дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Administrative Ressource

    Administrative Ressource

    Am 24. März 20061 fuhr der Polit-Stratege Wladislaw Surkow in eine unscheinbare Nebenstraße im Moskauer Stadtteil Kitaj-Gorod. Hier, unweit der FSB-Zentrale an der Lubjanka, befand sich das Hauptquartier der Russischen Partei des Lebens. Surkows Mission war es, diese winzige Öko-Partei des Putin-Vertrauten Sergej Mironow mit einigen anderen kleineren Gruppen zu einer Mitte-Links-Partei mit Wachstumspotential zusammenzuführen. Mit ausdrücklicher Unterstützung des Präsidenten sollte so eine neue loyale Kraft geschaffen werden, die in kontrollierter Konkurrenz zur Regierungspartei steht und diese möglicherweise eines Tages würde ersetzen können. Ein, wie Surkow es ausdrückte, zweites Standbein der Macht.2 Es soll hier nicht um die Partei Gerechtes Russland gehen, die infolge dieser Aktion entstand – sondern darum, was Surkow dort eigentlich tat, an diesem Freitag in Kitaj-Gorod.

    Der Kreml-Berater – damals war Surkow stellvertretender Chef der einflussreichen Präsidialadministration – bediente sich des sogenannten administratiwny ressurs (dt. Administrative Ressource). Dieser relativ unscharfe Begriff wird im politischen Diskurs Russlands und anderer post-sowjetischer Staaten oft verwendet. Er ist mitunter schwer von einfacher Korruption zu unterscheiden, da die Nutzung der Administrativen Ressource oft nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Folgen hat. Im weitesten Sinne bezeichnet er eine Art Amtsbonus: Einen Vorteil, den Amtsinhaber aus ihrer formalen Machtposition ziehen und gegenüber Mitbewerbern und Kontrahenten in Wirtschaft und Politik einsetzen können. In diesem Fall nutzte Surkow die hohe Organisationsfähigkeit der staatlichen Behörden und die informellen Verbindungen zwischen Mironow und Putin, um die politische Landschaft im Sinne der Regierung zu beeinflussen.

    Die Administrative Ressource (im Russischen meist abgekürzt: „adminressurs“) ist also das Potential von Vertretern der Exekutive auf allen Verwaltungsebenen, organisatorische und finanzielle Ressourcen innerhalb des Staatsapparates für die eigenen Zwecke zu nutzen. Dazu zählen die Mehrheitsbeteiligung des Staates an den größten Fernsehsendern ebenso wie die Möglichkeit, Polizei, Sicherheitsdienste, Gerichte und zahlreiche Lizenzierungsbehörden für Einflussnahme auf den politischen Prozess zu missbrauchen.3 Durch Einsatz dieser Instrumente werden unter anderem Wählerstimmen mobilisiert und unerwünschte Kandidaten und Gruppen eingeschüchtert oder ganz aus dem Rennen genommen – zum Beispiel durch plötzliche polizeiliche Ermittlungen.

    Die vielen Gesichter des adminressurs

    Ein Beispiel: Im September 2013, kurz vor den Bürgermeisterwahlen in Moskau, häuften sich die Berichte, dass Rentner Anrufe von der Pensionsverwaltung erhielten. Die Beamten stellten den Senioren einen Präsentkorb mit Nahrungsmitteln in Aussicht – wenn sie ihn spätestens bis zum Tag vor den Wahlen abholen würden.4 Bediente sich der amtierende (und später wiedergewählte) Bürgermeister Sergej Sobjanin seiner Behörden, um eine wichtige Wählergruppe mithilfe von Geschenken von sich zu überzeugen?

    Ein weiteres Beispiel: Im April 2016 durchsuchte die Steuerfahndung Büros der ONEXIM-Gruppe von Michail Prochorow. Der Firmengruppe gehört unter anderem das Investigativportal RBC. Das Medium war, so interpretierten es zahlreiche Beobachter, in seiner Berichterstattung zu weit gegangen und wurde durch den Einsatz der Steuerbehörde nun subtil darauf hingewiesen. Die Chefredaktion musste gehen.

    Schließlich ein Fall, den die Organisation Golos im August 2016 aufdeckte: Von 241 Firmen, die im Jahr 2015 über eine Million Rubel an die Partei Einiges Russland gespendet hatten, erhielten 80 im Laufe des Jahres staatliche Aufträge im Gegenwert von mehr als dem Zehnfachen des gespendeten Betrags.5 Über den Umweg von Unternehmen, die für ihre Spenden „belohnt“ wurden, gelangten so effektiv Staatsmittel in die Kassen der Regierungspartei. Hier überschneiden sich Korruption und Nutzung der Administrativen Ressource.6

    Die Sache hat System

    All diese Fälle von Parteigründungen und indirekter -finanzierung über Wahlgeschenke bis hin zum gezielten Einsatz der Steuerfahndung zeigen, wie breit das Spektrum der Administrativen Ressource ist. Wie zentral dieses Phänomen ist, wird jedoch noch einmal deutlicher, wenn man es in einen breiteren analytischen Zusammenhang stellt.

    Der Politikwissenschaftler Richard Sakwa sieht Russland als „dualen Staat“: Einerseits strukturiere die Verfassung das politische Geschehen, indem sie demokratische Verfahren als Legitimationsgrundlage politischer Handlungen definiere und Normen der Rechtsstaatlichkeit setze. Formal müssen sich alle Akteure daran orientieren. Andererseits werde diese konstitutionelle Ordnung ständig durch informelle Praktiken der Exekutive samt ihrer Beamtenschaft konterkariert: Diese parallele Existenz von zwei widersprüchlichen Funktionsprinzipien – dem demokratisch-konstitutionellen und dem informell-„parastaatlichen“ – hemme die Entwicklung hin zu offenem demokratischem Wettbewerb, schütze aber zugleich auch vor einem Abgleiten in vollumfänglichen Autoritarismus.7

    Begriff und Gebrauch der Administrativen Ressource zeigen genau diese Doppelbödigkeit, die Hybridität der russischen Politik. Regime, die keinen Wert auf demokratische Legitimation legen, müssen sich keiner komplexen legalistischen Mittel bedienen, um ihre Ziele zu erreichen. Die russische Verfassung hingegen – und das Bedürfnis, nach außen auf demokratische Verfahren innerhalb des Landes verweisen zu können –  zwingt die Eliten dazu, ihre politischen Ziele wenigstens formal innerhalb der geltenden Regeln zu verfolgen. Daher die Parteigründungen auf Initiative des Kreml, daher die Steuerfahndung, und daher auch die Wichtigkeit der Wahlen – an deren Ausgang auch aufgrund des Einsatzes der Administrativen Ressource kaum ein Zweifel besteht.


    1. Vielleicht auch am 26. – die Quellen widersprechen sich hier. Für einen Auszug aus dem geleakten Gesprächsprotokoll des Treffens siehe: Kommersant: Stenogramma-minimum ↩︎
    2. March, Luke (2009): Managing opposition in a hybrid regime: Just Russia and parastatal opposition, in: Slavic Review 68(3), S. 504-527, hier S. 511 ↩︎
    3. Siehe etwa Hale, Henry (2005): Regime Cycles: Democracy, Autocracy and Revolution in Post-Soviet States, in: World Politics 58(1), S. 133-165, hier S. 144; Blakkisrud, Helge (2011): Medvedev’s New Governours, in: Europe-Asia Studies, 63(3), S. 367-395, hier S. 386 ↩︎
    4. Slon.ru: Moskovskaja mėrija zadarivaet pensionerov produktovymi naborami ↩︎
    5. Rbc.ru: «Golos» obnaružil schemu skrytogo finansirovanija «Edinoj Rossii» ↩︎
    6. Eine Einführung in die Begrifflichkeit und auch die wirtschaftliche Dimension der Administrativen Ressource gibt der Ökonom Rustem Nureew hier: Administrativnyj resurs i ego ėvoljucija v postsovetskoj Rossii ↩︎
    7. Sakwa, Richard (2010): The dual state in Russia, in: Post-Soviet Affairs, 26(3), S. 185-206 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

    Weitere Themen

    Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

    Präsidialadministration

    Dimitri Peskow

    Jedinaja Rossija

    Wladislaw Surkow

    Polittechnologie

  • Manegenplatz

    Manegenplatz

    Der Manegenplatz, kurz auch Maneshka genannt, liegt im Zentrum Moskaus gleich westlich der Kremlmauern. Benannt nach der am Südrand gelegenen Manege, entstand der Platz erst in den 1930er Jahren.

    Die wechselvolle Geschichte der Stadt verdichtet sich hier zu kulturellen und historischen Knotenpunkten: Traditionsreiche Namen wie Ochotny Rjad und Mochowaja uliza erinnern an vergangene Zeiten, als hier der Handel blühte. Von den Vaterländischen Kriegen gegen Napoleon und Hitler, die für das (offizielle) kulturelle Gedächtnis Russlands noch immer zentral sind, zeugen die Manege und das Denkmal für Marschall Shukow.

    Nicht weniger wichtig aber ist der Manegenplatz als Ort und Symbol für Zusammenstöße von offiziellen und oppositionellen Strömungen: Hier fanden in den frühen 1990ern Demonstrationen statt, die maßgeblich zum Zerfall der UdSSR beitrugen, später wüteten hier mehrmals nationalistische Hooligans. Die Verkleinerungsform Maneshka steht seither weniger für den Platz selbst als für die Krawalle im Jahr 2010.

    Der Manegenplatz in Moskau: Wer es schafft, hier den Ton anzugeben, der kann sich auch landesweit Gehör verschaffen / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Steht man unweit des Kreml vor dem Four-Seasons-Hotel – dem ehemaligen Hotel Moskwa – am nordöstlichen Ende des Manegenplatzes, sieht man vor sich den Eingang zum unterirdischen Einkaufszentrum Ochotny Rjad. Es wurde erst Ende der 1990er Jahre fertiggestellt, doch sein Name (dt. etwa Jagd-Markt) erinnert an längst vergangene Zeiten, als gleich rechts von hier mit Wild, Vieh und Jagdwaffen gehandelt wurde.1

    Auch geradeaus, wo heute Spaziergänger auf dem Manegenplatz an akkurat gestutztem Rasen und pompösen Springbrunnen vorbeiflanieren, herrschte lange Zeit geschäftiges Treiben.
    Eine Karte von 1852 zeigt an dieser Stelle ein ganzes Viertel aus Gassen und Gebäuden, wo sich noch bis zur Revolution das organisierte Chaos russischer Märkte abspielte. Als man in den 1930er Jahren das Hotel Moskwa errichtete, wurde das Quartier vollständig abgerissen – es entstand der Manegenplatz.

    Exerzierhalle, Garage und Galerie

    Im Westen liegt die Mochowaja-Straße2, an der entlang sich auch die Manege erstreckt. Dieser lange, von Säulen umstandene Bau schließt den Platz nach Süden ab. Errichtet wurde die Manege zum fünfjährigen Jubiläum des Sieges über Napoleon im Vaterländischen Krieg 1812. Sie diente im Lauf der Jahrhunderte bereits als Exerzierhalle, Garage des Kreml-Fuhrparks und Ausstellungsraum. Und auch der andere, der Große Vaterländische Krieg, ist auf dem Manegenplatz präsent – in Gestalt des 1995 eingeweihten Denkmals für Marschall Shukow.

    Auch in der Sowjetzeit sollte auf dem Platz an vergangene Großtaten erinnert werden. Seit dem umfangreichen Abriss in den 1930ern hatte der Manegenplatz zwar zunächst nur geringe Bedeutung: Von Autoverkehr umgeben, war er kaum mehr als ein asphaltiertes Vorzimmer des Roten Platzes. Diese bauliche Lücke sollte 1967 jedoch mit einem Monument zum 50-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution gefüllt werden.

     
    In den frühen 1990er Jahren fanden auf dem Manegenplatz Demonstrationen statt, die maßgeblich zum Zerfall der UdSSR beitrugen – Foto © Ilya Varlamov

    Doch kam das Denkmal, das die Errungenschaften der Revolution und damit die Sowjetunion feiern sollte, nie zustande, stattdessen entwickelte sich der Platz zum Zentrum des Zerfalls ebendieses Staates. Am 20. Januar 1991 wandten sich Zigtausende gegen einen Einsatz der Roten Armee im abtrünnigen Litauen, im Februar forderte man lautstark den Rücktritt Michail Gorbatschows und skandierte „Jelzin! Jelzin!“.

    Im Zuge der Umbauten ab 1993 ist die Asphaltfläche einem mehrstufigen Arrangement aus Zierbrunnen, Bänken und Geländern gewichen und eignet sich so nur noch bedingt für große Ansammlungen. Doch von seiner politischen Bedeutung hat der Platz nichts eingebüßt. Vor allem zwei Ereignisse haben sich ins Gedächtnis der Moskauer eingegraben.

    Krawalle im Dezember 2010

    Als während der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 auf dem Manegenplatz das Spiel Russland gegen Japan gezeigt wurde, kam es zu bis dahin beispiellosen Ausschreitungen: Nationalistische Parolen grölend zerschlugen Hooligans Scheiben und steckten Autos in Brand – die vollkommen unvorbereitete Polizei sah zu.

    Am 11. Dezember 2010 wüteten hier erneut radikale Fußballfans. Wenige Tage zuvor war ein Fan des Teams Spartak Moskau bei einem Kampf mit kaukasischstämmigen jungen Männern getötet worden. Nationalisten vermuteten, dass das Verbrechen von der Polizei verheimlicht würde. Aus Protest marschierten am 11. Dezember einige tausend Menschen auf dem Manegenplatz auf.3
    Die unangemeldete Versammlung entwickelte sich zu einer regelrechten Schlacht zwischen der Polizei und randalierenden Hooligans, die unter Demonstration des Hitlergrußes rechtsextreme Parolen riefen. Ein Passant usbekischer Herkunft wurde mit Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem ihn sechs Demonstranten attackiert hatten.4

    Auch in den nachfolgenden Tagen wurden immer wieder Überfälle von Ultranationalisten auf fremdländisch aussehende Menschen registriert.

    Das in der Umgangssprache verbreitete Wort Maneshka steht heute weniger für den Manegenplatz selbst als für diese Krawalle vom Dezember 2010 – der Begriff wird inzwischen sogar auch vom Kontext losgelöst als Gattungsname für nationalistische Ausschreitungen verwendet.

    Symbolträchtige Aktionen im Schatten der Kremltürme

    Auf dem Platz an den Mauern des russischen Machtzentrums (auch bis zur Duma ist es nicht weit) finden auch weiterhin symbolträchtige Aktionen statt:  Während der Proteste 2011/12 gab es hier immer wieder Festnahmen und kleinere Kundgebungen: Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny rief 2014 zu einem spontanen Marsch über die Twerskaja-Straße bis zum Manegenplatz auf. Und auch die Staatsmacht nutzt den Platz im Schatten der Kremltürme: Während der Proteste von 2011/12 fanden hier mehrere Gegenkundgebungen zur Unterstützung Wladimir Putins und der Regierungspartei statt, hier trat Putin auch nach seiner Wiederwahl im März 2012 auf – mit der berühmten Freudenträne im Augenwinkel.5

    Am Eingang zum Roten Platz an der nordöstlichen Ecke des Manegenplatzes steht ein roter, im altrussischen Stil gefertigter Prachtbau: Er beherbergt das wichtigste historische Museum des Landes. All die Umwälzungen und Verwerfungen, die sich auf diesem Platz abspielen, landen irgendwann hier in den Vitrinen. Wer weiß, wie die nächsten Exponate aussehen werden? Die Geschichte, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auf dem Manegenplatz entfaltete, hat jedenfalls gezeigt: Wer es schafft, hier den Ton anzugeben, der kann sich auch landesweit Gehör verschaffen.


    1. yodnews.ru: Polnaja istorija Manežnoj ploščadi ↩︎
    2. Auch dieser Name (dt. Moosstraße) erinnert an den Handel, mit dem dieser Ort untrennbar verbunden ist: Hier wurde früher Moos verkauft, das zur Isolierung von Holzhäusern diente. ↩︎
    3. Der Fernsehsender Rossija-24 zählte gar 50.000 Demonstranten: lenta.ru: GUVD Moskvy ocenilo čislennost‘ mitingovavšich na Manežnoj v 5 tysjač čelovek ↩︎
    4. lenta.ru: Šest‘ čelovek zaderžany za napadenie na uzbeka v moskovskom metro ↩︎
    5. YouTube: Putin plačet vo vremja vystuplenija na Manežkoj ploščadi ↩︎

    Weitere Themen

    Aktion am 30. Dezember 2014 auf dem Manegenplatz

    Bolotnaja-Platz

    Protestbewegung 2011–2013

    Einzelprotest (Piket)

    Bolotnaja-Bewegung

  • Nicht-System-Opposition

    Nicht-System-Opposition

    Das Verhältnis der verschiedenen oppositionellen Gruppen in Russland zueinander und zum politischen System ist kompliziert – und eng mit der Entwicklung der politischen Rahmenbedingungen unter Präsident Putin verbunden. Entscheidend sind die Jahre von 2000 bis 2007: In dieser Zeit wurden Parteien- und Wahlgesetze reformiert und das Parteiensystem insgesamt wurde stabiler. Mit anderen Worten: Es erstarrte – zu einem hierarchischen Gebilde aus der dominanten Regierungspartei Einiges Russland und drei weiteren Parteien, die sich mit ihrem nachgeordneten Platz im System weitgehend arrangierten.

    Diese Umbildung lässt sich auch durch den Bedeutungswandel des Begriffs der „systemischen“ beziehungsweise „nicht-systemischen“ Opposition nachvollziehen. Während er zunächst Gruppen bezeichnete, die die formalen demokratischen Regeln ablehnten, wird er jetzt für Akteure verwendet, die im „System Putin” keine Rolle spielen und daher nur am Rande des politischen Prozesses vorkommen.

    Noch in den 1990er Jahren wurden in Russland diejenigen Parteien als nicht-systemische oder extrasystemische Opposition bezeichnet, die die „Spielregeln und die normative Begründung”1 des politischen Systems nicht anerkannten – also die demokratische Verfassung selbst von Grund auf ablehnten.2 Dazu zählten unter anderem die 1993 gegründete Nationalbolschewistische Partei sowie zahlreiche rechtsextreme und kommunistische Splittergruppen.

    In den 2000er Jahren bildete sich dann nach und nach eine klare Parteienhierarchie heraus. Die Regierungspartei Einiges Russland konnte sich mit viel Unterstützung des Kreml auf allen Ebenen als dominante politische Kraft etablieren – bis zu dem Punkt, an dem Wahlergebnisse vollkommen vorhersehbar wurden. Mit dem Wandel des Parteiensystems wandelte sich auch der Begriff der sistemnaja/nesistemnaja opposizija, der systemischen und der nicht-systemischen Opposition.

    ZWEI LAGER(?)

    Klassischerweise werden zwei Lager unterschieden: Da ist zunächst die so genannte Systemopposition. Sie besteht aus der KPRF, der LDPR und der Partei Gerechtes Russland (gelegentlich wird auch noch die liberale Kleinpartei Rechte Sache dazugezählt).

    Diese Parteien nehmen regelmäßig an Wahlen teil und erringen Mandate – wenn auch nie eine Mehrheit. Für dieses Privileg mussten sie den Preis reduzierter Unabhängigkeit zahlen: Kritische Rhetorik wird geduldet, weitergehende Handlungen dagegen – wie etwa Bündnisse mit radikalen Oppositionsgruppen – ziehen Repressionen nach sich.

    Auf der anderen Seite steht die Nicht-System-Opposition. Anders als noch in den 1990er Jahren umfasst der Begriff dabei heute auch viele Gruppen, die ausdrücklich die parlamentarische Demokratie als Organisationsform von Politik unterstützen. Auch was ihre wirtschaftspolitische Ausrichtung betrifft, unterscheiden sich einige dieser Gruppen nicht besonders von der eher zentristisch positionierten Regierungspartei.

    Doch was eint dann überhaupt die Nicht-System-Opposition, der heute so verschiedene Gruppen wie die Partei PARNAS von Kassjanow und die Fortschrittspartei Alexej Nawalnys einerseits und die Nationalbolschewisten von Eduard Limonow andererseits zugerechnet werden?

    Das einfachste Erkennungsmerkmal ist die Nicht-Teilnahme an Wahlen. Die meisten Gruppen, die der Nicht-System-Opposition zugerechnet werden, sind von der Teilnahme an den formalen Institutionen ausgeschlossen: Sei es, weil ihnen die Registrierung als Partei aufgrund der restriktiven Regeln oder vermeintlicher formaler Fehler versagt wurde, oder weil sie (wie etwa Garri Kasparows Anderes Russland) eine Registrierung ablehnen – da eine solche aus ihrer Sicht die nichtdemokratischen Institutionen legitimieren würde.3

    KEINE FUNKTION IM „SYSTEM PUTIN”

    Der Begriff nicht-systemisch macht dabei noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: Die marginalisierten Parteien der Nicht-System-Opposition sind für das Funktionieren des hierarchischen Modells unerheblich. Man kann sagen,sie haben im „System Putin” keine Funktion. Dagegen werden die parlamentarischen Oppostionsparteien oft als Stützen des Regimes betrachtet, weil sie unzufriedene Wähler auffangen, die andernfalls zu umstürzlerischen Alternativen abwandern könnten.

    Diese Unterscheidung von zwei „Klassen“ russischer Opposition ist allerdings etwas simpel. Es gibt immer wieder Versuche einzelner Gruppierungen an Wahlen teilzunehmen, obwohl sie sie für undemokratisch halten. Beispielhaft steht dafür das Ergebnis Alexej Nawalnys bei den Moskauer Bürgermeisterwahlen im Jahr 2013, als er aus dem Stand 27 % der Stimmen erhielt.

    Zudem ist der Übergang zwischen Regimeeliten und Anführern der Nicht-System-Opposition fließender als es die begriffliche Darstellung vermuten lässt. Michail Kassjanow, der heute der höchst putinkritischen Partei PARNAS vorsteht, war unter Putin Ministerpräsident – bevor er 2003 wegen seiner abweichenden Position in der YUKOS-Affäre in Ungnade fiel und 2004 entlassen wurde.

    EHER KRITIKER PUTINS ALS KRITIKER DES SYSTEMS

    Der Begriff der Nicht-System-Opposition ist aus diesen Gründen nur bedingt tauglich, zu einer differenzierten Beschreibung des russischen politischen Lebens beizutragen. Er suggeriert eine Distanz zum politischen System, die nicht auf alle Beteiligten zutrifft. Zahlreiche Akteure, die mit diesem Begriff erfasst werden, sind weniger Kritiker des politischen Systems als vielmehr Kritiker Wladimir Putins. Sie mit Gruppen zusammenzufassen, die eine wie auch immer geartete Revolution anstreben, erscheint kaum sinnvoll. Zumindest aber zeigen der Begriff und sein Bedeutungswandel anschaulich, wie fundamental sich die politische Landschaft Russlands in den vergangenen 15 Jahren verändert hat – obwohl die Institutionen größtenteils die gleichen geblieben sind.


    1. Schmidt, Manfred G. (2010): Anti-System-Partei, in: Wörterbuch zur Politik, Stuttgart, S. 35 ↩︎
    2. Bolshakov, Ivan (2012): The Nonsystemic Opposition. In: Russian Politics and Law 50(3): 82–92 ↩︎
    3. Kasparov.ru: Oppozicija: Novaja Sistema Koordinat ↩︎

    Weitere Themen

    Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

    LDPR

    Sprawedliwaja Rossija

    PARNAS (Partei der Volksfreiheit)

    KPRF

    Michail Kassjanow

    Alexej Nawalny

  • Presseschau № 28: Tschernobyl

    Presseschau № 28: Tschernobyl

    Zum 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe wurden auch in Russland Umstände und Folgen des Unfalls heftig diskutiert. Das Thema ist gerade in diesem Jahr zu einem regelrechten Politikum geworden: In der Debatte geht es nicht nur um die humanitären, ökologischen und technischen Aspekte, sondern auch um das Bild, das man sich in Russland heute von der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine macht.

    Einige Medien nehmen den Jahrestag zum Anlass, um der Ukraine alte wie neue Fehler zur Last zu legen, andere sehen bei der weiteren Bewältigung der Folgen auch den russischen Staat in der Pflicht.

    Auch zur Einschätzung der Opferzahlen und zu den Langzeitfolgen des Unglücks gehen die Meinungen weit auseinander.

    Einige der wichtigsten Stimmen haben wir hier mit Originalzitaten zusammengestellt.

    KOMMERSANT: OPFERZAHLEN SIND ÜBERTRIEBEN

    Im weitgehend unabhängigen Kommersant erklärt Leonid Bolschow, Leiter eines Instituts für nukleare Sicherheit der russischen Akademie der Wissenschaften: Alles nicht so schlimm.

    [bilingbox]In der wissenschaftlichen Literatur sind weltweit – und übrigens auch in der Sowjetunion – als direkte medizinische Folgen im ersten Jahr nach dem Unfall nur 134 bestätigte Fälle schwerer Strahlenkrankheit festgehalten. In den ersten 100 Tagen starben 28 Menschen. Alle anderen wurden geheilt und lebten und starben später entsprechend den landesweit durchschnittlichen medizinischen Kennziffern. Die Sterberate der Liquidatoren, zu denen auch ich gehöre, unterscheidet sich in nichts von Personen, die mit Tschernobyl nichts zu tun haben. Die Tausende und Millionen und Milliarden Opfer, über die einige Hitzköpfe sprachen, gibt es nicht.~~~Мировая наука, как, впрочем, и советская наука в первый же год после аварии, посчитала, что среди прямых медицинских последействий только 134 подтвержденных случая острой лучевой болезни. В первые 100 дней умерли 28 человек. Всех остальных вылечили, и дальше они жили и умирали в соответствии со средними по стране медицинскими показателями. А смертность среди ликвидаторов, к которым отношусь и я, ничем не отличается от смертности среди людей, не имевших никакого отношения к Чернобылю. Ни тысяч, ни миллионов, ни миллиардов жертв, о которых некоторые горячие головы говорили, нет.[/bilingbox]

    KOMSOMOLSKAJA PRAWDA: ALLES MYTHEN

    Ähnlich äußert sich die Boulevard-Zeitung Komsomolskaja Prawda: Opferzahlen würden aufgebläht – und heute blühe das Leben in der verlassenen Stadt Prypjat, vier Kilometer vom Reaktor von Tschernobyl entfernt.

    [bilingbox]Mit den Jahren wurde Folgendes klar: Die sowjetische Staatsführung hat unter dem Druck der Öffentlichkeit eine extrem hohe Opferzahl des Unfalls eingestanden. Den vorteilhaften Status des „Tschernobylers“ wollte dann später niemand wieder abgeben. […] Die fast vollständige Abwesenheit von Menschen hat den Wald um den Ort Prypjat in eine Oase für Tiere verwandelt. Die Zone um Tschernobyl gleicht einem Naturschutzgebiet, wo sich die Natur ganz urwüchsig zeigt: Schließlich stört der Mensch sie nicht. Hier ziehen Elche, Hirsche, Wölfe, Füchse und Bisons frei umher. Biologen untersuchen sie von Zeit zu Zeit – und finden weder Zweiköpfige noch Dreischwänzige. Also, auch alles Mythen.~~~С годами появилось понимание: руководство советской страны под давлением общественного мнения приняло решение об избыточном признании количества пострадавших от аварии людей. А потом уже не было желающих отказываться от выгодного статуса «чернобылец». […] Почти полное отсутствие людей превратило леса вокруг Припяти в животный оазис. Зона вокруг Чернобыля больше напоминает природный заповедник, где природа существует в первозданном виде: ведь ей не мешает человек. Здесь свободно бродят лоси, олени, волки, лисицы, зубры. Биологи их периодически изучают: ни одного двухголового или трехвостого. Выходит, опять выдумки.[/bilingbox]

    TAKIE DELA: BUDDELN IN RADIOAKTIVEN BEETEN

    Das spendenfinanzierte Magazin für Sozialreportagen Takie Dela dagegen behandelt die Folgen des Unfalls sehr kritisch. In der Reportage geht es vor allem um die Gebiete, die heute in Russland liegen.

    [bilingbox][…] Die Beamten, die damals in Moskau über die Radioaktivität im Gebiet Tula berichteten, gingen später im demokratischen Russland in die Politik und sagten: „Wir haben die Errichtung einer Tschernobyl-Zone durchgesetzt.“ Obwohl – oh weh – außer ein paar kleinen Geldzuwendungen für die Bewohner nichts dabei herumkam. Aber nicht einmal das war einfach. Die Einwohner von Uslowa hatten weniger als ein Jahr das Recht, umzusiedeln. Es konnte einfach niemand zulassen, dass eine ganze Stadt umzieht. Deshalb blieben die Alten hier leben, und die Kinder buddelten in radioaktiven Beeten. […]

    Außerdem haben die Politiker vor, die Anzahl der Orte auf der Tschernobyl-Zonen-Liste auf die Hälfte kürzen. Nach ihrer Auffassung wird das Gebiet dadurch attraktiver für Investoren und die Landwirtschaft.~~~[…] чиновники, заявлявшие в Москве о радиоактивным положении в Тульской области, в демократической России пошли в депутаты и говорили: «Мы пробили чернобыльскую зону!». Хотя кроме небольших денежных подачек для жителей, увы, ничего добиться не удалось. Но и это было непросто. У жителей Узловой меньше года был статус с правом на отселение. Просто никто не мог позволить, чтобы целый город переехал. Поэтому здесь так и доживали старики, а дети росли, копаясь в радиоактивных клумбах. […]

    Кроме того, власти России собираются в два раза сократить список населенных пунктов, входящих в чернобыльскую зону. По мнению чиновников, это должно сделать территорию более привлекательной для инвестиций и ведения сельского хозяйства.[/bilingbox]

    ERSTER KANAL: DIE FEHLER DER ANDEREN

    Der Erste Kanal, der mehrheitlich in Staatsbesitz ist, sieht die Versäumnisse dagegen vor allem auf ukrainischer Seite. Im Artikel auf der Webseite des Senders heißt es, nicht nur die Ingenieure sondern auch die politische Führung der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik seien für die Katastrophe verantwortlich gewesen. Heute setzten sich die Verfehlungen fort: Der Sarkophag zur Abdeckung des Reaktors sei immer noch nicht fertiggestellt, die von internationalen Geldgebern bereitgestellten Mittel versickerten in Korruptionsnetzwerken. Außerdem, so berichtet der hier zitierte Abschnitt, zeige Kiew auch im heutigen technischen Betrieb Verantwortungslosigkeit – indem es mit den USA statt mit Russland kooperiere, ohne die Folgen abzuschätzen.

    [bilingbox]Indem sie alle Kontakte mit Russland abbrach – darunter auch in puncto Kernenergie – hat sich die Ukraine nach Ansicht von Experten selbst in eine gefährliche Falle manövriert. Die Regierung hat beschlossen, die ukrainischen Atomkraftwerke auf amerikanischen Kraftstoff umzurüsten. Die Gesetze der USA verbieten die Einfuhr von Atommüll. Daher bleibt der Ukraine nichts anderes übrig, als bei sich selbst Endlager zu bauen. Auf dem Baugelände wurden bereits feierlich [Informations-]Schilder aufgestellt – ungeachtet dessen, dass der amerikanische Kraftstoff noch nicht einmal die obligatorische Freigabe erhalten hat; er wird bisher nur experimentell eingesetzt. Außerdem sind ähnliche Experimente in Europa bereits gescheitert.~~~Разорвав все связи с Россией, в том числе по линии ядерной энергетики, Украина, по мнению экспертов, сама загнала себя в опасную ловушку. Правительство приняло решение перевести украинские АЭС на американское топливо. Законы США запрещают ввозить отходы в эту страну. Поэтому Украине ничего не остается, кроме как строить хранилище у себя. На месте строительства уже торжественно установили таблички, несмотря на то, что американское топливо еще даже не прошло обязательную сертификацию, его пока используют экспериментально. Причем в Европе подобные эксперименты закончились неудачно.[/bilingbox]

    IZVESTIA: VOM WESTEN INSTRUMENTALISIERT

    In der regierungsnahen Izvestia ist von einer wissenschaftlichen Konferenz am renommierten Kurtschatow-Institut zu lesen. Die Experten dort beklagten, so die Zeitung, dass westliche Medien den Unfall ausgeschlachtet und damit den Zerfall der Sowjetunion befördert hätten.

    [bilingbox]Die Teilnehmer der wissenschaftlichen Konferenz bemerkten mehrfach, dass der Unfall in Tschernobyl einer der Gründe war, die zum Zerfall der UdSSR führten. Denn die Partner aus anderen Ländern hätten über die Tragödie ausschließlich ihrem Interesse entsprechend berichtet. Man kann die jüngste Tragödie im japanischen Fukushima in eine Reihe mit Tschernobyl stellen, die weltweite Berichterstattung zu ihr war allerdings viel zurückhaltender.~~~Участники научной конференции также неоднократно отмечали, что авария в Чернобыле стала одной из причин, способствовавших распаду СССР, поскольку зарубежные партнеры освещали эту трагедию исходя исключительно из своих интересов. Вместе с тем недавнюю трагедию на японской «Фукусиме» можно поставить в один ряд с Чернобылем, однако активность ее освещения в мировых СМИ была в разы меньше.[/bilingbox]

    VEDOMOSTI: DIE INFORMATIONS-KATASTROPHE

    Auch die regierungsunabhängigen Vedomosti behandeln die Rolle der Medien – allerdings der sowjetischen.

    [bilingbox]Die Ereignisse von Tschernobyl lösten eine Informations-Katastrophe in der sowjetischen Politik aus. Um ihre Folgen zu mindern, wurde daraufhin die Zensur gelockert, was der Presse erlaubte, offen über Probleme zu sprechen, die zuvor hinter einem dichten Vorhang militärischer, staatlicher und behördlicher Geheimnisse verborgen waren.~~~События в Чернобыле вызвали информационную катастрофу в советской политике, ликвидация последствий которой привела к смягчению цензуры и позволила прессе открыто говорить о проблемах, находившихся прежде под плотной завесой военной, государственной и ведомственной тайны.[/bilingbox]

    BIRD IN FLIGHT: GEHEIMNIS GELÜFTET

    Dass die Medien auf Anweisung des KBG zentrale Informationen zu dem Unglück zurückhielten, davon zeugen die kürzlich in der Ukraine freigegebenen Geheimdokumente, die Bird in Flight veröffentlicht hat, das in der Ukraine auf Russisch erscheint. Der KGB befahl demnach ausdrücklich die Geheimhaltung wichtiger Informationen zu Hintergründen und unmittelbaren Auswirkungen der Katastrophe:

    [bilingbox]1. Informationen, die die tatsächlichen Gründe des Unfalls im Reaktor 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl offenlegen.

    3. Informationen über die Menge und Zusammensetzung des Gemischs, das während des Unfalls austrat.

    11. Informationen über die radioaktive Verschmutzung der Umwelt und von Lebens- und Futtermitteln, die die höchstens zulässigen Konzentrationen überschreiten.

    16. Informationen über Ergebnisse neuer Methoden und Mittel zur Behandlung von Strahlenschäden.~~~1. Сведения, раскрывающие истинные причины аварии на блоке Nr. 4 ЧАЭС.

    3. Сведения о величинах и составе смеси, выброшенной во время аварии.

    11. Сведения о радиоактивном загрязнении природных сред, пищевых продуктов и кормов, превышающим предельно допустимые концентрации.

    16. Сведения о резултатах лечения новыми методами или средствами лучевой болезни.[/bilingbox]

    Jan Matti Dollbaum, Leonid A. Klimov

    Weitere Themen

    Presseschau № 20

    Presseschau № 21

    Presseschau № 22

    Presseschau № 23

    Presseschau № 24

    Presseschau № 25

    Presseschau № 26

    Presseschau № 27

  • Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

    Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

    Gemeinhin gilt der Machtantritt Wladimir Putins zur Jahrtausendwende als historischer Wendepunkt in der jüngsten politischen Geschichte Russlands – auch bezüglich des Parteiensystems. Hatten sich in der politischen Landschaft zuvor zahlreiche Parteien, Wahlallianzen und politische One-Hit-Wonder getummelt, so schnitt Putin diesen Pluralismus auf ein Minimum konformer Scheinalternativen zurück. Seither bestimmt er ohne ernsthafte Konkurrenz die Politikgestaltung.

    So viel Wahres in dieser klassischen Erzählung steckt, so lässt sie doch einiges außer Acht. Um die fundamentale Umbildung der Parteienlandschaft zu ermöglichen, brauchte es mehr als autoritäre Ambitionen – das historische Erbe der Sowjetunion, die spezielle Struktur der russischen Verfassung und nicht zuletzt ein weit verbreitetes Bedürfnis nach einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse waren wichtige Einflussgrößen auf dem Weg zum heutigen hierarchischen Parteiensystem.

    Die historisch orientierte politische Soziologie erklärt die Entstehung von Parteien als Prozess jahrzehntelanger Kämpfe zwischen Gruppen mit diametral entgegengesetzten Interessen – Arbeiter und Kapitaleigner, Säkulare und Kleriker, Stadt- und Landbewohner. Wie sich diese Konflikte jeweils in Parteien übersetzen, liegt laut dieser „Cleavage-Theorie“ darin begründet, wie Gesellschaften jeweils mit zentralen historischen Momenten umgegangen sind – etwa der Reformation, der französischen Revolution und der Industrialisierung.1

    Hier zeigt sich bereits, dass sich solche Theorien auf Russland nicht einfach übertragen lassen – schließlich waren hier ganz andere Umwälzungen von Bedeutung. Die zweifellos wichtigste, die Revolution von 1917, hatte allerdings weniger eine klare Konfliktlinie als vielmehr die Auslöschung des öffentlichen politischen Kampfes zur Folge.2 So ist es nicht verwunderlich, dass Parteien im heutigen Russland etwas grundlegend anderes sind als in westeuropäischen Staaten. Auch damit lässt sich erklären, wie die Parteienlandschaft im Laufe der 2000er zu dem werden konnte, was sie ist.

    Parteienlandschaft der 1990er Jahre

    Als während der Perestroika die politischen Gruppen aus dem Boden schossen und sich nach dem Zerfall des Staates zu Parteien vereinigten, konnte sich kaum eine auf etablierte Strukturen stützen.3 Die Kombination aus fehlender gesellschaftlicher Verwurzelung und dem zielgerichteten Einsatz von Medien für politische Grabenkämpfe führte dazu, dass viele politische Projekte hochgradig personenfixiert und außerdem oft kurzlebig waren. In den 1990er Jahren war die politische Landschaft derart wechselhaft, dass die Hälfte der Wähler ihre Partei auf dem Stimmzettel der nächsten Wahlen nicht mehr wiederfand.4

    Die Verfassung von 1993 tat ihr Übriges. Sie konzentrierte die Macht in den Händen des Präsidenten und sah keine aktive Rolle für Parteien in der Regierungsbildung vor.
    Auch die Wahlgesetze waren teilweise nicht förderlich für die Entwicklung von starken, unabhängigen Parteien: Die Möglichkeit der unabhängigen Kandidatur, verbunden mit schwachen nationalen Parteiorganisationen, führte dazu, dass sich viele aufstrebende Politiker an Unternehmer oder regionale Verwaltungschefs wandten, um Unterstützung für ihre Kampagnen zu erhalten. Dies schuf nicht nur entsprechende Loyalitäten und Unübersichtlichkeit im Parlament, sondern führte auch zu einer weiteren Marginalisierung von Parteien im politischen Betrieb.

    Die Vielfalt der politischen Alternativen wurde nicht beschränkt; gleichwohl war dieser Pluralismus aufgrund fehlender identifikationsstarker Parteien (die KPRF ausgenommen) kein Zeichen für eine funktionierende Demokratie. Im Gegenteil: Politik galt und gilt noch immer als schmutziges Geschäft, der Machtkampf als politisches Theater ohne Bezug zur Lebensrealität der Menschen, Politiker gelten grundsätzlich als korrupt und eigennützig.

    Reformen der frühen Putin-Ära

    Einige Beobachter begrüßten daher die Reformen der frühen Putin-Ära als ernsthafte Bemühungen, aus den zahllosen Gruppen ein stabiles Parteiensystem nach europäischem Muster zu formen.5 Andere hingegen sahen bereits im Jahr 2001 voraus, dass sich Russland abermals in Richtung der Ein-Parteien-Herrschaft bewegen könnte6 – und sie sollten Recht behalten.

    Der neue Ministerpräsident Wladimir Putin gab kurz vor den Parlamentswahlen 1999 seine Unterstützung für die Partei Einheit bekannt. Diese war wie zahlreiche andere Parteien ideologisch weitgehend unbestimmt und nicht in der Gesellschaft verwurzelt, doch Putins Popularität verhalf ihr zu einem ersten Sieg.7 Rasch wurde sie zur Basis der neuen „Partei der Macht“ – Einiges Russland.

    Bei der nachfolgenden Reorganisation des Parteiensystems waren vor allem drei Faktoren ausschlaggebend:

    Erstens dünnten restriktive Änderungen im Parteien- und Wahlgesetz das Feld politischer Alternativen nach und nach aus. Zwischen 2005 und 2009 reduzierte sich die Zahl der registrierten Parteien von 37 auf 6.8

    Zweitens unterstützte der Kreml gezielt die Schaffung kleiner linker Parteien, die der KPRF die Wählerstimmen abspenstig machen sollten. So entstand zunächst der linksnationale Rodina-Block und später die sozialdemokratische Partei Gerechtes Russland.

    Drittens schließlich wurde die Registrierung von Parteien und Kandidaten, die die hohen gesetzlichen Hürden überwunden hatten, oft vorgeblich aus formalen Gründen nicht erteilt.9

    Hierarchisches Parteiensystem: Einiges Russland an der Spitze

    So bildete sich bis etwa 2007 ein hierarchisches Parteiensystem heraus, in dem Einiges Russland unangefochten die Politik bestimmt. In den Parlamenten sind außerdem die KPRF, die LDPR und Gerechtes Russland vertreten, die sich in einem diffizilen Balancespiel aus rhetorischer Opposition und de-facto-Loyalität bewegen.

    Dieses Dilemma wird als Preis dafür betrachtet, dass sie in den politischen Institutionen mitspielen und die Vorteile dieses privilegierten Status genießen dürfen. Sie wirken zugleich als Puffer der Regierungspartei, indem sie unzufriedene Wähler auffangen und von umstürzlerischen Alternativen fernhalten. Liberale Gruppen wie die Partei Jabloko oder PARNAS dümpeln hingegen an den Rändern des politischen Systems.

    Wenn auch nach den Protesten der Jahre 2011 und 2012 die Regeln zur Registrierung von Parteien wieder etwas gelockert wurden: Im Kreml muss man sich zurzeit keine Sorgen machen, dass das etablierte Arrangement in naher Zukunft ernsthaft gestört werden könnte. Zu fest ist die Kontrolle der politischen Meinungsbildung (und Desinformation) über kremltreue Medien, zu schwach und zerstritten sind liberale und andere alternative Strömungen.

    Politischer Wandel ist – wenn überhaupt – eher von innen zu erwarten, etwa durch Verlagerungen der Interessen und Loyalitäten innerhalb der Regierungspartei und dem engsten Zirkel der Macht.


    1. Für die klassische „Cleavage-Theorie“ siehe: Lipset, Seymour Martin / Stein, Rokkan (1967): Party systems and voter alignments: cross-national perspectives, Free Press ↩︎
    2. Der politische Kampf fand innerhalb der KPdSU statt und gelangte selten an die Öffentlichkeit. ↩︎
    3. Eine Ausnahme bildete die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die im Jahr 1992 aus der Vereinigung reaktivierter KPdSU-Lokalgruppen entstand. Die meisten anderen Parteien mussten von vorn beginnen. ↩︎
    4. Rose, Richard (2001): How floating parties frustrate democratic accountability, in: Brown, Archie (Hrsg.): Contemporary Russian Politics – A Reader, Oxford, S. 215–222 ↩︎
    5. Siehe dazu den Artikel von Vladimir Gelman, der auch insgesamt einen guten Überblick über die Wandlung des Parteiensystems gibt: Gelman, Vladimir (2006): From ‘Feckless Pluralism’ to ‘Dominant Power Politics’? The Transformation of Russia’s Party System, in: Democratization, 13(4), S. 545-561 ↩︎
    6. McFaul, Michael (2001): Explaining Party Formation and Nonformation in Russia Actors, Institutions, and Chance, in: Comparative Political Studies, 34(10), S. 1159-1187 ↩︎
    7. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die geschickt lancierte Diffamierungskampagne in regierungstreuen Medien gegen die Herausforderer Jewgeni Primakow und Juri Lushkow. Siehe dazu die Gnose zur Partei Einiges Russland. ↩︎
    8. Golosov, Grigorii (2014): Co-optation in the process of dominant party system building: the case of Russia, in: East European Politics, 30(2), S. 271-285 ↩︎
    9. Gelman, Vladimir (2008): Party Politics in Russia: From Competition to Hierarchy, in: Europe-Asia Studies, 60(6), S. 913-930 ↩︎

    Weitere Themen

    Staatsduma

    Premierminister

    Präsidialadministration

    Jedinaja Rossija

    LDPR

    KPRF

  • Wsewolod Tschaplin

    Wsewolod Tschaplin

    „Der Frieden wird Gott sei Dank nicht mehr lange dauern. ‚Warum sage ich Gott sei Dank‘? Weil eine Gesellschaft, in der das Leben zu ruhig, zu problemlos, zu bequem verläuft, eine gottverlassene Gesellschaft ist.“1 Wen solche Thesen eines Sprechers der Russisch-Orthodoxen Kirche verwundern, der kannte Wsewolod Tschaplin nicht. Bis Ende 2015 kommentierte er im Namen der Kirche jedes gesellschaftliche Ereignis – sei es ein Madonna-Konzert oder eine Kunstausstellung – auf die ihm eigene, wenig zurückhaltende Art. Die kostete ihn am Ende seinen Job: Am 24. Dezember 2015 wurde Tschaplin als Leiter der Außenabteilung des Moskauer Patriarchats entlassen. Bis zu seinem plötzlichen Tod im Januar 2020 waren seine Auftritte dadurch nicht weniger kontrovers geworden.

    Besonders eindrücklich war seine Stimme. Sie war hoch und tief zugleich, kehlig und nasal / Foto © Valerij Ledenev unter CC BY 2.0
    Besonders eindrücklich war seine Stimme. Sie war hoch und tief zugleich, kehlig und nasal / Foto © Valerij Ledenev unter CC BY 2.0

    Im Jahr 1968 in eine Atheistenfamilie geboren, fand Wsewolod Tschaplin nach eigenen Angaben mit dreizehn Jahren zum Glauben.2 Dieser führte ihn auf eine steile Karriere im Apparat der orthodoxen Kirche. Nach Abschluss des Geistlichen Moskauer Seminars 1990 trat er in die Abteilung für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats ein, die damals Metropolit Kirill, der später zum Patriarchen aufstieg, leitete. Seitdem stand Tschaplin unter Kirills Schutz – symbolisiert auch durch die Handauflegung zur Priesterweihe, die Tschaplin 1992 von Kirill erfuhr. Danach durchlief er verschiedene Stationen, bei denen stets die Außendarstellung der Kirche im Zentrum seiner Arbeit stand – und ein Darsteller war Tschaplin allemal.

    Charismatischer Darsteller

    Da war zunächst sein Äußeres. Auf seiner Brust, verhüllt vom obligatorischen schwarzen Priestergewand, ein schweres goldenes Kreuz. Gleich darüber der lange, recht übersichtliche Bart. Er endete in einem runden Gesicht mit Augen, die sich unter den Brauenbögen voll Zorn in den Debattengegner bohren konnten. Das Eindrücklichste an Tschaplins Erscheinung war jedoch seine Stimme. Sie war hoch und tief zugleich, kehlig und nasal, als käme sie nicht aus seinem Mund, sondern aus weiteren, tiefer liegenden Gegenden.

    Diese Attribute verliehen ihm ein gewisses Charisma – möglicherweise war auch das ein Grund für seine zahlreichen Auftritte in Radio und Fernsehen. Dort verbreitete er seine oft radikal-religiösen Standpunkte, die sich nicht immer mit der Rechtslage deckten. So erklärte Tschaplin nach gewaltsamen Angriffen auf die provokante Ausstellung Achtung, Religion! im Jahr 2003, die Freiheit der Kunst sei keineswegs absolut. Nach der Aktion von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale bekannte er, der Staat müsse gegen solche „Gotteslästerung“ seine Macht einsetzen. Tue er das nicht, so sei das die Aufgabe des Volkes.3 Zu diesen Vorstellungen passte auch seine Empfehlung an Frauen, durch einen weniger „provokanten“ Kleidungsstil Vergewaltigungen vorzubeugen.4

    Das Leitmotiv vieler seiner Einzelaussagen war eine Kritik an gesellschaftlichem Liberalismus5 und politischem Säkularismus, die Tschaplin in zahlreichen theoretischen Abhandlungen darlegte. In einem Positionspapier zum Konzept der Orthodoxen Zivilisation hat er erklärt, individuelles Handeln müsse sich an christlichen Idealen, nicht an weltlichen Bedürfnissen orientieren. Der Staat könne und dürfe dabei nicht weltanschaulich neutral sein, sondern müsse eine geistige Mission verfolgen. Ja: Staat, Volk und Kirche seien in der orthodoxen Zivilisation ein unzertrennliches Ganzes. Mit der Symphonia geistlicher und weltlicher Macht hat Tschaplin sich auch auf die These von Moskau als Drittem Rom bezogen – als letzten Hort und Verteidiger der Christenheit. Dieser Gesellschaftsaufbau ist nicht einfach autoritär-elitenzentriert: die „Macht“ soll in beständigem Austausch mit dem „Volk“ stehen.6 Das Individuum gerät dabei jedoch sowohl moralisch als auch rechtlich aus dem Zentrum – insofern stellt die Konzeption eine erhebliche Abweichung vom rechtstaatlichen Ideal dar und ist daher im westlichen Sinne antidemokratisch. 

    Provokanter Kritiker

    Es ist nicht ganz klar, was genau Tschaplin zum Verhängnis wurde. Möglich, dass seine provokanten Statements in kirchlichen und staatlichen Führungsetagen schon länger argwöhnisch betrachtet wurden. Auch hatte Tschaplin wiederholt die in Staat und Wirtschaft omnipräsente Korruption angeprangert.7 Als er im Oktober 2015 den russischen Militäreinsatz in Syrien als „heiligen Krieg“ bezeichnete8 (was dem Priester und Publizisten Andrej Kurajew zufolge dem Kreml überhaupt nicht schmeckte),9 zog der Patriarch jedenfalls die Reißleine. Am 24. Dezember 2015 wurde Wsewolod Tschaplin als Chef der kirchlichen Abteilung für die Zusammenarbeit mit der Gesellschaft entlassen.

    Unmittelbar danach ging Tschaplin zum Gegenangriff über. Er warf der orthodoxen Kirche und im Speziellen seinem Ziehvater Kirill „Liebedienerei“ vor weltlichen Autoritäten und korrupten Beamten vor. Die Kirche versuche dabei, unabhängige Stimmen aus ihren Reihen zu verdrängen.10 In der Tat wurde wenig später auch der Chefredakteur des Journals des Moskauer Patriarchats, Sergej Tschapnin, entlassen. Auch er beklagte sich über die Intoleranz der Kirche gegenüber freier Meinungsäußerung.11 Das Internetportal slon.ru bemerkte dazu lakonisch, wenn so grundverschiedene Menschen wie der konservative Wsewolod Tschaplin und der liberale Kirchenmann Sergej Tschapnin zum selben Schluss kämen, dann komme das der Wahrheit wohl recht nahe.

    Im Januar 2020 verstarb Wsewolod Tschaplin unerwartet im Alter von 51 Jahren auf einer Bank in der Nähe der Kirche des Ehrwürdigen Theodor Studites in Moskau, in der er zuletzt als Priester tätig war. 

    aktualisiert am 28.01.2020


    1. Tschaplin äußerte diesen Gedanken in einer Radio-Debatte am 17. Juni 2015, siehe Radio Echo Moskvy: Sobljuden li v Rossii balans svetskogo i religioznogo?. Die zitierte Stelle ist über Youtube erreichbar: Vsevolod Čaplin: Slava Bogu čto budet vojna ↩︎
    2. Lenta.ru: Čaplin, Vsevolod: Predsedatelʻ Sinodalʻnogo otdela RPC po vzaimootnošenijam cerkvi i obščestva ↩︎
    3. YouTube: Ėkskljuzivnoe intervʻju Vsevoloda Čaplina, ab Minute 4:49 ↩︎
    4. Interfax: V Russkoj cerkvi sovetujut rossijankam vesti sebja bolee blagopristojno ↩︎
    5. Davon zeugt auch Tschaplins Fantasy-Literatur, die er unter dem Pseudonym Aron Schemayer veröffentlicht. In der 2014 erschienenen dystopischen Erzählung Mašo i Medvedi klagt Tschaplin die vermeintliche geistige Unfreiheit einer staatlich verordneten Gleichberechtigung an: Gegner eines neuen Gesetzes, das „intolerantes Denken“ verbietet, werden liquidiert. ↩︎
    6. Radonež.ru: „Pjatʻ postulatov pravoslavnoj civilizacii. Vostočnoe christianstvo predlagaet svoju modelʻ gosudarstva i obščestva“, protoierej Vsevolod Čaplin, „Političeskij klass“ ↩︎
    7. Russkaja narodnaja linija: Protoierej Vsevolod Čaplin: Korrupcija – ėto boleznʻ vsego obščestva ↩︎
    8. Vedomosti: Vsevolod Čaplin sčitaet vojnu s terroristami v Sirii svjaščennym dolgom Rossii ↩︎
    9. Siehe dieses Interview Kurajews mit dem Radiosender Komersant FM: YouTube: Andrej Kuraev ob otstavke Vsevoloda Čaplina 27.12.2015 ↩︎
    10. Slon.ru: Čaplin nazval pričiny svoego uvolʻnenija ↩︎
    11. Chapnin.ru: Pravoslavie v publičnom prostranstve: vojna i nasilie, geroi i svjatye ↩︎

    Weitere Themen

    Verfolgung der Russisch-Orthodoxen Kirche in den 1920er und 1930er Jahren

    Pussy Riot

    Andrej Kurajew

    Krieg im Osten der Ukraine

    Russisch-Orthodoxe Kirche

    Alexander Newski

  • Gemeinschaft Unabhängiger Staaten

    Gemeinschaft Unabhängiger Staaten

    Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) wurde mit der Auflösung der Sowjetunion am 8. Dezember 1991 gegründet und umfasste zunächst alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion mit Ausnahme des Baltikums. Die GUS ist ein loser Staatenverbund, der trotz breiter Kooperationsziele kaum wirkliche Integration geschaffen hat. Wichtiger wurden im Laufe der Zeit andere Projekte, wie etwa die Eurasische Wirtschaftsunion.

    „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ – dieser Ausdruck, der in den 1990er Jahren in aller Munde war, hört man noch immer gelegentlich. Ursprünglich angetreten mit umfassenden Kooperationszielen, stellte sich das Bündnis aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion bald weitgehend als Papiertiger heraus: Zahllose Gremien tagten, wurden jedoch kaum eingesetzt, um echte Probleme zu lösen, die Kooperation zu vertiefen oder die Staaten rechtlich zu integrieren. Die GUS ist nicht mehr als ein loser Staatenverbund – dient allerdings als Basis für ernsthaftere Integrationsprojekte im post-sowjetischen Raum.

    Die Gründung der GUS ist das Spiegelbild der Auflösung der Sowjetunion: Die Präsidenten der Ukraine, Russlands und Belarus’ unterzeichnen am 8. Dezember 1991 die Vereinbarungen von Beloweschskaja Puschtscha, die das Ende der UdSSR besiegelt und mit demselben Federstrich die GUS als Nachfolgeorganisation einsetzt. Bis zum Ende des Jahres treten ihr alle ehemaligen Teilrepubliken bei – bis auf die baltischen Staaten, die sich sofort in Richtung EU orientieren, und bis auf Georgien, das erst 1993 dazukommt.

    Wie ist diese Gemeinschaft konzipiert? Ihre Charta von 1993 stellt klar: Alle beteiligten Staaten sind souverän, die GUS hat – im Gegensatz zur EU – „keine supranationalen Kompetenzen“.1 Die Staaten verpflichten sich zu Kooperation in Wirtschaft, Umweltschutz, Menschenrechten und Sicherheitspolitik und etablieren zahlreiche Gremien, deren Vereinbarungen jedoch nie in nationales Recht umgesetzt werden.2 Auch um die gelegentlichen Handelskriege zu schlichten, ist die Organisation kein effektives Forum. Ein Grund dafür liegt in Russlands Außenpolitik, die bis in die 2000er hinein klar nach Westen ausgerichtet war. Russland setzte oft nur dann auf Integration mit den post-sowjetischen Nachbarn, wenn das gegenüber der EU oder dem Baltikum von strategischem Nutzen war.3 Zudem sind die einzelnen GUS-Mitgliedsstaaten für Russland von höchst unterschiedlicher Wichtigkeit – klar, dass Russland stärker auf bilaterale Vereinbarungen und kleinere Verbünde setzt, wie etwa die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (Gründung 2002) oder die Zollunion mit Belarus und Kasachstan (Gründung 2010).4

    Die GUS hat jedoch durchaus Effekte, wenn auch vor allem psychologische: Zum einen dämpft das Bekenntnis zur Kontinuität die Zerfallsdynamik der ehemaligen UdSSR. Der offiziell kundgegebene Wille zur Integration vereinfacht auch die transnationale Zusammenarbeit unter den Staaten, die sich ohnehin noch immer eine gemeinsame Infrastruktur teilen, eine Sprache sprechen und kulturell und sozial stark miteinander verbunden sind.5 Auch für die jeweiligen Staatschefs spielt die GUS eine stabilisierende Rolle: So erklärt die Wahlbeobachtungsorganisation der GUS auch heute noch regelmäßig Wahlen in der Region für frei und fair – insbesondere dort, wo die OSZE Probleme sieht (wie z. B. 2005 in Usbekistan, Tadschikistan und Kirgisistan und 2011 in Russland).

    Der größte formale Erfolg der GUS ist sicher die Errichtung einer Freihandelszone im Jahr 2011 – die Erfüllung eines seit Anbeginn anvisierten Ziels. Allerdings umfasst das Abkommen nicht alle ursprünglichen GUS-Staaten: Georgien ist bereits 2008 nach dem Russisch-Georgischen Krieg aus der GUS ausgetreten. Auch Aserbaidschan und Turkmenistan sind, obwohl GUS-Mitglieder, nicht Teil der Freihandelszone. Und die Ukraine, die Teil des Abkommens war, wird von Russlands Präsident Putin persönlich Anfang Dezember 2015 ausgeschlossen – wegen ihrer wirtschaftlichen Assoziation mit der EU.6

    Die GUS als solche, so zeigt sich, hat nie die Integrationskraft entfaltet, die ihre Gründer in der Charta festgelegt hatten. Zu unterschiedlich sind die Interessen der beteiligten Staaten, zu asymmetrisch die Beziehungen. Auf Basis des lockeren Verbundes etablieren sich jedoch viele andere Integrationsprojekte kleineren Umfangs, mit deren Hilfe die beteiligten Staaten – allen voran der regionale Hegemon Russland – ihre Interessen effektiver wahrnehmen können. Das wichtigste Projekt dieser Art ist bislang ohne Zweifel die Eurasische Zollunion, die 2015 mit zwei neuen Mitgliedern in die Eurasische Wirtschaftsunion übergeht.


    1. dipublico.org: Charter Establishing the Commonwealth of Independent States (CIS) ↩︎
    2. Libman, Alexander (2007): Regionalisation and regionalism in the post-Soviet space: Current status and implications for institutional development, in: Europe-Asia Studies, 59(3), S. 401-430, hier S. 403 ↩︎
    3. Lo, Bobo (2002): Russian foreign policy in the post-Soviet era, Hampshire, S. 72-96 ↩︎
    4. Zu diesen Projekten siehe z. B. Meister, Stefan (2011): Ein neues Etikett für Russlands Politik im GUS-Raum, Russlandanalysen Nr. 237 ↩︎
    5. Libman (2007), S. 415-17 ↩︎
    6. The Moscow Times: Russia Suspends Free Trade Agreement with Ukraine ↩︎

    Weitere Themen

    Eurasische Wirtschaftsunion

    Zentralbank

    Krieg im Osten der Ukraine

    Krym-Annexion

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Die 1990er

    Auflösung der Sowjetunion

  • Moskau – das Dritte Rom

    Moskau – das Dritte Rom

    Im prachtvollen, über und über mit goldenen Ornamenten besetzten Facettensaal des Kreml findet im Jahr 1883 die Krönungsfeier des Imperators Alexander III. statt. Während der Zeremonie erklingt die Kantante „Moskau“ von Pjotr Tschaikowski, der Chor trägt inbrünstig die Geschichte des Moskauer Reiches vor. Im vierten Satz erhebt der Bariton die Stimme: Russland, singt er in feierlich-deklamierendem Stil, sei als Leitstern für die slawischen Völker Europas aufgegangen, Moskau werde „den Unterdrückten ein Befreier sein“, denn eine Prophezeiung laute: Rom ist zweimal gefallen, doch das dritte besteht, und ein viertes wird es nicht geben! Diese Worte werden stimmächtig vom Chor aufgenommen, und der Satz endet in einer triumphalen Orchester-Passage.

    Was hat es mit den rätselhaften Zeilen dieser Prophezeiung auf sich? Sie stammen nicht etwa, wie man aus dem historischen Kontext glauben könnte, von einem Denker des zu jener Zeit aufkeimenden Panslawismus, sondern es handelt sich um eine Sentenz des mittelalterlichen Mönchs Filofej. Er hatte die Wendung von Moskau als „Drittem Rom“ in den ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts in mehreren Briefen gebraucht, einen Gedanken aufgreifend, der in klerikalen Kreisen bereits seit 1492 kursierte: Die Moskauer Regenten seien als Nachfolger der byzantinischen und römischen1 Herrscher zu betrachten. Rom selbst sei durch die Annahme des häretischen römisch-katholischen Glaubens nicht mehr das Zentrum der christlichen Welt; die byzantinische Hauptstadt, das nach dem römischen Kaiser Konstantin benannte Konstantinopel, das zweite Rom, sei mit dem Fall an die Osmanen 1453 untergegangen, und nun könne nur Moskau allein der Hort der Christentums sein. Wörtlich heißt es bei Filofej in seiner Schrift von 1523 an den Großfürsten von Moskau, Wasili III.:

    „Alle christlichen Reiche sind zum Ende gekommen und sind nach den Prophezeiungen vereint im einzigen Reich unseres Herrschers, und dies ist das Russische Reich: Denn Rom ist zweimal gefallen, das dritte besteht, und ein viertes wird es nicht geben.“

    Ohne den Zusammenhang zu kennen, lassen die Zeilen vermuten, dass Filofej hier mit christlicher Rhetorik die weltliche Herrschaft der Moskauer Regenten unterstützt. Es steht jedoch etwas anderes dahinter. Filofej richtete seine Bittschrift an den Großfürsten, um die Ausbreitung zweier Erscheinungen zu unterbinden, die für die orthodoxe Kirche eine potentielle Gefahr darstellten: den in seiner Zeit um sich greifenden astrologischen Aberglauben und – den Katholizismus.2 Auch die düstere, prophetische Zeile „ein viertes wird es nicht geben“ muss im Kontext verstanden werden: Laut dem Historiker Andrej Jurganow konnte Filofej damit gar nicht auf die weltliche Ewigkeit des Moskauer Reiches anspielen, da man zu seiner Zeit davon überzeugt war, dass das Jüngste Gericht und damit der Weltuntergang unmittelbar bevorstanden – schließlich waren nach alttestamentarischer Zählung etwa 7000 Jahre seit der Erschaffung der Erde abgelaufen.3

    Filofejs Sentenz spielte aus diesem Grund für die politische Sphäre lange Zeit eine geringe Rolle – weder Peter I. noch Katharina II. nutzten die These von Moskau als Drittem Rom, um ihre imperiale Politik zu rechtfertigen.4 Erst im 19. Jahrhundert verbreitete sich der Begriff durch Neuauflagen alter kirchlicher Schriften und erfuhr durch den Historiker Wladimir Ikonnikow in den späten 1860er Jahren eine radikale Neuinterpretation. Filofej wurde zum ersten Staatsideologen des russischen Reiches: Die Lehre vom Dritten Rom begründe, so Ikonnikow, einen spezifisch russischen Messianismus, abgeleitet aus der imperialen Tradition der Moskauer Herrscher. So umgedeutet hielt der Begriff Einzug in das Vokabular der panslawischen Bewegung, die Russland als Schutzmacht der slawischen Völker Europas betrachtete und seine Stärkung auf dem europäischen Kontinent anstrebte. Nicht der Schutz der christlichen Kirche durch spezifische Maßnahmen stand mehr im Vordergrund, sondern die historiografische Stützung einer russischen Mission, eines Sonderwegs zwischen Osten und Westen.5 Zwar nutzte die Politik den Begriff nicht offiziell, seine Verwendung bei der Krönungsfeier eines Zaren jedoch zeigt, dass man mit seiner Aussage durchaus einverstanden war.

    Auch den Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew beschäftigte die Lehre vom Dritten Rom. In den 1920er Jahren vertrat er sogar die These, die Idee des russischen Messianismus sei im Hintergrund der russischen Psyche dauerhaft wirksam und stelle die wahre Antriebskraft hinter dem Bolschewismus dar.6 Diese These fand ihr Echo in der westlichen Propaganda des Kalten Krieges – als vermeintliche kulturelle Grundlage des sowjetischen Expansionismus. Wenngleich die Sowjets selbst eine ideologische Kontinuität mit der imperialen zaristischen Politik abstritten, so nutzten sie die Neuinterpretation des Begriffs durchaus, zum Beispiel um die Politik Iwans IV. (des Schrecklichen) als „progressive Rezentralisierung“ positiv umzudeuten (siehe Eisensteins Film Iwan der Schreckliche).

    Laut dem Historiker Marshall T. Poe ist Filofejs ursprüngliche Sentenz im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts so zu einem „anachronistischen Kunstbegriff“7 geworden, der die erst in moderner Zeit entwickelte Vorstellung einer „russischen Mission“ mit historischer Scheinevidenz unterfüttere, im Westen wie in Russland. Auch heutzutage spielt der Begriff noch – oder besser: wieder – eine Rolle. Am 11. November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz zum Thema Moskau – Drittes Rom statt. Der nationalistische Theoretiker Alexander Dugin nutzte die Plattform, um auf Basis der Idee von Moskau als Drittem Rom für eine russisch-orthodoxe Staatsform ausdrücklich jenseits von liberaler Demokratie zu werben.8 Auch im konservativen Klerus findet die Idee Verwendung, wenn auch auf den ersten Blick weniger politisch: Der Erzpriester Wsewolod Tschaplin erklärte, sie spiegele die „Weltsicht vieler orthodoxer Russen wider“ – auch wenn sie keine genaue Vorstellung von ihrer Genese oder ihrem Inhalt haben.9

    Die Idee des Dritten Roms ist also eine vielschichtige Angelegenheit. Für den westlichen Betrachter mag sie erst kurios erscheinen, ja absurd, in politischer Hinsicht ist sie schnell als Legitimation eines russischen Sonderweges zur Hand, aber geistesgeschichtlich handelt es sich um ein faszinierendes Amalgam aus religiösen und philosophischen Komponenten, das noch heute in die russische Volksmentalität hineinwirkt.


    Weitere Themen

    Poklonnaja-Hügel

    Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Russisch-Orthodoxe Kirche

    Die Wilden 1990er

    Alexander III.

    Die Reformen Alexanders II.

    Christ-Erlöser-Kathedrale

  • Wladimir Shirinowski

    Wladimir Shirinowski

    Wenn im russischen Fernsehen ein massiger Mann mit kurzem grauem Haar, lockerer Krawatte und eindringlicher Mimik drohend den Zeigefinger schüttelte, konnte man sich schon recht sicher sein: Es ist Wladimir Shirinowski, und er ist wütend. Diese leidenschaftlichen Ausbrüche konnten alles und jeden treffen, doch mit Vorliebe richtete Shirinowski seine Wut auf die angeblichen Feinde Russlands und der russischen Nation. Der landesweit bekannte Politclown war erster und einzig denkbarer Chef der nationalistischen Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR – Liberalno-Demokratitscheskaja Partija Rossii) und zugleich hochdekorierter Staatsdiener. Regelmäßig sprengte er mit rassistischen Ausfällen die Grenzen des Sagbaren. Kurz, die russische Öffentlichkeit wäre anders ohne Wladimir Shirinowski.

    Wladimir Wolfowitsch Shirinowski wurde im Jahr 1946 im kasachischen Alma-Ata geboren. Seine Familie war arm, sein Stiefvater hatte nichts für ihn übrig. Der fortgezogene Vater war jüdischer Abstammung, den Nachnamen Eidelstein legte Shirinowski mit 18 Jahren ab. Auf seine Eltern angesprochen, antwortete Shirinowski einmal mit dem legendären Satz: „Meine Mutter war Russin, mein Vater Jurist.“1 Zum Studium ging er an die Moskauer Staatliche Universität, wo er orientalische Sprachen (er sprach fließend Türkisch) und später Jura studierte – und spätestens hier begannen die Gerüchte. Seine ersten Jobs hatte er in staatlichen Einrichtungen, die unter strenger Aufsicht des Geheimdienstes KGB standen. Vom Journalisten Wladimir Posner darauf angesprochen, stritt er persönliche Verbindungen zum Geheimdienst ab, leugnete jedoch nicht, dass sein eigenes politisches Projekt während der Perestroika vom Staatsapparat als „unabhängige Alternative“ gefördert wurde.

    So fand Shirinowski in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren in die Politik; seine LDPR ist seit 1993 konstant im Parlament vertreten. Er selbst inszenierte sich von Beginn an erfolgreich als Gegenentwurf zum verstaubten Parteibürokraten: er war laut, von derbem, aber treffendem Humor und sprach in kurzen, verständlichen Sätzen. Noch 1990 erklärte er: „Mein Programm ist wie das von jedem anderen: Perestroika, freier Markt und Demokratie!“2 und knüpfte Kontakte zu liberalen Parteien in Westeuropa3. Doch bald schon entdeckte er die nationalistische Nische für sich. Der drohende Zerfall des Staates, wirtschaftliche Not und Orientierungslosigkeit bereiteten den Boden für das Bedürfnis nach Ordnung und alter Stärke. Das versprach Shirinowski. Bis zu seinem Lebensende trat er für eine aggressive Großmachtpolitik ein4 und sah die russische Nation von allen Seiten bedroht: Von innen durch Jelzins „falsche Demokraten“5 oder „ausländische Agenten“  und von außen wahlweise durch die muslimische Welt, den Zionismus oder die USA. Seine Kontakte in die westliche rechtsradikale Szene (unter anderem zum damaligen DVU-Chef Gerhard Frey), seine Parolen einer atlantisch-israelischen Verschwörung gegen Russland und seine provokativen Vorschläge zur Neuaufteilung der Territorien Mittelosteuropas brachten ihm den Spitznamen „Adolfowitsch“ ein.

    Wenngleich rechtsradikale Stimmungsmache eine Konstante Shirinowskis war, überraschte er hin und wieder mit sozialpolitischen Positionen, die ins Bild des Chauvinisten nicht recht passen wollten. So erklärte er Homosexualität zu einem Teil der menschlichen Natur, prognostizierte die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Russland6, und empfahl der russischen Bevölkerung auf Fleischkonsum zu verzichten7 – er selbst lebte nach eigenen Angaben seit 2013 vegetarisch. Weniger als seine sozialpolitische Liberalität demonstrierten solche Aussagen jedoch Shirinowskis ideologische Unangreifbarkeit und sein Selbstbild als jemand, der schonungslos sagt was er denkt – unabhängig von zu erwartenden Folgen. Dazu gehörte auch, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Und so war Shirinowski regelmäßig dabei zu beobachten, wie er andere vor laufenden Kameras übel beleidigt und tätlich angreift – beispielhaft ist seine Saftattacke auf Boris Nemzow8 aus dem Jahr 1995.

    So grotesk die Figur Shirinowskis auch wirken mag, war er doch alles andere als lächerlich. Denn Shirinowski, der seit 1991 bei jeder Präsidentschaftswahl kandidierte, erfüllte im politischen System eine wichtige Funktion. Einerseits betrieb er rhetorische Frontalopposition zu Putins (Innen-)Politik und zog damit nationalistische Protestwähler auf seine Seite. Andererseits ließ er seine Fraktion mit der Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) abstimmen, lobte Putins Außenpolitik und hielt die Protestwähler so im System: Shirinowski, der zuverlässig unberechenbare Demagoge, starb offiziellen Angaben zufolge im April 2022. Mit der von ihm vollständig kontrollierten LDPR war er stets ein zuverlässiger Puffer an Putins rechter Seite.

    Aktualisiert am 06.04.2022


    1. Eatwell, Roger (2002): The rebirth of right-wing charisma? The cases of Jean-Marie Le Pen and Vladimir Zhirinovsky, in: Totalitarian Movements & Political Religions, 3(3), S. 1-23 ↩︎
    2. Golosov, Grigorij (2004): Political parties in the regions of Russia: Democracy unclaimed, Boulder, S. 24 ↩︎
    3. Luchterhandt, Galina (1994): Die Entfesselung der Marionette: Wladimir Schirinowski und seine LDPR, S. 122, in: Eichwede, Wolfgang (Hrsg.): Der Schirinowski-Effekt: wohin treibt Russland?, Reinbek bei Hamburg, S. 117-142 ↩︎
    4. Siehe z. B. sein Buch Poslednij brosok na jug (dt. Der letzte Durchbruch nach Süden), das mehrfach neu aufgelegt wurde. ↩︎
    5. Foreign Affairs: The Zhirinovsky Threat ↩︎
    6. Doždʼ: Vladimir Žirinovskij: zakon ob odnopolych brakach kogda-nibudʼ primut i u nas ↩︎
    7. Ria Novosti: Žirinovskij: partija LDPR postepenno perejdet na vegetarianskuju pišču ↩︎
    8. Dem Angriff ging eine Provokation Nemzows voraus, der aus einem Playboy-Artikel über Shirinowskis Sexualverhalten referierte. ↩︎

    Weitere Themen

    Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Jedinaja Rossija

    Die 1990er

    Boris Nemzow

    Auflösung der Sowjetunion

    Perestroika

  • Souveräne Demokratie

    Souveräne Demokratie

    Der Ausdruck geht auf den Kreml-Strategen Wladislaw Surkow zurück. Im Begriffspaar werden bewusst autoritäre Staatsvorstellungen mit demokratischen verbunden: es unterstreicht den russischen Anspruch auf Deutungshoheit bei der Auslegung von „Demokratie“ und auf Selbstbestimmung innerer Angelegenheiten. Das Konzept der „souveränen Demokratie“ war Teil der Reaktion der russischen Führung auf die unerwünschten Ereignisse der Orangen Revolution in der Ukraine, konnte sich aber  – auch aufgrund fehlender Unterstützung von Putin – nicht dauerhaft etablieren.

    Die auf den ersten Blick ungewöhnliche Kombination von „Souveränität“ und „Demokratie“ entstammt Putins zweiter Amtszeit – einer Phase, die für die neue russische Geschichte von entscheidender Bedeutung ist. Die Wirtschaft wuchs rasant, die Lebensbedingungen verbesserten sich zusehends (s. a. Stabilisierung), und auch auf der internationalen Bühne begann Russland sich nach 15 Jahren weitgehender Bedeutungslosigkeit wieder zu etablieren – auch in Konkurrenz zum Westen.1 Gleichzeitig steht diese Phase für eine Festigung der autoritären Tendenzen des politischen Systems.2 Zwei Schlüsselereignisse sind mit dieser Entwicklung untrennbar verbunden: die Geiselnahme von Beslan im September 2004 und die Orange Revolution in der Ukraine im Winter 2004/5. Beide wiesen die russische Führung auf ihre eigene (potentielle) Verwundbarkeit hin und dienten zur Legitimierung verschärfter politischer Kontrolle. Die Entstehung des Begriffs „souveräne Demokratie“ muss in diesem Zusammenhang gesehen werden.

    Der Begriff kursierte bereits 20053, öffentlich etablierte ihn Surkow jedoch erst bei einer Rede vor Aktivisten der Partei Einiges Russland am 7. Februar 2006. Der Souveränitätsaspekt bezeichnet dabei die Selbstbestimmung des russischen Staates nach außen: er dürfe nicht, wie angeblich in der Ukraine geschehen, durch äußere Kräfte unterwandert und ins Chaos gestürzt werden. Gleichzeitig sollte das Konzept der Demokratie aus der westlich-liberalen Deutungshoheit herausgelöst und mit eigenem Inhalt gefüllt werden.4 Kritiker setzten den Ausdruck sogleich in Beziehung zum Begriff der „gelenkten Demokratie“ und identifizierten ihn damit als Teil einer PR-Strategie zur Maskierung der schleichenden Autoritarisierung Russlands.5 Surkow versuchte zwar, ihn zur neuen Staatsideologie auszurufen. Er sollte jedoch vor allem als Symptom der Spannungen im russischen Selbstverständnis und weniger als Basis einer neuen Politik verstanden werden.6

    Zwar versuchte die Führung der Partei Einiges Russland den Begriff als Schlüsselidee ihrer Wahlplattform zu etablieren7, gab ihn jedoch 2007 weitgehend auf (siehe Abb.1). Putin selbst vermied den Begriff und distanzierte sich bereits im September 2006 von ihm, als er andeutete, die beiden Teile gehörten zu unterschiedlichen konzeptuellen Sphären. Bevor die Konjuktur des Begriffs langsam abnahm, spielte er 2007 im Ringen um die Nachfolge Putins noch einmal eine Rolle: Sergej Iwanow, Verteidigungsminister und hochgehandelter Kandidat für das Präsidentenamt, erklärte ihn zu den wichtigsten Zielen des neuen Russlands, während der damalige stellvertretende Ministerpräsident Dimitri Medwedew ganz in der liberalen Tradition bemerkte, Demokratie brauche keine Attribute.8 Medwedew machte das Rennen, und spätestens mit dem „Reset“ der Beziehungen zu den USA und Medwedews rhetorischem Fokus auf die Modernisierung des Landes wurde der Begriff obsolet.9 Er hat bisher keine Renaissance erfahren.

    Abb. 1: Anzahl der Beiträge in zentralen Medien mit Nennung des Begriffs „Souveräne Demokratie“, 2004-2015. Quelle: Integrum10

    1. Trenin, Dmitri (2011): Russia’s Foreign Policy Outlook, S. 46 in: Lipman, Maria / Petrov, Nikolay (Hrsg.): Russia in 2020, Washington, S. 45-65 ↩︎
    2. Die Regierung baute die Vormachtstellung der Partei Einiges Russland durch Wahlrechtsreformen aus und beschränkte die Autonomie von Medien und Nichtregierungsorganisationen. ↩︎
    3. Hier ein Artikel des Publizisten Witalij Tretjakow, der „Souveräne Demokratie“ als Quintessenz der politischen Philosophie Putins verstehen will: rg.ru: Suverennaja Demokratija ↩︎
    4. Mommsen, Margareta (2006): Surkows „Souveräne Demokratie“ – Formel für einen russischen Sonderweg? In: Russlandanalyen Nr. 114 ↩︎
    5. siehe beispielhaft Washington Post: Putin’s ‚Sovereign Democracy‘ ↩︎
    6. siehe dazu Morosow (2008): Sovereignty and democracy in contemporary Russia: a modern subject faces the post-modern world, in: Journal of International Relations and Development, 11(2), S. 152-180 ↩︎
    7. Mommsen 2006, S. 2 ↩︎
    8. ebd. ↩︎
    9. Trenin 2011 ↩︎
    10. Anmerkung: Im Jahr 2015 wurde der Dezember nicht erfasst. ↩︎

    Weitere Themen

    Premierminister

    Rokirowka

    Präsidialadministration

    Dimitri Medwedew

    Wladislaw Surkow

    Polittechnologie