer Surab Zereteli ein. Wenngleich damit die Korruptionsvorwürfe keineswegs zum Erliegen kamen, wurde die Kathedrale Ende 1999 eingeweiht.

    Foto - Moscow July 2011-7a © Alvesgaspar unter CC BY-SA 3.0
    Foto – Moscow July 2011-7a © Alvesgaspar unter CC BY-SA 3.0

    Betrachtet man die neuere Geschichte des Bauwerks, so hat sich Jelzins Hoffnung vom sozialen Konsens nur teilweise erfüllt. Einerseits spielt die Kathedrale ohne Frage eine wichtige Rolle im spirituellen Leben Russlands. Als Wallfahrtsort zieht sie unzählige Gläubige an. Andererseits steht sie auch für die Verflechtung von Staat und orthodoxer Kirche, gegen die sich u. a. die hochumstrittene Protestaktion der Punk-Band Pussy Riot in der Kathedrale richtete. Auch die wenig sakrale Nutzung einiger Gebäudeteile erregt Anstoß unter Gläubigen: In dem riesigen Komplex befinden sich eine Autowaschanlage, eine KFZ-Werkstatt und eine chemische Reinigung – allesamt höchst weltliche Betriebe, die der Kirche willkommene Einnahmen bescheren.11 So hat das Gebäude mit der bewegten Geschichte heute viele Gesichter: Unter seinen mächtigen goldenen Kuppeln eint es die Gläubigen, es steht für einen wiedererstarkten Staat, der sich auf seine orthodoxen Wurzeln besinnt, doch es symbolisiert auch Korruption und das Machtstreben der politischen und kirchlichen Führung.


    1. Gentes, Andrew (1998): The Life, death and resurrection of the Cathedral of Christ the Saviour, Moscow, in: History Workshop Journal (46), 63-96, S. 63f ↩︎
    2. Sidorov, Dmitri (2000): „National monumentalization and the politics of scale: the resurrections of the Cathedral of Christ the Savior in Moscow“, S. 548, in: Annals of the Association of American Geographers 90.3, S. 548-572 ↩︎
    3. Web-Projekt „Das vergangene Moskau“: Die Christ-Erlöser-Kirche, Teil I & Teil II ↩︎
    4. „Das vergangene Moskau“: Die Christ-Erlöser-Kirche ↩︎
    5. Kiritcenko E.I. (Hrsg.) (2010): Gradostroitelstvo Rossii serediny XIX-načala XX. veka: Stolicy i provincija, Moskau, S. 113 ff ↩︎
    6. Figes, Orlando (2011): Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891-1924, Berlin, S. 78ff. ↩︎
    7. Gentes (1998), S. 77 ↩︎
    8. Sidorov (2000), S. 548 ↩︎
    9. Sidorov (2000), S. 552 ↩︎
    10. zitiert nach Gentes (1998), S. 86 ↩︎
    11. Slon.ru: V chrame Christos Spasitelja nam počistili pidžak ↩︎

    Weitere Themen

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    Fürst Wladimir

  • Erster Kanal

    Erster Kanal

    Die Geschichte des Senders reicht bis in die Sowjetunion zurück. Der Perwy Kanal (dt. Erster Kanal) des Zentralen Sowjetischen Fernsehens war bis 1965 der einzige, der in alle elf Zeitzonen des Landes ausgestrahlt wurde. Einige Sendungen von damals sind noch heute im Programm – etwa die einflussreiche Nachrichtensendung Wremja (dt. Zeit), das Studentenkabarett KWN (Klub Wesjolych i Nachodtschiwych, dt. Club der Lustigen und Findigen) oder die Kult-Spielshow Tschto? Gde? Kogda? (dt. Was? Wo? Wann?), nach deren Vorbild im ganzen Land und in der russischen Diaspora begeisterte Spielzirkel entstanden.

    Auch seit dem Zerfall der Sowjetunion ist das Programm aus Informations- und Unterhaltungssendungen ausgesprochen beliebt. Anders als viele Privatsender, die in den Machtkämpfen der 1990er Jahre teilweise zu Waffen politischer Herausforderer des Kreml wurden, befand sich der Erste Kanal dabei stets unter direkter oder indirekter Kontrolle des Staates. Als eine seiner ersten Amtshandlungen formte Präsident Boris Jelzin im Dezember 1991 den sowjetischen Rundfunk zur staatlichen Fernseh- und Radioanstalt Ostankino um. 1994 wurde Ostankino in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und in Russisches Öffentliches Fernsehen (ORT) umbenannt. Der Staat besaß und besitzt noch immer 51 Prozent der Aktien, den Rest hielten Banken und Konzerne verschiedener Großunternehmer, unter anderem des Oligarchen Boris Beresowski.1 Der Sender unterstütze mit Beresowskis aktiver Beteiligung 1996 die Wahlkampagne des politisch angeschlagenen Jelzin und verhalf in den Jahren 1999 und 2000 dem noch relativ unbekannten Wladimir Putin zu hoher Popularität – und damit zum Wahlsieg. Als Beresowski kurze Zeit später aufgrund einer Auseinandersetzung mit der politischen Elite das Land verlassen musste, verkaufte er seine ORT-Aktien an den kremlnahen Oligarchen Roman Abramowitsch.2  Im Jahr 2011 gab dieser rund die Hälfte davon an die Nationale Mediengruppe des Unternehmers Juri Kowaltschuk ab.32016 beschloss die Duma eine Gesetzesänderung, wonach ausländische Bürger nur 20 Prozent der Anteile an einem russischen Medium halten dürfen. Da Abramowitsch 2018 israelischer Staatsbürger wurde, verkaufte er weitere vier Prozent der Aktien an die Nationale Mediengruppe. Schließlich trennte er sich im März 2019 von den restlichen 20 Prozent der Anteile: Das Paket ging an die Bank VTB Kapital, die zur Staatsholding VTB gehört.

    2002 wurde ORT in Perwy Kanal  (dt. Erster Kanal ) umbenannt, auch um an die Bezeichnung aus sowjetischer Zeit anzuknüpfen.4 Er ist auch aufgrund seiner oft aufwendig produzierten Serien und Filme in der Bevölkerung enorm populär – und erreicht eine überwältigende Mehrheit der Haushalte. Einer Umfrage des Lewada-Zentrums zufolge ist das Fernsehen für 93 Prozent der Russen die wichtigste Informationsquelle. Die Nachrichtensendungen des Ersten Kanals nehmen dabei eine Spitzenstellung ein: 82 Prozent der Fernsehzuschauer gaben an, sie regelmäßig zu sehen. Zudem vertrauen 50 Prozent der Befragten den Informationen, die sie im Fernsehen erhalten.5

    Angesichts dieser Zahlen verwundert es nicht, dass die staatlich kontrollierten Fernsehsender6 eine zentrale Rolle in der politischen Kommunikation des Kreml spielen. Die Kontrolle über die politischen Aussagen und gesellschaftlichen Werte,7 die durch das Fernsehen an die Bevölkerung transportiert werden, erlaubt es dem Staat nach Ansicht der Politikwissenschaftler Petrow, Lipman und Hale, in den übrigen Medien Pluralismus zu tolerieren. Durch positive Darstellung der Regierung im Fernsehen könne Legitimität erzeugt werden, ohne dass man vollständig auf die investigativen Recherchen freier Medien, die auch für die Regierung wichtige Informationen enthalten, verzichten müsse.8

    Als wichtige Stütze der staatlichen Informationspolitik vertritt der Sender die Regierungslinie und übt Kritik an der politischen Opposition sowie – seit den Massendemonstrationen von 2011/12 und dem Ukraine-Konflikt – an der so genannten Fünften Kolonne. Wichtige Formate bei der Verbreitung politisch gewünschter Positionen sind die Talkshows Politika und Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen), die der explizit regierungstreue Journalist Pjotr Tolstoj moderiert. Im Zuge des Ukraine-Konflikts verbreitete der Erste Kanal außerdem Falschmeldungen über die Handlungen der neuen Kiewer Regierung sowie die Gründe für den Absturz des Fluges MH-17 über der Ostukraine.9 Gleichwohl gibt es auch im Ersten Kanal begrenzten Raum für regierungskritische Stimmen. So hat der Journalist Wladimir Posner dort im Nachtprogramm eine Nische für seine professionellen und empathischen Interviews10 gefunden. In diesen Gesprächen äußert Posner auch eigene Positionen, die sich – insbesondere in gesellschaftspolitischer Hinsicht – stark vom offiziell sanktionierten Konservatismus unterscheiden. Posner selbst hat jedoch im Mai 2015 erklärt, dass der Sender die Auswahl seiner Gesprächspartner strikt kontrolliere und sein Format jederzeit auf Drängen der Regierung absetzen könne.11 Mindestens ein Fall von direkter Zensur eines Interviews ist bekannt: Aus einem Interview wurde eine Passage über die Medienfreiheit und den Blogger und Oppositionspolitiker Alexej Nawalny entfernt.12

    Stand: 12.03.2019


    1. Oates, Sarah (2006): Television, democracy and elections in Russia, London, S. 36f. ↩︎
    2. The Moscow Times: Abramovich buys 49% of ORT ↩︎
    3. Kommersant: Jurij Kovalčuk +1 ↩︎
    4. The European Audiovisual Observatory (2003): Television in the Russian Federation – Organisational structure, programme production and audience, Strasbourg, S. 37 ↩︎
    5. Die zitierten Lewada-Statistiken sind in den Russland-Analysen Nr. 294 (S. 8ff.) in deutscher Übersetzung erschienen ↩︎
    6. Neben dem Ersten Kanal sind das der Zweite Kanal, die Sender Rossija-1 und Rossija-24 sowie einige Dutzend regionale Sender. ↩︎
    7. Für eine Darstellung zur Verbreitung gesellschaftlicher Normen durch fiktionale Mini-Serien siehe Rollberg, Peter (2014): Peter the Great, Statism, and Axiological Continuity in Contemporary Russian Television, in: Demokratizatsiya, 22 (2), S. 335-355 ↩︎
    8. Petrov, Nikolay, Lipman, Maria & Hale, Henry E. (2014): Three dilemmas of hybrid regime governance: Russia from Putin to Putin, S. 7 in: Post-Soviet Affairs, 30 (1), S. 1-26 ↩︎
    9. Eine Gruppe russischer Intellektueller forderte im Oktober 2014 Konstantin Ernst, den Chef des Senders, dazu auf, die Falschmeldungen zuzugeben, siehe: The Moscow Times: Russian intellectuals ask state run TV to acknowledge falsifications in Ukraine-Reports ↩︎
    10. Eine Auswahl der Gespräche gibt es auf Youtube – einige auch mit englischen Untertiteln. ↩︎
    11. Dw.com: Wladimir Posner: W Rossii segodnja net shurnalistiki ↩︎
    12. Siehe dazu einen Artikel der russischen Nachrichtenagentur auf Interfax aus dem Jahr 2012: Posneru nadoela zensura (dt. Posner ist die Zensur leid). ↩︎
  • Das Umfrageinstitut WZIOM

    Das Umfrageinstitut WZIOM

    Das Meinungsforschungsinstitut WZIOM veröffentlicht regelmäßig umfangreiche Umfragen zu politischen und sozialen Themen. Im Jahr 2003 wurde es von einem Forschungsinstitut in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die zu 100 Prozent dem Staat gehört. Inwieweit dies und die finanzielle Abhängigkeit von Regierungsaufträgen sich auf die Methoden und Ergebnisse der Studien auswirken, ist umstritten, insgesamt gilt das WZIOM aber als regierungsnah. Uneinigkeit herrscht auch darüber, ob Umfragen im gegenwärtigen politischen Klima überhaupt die Stimmung in der Bevölkerung repräsentativ abbilden können.

    Die Abkürzung WZIOM steht für Wserossiski Zentr Issledowanija Obschtschestwennowo Mnenija (dt. Allrussisches Zentrum für die Erforschung der Öffentlichen Meinung). Das Institut wurde im Jahr 1987 gegründet und galt nach dem Ende der Sowjetunion als wichtigste und professionellste Einrichtung zur politischen und soziologischen Meinungsforschung in Russland. Im Jahr 2003 wurde es von einem Forschungsinstitut in eine Aktiengesellschaft umgeformt, die zu 100 Prozent in Staatsbesitz ist. Der damalige Leiter des Zentrums, der angesehene Soziologe Juri Lewada, entschloss sich, das Institut zu verlassen und eröffnete das politisch unabhängige Lewada-Zentrum. Unter den drei großen Meinungsforschungsinstituten – WZIOM, FOM und Lewada – gilt das WZIOM seither als dasjenige, das der Regierung am nächsten steht.

    Aufgrund der guten finanziellen Ausstattung kann das Institut in seinen Umfragen ein breites Themenspektrum abdecken. Im wöchentlichen Turnus veröffentlicht es Umfragen zu verschiedenen politischen und sozialen Themen – etwa zum Vertrauen der Bürger in politische Institutionen, zur Bewertung der eigenen ökonomischen Lage und der wirtschaftlichen Gesamtsituation oder zu den Einstellungen zu sozialen Normen. Die wichtigste Kennziffer, die das Institut regelmäßig erhebt, ist die Unterstützung des Präsidenten durch die Bevölkerung, die als Indikator für die Zustimmung der Bevölkerung zum politischen Kurs des Landes gilt. Das WZIOM betreibt überdies kommerzielle Marktforschung für russische und internationale Firmen und Organisationen. Auch im Auftrag von Regierungsinstitutionen (eine Liste mit Auftraggebern findet sich auf der Website des Instituts1) erhebt es Daten, die nicht oder nur teilweise veröffentlicht werden.2

    Die Rolle des WZIOM bei der Verbreitung von Umfrageergebnissen wird verschiedentlich kritisiert. Zum einen werden die veröffentlichten Zahlen selbst zuweilen skeptisch betrachtet. So maßen die drei Umfrageinstitute während der Protestwelle im Jahr 2012 sehr unterschiedliche Unterstützungsraten des Präsidenten – wobei die beiden staatlichen Institute WZIOM und FOM signifikant höhere Werte lieferten als das Vergleichsinstitut Lewada-Zentrum.3 Zum anderen gibt es Vorbehalte gegenüber der Validität jeglicher politischer Umfragen in Russland. Während der Politikwissenschaftler Daniel Treisman die Verzerrung der Umfrageergebnisse durch Selbstzensur für gering erachtet4, gibt der Soziologe Kirill Rogow zu bedenken, dass mit abnehmendem Pluralismus in den Medien und zunehmender Stigmatisierung politisch kritischer Stimmen (vgl. Fünfte Kolonne, Agentengesetz) eine Selbstselektion in den Umfragen stattfinden könnte: Menschen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen oder – im Gegensatz zur öffentlich präsentierten Mehrheit – mit politischen und sozialen Entwicklungen unzufrieden sind, könnten sich in einem solchen Klima dagegen entscheiden, an Umfragen teilzunehmen.5 Aus diesem Grund seien auch die hohen Beliebtheitswerte des Präsidenten möglicherweise kein verlässliches Maß.


    1. Wciom.ru: Naschi klienty ↩︎
    2. Vortrag einer WZIOM-Mitarbeiterin am 30.08.2015 an der Higher School of Economics. ↩︎
    3. Levada.ru: „Rejting Putina v 38 % primerno sootvetstvuet dejstvitelʼnosti“ ↩︎
    4. Treisman, Daniel (2014): Putin’s popularity: Why did support for the Kremlin plunge, then stabilize? ↩︎
    5. Rogow, Kirill (2015): „Krymski sindrom“: mechanismy avtoritarnoj mobilizacii. In: Kontrapunkt (1), S. 1-18 ↩︎

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    Jewgeni Jasin

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    Silowiki

    Lewada-Zentrum

  • Platon Lebedew

    Platon Lebedew

    Der vom Auftreten her eher unscheinbare aber höchst erfolgreiche Geschäftsmann begleitete seinen schillernden Kollegen Michail Chodorkowski durch den Boom des Erdölkonzerns YUKOS sowie durch die Strafprozesse gegen das Unternehmen. Zu Beginn der 2000er Jahre einer der reichsten Männer Russlands, war Lebedew von 2003 bis 2014 in einer Strafkolonie inhaftiert. Im Gegensatz zu Chodorkowski verfolgt er keinerlei politische Projekte.

    Platon Leonidowitsch Lebedew wurde 1956 in Moskau geboren. Er absolvierte die renommierte Plechanow-Wirtschaftsakademie und erwarb dort im Jahr 1981 seinen Abschluss als Volkswirt. Im selben Jahr trat er in den Staatsdienst ein und begann für die Außenhandelsabteilung Zarubeschgeologija des Sowjetischen Ministeriums für Geologie zu arbeiten. Über eine Bekanntschaft mit dem Softwareingenieur Leonid Newzlin wechselte Lebedew 1998 zu einem der Zentren für wissenschaftlich-technische Jugendprojekte (NTTM), das Michail Chodorkowski im gleichen Jahr gegründet hatte.

    Aus dem NTTM entstand die MENATEP-Bank, die 1990 als eine der ersten privaten Banken der Sowjetunion registriert wurde und deren Währungs- und Finanzabteilung Lebedew zwischen 1988 und 1992 vorstand. Die in den Jahren der Perestrojka geknüpften Verbindungen zu politischen Eliten bescherten der MENATEP-Bank eine hervorragende Position bei der Privatisierung von staatseigenen Unternehmen nach der Auflösung der Sowjetunion. Seit 1993 war Lebedew Vorstandschef der Bank, bis er im Jahr 1996 zum Ölunternehmen YUKOS wechselte, das MENATEP im November 1995 bei einer Privatisierungsauktion ersteigert hatte. Die 1997 gegründete MENATEP-Group stieg als Großaktionär bei YUKOS ein, Lebedew selbst hielt sieben Prozent der Anteile1 und wurde 1998 Vize-Vorstandsvorsitzender bei YUKOS.

    Das Magazin Forbes schätzte Lebedews Vermögen im Jahr 2004 auf 1,8 Milliarden US-Dollar,2 er gehörte damit zur Klasse der russischen Superreichen. Anders als sein Kollege Chodorkowski, der mit 15 Milliarden US-Dollar zu dieser Zeit der reichste Mann Russlands war, fiel Lebedew jedoch nicht durch öffentlichkeitswirksame Auftritte oder politisches Engagement auf.

    Im Kontext der YUKOS-Affäre geriet Lebedew noch vor Michail Chodorkowski juristisch unter Druck. Am 2. Juli 2003 wurde er im Krankenhaus festgenommen und einen Tag später mit einer juristisch zumindest zweifelhaften Begründung3 in Untersuchungshaft überstellt. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautete auf Betrug und Steuerhinterziehung bei der Privatisierung des Düngemittelherstellers Apatit im Jahr 1994.4 Im Mai 2005 wurden Chodorkowski und Lebdew wegen Steuerhinterziehung zu neun (nach Revision acht) Jahren Haft verurteilt. Die Justiz ließ Unternehmen mit ähnlicher Vorgeschichte unbehelligt und die Verteidigung beklagte mehrfach Verfahrensfehler.5 Die Mehrheit der Beobachter unterstellte folglich bei dem Prozess politische Ziele.6

    Im Jahr 2010 wurden Chodorkowski und Lebedew erneut angeklagt: Von 1998 bis 2003 sollten sie als „organisierte kriminelle Gruppe“ 218 Millionen Tonnen Öl unterschlagen haben.7 Infolge des zweiten Prozesses stufte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International Lebedew und Chodorkowski als politische Häftlinge ein.8 Nachdem Putin Chodorkowski im Winter 2013 überraschend begnadigt hatte, wurde auch Lebedew im Januar 2014 auf Beschluss des obersten Gerichts vorzeitig aus der Haft entlassen. Im Gegensatz zu Chodorkowski, der mit Unterstützung der Bundesregierung nach der Haftentlassung ins Schweizer Exil umzog, blieb Lebedew jedoch – kaum medial beachtet – in Russland und erklärte, weiterhin unternehmerisch tätig sein zu wollen.


    1. Chodorkowski, Michail, Natalja Geworkjan (2012): Mein Weg: Ein politisches Bekenntnis. München ↩︎
    2. Usatoday.com: Forbes billionaire list ↩︎
    3. Luchterhandt, Otto (2005): Rechtsnihilismus in Aktion – Der Jukos-Chodorkowskij-Prozess in Moskau, S. 29ff. In: Osteuropa 55 (7), S.7–37 ↩︎
    4. Für Näheres zu Vorwurf und Prozess siehe Luchterhandt, Otto (2005): Rechtsnihilismus in Aktion ↩︎
    5. Pleines, Heiko (2004): Die Jukos-Affäre eskaliert erneut. In: Russland-Analysen 2004 (34), S. 10–11 ↩︎
    6. Pleines, Heiko (2005): Die Jukos-Affäre im Überblick. In: Russland-Analysen 2005 (54), S. 2–4 ↩︎
    7. Lebedew wurde zu sechs weiteren Jahren Haft verurteilt. Nach Einschätzung des Professors für Ostrecht Otto Luchterhandt widerspricht das zweite Urteil dem ersten. Siehe Luchterhandt, Otto (2013) Interview mit der Landeszeitung Lüneburg auf Presseportal.de: Putin wird jedes Amtsjahr gefährlicher ↩︎
    8. Pressemeldung von Amnesty International, 31. Mai 2011: Russian businessmen declared prisoners of conscience after convictions are upheld ↩︎

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  • Gesellschaftsvertrag

    Gesellschaftsvertrag

    Im Russland der 2000er Jahre steht der Begriff Gesellschaftsvertrag für ein implizites Einvernehmen zwischen Bevölkerung und politischer Führung: Der Kreml sorgt für Stabilität und wirtschaftliche Prosperität, dafür mischen sich die anderen gesellschaftlichen Akteure nicht in die Politik ein. Spätestens seit der Wirtschaftskrise von 2014/15 haben sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Russland jedoch derart verändert, dass das „Ende des bisherigen Gesellschaftsvertrags“ diskutiert wird.

    Nach den leidvollen Erfahrungen der postsowjetischen Transformationsperiode (vgl. die 1990er), die geprägt war von Kriminalität und Terrorismus, Armut und Arbeitslosigkeit sowie ausbleibenden Löhnen und Pensionen, sehnten sich große Teile der russischen Gesellschaft nach Sicherheit und Wohlstand. Im Austausch für politische Stabilität, innere Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung war die Mehrheit der Bevölkerung daher bereit, auf unabhängige Medien und politische Teilhabe weitgehend zu verzichten. Diese Parallelexistenz von Politik und Gesellschaft – verkürzt: Loyalität und Nichteinmischung gegen wirtschaftliche Verbesserungen – wird zuweilen als ungeschriebener Gesellschaftsvertrag bezeichnet.1

    Die Finanzkrise von 2008/09 gab ersten Anlass zu Zweifeln, ob dieses Arrangement dauerhaft aufrecht erhalten werden könnte. Zwar federte der Staat mit massivem Einsatz finanzieller Mittel – unter anderem einer drastischen Rentenerhöhung – die Effekte der Krise ab, jedoch sank die Zuversicht der Bürger bezüglich ihrer wirtschaftlichen Lage erheblich.2 Dass dies sich nicht sofort auf die Beliebtheit Putins auswirkte, führt der Politikwissenschaftler Daniel Treisman auf den Georgienkrieg vom August 2008 zurück, der eine große Mehrheit der Bevölkerung im Angesicht eines außenpolitischen Konflikts hinter ihrer Regierung versammelte.3 Dieser sogenannte rally-round-the-flag-Effekt zeigt sich auch im Ukraine-Konflikt. Die neue Kiewer Regierung wurde als Bedrohung für ethnische Russen im Osten der Ukraine betrachtet, die Annäherung des Landes an den Westen beschwor Ängste vor einem Nato-Beitritt herauf. Mit der Angliederung der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine gewann die russische Führung erheblich an Popularität hinzu.

    War die wirtschaftliche Leistung seit 2009 schon nicht mehr geeignet, dauerhafte Regimeunterstützung zu generieren, so wurde der Gesellschaftsvertrag der 2000er Jahre mit dem Ukraine-Konflikt endgültig transformiert. Die finanzielle Unterstützung der Krim, die enorme Aufstockung des Militärhaushalts (um 33 Prozent im Jahr 2015) sowie die wirtschaftlichen Einbußen infolge der westlichen Sanktionen verlangen der russischen Bevölkerung große finanzielle Opfer ab. Der Staat kürzt 2015 seine Ausgaben für Bildung (um 8 Prozent), Gesundheit (um 10 Prozent) und Wohnungsbau (um 40 Prozent), und die Reallöhne gehen 2015 um mindestens 9 Prozent zurück.4 Gleichwohl zeigen die Ratings des Präsidenten Werte wie zu besten Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs.5

    An die Stelle des alten scheint also ein neuer Gesellschaftsvertrag zu treten: Das Wirtschaftswachstum und der Wohlstand der eigenen Bevölkerung werden angesichts der wahrgenommenen Bedrohungslage zurückgestellt. Im Austausch für Loyalität bietet die politische Führung nun ein neues Russlandbild an: nach zwei Jahrzehnten internationaler Bedeutungslosigkeit sei das Land nun „von den Knien auferstanden“ und habe seine Rolle als Großmacht wiedergefunden. Das Versprechen wirtschaftlichen Wohlergehens ist auf der Bürgerseite des Vertrages damit durch die Bereitstellung eines neuen Selbstbildes ersetzt: Das Psychologische tritt – zumindest teilweise – an die Stelle des Ökonomischen.

    Folgt man dieser Interpretation, die auch Alexander Baunow vom Carnegie Moscow Center unterstützt6, so stellt sich die Frage, wie lange das neue Modell verlässliche politische Unterstützung erzeugen kann. Vor allem die armutsgefährdete Schicht unterhalb der Mittelklasse (Falscher Mittelstand) spürt die negativen wirtschaftlichen Folgen des neuen Gesellschaftvertrags, unter anderem durch die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten und die Entwertung des Rubels. Da sie das gesellschaftliche Rückgrat von Putins Regime bildet, wird derzeit diskutiert, wie lange diese Gruppe einen Vertrag einhält, von dem sie wirtschaftlich nicht profitiert.


    1. Schröder, Hans-Henning (2011): Kündigen die Bürger den Gesellschaftsvertrag? In: Russland-Analysen 2011 (231), S.12-14. Siehe auch Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609 ↩︎
    2. Greene, Samuel (2012): Citizenship and the Social Contract in Post-Soviet Russia, in: Demokratizatsiya 20(2), S.133-140 ↩︎
    3. Treisman, Daniel (2011): Presidential Popularity in a Hybrid Regime: Russia under Yeltsin and Putin, S.607, in: American Journal of Political Science, 55 (3), S. 590-609 ↩︎
    4. Siegert, Jens (2015): Wirtschaftskrise in Russland – und keiner protestiert, in: Russland-Analysen 2015 (303), S.12-14 ↩︎
    5. Lewada.ru: Odobrenie dejatelʼnosti Vladimira Putina ↩︎
    6. Baunow, Alexander (2015): Ever So Great: The Dangers of Russia’s New Social Contract ↩︎

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    Präsidialadministration

    Krieg im Osten der Ukraine

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Die 1990er

    Die Wilden 1990er

    Stabilisierung

  • Stabilisierung

    Stabilisierung

    Die Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse war in den 2000er Jahren das erklärte Hauptziel der russischen Politik. Tatsächlich verbesserte sich die wirtschaftliche Lage des Landes in den ersten zwei Amtszeiten Putins erheblich. Die Stabilisierung als politisches Projekt ging jedoch mit einer Konzentration der Macht in den Händen des Präsidenten einher.

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 schrumpfte die Wirtschaft bis 1998 um über 40 Prozent1, das verfügbare Einkommen der Bürger halbierte sich, der Staat war hochverschuldet und die politischen Eliten waren in wirtschaftliche und politische Machtkämpfe verstrickt.2  All das bescherte den Schlagwörtern der 1990er Jahre – „Reformen“, „Märkte“ und auch „Demokratie“ – gegen Ende des Jahrzehnts eine zunehmend negative Konnotation. Dagegen formte sich die „Stabilisierung“ als neuer politischer Auftrag.

    Die Finanzkrise von 1998 bildete sowohl den wirtschaftlichen Tiefpunkt als auch den Anstoß zur Verbesserung der Lage. Erstens schwächte sie die Oligarchen, die in den 1990ern um politischen Einfluss gerungen und den Zentralstaat destabilisiert hatten. Zweitens begünstigte die Abwertung des Rubels den Schuldenabbau und setzte durch verteuerte Importe einen Anreiz zur Stärkung der heimischen Produktion. Ein steigender Ölpreis (zwischen 2000 und 2008 stieg der Rohölpreis um über 200 Prozent) und ausländische Direktinvestitionen, die infolge der monetären Stabilisierung ins Land flossen, trugen dazu bei, dass die Löhne rasant anstiegen. Im Jahr 2007, nach acht Jahren konstanten Wirtschaftswachstums, lag das Bruttoinlandsprodukt wieder auf dem Niveau von 1990.

    Unter Präsident Putin war die Fiskal- und Wirtschaftspolitik dezidiert auf eine Stabilisierung ausgelegt.3 Die Inflationsrate wurde zwischen 9 und 14 Prozent gehalten, und auch der Wechselkurs des Rubels blieb im Vergleich zu Euro und US-Dollar relativ stabil. Im Jahr 2004 wurde ein Stabilitätsfonds geschaffen, der überschüssige Rohstoffeinnahmen zur Finanzierung des Staatsbudgets in Krisenzeiten anlegte. Gleichzeitig versäumte es die Politik in den Jahren des wirtschaftlichen Booms jedoch, die Wirtschaft aus ihrer Rohstoffabhängigkeit zu befreien.

    Das Programm der Stabilisierung wurde auch politisch umgesetzt. So verfolgte die Regierung gezielt die Entpolitisierung der Wirtschaft, indem sie einflussreiche Unternehmer zur Loyalität animierte, bei Widerstand deren Konzerne unter Druck setzte und teilweise zerschlug und verstaatlichte. Die politische Stabilisierung äußerte sich ferner in der Errichtung einer Machtvertikale, in der alle staatlichen Einrichtungen faktisch dem Präsidenten untergeordnet wurden. Laut dem Politikwissenschaftler Wladimir Gelman befindet sich das politische System durch den Stabilitätszwang in einer „Institutionenfalle“: Stabilität sei ein Zweck an sich geworden, der jede Reforminitiative ersticke.4 Auch auf gesellschaftlicher Ebene wirkte ein ungeschriebener Pakt: Die Bürger kamen zwar in den Genuss wirtschaftlicher Verbesserungen, mussten im Gegenzug aber massive Einschränkungen bei ihren Mitspracherechten sowie im Bereich der politischen Freiheiten  hinnehmen.

    Die Stabilisierungspolitik hatte noch einen weiteren Preis. Im Austausch für politische Loyalität konnten zentrale Akteure in Wirtschaft und Politik ungestört ihr Vermögen in sogenannten „Offshore-Standorten“ wie Zypern und den British Virgin Islands unterbringen. Diese Steueroasen werden genutzt, um dem Zugriff des russischen Staates zu entgehen und um durch Korruption erzielte Gewinne zu „waschen“. Im Jahr 2011 lagerte laut offiziellen Statistiken russisches Kapital in Höhe von 106 Milliarden US-Dollar außerhalb der Landesgrenzen.6 Das entsprach etwa fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

    Indem er stets die kausale Verbindung von Zentralisierungspolitik und wirtschaftlichen Verbesserungen herausstellte, gewann Putin aus der Stabilitätsdoktrin erhebliches politisches Kapital. Seit jedoch in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 das rasante Wirtschaftswachstum zum Erliegen kam und Putins Beliebtheit vorübergehend abnahm, legitimiert sich das System zunehmend durch den Rekurs auf äußere Feinde – etwa beim Vorgehen gegen ausländische Nichtregierungsorganisationen und im Krieg im Südosten der Ukraine.


    1. Sutela, Pekka (2010): Die russische Wirtschaft von 1992 bis 2008, S. 302, in: Pleines, Heiko / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Länderbericht Russland, Bonn, S. 289-314 ↩︎

    2. Rogov, Kirill (2011): The ‚Third Cycle‘: Is Russia Headed Back to the Future?, S. 126, in: Lipman, Maria / Petrov, Nikolay (Hrsg.): Russia in 2020, Washington, S. 125-148 ↩︎

    3. Sutela, Pekka (2010): Die russische Wirtschaft von 1992 bis 2008, S. 303, in: Pleines, Heiko / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Länderbericht Russland, Bonn, S. 289-314 ↩︎
    4. Gelman, Vladimir (2011): Institution Building and ‚Institutional Traps‘ in Russian Politics, S. 224f., in: Lipman, Maria / Petrov, Nikolay (Hrsg.): Russia in 2020, Washington, S. 215-232 ↩︎
    5. Umfrage des Levada-Zentrum, zitiert nach Rogov (2011), S. 130 ↩︎
    6. Ledyaeva, Svetlana / Karhunen, Päivi / Kosonen, Riitta / Whalley, John (2013): Foreign Investment from Offshore Jurisdictions into Russia: An Analytical Overview, in: Russian Analytical Digest Nr. 140, S. 2-6 ↩︎

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  • Der direkte Draht mit Wladimir Putin

    Der direkte Draht mit Wladimir Putin

    In der jährlichen Fernsehsprechstunde des Präsidenten, dem Direkten Draht, beantwortet Wladimir Putin mehrere Stunden lang Fragen, die ihm per Telefon, Internet, SMS oder per Live-Schaltung aus den verschiedenen Regionen Russlands gestellt werden.

    Der Direkte Draht mit Wladimir Putin (Prjamaja linija s Wladimirom Putinym) wird seit 2001 im jährlichen Turnus ausgestrahlt, mit Ausnahme der Jahre 2004 (als Putin stattdessen eine Pressekonferenz gab), 2012 und 2022. Zwischen 2008 und 2012, als Putin Premierminister war, wurde das Format unter dem Titel Gespräch mit Wladimir Putin. Fortsetzung weitergeführt. Der Direkte Draht wurde von den Journalisten Konstantin Ernst und Oleg Dobrodejew entwickelt. Beide leiten heute staatseigene Fernsehsender.

    Die live in mehreren Fernsehsendern, im Radio und im Internet übertragene Sendung dauert meist zwischen vier und fünf Stunden. Laut Website des Ersten Kanal liegt die Zahl der eingesandten Fragen jeweils zwischen zwei und drei Millionen.1 Die meisten Fragen werden zu sozioökonomischen Themen wie dem Wohnungsbau, kommunaler Infrastruktur und sozialen Sicherungssystemen gestellt. Die medial vielbeachtete Sendung wird auch dazu genutzt, Prognosen zu Putins Politik aufzustellen. So schlossen Beobachter beispielsweise 2015 aus Putins sachlichem Tonfall in den Antworten zum Konfikt mit der Ukraine, dass sich die Lage möglicherweise entspannen könnte.2

    Foto © Kremlin.ru unter CC BY 4.0
    Foto © Kremlin.ru unter CC BY 4.0

    Bürger bitten in ihren Anfragen den Präsidenten oft darum, konkrete Probleme zu lösen. Laut dem Politikberater Jewgeni Mintschenko erklärt diese „[…] Möglichkeit, sich persönlich beim Zaren zu beschweren“3 die Popularität des Formats.4 Nikolaj Slobin, ein ehemaliger Berater von Michail Gorbatschow und Boris Jelzin, sieht die Beliebtheit dieses direkten Kontakts mit dem Staatsoberhaupt mit Sorge: Drei Millionen eingesandte Fragen bedeuteten, „dass außer [Putin] niemand im Land irgendetwas entscheiden kann, dass das System weder auf der lokalen noch auf der gesetzgebenden Ebene funktioniert.“5

    Ähnlich formuliert es die Kulturwissenschaftlerin Helena Goscilo: Das Format setzt die Person Putin und Moskau als politische Schaltzentrale in den Fokus der Aufmerksamkeit. So unterstreiche es sowohl die administrative Zentralisierung der Putin-Jahre als auch die „Machtvertikale“, die Putin seit seinem Amtsantritt errichtet hat.6 

    aktualisiert am 17.10.2023


    1. Die Kulturwissenschaftlerin Helena Goscilo trägt in ihrem Buch Zweifel an der Authentizität der Beiträge zusammen. Beispielsweise müssten Live-Fragesteller aus der Provinz einen Auswahlprozess durchlaufen, siehe dazu Goscilo, Helena (2013): Putin as Celebrity and Cultural Icon, London, S. 107f. ↩︎
    2. Korrespondent.net: Pressa Rossii: Putin kak Psichoterapevt ↩︎
    3. Vedomosti: Prjama linija Prezidenta vyzbala ogromnyj interes u naselenija, no razočarovala politikov ↩︎
    4. Lewada-Zentrum: «Prjamaja linija» Prezidenta ↩︎
    5. Vedomosti: Prjamaja linija Prezidenta vyzvala ogromnyj interes u naselenija, no razočarovala politikov ↩︎
    6. Goscilo, Helena (2013): Putin as Celebrity and Cultural Icon, London, S. 111 ↩︎

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  • Tag der Einheit des Volkes

    Tag der Einheit des Volkes

    Der arbeitsfreie Feiertag wurde im Jahr 2005 eingeführt – als Ersatz für den Tag der Oktoberrevolution. Er wird am 4. November begangen und bezieht sich auf ein Ereignis aus dem Jahr 1612, als ein Volksaufstand die polnisch-litauischen Besatzer aus dem Moskauer Kreml vertrieb. Der Feiertag soll den Zusammenhalt der russischen Gesellschaft angesichts äußerer Bedrohungen symbolisieren – über ethnische und religiöse Grenzen hinweg.

    Staatliche Feiertage sind in Russland seit jeher mindestens ebenso bedeutsam wie religiöse. Bis zum Ende der Sowjetunion war der 7. November – neben dem Neujahrsfest – der wichtigste Feiertag des Jahres: Als Tag der Oktoberrevolution sollte er den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte der Menschheit feiern. Das Ende des Staates 1991 bedeutete jedoch, dass auch die Symbolik verändert werden musste. Präsident Boris Jelzin schlug vor, schlichtweg den bestehenden Feiertag umzubenennen, und zwar in Tag des Einklangs und der Versöhnung. Dies fand jedoch weder in der Bevölkerung noch in der politischen Elite besondere Unterstützung.1 Zum Ende von Putins erster Amtszeit ersann man also einen gänzlich neuen Feiertag. Er sollte eine ähnlich staatstragende Symbolik haben wie der Revolutionstag, dabei aber vom sowjetischen Erbe unbelastet sein. Dieser Feiertag wurde auf den 4. November gelegt.

    Der 4. November symbolisiert offiziell das Ende der Zeit der Wirren – einer Periode zwischen 1598 und 1613, in der Russland mit militärischen Niederlagen, Erbfolgekonflikten und Hungersnöten zu kämpfen hatte. Rivalisierende Adelszweige suchten Unterstützung von außen, und so belagerten fremde Heere mehrere russische Städte – darunter auch Moskau. Ein Volksaufstand vertrieb schließlich die polnisch-litauischen Besatzer des Moskauer Kreml,2 woraufhin 1613 ein neuer Zar gewählt werden konnte: Michail Fjodorowitsch, der erste Angehörige der Romanow-Dynastie. Die Legende besagt, dass die Anführer des Aufstandes – Minin und Posharski – beim Sturm auf Moskau die Ikone der Gottesmutter von Kasan mit sich führten. 1649 wurde daher am 22. Oktober, dem orthodoxen Gedenktag dieser bedeutsamen Marien-Ikone, ein neuer Feiertag eingerichtet: Der Tag der Befreiung Moskaus und Russlands von den polnischen Besatzern.3 Nach neuer Zeitrechnung fällt dieser auf den 4. November – auch das Datum des neuen Tags der Einheit des Volkes schließt also an die zaristische Tradition an.

    Die Wiedereinführung des Feiertages im Jahr 20054 unter neuem Namen verband das Ende der Zeit der Wirren symbolisch mit dem Ende des Chaos der 1990er und sollte so das Wiedererstarken eines geeinten und stabilen (siehe auch Stabilisierung) Russland markieren.5 Die historischen Ereignisse werden dabei jedoch vereinfacht: Es ist unklar, ob der Aufstand tatsächlich die Einheit des Volkes versinnbildlicht, da durchaus nicht alle Teile der russischen Bevölkerung an ihm beteiligt waren. Auch war mit dem Sturm auf den Kreml und sogar mit der Wahl des neuen Zaren die Zeit der Wirren noch nicht beendet.6 Die politische Führung zog jedoch die Symbolik des Ereignisses der historischen Genauigkeit vor.

    Der Feiertag steht heute für die Einheit des russischen Volkes angesichts eines äußeren Aggressors und für die Fähigkeit der Russen, schwere Zeiten gemeinsam zu überwinden. Diese Bedeutung unterstrichen mehrere Dokumentationen im Staatsfernsehen7 sowie der Blockbuster 1612 des Regisseurs Wladimir Chotinenko.8 Trotz aller Bemühungen konnte die Mehrheit der russischen Bevölkerung jedoch mit dem neuen Feiertag zunächst wenig anfangen: Nur acht Prozent der Befragten gaben im Jahr 2005 an, vom Tag der Einheit des Volkes zu wissen. Der Anteil stieg bis ins Jahr 2014 auf immerhin 54 Prozent – möglicherweise auch infolge der offiziellen Paraden, Prozessionen und Konzerte, die in den letzten Jahren vermehrt stattfanden.Die parlamentarischen Oppositionsparteien Gerechtes Russland und LDPR sowie kremltreue Jugendorganisationen (siehe auch regierungsfinanzierte Jugendorganisationen) beteiligten sich an der Durchführung.9 Zwar kennen noch immer nicht alle den historischen Gehalt des Feiertages, auch gab im Jahr 2014 nur ein Fünftel der Befragten an, den Tag selbst feiern zu wollen – zwölf Prozent erklärten sogar, den abgeschafften Revolutionstag zu begehen.10 Jedoch sind heute etwa zwei Drittel der Bürger davon überzeugt, dass ein Tag der Nationalen Einheit wichtig sei.11

    Da der Feiertag der Bevölkerung zu Beginn unbekannt war, konnten sich russische Nationalisten des Datums bemächtigen, um Demonstrationen in Form rechtsextremer Russischer Märsche durchzuführen.12 Die Regierung gewann jedoch mit der Zeit die Deutungshoheit über das Ereignis zurück. Heute soll der Tag in der offiziellen Symbolik die ethnisch und konfessionell übergreifende Einheit des russischen Vielvölkerstaates unterstreichen. Innere Geschlossenheit fordert dabei jedoch den Preis der Abgrenzung nach außen. Aus dieser Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass der Feiertag mit der Ukraine-Krise und der rhetorischen Konfrontation mit NATO und EU in den Jahren 2014/15 an Bedeutung gewann: Die Aussage des Ereignisses von 1612 eignet sich – aller Ungereimtheiten zum Trotz – zur Untermauerung von Putins Image als Beschützer Russlands und zur Festigung seines Herrschaftsanspruchs (siehe auch Gesellschaftsvertrag). Die Bemühungen, den Tag noch stärker im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern, wurden im Jahr 2015 folgerichtig noch einmal ausgebaut. So hielten viele Städte große Umzüge ab – unter anderem auch Sewastopol auf der Krim.


    1. Adler, Nanci (2012): Reconciliation with – or rehabilitation of – the Soviet past? S. 329, in: Memory Studies, 5 (3), S. 327-338 ↩︎
    2. Nolte, Hans-Heinrich (2012): Geschichte Russlands, Stuttgart, S. 72f. ↩︎
    3. Russkaja Pravoslavnaja Cerkov: 4 nojabrja — prazdnovanie Kazanskoj ikone Božiej Materi (v pamjatʼ izbavlenija Moskvy i Rossii ot inozemnych zachvatčikov v 1612 g.) ↩︎
    4. Auf Initiative des Interreligiösen Rates Russlands setzte das Parlament die Einrichtung des Feiertages 2004 auf die Agenda, und nachdem auch der orthodoxe Patriarch Aleksi II. den Feiertag abgesegnet hatte, wurde er gesetzlich verabschiedet. ↩︎
    5. Bacon, Edwin (2012): Public political narratives: developing a neglected source through the exploratory case of Russia in the Putin-Medvedev era, S. 778ff., in: Political Studies 60 (4), S. 768-786 ↩︎
    6. Beispielsweise kämpften Kosaken noch bis 1618 für ihre Unabhängigkeit, siehe: Otečestvennye zapiski: Čto budut prazdnovatʼ v Rossii 4 nojabrja 2005 goda? ↩︎
    7. siehe Bacon, Edwin, S. 778f. ↩︎
    8. Der Bildhauer Surab Zereteli, der auch den Wiederaufbau der Christ-Erlöser-Kathedrale gestaltete, fertigte außerdem eine Kopie eines Denkmals für die Anführer des Aufstands Minin und Posharski. Sie wurde 2005 in Nishni Nowgorod im Beisein des Patriarchen Aleksi eingeweiht. Siehe Russkaja Pravoslavnaja Cerkov: Otkrytie pamjatnika Mininu i Požarskomu v Hižnem Novgorode ↩︎
    9. Kommersant.ru: 4 nojabrja otmetjat jarmarkami i krestnymi chodami, zur Teilnahme der Jungen Garde siehe: Molodaja Gvardija: V regionach strany otmetili Denʼ narodnogo edinstva ↩︎
    10. Lewada.ru: Nojabrʼskie prazdniki: znanie i gotovnostʼ otmečatʼ ↩︎
    11. Fom.ru: 4 Nojabrja ↩︎
    12. Pain, Emil A. (2007): Xenophobia and Ethnopolitical Extremism in Post-Soviet Russia: Dynamics and Growth Factors, S. 906, in: Nationalities Papers, 35 (5), S. 895-911; siehe auch Kommersant.ru: Russkij prazdnik ↩︎

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  • Michail Kassjanow

    Michail Kassjanow

    Die Figur Michail Kassjanow polarisiert: den einen gilt er als typischer Vertreter der mit den Oligarchen verbandelten Machtelite, den anderen als konsequenter Putin-Kritiker und möglicher Teil der politischen Zukunft Russlands. In jedem Fall ist er heute einer der liberalen Politiker mit der größten Erfahrung in Regierungsverantwortung.

    Mit einem Abschluss als Ingenieur trat Kassjanow 1983 zunächst in die sowjetische Behörde für Wirtschaftsplanung Gosplan ein. Nach dem Zerfall der UdSSR machte er Karriere im russischen Wirtschafts- und Finanzministerium. Hier erreichte er in Verhandlungen mit Gläubigern des russischen Staates eine erhebliche Reduktion der Auslandsverschuldung. Aus dieser Zeit stammt auch sein Spitzname „Mischa zwei Prozent“, der ihm in russischen Medien noch immer anhängt: Für Insiderinformationen über die russischen Staatsschulden, so das Gerücht, habe er regelmäßig Provisionen aus den dadurch entstandenen Gewinnen seiner Geschäftspartner kassiert.1

    Vom Regierungschef zum Herausforderer Putins

    Im Jahr 1999 stieg Kassjanow zum Finanzminister auf, unter Präsident Putin saß er ab Mai 2000 dem ersten Kabinett mit den liberalen Ministern German Gref und Alexej Kudrin vor. Als Premierminister setzte Kassjanow viele marktwirtschaftliche Reformen um, unter anderem die neoliberale Rentenreform (vgl. Rentensystem). Die Inflation ging erheblich zurück und Russland erlebte einen Wirtschaftsboom (vgl. Stabilisierung). Wenngleich Kassjanow nie ganz unumstritten war2, avancierte er als erfolgreicher Regierungschef zum ernsthaften Herausforderer für Präsident Putin.

    Nach Meinung vieler Beobachter fiel Kassjanow durch seine Kritik an der Verhaftung Michail Chodorkowskis im Jahr 2003 bei Putin in Ungnade. Er wurde 2004 entlassen und ging in die Opposition. Nach der Ankündigung seiner Präsidentschaftskandidatur 2006 geriet er unter Druck: Seine Wahl zum Vorsitzenden der Demokratischen Partei Russlands wurde durch einen vom Kreml organisierten parallelen Parteitag verhindert, die russische Justiz verfolgte ihn wegen einer zwielichtigen Privatisierung zweier Sommerhäuser3, und seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2008 wurde abgelehnt, offiziell aus formalen Gründen.

    Im Fokus der Öffentlichkeit

    Seit 2006 war er – zeitweilig zusammen mit den liberalen Oppositionspolitikern Boris Nemzow und Wladimir Ryschkow – im Vorstand der Republikanischen Partei Russlands. 2012 fusionierte diese mit der Partei der Volksfreiheit zur RPR-PARNAS, der Kassjanow bis heute vorsteht. Er unterhält gute Kontakte in den Westen und unterstützt die Sanktionen der EU gegen Russland im Kontext des Ukraine-Konflikts.4 Nach dem Mord an Boris Nemzow übergab er dem US-Kongress eine Liste mit acht russischen Journalisten, die ihm zufolge an der „Jagd“ auf Nemzow beteiligt gewesen seien und auf die Magnitski-Liste gesetzt werden sollten.

    Foto © Claude Truong-Ngoc unter CC-BY-SA 3.0
    Foto © Claude Truong-Ngoc unter CC-BY-SA 3.0

    Im Frühjahr 2016 geriet Kassjanow erneut in den Fokus der Öffentlichkeit: Ramsan Kadyrow, der bekannt ist für seine verbalen Attacken gegen Menschenrechtler und liberale Politiker, veröffentlichte ein Video, das Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zeigt. Kurz darauf bewarfen Unbekannte in einem Moskauer Restaurant Kassjanow mit einer Torte. Schließlich wurde im April ein heimlich mitgeschnittenes Video lanciert, das Kassjanow mit seiner Parteikollegin Natalja Pelewina bei sexuellen Handlungen zeigt. Pelewina erklärte daraufhin ihren Austritt aus dem Führungsgremium der Partei. Es ist nicht auszuschließen, dass der Skandal“ im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im September 2016 stand: Kompromittierende Informationen über Kandidaten zu verbreiten ist ein beliebtes Mittel der sogenannten Polittechnologie.

    Zusammenfassend kann Kassjanow ein hohes symbolisches Potential zugeschrieben werden. Während er in Russland – außerhalb des kleinen liberalen Spektrums – als korrupter Vertreter einer vom Westen unterstützten ehemaligen Machtelite gilt, ist er als Putinkritiker mit fließendem Englisch ein gern gesehener Gast in anglophonen Diskussionsrunden, wo er den liberalen und modernisierungswilligen, jedoch zurzeit marginalisierten Teil Russlands repräsentiert.5


    1. The Moscow Times: 12 Years Ago Boris Nemtsov and Mikhail Kasyanov Were Political Opponents ↩︎
    2. Der Vorsitzende der Partei Jabloko, Grigori Jawlinski, soll einmal zu Kassjanows Aufgabenbereich der Korruptionsbekämpfung den sarkastischen Kommentar abgegeben haben, dann könne man auch einem Vampir die Verantwortung über eine Blutbank übertragen. Siehe: BBC: Profile: Mikhail Kasyanov ↩︎
    3. Siegl, Elfi (2006): Do Russian Liberals stand a Chance? In: Russian Analytical Digest No 1 ↩︎
    4. Ein deutschsprachiges Interview zu einigen seiner aktuellen Positionen unter Die Zeit: „Ihr habt Putin angestachelt“ ↩︎
    5. Sein charismatisches Auftreten und seine berühmte tiefe Stimme zeigt dieser kurze Interviewausschnitt: BBC: Kasyanov predicts Russian economic crisis ↩︎

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