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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Leonid Wolkow

    Leonid Wolkow

    April 2018, Jekaterinburg. Eine Demonstration für den Erhalt direkter Bürgermeisterwahlen. Wolkow – kurzer rötlicher Bart, Hipster-Parka, schwere Schuhe – ist aus Moskau angereist. Er steht mit seinen Mitstreitern aus alten Tagen auf der Bühne. Es sind Gefährten aus seiner Zeit als lokaler Abgeordneter, als Motor des liberalen Jekaterinburg, als Organisator von Protesten, die erfolgreicher sind als dieser. Mittlerweile ist er der Lokalpolitik entwachsen, ist Chefstratege des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny – und vielleicht sogar dessen hypothetische Traumbesetzung für die Präsidialadministration.
    Doch hier und jetzt ist er vor allem Zweierlei: Ein überzeugter Liberaler und zugleich ein „Aitishnik“ (IT-Typ) mit ausnehmendem Talent für den effizienten Einsatz digitaler Technologien – insbesondere für die Koordination von politischem Aktivismus. Zeichnet man seinen Weg nach, so stößt man auf einige Schlüsselereignisse, die die Weichen stellten. Beginnen wir am …

    … 28. September 2007. Leonid Michailowitsch Wolkow (Jahrgang 1980), der 26-jährige Sohn einer Mathematikerfamilie, Programmierer und Stratege beim IT-Konzern SKB-Kontur, veröffentlicht seinen ersten Blog-Post.1 Genau wie der Titel des Blogs O wsjakoj wsjatschine (dt. etwa „über dieses und jenes“) ist auch der Eintrag vage, eher ein Platzhalter. Und trotzdem: Spricht man heute mit seinen Freunden und Weggefährten, so scheint dieser Moment des In-die-Öffentlichkeit-Tretens in der Retrospektive bedeutend, denn in seinem Blog findet Wolkow schon bald seine Stimme, seine Themen, sein Publikum.
    Im November ruft er zur Wahl der liberalen Union der Rechten Kräfte auf und berichtet von seinen Erlebnissen als Beobachter der Parlamentswahlen 2007. Wer Wolkows weiteren Weg kennt, der sieht ihn schon in diesen Zeilen.

    Der Effizienz verschrieben

    18. September 2008. Wolkow kündigt an, für das Jekaterinburger Stadtparlament zu kandidieren. Es zieht ihn in die Politik. Doch ist es wohl nicht die Macht an sich, die ihn lockt, sondern das Gestaltungspotential, das sie bietet: „Ein paar Monate [auf Geschäftsreise] in Holland haben mich davon überzeugt, wie viel eine kompetente lokale Selbstverwaltung bewirken kann. [Dort] wird den Gemeinden eine Vielzahl von Fragen anvertraut, und sie lösen sie, verdammt nochmal, sehr effizient.“2 Dieser Satz etabliert beide Stränge seines öffentlichen Engagements und verknüpft sie zu einem roten Faden, der sich fortan durch Wolkows Biografie zieht: Politik und Organisation.
    Seine Kampagne wird zum Überraschungserfolg. Ohne die Hilfe bestehender Netzwerke und Parteien erringt Wolkow im Jahr 2009 ein Mandat in der städtischen Duma. Sein langjähriger Begleiter und späterer Ko-Autor Fjodor Krascheninnikow vermutet, zu diesem Zeitpunkt habe sich einfach niemand von dem „smarten, jungen IT-Typen“ bedroht gefühlt. Als er jedoch nach zwei Jahren intensiver Arbeit (inklusive Live-Streaming von Parlamentsdebatten) eine höhere Ebene ansteuert und für das Regionalparlament kandidiert, greifen die im System versteckten Bremsen oppositioneller Aktivität: Wolkow wird aufgrund fehlerhafter Unterschriften nicht zur Wahl zugelassen.
    Zuvor jedoch baut er ein breites Netzwerk an Unterstützern auf, knüpft gute Kontakte zu Unternehmern, die ihm bei seinen späteren Projekten zugutekommen, und führt eine neue gesellschaftliche Gruppe an Politik heran, die während der „satten Jahre“ der rapide wachsenden Wirtschaft und der schleichenden, technokratischen Autokratisierung der 2000er kaum an Politik interessiert war: hoch gebildete, relativ gut situierte urbane Bürger.

    Ein protestierender Bourgeois

    10. April 2010. Leonid Wolkow steht auf einer Bühne auf dem Ploschtschad Truda (dt. „Platz der Arbeit“) im Zentrum von Jekaterinburg, vor etwa 3500 Menschen. Sie gehören zu genau jenem urbanen Publikum, das er in den vergangenen Jahren mit Lokalpolitik in Kontakt gebracht hat, und das zuvor weit davon entfernt war, einen freien Samstag auf einer Demo zu verbringen. Nun sind sie gekommen, um gegen den Bau einer Kathedrale auf eben diesem Platz zu protestieren, ein Platz, auf dem sonst Kinderwagen rollen und Menschen in die Sonne blinzeln. So soll es auch bleiben, finden viele – und tragen schließlich den Sieg davon.
    Auf der Bühne trägt Wolkow Hut, modischen Schal und Sakko. Man könnte sagen, ein protestierender Bourgeois. Tatsächlich haftet ihm nichts Revolutionäres an, und doch revolutioniert er mit diesem und einem weiteren Projekt zur Rettung der direkten Bürgermeisterwahlen im Herbst 2010 die lokale Protestlandschaft. Mit beiden Kampagnen trennen Wolkow und seine Mitstreiter Protest von rein ökonomischen Problemen, verbinden Politik mit Alltagserfahrung und gestalten Demonstrationen als unterhaltsames, familientaugliches Spektakel. Was im Jahr 2010 in Jekaterinburg geschieht, nimmt damit vieles der Bolotnaja-Bewegung von 2011 vorweg.
    In diesen Jahren wird Wolkow zum Mittelpunkt liberaler Oppositionsarbeit in Jekaterinburg. Er übernimmt dort die Führung der losen Solidarnost-Koalition, steht für einige Zeit an der Spitze der regionalen PARNAS-Abteilung, und leitet bis 2011 das örtliche GOLOS-Büro. Dabei versucht er, einen neuen Umgang zu etablieren. Wolkow, so ein Weggefährte, sei „kein Freund des sowjetischen Führungsstils“, verabscheue lange Versammlungen. Seine ehemaligen Mitarbeiter bekräftigen: Wolkow setzte auf Vernetzung und ständigen (digitalen) Austausch statt auf Hierarchie. Da er gleichwohl im Zentrum des Geschehens steht, reißt sein Abschied aus Jekaterinburg eine Lücke ins Netzwerk, die auch Jahre später noch nicht ganz geschlossen scheint. Effizient, so schien es, war sein Stil nur solange er selbst am Ruder war.
     
    Sommer 2012. Die Bolotnaja-Proteste klingen langsam ab, und es reift die Idee, der Protestbewegung eine stabilere Basis zu geben. Auf Basis der theoretischen Ideen seines 2011 in Ko-Autorschaft erschienenen Buches Oblatschnaja demokratija (dt. etwa „Cloud-Demokratie“)3 entwickelt er ein digitales Gerüst, um online Wahlen für den Koordinationsrat der Opposition abzuhalten. Über 80.000 Menschen nehmen daran teil.4 Auch wenn der Rat nur ein Jahr lang besteht und weder die Opposition eint noch politische Resultate erzielt, ist diese Episode für Wolkow entscheidend: Er entwächst mit ihr vollends der Lokalpolitik und nimmt sich größerer Aufgaben an.

    Wenn Nawalny Putin wäre, dann wäre Wolkow Kirijenko

    24. Juni 2013. Wolkows Entscheidung, den Wahlkampf Alexej Nawalnys für die Moskauer Bürgermeisterwahlen zu leiten, ist daher nur der nächste logische Schritt.5 Die beiden hatten sich bereits 2010 während Wolkows Protestkampagnen in Jekaterinburg kennengelernt und hatten nicht nur im Koordinationsrat der Opposition sondern auch bei der Gründung der Fortschrittspartei zusammengearbeitet. Diese Verbindung bauen sie nun aus, verarbeiten die Fehler der Bolotnaja-Proteste, die für Wolkow auch in zu schwacher Organisation bestanden,6 und erreichen mit 27 Prozent der Stimmen ein beachtliches Ergebnis.7

    Schließlich, natürlich, die russlandweite Kampagne Alexej Nawalnys anlässlich der Präsidentschaftswahlen 2018. Auch hier ist Wolkow Chefstratege, und auch hier besteht die Innovation im passgenauen Einsatz digitaler Technologien für Mobilisierung und Koordination der freiwilligen Wahlkampfhelfer. Die Ausrichtung auf maximale Effizienz sorgt dabei aber auch für Verstimmungen: Wie soll man Nawalny seine Forderung nach mehr Entscheidungsfreiheit für die Regionen abnehmen, beklagen sich einige, wenn seine Kampagne ihren eigenen Aktivisten in den Regionen so enge Handlungsgrenzen setzt?8 Doch im Gegensatz zu früheren Zeiten, als Wolkow in Jekaterinburg geradezu unersetzlich war, trägt er hier immerhin dafür Sorge, dass die Maschine auch dann weiterläuft, wenn er und Nawalny einmal mehr hinter Gitter müssen. 

    Die Kampagne spielt sich in höchst unfairen Bedingungen ab, und kämpft daher mit harten Bandagen. Und so bleibt auch Wolkow nicht unbescholten: Seine Rhetorik wird schneidend, sein Ton weniger reflektierend, seine Position so kompromisslos wie die Kampagne hierarchisch. 
    Im Januar 2018 lässt sich Wolkow auf einen unschönen öffentlichen Schlagabtausch9 mit Xenia Sobtschak ein, die er – im Einklang mit Nawalny – als Marionette des Kreml bezeichnet. Es scheint, als hätte die russische Politik, in der einander diffamierende Oppositionelle zur Grundausstattung gehören, auch Wolkow eingeholt.

    Beide Kampagnen zeigen eindrücklich, wie man den eingeschränkten politischen Handlungsraum im elektoralen Autoritarismus für sich nutzt. Sie zeigen zugleich: Wenn man Behörden und Politik gegen sich hat und in den Massenmedien nicht vorkommt, reicht selbst die beste Organisation nicht aus. Es ist dieses Dilemma, das einen moralisch überzeugten Praktiker wie Leonid Wolkow immer wieder antreibt und zugleich nie voll zufriedenstellen kann, bis er sein Organisationstalent einmal für echte Politikgestaltung wird einsetzen können. Wenn Nawalny Putin wäre, dann wäre Wolkow Kirijenko, stellvertretender Leiter der Präsidialadministration. Doch scheint dieses Szenario in weiter Ferne: Nawalny ist seit Januar 2021 in Haft, wegen Vorwürfen der Geldwäsche verließ Wolkow schon im August 2019 das Land. Seit Anfang 2021 ist er außerdem zur Fahndung ausgeschrieben, ihm wird vorgeworfen, Minderjährige zur Teilnahme an nicht-genehmigten Kundgebungen verleitet zu haben. Und im August 2021 hat das Ermittlungskomitee ein Strafverfahren gegen Wolkow, der seit 2019 im Exil in Litauen lebt, eingeleitet: Er soll Gelder zur Finanzierung von FBK und der Nawalny-Wahlteams beschafft haben – Organisationen, die in Russland seit Anfang Juni als „extremistisch“ gelten. Anfang Juni 2025 sprach ein russisches Militärgericht das Urteil und verurteilte Wolkow in Abwesenheit zu 18 Jahren Haft. Zudem wurde ihm verboten, für zehn Jahre das Internet zu nutzen. „Verdammt! Was soll ich nun machen?“ kommentierte er das absurde Verbot. 

     

    Aktualisiert am 12.06.2025


    1. leonwolf.livejournal.com: O vsjakoj vsjačine ­ ↩︎
    2. leonwolf.livejournal.com: Konstruktiv ↩︎
    3. Ko-Autor ist Fjodor Krascheninnikow. Das Buch kann man hier herunterladen. ↩︎
    4. Toepfl, Florian (2018): From connective to collective action: internet elections as a digital tool to centralize and formalize protest in Russia. Information, Communication & Society, 21(4), S. 531–547 ↩︎
    5. leonwolf.livejournal.com: Štab Naval’nogo ↩︎
    6. Toepfl 2018 ↩︎
    7. Zur Kampagne sh. Smyth, Regina/Soboleva, Irina V. (2016): Navalny’s Gamesters: Protest, Opposition Innovation, and Authoritarian Stability in Russia. Russian Politics, 1(4), S. 347–371 ↩︎
    8. sh. Dollbaum, Jan Matti/Semenov, Andrey/Sirotkina, Elena (2018): A top-down movement with grass-roots effects? Alexei Navalny’s electoral campaign. Social Movement Studies, 17(5), S. 618–625 ↩︎
    9. sh. Video mit den Vorwürfen Sobčaks: Youtube: Kandidat.doc: Sobčak i Volkov (Polnaja versija razgovora za kadrom) und hier Volkovs Post am Tag danach: leonidvolkov.ru: Ksenija Sobčak, Vladimir Putin i ich taktika pereključenija vnimanija ↩︎

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  • Alexej Nawalny

    Alexej Nawalny

    „Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

    Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

    Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

    Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

    Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

    Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

    Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

    Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

    Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

    Korruption als die Wurzel allen Übels?

    Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

    Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

    Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

    Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

    Nawalny gleich Putin minus Korruption?

    Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

    Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

    Gefahr für den Kreml?

    Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

    Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

    Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

    Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

    Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

    Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

    Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

    Aktualisiert am 16.02.2024


    1. youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↩︎
    2. shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! ↩︎
    3. Fond borby s korrupciej ↩︎
    4. RBK: Navalnyj podal isk k Putinu ↩︎
    5. Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch ↩︎
    6. Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach ↩︎
    7. vgl. 2018.navalny.com ↩︎
    8. snob.ru: Navalnyj i nacionalizm ↩︎
    9. youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija ↩︎
    10. Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija ↩︎
    11. RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» ↩︎
    12. Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. ↩︎
    13. Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj ↩︎
    14. Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. ↩︎
    15. Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin ↩︎

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  • Nawalnys Wahlkampagne

    Nawalnys Wahlkampagne

    Ein Hinterhof im Zentrum von Jekaterinburg. Pfützen, Schotter, parkende Autos – und eine Tür mit der Aufschrift „Stab Alexeja Nawalnogo“. Dahinter weiße, schlichte Tische mit schwarzen Klappstühlen, an den Wänden der Slogan „Es ist Zeit, zu wählen“ und Plakate mit dem Konterfei Nawalnys. Alles ist in einheitlichem Stil gestaltet, der Schriftzug Nawalny 20!8 allgegenwärtig. In magenta und türkisblau steht er auf weißem Grund. Frische Farben, die entfernt an das rot-blau-weiß der russischen Flagge erinnern. Man mag darin einen Zufall sehen, doch das Bild passt zu einer der Kernaussagen der Kampagne: Russland, aber anders.

    Auch wenn die Präsidentschaftswahlen offiziell erst im Dezember 2017 ausgerufen wurden, erklärte Nawalny bereits im Dezember 2016 seine Absicht, zu kandidieren. Nach neun Monaten Kampagnenarbeit hatte sein Team Anfang Oktober 2017 insgesamt 80 Regionalbüros eröffnet, in jedem Büro drei bis vier Mitarbeiter fest eingestellt und tausende Freiwillige mobilisiert, die für ihn auf der Straße und im Internet agitierten.
    Doch aufgrund einer Bewährungsstrafe infolge eines zweifelhaften Strafprozesses durfte er laut russischem Gesetz im Endeffekt zur Wahl nicht antreten. Dies hatte die Zentrale Wahlkommission (ZIK) Ende 2017 endgültig bestätigt. Nawalny antwortete auf sein Antrittsverbot mit einer neuen Strategie, die ihm ermöglichen sollte, sich zumindest indirekt an den Wahlen zu beteiligen: Nach der Ablehnung seiner Kandidatur rief er zu Protestaktionen und einem „Streik der Wähler“ auf. Im Gegensatz zu einer passiven Wahlboykott-Haltung sei der Streik ein aktiver Ausdruck zivilen Ungehorsams gewesen, so Gleb Pawlowski.1

    Da Nawalny als parteiloser Kandidat angetreten wäre, war seine Zulassung an 300.000 Unterstützer-Unterschriften aus mindestens 40 Regionen gebunden, die er im Zeitraum zwischen Ende Dezember 2017 und Ende Januar 2018 hätte sammeln müssen. So will es das Wahlgesetz. Da diese Zeit zu kurz für eine wirkungsvolle Mobilisierungskampagne schien, sammelten die Regionalbüros seit Mitte 2017 etwas anderes: Versprechen auf Unterschriften. Wenn es dann darauf ankommt, so die Idee, geht es schneller.
    Wahlkommissionen erklären Unterschriften für oppositionelle Kandidaten häufig für ungültig: sie stammten von fiktiven Personen, so die übliche offizielle Begründung. Daher nahmen Nawalnys Mitarbeiter zusätzlich die persönlichen Daten jedes Unterstützers auf, jeder Pass wurde gescannt und mit dem amtlichen Personenregister abgeglichen.

    Wahlkampf gegen Windmühlen

    Sowohl diese hohen formalen Anforderungen als auch informelle Ausschlusspraktiken sind Teil der Funktionslogik des russischen politischen Systems, das oft als elektoral-autoritär bezeichnet wird. Entscheidende politische Ämter werden zwar durch Wahlen vergeben, doch der politische Wettbewerb im Vorfeld wird zugunsten des Status Quo verzerrt: Wahlfälschungen sind dabei nur das letzte Mittel – viel wichtiger sind präventive Maßnahmen wie Diskreditierung, Einschüchterung und Nichtzulassung zu Wahlen.

    Die Strategen in Nawalnys Kampagne versuchten, diese Funktionsprinzipien offenzulegen. Daher wurde jede Durchsuchung und jede Verhaftung zum Ereignis in den Sozialen Medien, jeder Gerichtstermin zur Bühne für politische Reden. Und auch die vielen kleinen Nadelstiche in den Regionen wurden genau dokumentiert – ob physische Attacken auf Mitarbeiter, Erstürmungen der Wahlkampfbüros durch Pro-Putin-Demonstranten, Einsatz der Administrativen Ressource in Form von Konfiskationen oder Druck des FSB auf Vermieter der Büroräume. Denn all dies gehörte bei Nawalnys Wahlkampagne zum Alltag.

    Das Bild, das die Kampagne von ihrem Gegner zeichnete, wurde so für die potentiellen Unterstützer Stück für Stück mit Inhalt gefüllt. Dazu gehörte auch, die Staatsmacht gezielt herauszufordern und zur medienwirksamen Überschreitung von Grenzen zu verleiten. So reizte die Kampagne etwa den Spielraum des Demonstrationsgesetzes voll aus: Wo Kundgebungen von den örtlichen Behörden abgesagt wurden, wurde trotzdem mobilisiert – mit der Begründung, dass das Gesetz keine Absagen, sondern nur Verschiebungen gestattet. So konnte man der Staatsmacht im Falle von Verhaftungen vorwerfen, sich nicht an die eigenen Gesetze zu halten.

    Der Staat, dargestellt als brutaler und inkompetenter Leviathan, stand dabei stets dem eigenen Beispiel einer effizienten, modernen Massenorganisation gegenüber. Der einschlägige visuelle Stil der regionalen Büros war dabei kein Zufall, er spiegelte die Organisationsstruktur der gesamten Kampagne wider. Denn zwar warb Nawalny für politische Liberalisierung und Demokratisierung, zwar betonte er, wie wichtig regionale und lokale Selbstbestimmung seien, die Kampagne aber funktionierte straff hierarchisch und vollständig zentralisiert. Jedes Regionalbüro hatte klare Ziele zu erfüllen. In Großstädten galt es beispielsweise, 10.000 Unterschriften zu sammeln, einige hundert Wahlbeobachter auszubilden, eine bestimmte Anzahl Agitationsmaterialien zu verteilen. Dafür zahlte das Hauptquartier jeweils drei bis vier Mitarbeitern Gehälter, finanzierte die Büroausstattung und koordinierte die Kommunikation mit den freiwilligen Helfern. Die Kampagne war effizient – demokratisch war sie nicht.

    Programm und Unterstützer

    So gab es auch keine Möglichkeit für die Unterstützer, inhaltlich zum Programm beizutragen. Die sechs Thesen seines Wahlprogramms, je in Verbindung mit einigen Forderungen, waren dabei kaum mehr als ein Gerüst.2 Dieses wirkte in der Gesamtschau zudem uneinheitlich: Einerseits wurde die – tatsächlich enorme – ökonomische Ungleichheit angeprangert, es wurden Erhöhungen des Mindestlohns und der Renten versprochen sowie Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Gesundheitswesen in Aussicht gestellt. Andererseits sollten Steuern und Abgaben für kleine Unternehmen vollständig aufgehoben, Regularien abgeschafft und der Staatsapparat deutlich verkleinert werden. Mehrausgaben sollten durch Kürzung anderer Posten finanziert werden – etwa des Verteidigungsetats. Und durch kolossale Einsparungen, die dem Budget infolge von Nawalnys angekündigten Anti-Korruptions-Reformen hätten zufallen sollen.

    Gesellschaftspolitisch war die Richtung hingegen etwas klarer: Nawalny positionierte sich deutlich liberaler als das politische Establishment. Und doch verwies er oft auf seinen orthodoxen Glauben und hielt sich bei Forderungen bezüglich der Rechte sexueller Minderheiten zurück. Seine nationalistische Rhetorik schließlich hatte Nawalny für seine Kampagne stark reduziert. Einzig übriggeblieben war davon die Forderung nach einer Visapflicht für Bürger der ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien.

    In Magenta und Türkisblau ist der Schriftzug „Nawalny 20!8“ allgegenwärtig / Foto © navalny.com
    In Magenta und Türkisblau ist der Schriftzug „Nawalny 20!8“ allgegenwärtig / Foto © navalny.com

    Die Strategie der programmatischen Ausrichtung war klar: Solange Nawalny der einzige blieb, der glaubhaft demokratische Veränderungen und effektive Korruptionsbekämpfung versprach, bot er allen, die diese Forderungen teilten, etwas an. Und er versuchte dabei, möglichst wenige abzuschrecken. Was von seinen Forderungen Taktik, was Überzeugung war, blieb unklar.

    Aus diesem Grund fanden sich unter seinen Unterstützern und Mitarbeitern Menschen mit durchaus unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Ansichten. Verwendet man die europäischen Labels, könnte man sagen: Sozialdemokraten arbeiteten mit Liberalen zusammen, Konservative mit Libertären. Sozialisten hingegen sahen die wirtschaftsliberalen Forderungen meist skeptisch und konnten sich nur in Ausnahmefällen zu Solidaritätsbekundungen durchringen.3 Doch auch im liberal-oppositionellen Lager hatte Nawalny nicht nur Freunde. Manche warfen ihm einen autoritären Führungsstil vor und sahen in ihm keine plausible Alternative zur heutigen vertikalen Organisation von Politik;4 andere beklagten den populistischen Stimmenfang durch Vereinfachung – insbesondere in Bezug auf die linken Elemente in seinem Programm.5

    Symbole eines ehrlichen Neuanfangs

    Wichtiger als konkrete Programmpunkte – hier sind Nawalny und Putin einander ähnlich – erwies sich die emotionale Seite der Kampagne, die Vertrauen in Nawalnys Person schaffen sollte. Nawalny und sein Team, allen voran Kampagnenchef Leonid Wolkow, fungierten als Symbole eines ehrlichen Neuanfangs. Gleichzeitig setzte die Kampagne gezielt darauf, Protagonisten der Machtelite als verbraucht, gestrig und verlogen darzustellen. Die technisch aufwändigen, in unterhaltsamer YouTube-Manier präsentierten und mit beißendem Sarkasmus kommentierten Enthüllungsvideos angeblicher Korruption hoher Amtsträger sprachen ein ums andere Mal dieselbe Botschaft: Wenn Putin diese Exzesse duldet, verdient er nicht das Vertrauen der Wähler.

    Genaue Daten zu Freiwilligen und Unterstützern bleiben auch nach der Wahl offen. Augenfällig ist jedoch die hohe Zahl von Schülern und Studenten, insbesondere bei den Demonstrationen und Kundgebungen. Doch dass Nawalny auch andere Unterstützer hatte, lässt sich an den Spendensummen ablesen: insgesamt 168 Millionen Rubel (rund 2,5 Millionen Euro) seien es von Dezember 2016 bis kurz vor der Wahl gewesen. Zwar basierte die Kampagne auf Online-Crowdfunding (Stabschef Wolkow war der erste, der diese Methode in Russland für politische Arbeit einsetzte). Doch es ist gut vorstellbar, dass zur Crowd neben Kleinspendern auch gut situierte Unternehmer gehörten, die sich von einem Rückzug des Staates aus der Wirtschaft und von der angekündigten Bekämpfung der Oligarchen eigene Vorteile versprachen6

    Eine Million Unterschriften

    Das erklärte Ziel Nawalnys Kampagne war es gewesen, durch schiere Mobilisierungskraft seine Zulassung zu erzwingen. Ende Dezember hatte Nawalny bereits über 630.000 Unterschriften, eine Million sollten es bis zur Wahl werden. Dazu kommen die Protestaktionen vom 26. März und 12. Juni, die in knapp 100 Städten so viele Menschen auf die Straßen brachten, wie zuletzt dieProteste nach den Parlamentswahlen 2011. So viele Bürger könne der Kreml nicht ignorieren und müsse dann dafür sorgen, dass das Urteil gegen Nawalny revidiert wird, so das Kalkül.

    Es sind beeindruckende Zahlen, die Nawalny vorlegen konnte, doch sollte die Schlagkraft der Kampagne trotzdem nicht überschätzt werden. Umfragen sprachen ihm eine Bekanntheit bei 55 Prozent der Gesellschaft zu – ein Wert, der im Sommer vor der Wahl trotz der Proteste stagnierte.7 Das Fernsehen verbreitete Schmähungen, die politische Elite schwieg Nawalny tot. Und auch bei der Jugend, die so zahlreich die Proteste unterstützte, war nur ein Bruchteil von demokratisch-oppositionellen Themen zu begeistern.8 Nach der Entscheidung der Zentralen Wahlkommission war klar geworden, dass die politische Führung sich nicht auf einen Wahlkampf mit Nawalny einlässt. Doch seine Kampagne in den Regionen konnte bereits einen anderen, möglicherweise nicht einmal beabsichtigten Effekt vorweisen: Sie brachte Menschen zusammen, stimulierte Koordination und Diskussion, förderte Solidarität. Daraus kann noch immer etwas Neues erwachsen – auch ohne Nawalny. Ob dafür allerdings der Zusammenhalt unter den Aktivisten ausreicht, die vor allem der Kampf für ihren Kandidaten einte, ist ungewiss.


    1. zit. nach: svoboda.org: „Vybory zakončilis’“ ↩︎
    2. 2018.navalny.com: Bazovye punkty predvybornoj programmy Alexeja Naval’nogo ↩︎
    3. Eine dieser Ausnahmen: jacobinmag.com: Not Just an Artifact ↩︎
    4. The New York Times: Will Russia’s Only Opposition Leader Become the Next Putin? ↩︎
    5. znak.com: „Naval’ny čudoviščno upraščaet: On chočet vlasti zdes’ i sejčas“ ↩︎
    6. Die Kampagne veröffentlicht keine Details zu Spendern oder einzelnen Summen, Aussagen dazu sind also spekulativ. Aus persönlichen Gesprächen mit der Kampagne nahestehenden Personen lässt sich jedoch schließen, dass Navalnyj auch Unterstützung aus der Wirtschaft erfährt. ↩︎
    7. Siehe die Umfragen des Levada-Zentrums vom März und Juni 2017 ↩︎
    8. Krawatzek, Felix (2017): Russische Jugend zwischen Rebelion und Integration, in: Russlandanalysen Nr. 341, S. 7-9 ↩︎

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  • Alexej Uljukajew

    Alexej Uljukajew

    15. November 2016, ein Hintereingang des Basmanny-Gerichts in Moskau. „Gestehen Sie Ihre Schuld ein?“ ruft ihm ein Reporter entgegen, als Alexej Uljukajew mit hochrotem Kopf das Gerichtsgebäude betritt. Unsicheren Schrittes bewegt sich der massige Mann am Arm des Beamten durch die Menschenmenge. Und Russland schaut am TV-Bildschirm zu, wie dort ein Minister, ein Wirtschaftsreformer der ersten Stunde, zur Anklagebank geführt wird. Im Dezember 2017 folgt das Urteil: acht Jahre strenge Lagerhaft und umgerechnet rund 2 Millionen US-Dollar Strafe. 

    Medial bombastisch begleitete Korruptionsermittlungen gegen hohe Staatsdiener senden immer wieder Schockwellen durch die russische Öffentlichkeit – und wohl auch durch die politische Elite. Doch dass es einen amtierenden Minister trifft, das gab es seit dem Ende der Sowjetunion nicht mehr. Der Prozess gegen ihn wirft mehr Fragen als Antworten auf: Warum gerade Uljukajew? Warum zu diesem Zeitpunkt? Und: Wer ist dieser Mann überhaupt?

    Geboren 1956 in Moskau, schlägt Alexej Walentinowitsch Uljukajew eine akademische Laufbahn als Ökonom ein. Die wissenschaftliche Arbeit begleitet ihn fast sein ganzes Leben: Parallel zu seiner politischen Karriere gibt er Seminare, schreibt Aufsätze in Fachzeitschriften, wirkt als Herausgeber ökonomischer Bestandsaufnahmen.

    Die Architekten der Schocktherapie

    Ein entscheidendes Ereignis in Uljukajews Biographie  ist dabei ohne Zweifel die Bekanntschaft mit Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais Mitte der 1980er Jahre. Es ist die Frühzeit der Perestroika. Politische Veränderung scheint greifbar, und in Klubs wie der Smeinaja gorka diskutieren junge Ökonomen die Möglichkeiten einer radikalen Abkehr von der Planwirtschaft. Ihre Stunde schlägt, als Jelzin nach dem Augustputsch 1991 ein Team aus Reformern versammelt: Als Gaidar in Jelzins Regierung anfängt, folgt ihm Uljukajew als Berater, und er folgt Gaidar auch 1994 in dessen Institut für ökonomische Politik.

    Die Ideen, die die Reformer umzusetzen versuchen, orientieren sich am Washington-Konsens, der dominierenden entwicklungspolitischen Maxime von IWF und Weltbank. Durch makroökonomische Stabilisierung, Liberalisierung und Massenprivatisierung sollten produktive Marktkräfte in der russischen Wirtschaft entfesselt werden. Doch das Programm ist von Beginn an höchst umstritten. Politiker (Jelzin inklusive) blockieren es immer wieder, um ihre Wähler nicht zu verschrecken, und auch die Implementierung läuft alles andere als nach Plan. Zwar schiebt die Privatisierung später das Wirtschaftswachstum der 2000er Jahre an.1 Doch nutzen politische und wirtschaftliche Eliten die Schwäche der staatlichen Institutionen in den 1990er Jahren rücksichtslos aus, um sich an dem früheren Volkseigentum zu bereichern. Das sät ein tiefes Misstrauen, auch gegenüber den Reformern und ihren liberalen Ideen.2 Dieses Misstrauen wirkt nach bis in manche Reaktion auf Uljukajews Verhaftung.

    16 Jahre in Putins Diensten

    Im Jahr 2000, nach einer Legislaturperiode als Abgeordneter der Moskauer Stadtduma, kehrt Uljukajew als Stellvertreter des liberalen Finanzministers Alexej Kudrin in die nationale Politik zurück. Hier steht er für Haushaltsdisziplin (keine leichte Sache in Zeiten eines Ölbooms) und bereitet den Aufbau des Stabilisierungsfonds vor, der Russland relativ unbeschadet durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 gehen lässt. Als stellvertretender Chef der Zentralbank (2004 bis 2013) begleitet Uljukajew die geldpolitischen Krisenmaßnahmen des Instituts: einerseits bleibt der Zins hoch, um die Inflation nicht anzuheizen, andererseits setzt die Zentralbank etwa ein Drittel ihrer Währungsreserven ein, um die Effekte der einsetzenden Kapitalflucht auf Wechselkurs und Unternehmen abzumildern.3 Das Programm findet im Nachhinein Anerkennung: IWF und Weltbank loben die russischen Krisenmaßnahmen, die der Wirtschaft zu einer raschen Erholung verhelfen.4

    Im Juni 2013 wechselt Uljukajew an die Spitze des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung. Anders als der wirtschaftspolitische Kreml-Berater Sergej Glasjew, der seit 2013 lautstark für Isolationismus und expansive Geldpolitik trommelt, fällt Uljukajew nicht durch schrille Töne auf. Sein Auftreten ist ruhiger, seine Konzepte sind komplexer und setzen eher auf privatwirtschaftliche Initiative.

    Alexej Uljukajew im November 2016 auf dem Weg zu seiner Anhörung / Foto © Kristina Kormilizyna/Kommersant
    Alexej Uljukajew im November 2016 auf dem Weg zu seiner Anhörung / Foto © Kristina Kormilizyna/Kommersant

    Er bringt sie auf die Formel Wirtschaftswachstum gleich Investitionen gleich Vertrauen. Die Schaffung von Rechtssicherheit ist dabei vielleicht der wichtigste, aber sicher auch der heikelste Faktor in einem Land, dessen Beamte mithilfe von Gerichten, Sicherheits- und Kontrollbehörden oft eigene ökonomische Pläne verfolgen und dabei regelmäßig Unternehmer einschüchtern oder hinter Gitter bringen. Uljukajew formuliert es im Jahr 2015 diplomatisch: „Ein Unternehmer muss in Russland heute sehr mutig sein.”5 Und dieses Problem wolle er angehen.

    Dazu gehört für ihn noch immer das klassische marktliberale Programm: Abschaffung bürokratischer Hürden, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Erhöhung des Renteneintrittsalters. Doch Uljukajew kündigt ebenso staatlich garantierte Kredite für Unternehmen, Steuererleichterung für junge Firmen und vor allem massive staatliche Investitionen in die Infrastruktur an.6

    Politisch versucht Uljukajew, die Balance zu wahren. Für die Importsubstitution, die seinen Überzeugungen wohl deutlich zuwiderläuft, findet er lobende Worte. Und angesprochen auf Russlands Handeln im Ukraine-Konflikt, das internationale Sanktionen nach sich zog, erklärt er, der negative Einfluss dieser Ereignisse sei marginal (sie „kräuseln das Wasser“) – verglichen mit den strukturellen Problemen, vor denen die Wirtschaft stehe. Damit spielt er einerseits die außenpolitischen Abenteuer der Regierung herunter, diagnostiziert aber andererseits massive Fehlentwicklungen als Ursache der aktuellen Wirtschaftskrise.

    Ein Minister hinter Gittern

    Doch akademische Reputation, Fachwissen und diplomatische Umsicht können Uljukajew nicht vor dem Zugriff des FSB bewahren. Nun wird er der Korruption beschuldigt. Die offizielle Version ist schnell erzählt: Der mehrheitlich im Staatsbesitz befindliche Ölgigant Rosneft schickt sich an, das Staatsunternehmen Baschneft zu kaufen. Uljukajew spricht sich dagegen aus, da dies – anders als eigentlich geplant – offensichtlich keine echte Privatisierung darstelle. Laut den Ermittlern soll Uljukajew nun Rosneft unter Druck gesetzt und ein Schmiergeld in Höhe von 2 Millionen US-Dollar dafür erzwungen haben, dass er dem Deal doch zustimmt. Rosneft schaltet die Behörden ein, und Uljukajew wird bei der Übergabe des Geldes festgenommen. Der Verkauf findet trotzdem statt – Putin hatte ihm längst zugestimmt.

    Die Verhaftung des zurückhaltenden Technokraten, der in seiner Freizeit Gedichte schreibt, lässt eine Bombe platzen. Seine ehemaligen Kollegen Kudrin und Tschubais zweifeln die Version der Ermittler vorsichtig an,7 und auch der Präsident des Russischen Industriellenverbandes RSPP Aleksandr Schochin hält die offizielle Version für unglaubwürdig. Wer einen so mächtigen Mann wie Rosneft-Chef Igor Setschin erpresse, für den sollten sich vielleicht Psychiater interessieren, nicht aber Ermittler, so Schochin am Tag der Verhaftung.8 Die alten Gegner der Liberalen aus der Systemopposition, Wladimir Shirinowskij (LDPR) und Gennadi Sjuganow (KPRF), erklären hingegen ernst ihre Befriedigung über die Verhaftung.9

    Unter Beobachtern gab es Spekulationen und Diskussionen zu den möglichen Hintergründen jenseits der offiziellen Verlautbarungen. Der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny etwa vermutet, hinter den Geschehnissen könne eine Strategie des Kreml stehen: Zwar sei es wahrscheinlich, dass auch Uljukajew korrupt10 war – als Belege dienen auf Familienmitglieder zugelassene Offshore-Firmen und Uljukajews offiziell deklariertes Jahresgehalt von 59 Millionen Rubel (etwa 850.000 Euro). Doch dass irgendjemand dem Putin-Vertrauten und schwerreichen Rosneft-Chef Igor Setschin auf so unprofessionelle Weise habe Geld abpressen wollen, das halte er, Nawalny, für lächerlich. In Wahrheit diene diese Episode der Verbreitung von Angst in Putins engstem Kreis, um einer Untergrabung seiner Herrschaft vorzubeugen. Je überraschender solche Aktionen seien, desto effektiver.11

    Doch auch Nawalny kann nicht hinter die Mauern des Kreml sehen, und die Verhaftung mag ganz andere Gründe haben. Ebenso undurchsichtig verlief auch der Prozess selbst. Laut Einschätzung von einigen Juristen seien die gegen Uljukajew vorgebrachten Beweise fadenscheinig: Setschin, eigentlich Hauptzeuge im Prozess, wurde viermal vorgeladen – und erschien kein einziges Mal vor Gericht. Und obwohl die vom Rosneft-Chef vorgebrachten Indizien für manche Juristen widersprüchlich sind, wird Uljukajew am 15. Dezember 2017 schuldig gesprochen und zu acht Jahren strenger Lagerhaft verurteilt.

    Putins Sprecher Dimitri Peskow erklärte schon im Vorfeld, dass die Sache keinerlei Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik haben werde – denn die obliege so oder so dem Staatschef.12 Diese süffisante Formulierung bricht sich in einer Gedichtzeile Uljukajews, die rund um seine Verhaftung  wegen ihres prophetischen Anklangs oft zitiert wurde: „Gott ist fern, die Chefs sind nah.“13


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  • Michail Prochorow

    Michail Prochorow

    Prochorow gilt als typischer Vertreter der politisch gut vernetzten russischen Superreichen, die in den 1990er Jahren mit zwielichtigen Firmenübernahmen ein Vermögen machten. Im Jahr 2011 betrat er überraschend die politische Bühne. Mit seiner Kandidatur für die Präsidentschaftswahl – von einigen als Projekt des Kreml betrachtet – erzielte er auf Anhieb ein Ergebnis von acht Prozent der Stimmen. Danach verschwand er aus der Politik genauso überraschend, wie er kam. Im Juli 2016 kündigte seine Mischholding ONEXIM zudem an, sich aus dem Russland-Geschäft komplett zurückziehen zu wollen.  

    Michail Prochorow (geboren 1965 in Moskau) studierte internationale Wirtschaftsbeziehungen – nach eigenen Angaben, weil er weder den Naturwissenschaften noch der Philosophie besonders zuneigte.1 Nach ersten Erfolgen während der Perestroika gründete er mit Wladimir Potanin 1992 die Interros-Holding. Interros und Potanins ONEXIMBank genossen privilegierten Zugang zur Privatisierung von Staatsbetrieben, da Potanin erstens als stellvertretender Regierungschef die Privatisierung selbst koordinierte und zweitens die ONEXIM-Bank ein wichtiger Kreditgeber des chronisch unterfinanzierten russischen Staatsbudgets war.

    Interros und die ONEXIM-Bank, der Prochorow ab 1993 vorstand, konnten so in den 1990er Jahren mehrere Staatsbetriebe weit unter Marktwert erwerben. Prochorows breites Portfolio umfasste bis 2017 heute sowohl Medien (er kontrollierte unter anderem die Mediengruppe RBC2) als auch Anteile an Rohstoffkonzernen. Der Konzern Norilsk Nickel entwickelte sich unter seiner direkten Führung bis 2007 zu einem hochprofitablen Unternehmen, das heute überdurchschnittliche Löhne zahlt. Trotz dieser Erfolgsgeschichte hängt Prochorow noch immer das Image eines skrupellosen Oligarchen, eines Repräsentanten des Raubtier-Kapitalimus der 1990er Jahre an.

    Der öffentlich wahrnehmbare Teil von Prochorows Lebensstil, dessen Vermögen laut Forbes etwa neun Milliarden US-Dollar beträgt3, stützt dieses Image zumindest teilweise. So wurde er im Jahr 2007 im französischen Nobel-Skiort Courchevel von der Polizei festgehalten, die ihm vorwarf, für seine Freunde Prostituierte eingeflogen zu haben. Das Verfahren wurde später eingestellt. Trotz seiner Vorlieben für teure Clubs und extravaganten Urlaub betont Prochorow oft, dass Reichtum zu sozialer Verantwortung verpflichte. Er engagiert sich mit einer Stiftung für die Stärkung von Kultur und Wissenschaft in den russischen Regionen und fördert als begeisterter Sportler mehrere russische Sportvereine.4

    Foto © A.Savin unter CC BY-SA 3.0
    Foto © A.Savin unter CC BY-SA 3.0

    Prochorows Einstieg in die Entwicklung eines in Russland produzierten Hybrid-Kleinwagens (Yo-Mobil) galt als PR-Gag, der seine beginnenden politischen Ambitionen unterstützen sollte. Im Juni 2011 übernahm er unerwartet für wenige Monate den Vorsitz der marktliberalen Sammelpartei Rechte Sache – Experten zufolge ein vom Kreml-Strategen Wladislaw Surkow angestoßenes Projekt zur Diversifizierung des kontrollierten politischen Angebots.5 Infolge der Massenproteste gegen Einiges Russland erklärte Prochorow eine Woche nach den Parlamentswahlen im Dezember 2011 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2012 – etwa 35 Prozent der Bevölkerung waren jedoch überzeugt, er sei ein vom Kreml kontrollierter Scheinkandidat.6 Obwohl er im Wahlkampf massiven Anfeindungen bezüglich seiner Rolle in den 1990er Jahren ausgesetzt war, erreichte er acht Prozent der Stimmen.

    Dieser Achtungserfolg ist möglicherweise auch seiner rhetorisch erheblich geschickteren Schwester Irina Prochorowa zu verdanken, einer bekannten Publizistin und Intellektuellen, die ihn während des Wahlkampfs unterstützte und die seine Kultur- und Wissenschaftsstiftung leitet. Sie stand auch der von Prochorow im Jahr 2012 gegründeten Partei Bürgerplattform bis 2014 vor. Die Partei ist weiter politisch aktiv, seit der Angliederung der Krim zählen sie aber immer mehr Experten zu der sogenannten Systemopposition.


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  • Wahlfälschungen in Russland

    Wahlfälschungen in Russland

    In einem Video aus Rostow am Don vom 18. September 2016 zeigt sich eine typische Szenerie einer zum Wahllokal umfunktionierten Schule. In diesem Fall hat man die Abstimmung in einer kleinen Sporthalle organisiert: Wo Kinder sonst die Sprossenwand erklimmen, baumeln rote, weiße und blaue Ballons; wo sonst der Basketball gedribbelt wird, werfen Bürger ihre Wahlzettel in transparente Urnen. Doch um 12:35 Uhr sieht es aus, als würden die Mitglieder der örtlichen Wahlkommission wieder zum Sport übergehen. Zwei Personen bauen sich – ähnlich der menschlichen Mauer beim Fußball – vor einer der Wahlurnen auf. Für andere Anwesende verdecken sie damit die Sicht auf eine weitere Mitarbeiterin, die in aller Seelenruhe zahlreiche Wahlzettel nacheinander in die Urne fallen lässt. Und das ist dann doch wieder ziemlich unsportlich.

    Zeugen solcher Szenen stellen sich viele Fragen: Wie verbreitet sind solche Praktiken – und auf welche Weise wird noch gefälscht? Welchen Stellenwert haben Fälschungen heute in Russland? Und bedeuten sie, dass Wahlergebnisse insgesamt nicht belastbar sind? Der Reihe nach.

    Einwurf, Karussell und Bächlein

    Da sind zunächst allzu offensichtliche Fälschungen wie sie die Szene aus Rostow dokumentiert: Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag durch Wähler oder Organisatoren – und manchmal von beiden Hand in Hand. Neben dem Einwurf zusätzlicher Stimmzettel durch Mitarbeiter der Wahlkommission ist das sogenannte „Karussell“ die bekannteste Methode. Dabei wird dem Wähler ein materieller Anreiz geboten, einen bereits ausgefüllten Stimmzettel in die Wahlurne zu stecken und dem Karussell-Organisator den eigenen unberührten Zettel zu übergeben. Dieser füllt den leeren Stimmzettel aus und übergibt ihn dem nächsten Wähler. Oft wird diese Methode mehrfach wiederholt, indem Wähler mit Bussen von einem Wahllokal zum anderen gefahren werden.1

    Damit verwandt ist das Verfahren mit der harmlosen Bezeichnung „Cruise“ (Kreuzfahrt) oder „Bächlein“ (Rutschejok): Es basiert ebenfalls auf mehrfacher Abstimmung, allerdings mithilfe eines gefälschten Wahlscheins, der zur Abstimmung in einem beliebigen Wahllokal berechtigt. Beides funktioniert natürlich nur, wenn die Organisatoren eingeweiht sind und Personen in die Wahlkabinen vorlassen, die nicht im örtlichen Wählerregister eingetragen sind.

    Videos wie etwa aus Rostow am Don weisen solche Praktiken nach. Allerdings fangen Kameras das nur selten so eindeutig ein. Doch durch einen Blick auf die offiziellen Daten kann Stimmeneinwurf auch nachträglich aufgespürt werden: Liegt die Wahlbeteiligung in einem Bezirk besonders hoch und zeigt sich dort zugleich eine starke Abweichung in der Stimmverteilung zugunsten einer Partei (meist: Einiges Russland), liegt die plausible Annahme nahe, dass dort tatsächlich Stimmen künstlich hinzugefügt wurden. Eine Studie zu den Parlamentswahlen 2011 zeigte zudem: Allein die Gegenwart unabhängiger Beobachter in einem Wahllokal reduzierte den Stimmanteil für Einiges Russland durchschnittlich um elf Prozentpunkte.2

    Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie?

    Vertraut man den Berichten der OSZE, haben während der 2000er Jahre diese direkten Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag zugenommen. Hatten die internationalen Beobachter in den Jahren 1999 und 2000 noch kaum etwas am Wahl- und Auszählungsprozess auszusetzen, so häuften sich in den Jahren danach Berichte zu Mehrfachabstimmung und Verletzungen der vorgeschriebenen Verfahren.3 Im Jahr 2011 waren solche Berichte besonders zahlreich, und diesmal (auch weil sie sich durch soziale Medien so schnell und weit verbreiten konnten wie nie zuvor) trieben sie zigtausende Menschen auf die Straße.

    Doch solche Manipulationen allein reichen nicht aus, um zu erklären, warum die OSZE die Wahlen von 1999 noch einen „Meilenstein in Russlands Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie“ nannte – um dann bis 2011 Wahl für Wahl kritischere Worte zu finden (die Dumawahl 2016 erhielt wieder bessere Noten). Hinzu kommen Verzerrungen des politischen Wettbewerbs im Vorfeld der Wahl, die im politischen System Russlands wesentlich bedeutender sind als direkte Wahlfälschungen. Sie alle haben zu tun mit der Nutzung der sogenannten Administrativen Ressource.

    Verzerrungen des politischen Wettbewerbs

    Erstens werden Kandidaten und Parteien bis heute zuweilen nicht zur Wahl zugelassen. Dies geschieht oft unter Berufung auf formale Fehler, zum Beispiel darauf, dass zu viele ihrer zur Registrierung eingereichten Unterstützerunterschriften ungültig seien. In einem gesetzlichen Umfeld, das ohnehin hohe Hürden für Newcomer setzt, erschwert dies die Teilnahme alternativer politischer Kräfte zusätzlich.

    Zweitens springen staatliche Stellen bei der Wählermobilisierung ein: Regelmäßig erhalten Studierende, Soldaten, Staatsbedienstete und Angestellte großer Unternehmen „Wahlempfehlungen“. Außerdem nahm der Anteil der Wähler stark zu, die bis zu zwei Wochen vor der Wahl abstimmen: Mitarbeiter der Wahlkommissionen kommen in einem kaum kontrollierbaren Prozess mit mobilen Urnen zu Wählern in die Wohnung oder ins Krankenhaus. Bei der Präsidentenwahl 2008 stimmten 7,5 Prozent der Wahlberechtigten auf diese Weise ab.4

    Drittens ist die Regierungspartei selbst das Produkt eines staatlichen Eingriffs in die politische Auseinandersetzung. Sie ging 1999 als hastig geschmiedete Elitenkoalition Jelzinsunter dem Namen Jedinstwo (Einheit) an den Start, sicherte Jelzins Nachfolger Putin eine parlamentarische Basis und wurde bis zur Wahl 2003 zur Machtpartei ausgebaut – und zwar durch den gezielten Einsatz staatlicher Mittel.

    Was, viertens, auch die Medienberichterstattung einschließt. War auch der Wahlkampf in den 1990ern von Fernsehsendern in der Hand kremltreuer Unternehmer geprägt (allen voran ORT des Oligarchen Boris Beresowski), so gab es damals noch signifikante Gegengewichte in der Medienlandschaft. Unter Putin änderte sich dies schnell: Bis 2001 waren die größten Fernsehsender mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Staates. Und dies zeigte sich deutlich: Während des Wahlkampfs im Jahr 2007 entfielen jeweils etwa 19 Prozent der Nachrichtenzeit im Ersten Kanal und bei NTW sowie 20 Prozent im Kanal Rossija auf Berichterstattung über die Regierungspartei Einiges Russland. Die noch immer wichtigste Oppositionskraft, die Kommunistische Partei, wurde dagegen nur in zwei bis drei Prozent der Zeit erwähnt.5

    Ein hybrides System

    Auf diese und andere Weise wird der politische Wettbewerb bereits vor der Wahl durch den Missbrauch staatlicher Ressourcen so verzerrt, dass ein unkontrollierter Machtwechsel am Wahltag nahezu ausgeschlossen ist. Direkte Eingriffe und Manipulationen im Wahlprozess sind in diesem System nur das letzte Mittel, um einen Stimmenverlust abzuwenden – wie bei der Parlamentswahl 2011. Dass dieses Ausmaß an offensichtlichen Fälschungen eine unerwünschte Ausnahme darstellte, ist auch an den Bemühungen zu erkennen, die seitdem unternommen wurden, um Vertrauen in den Wahlprozess zurückzugewinnen – etwa die teure Installation von Überwachungskameras in Wahllokalen oder die Ernennung von Ella Pamfilowa zur Chefin der Zentralen Wahlkommission.

    Solche Systeme, in denen politische Eliten ihren Herrschaftsanspruch einerseits aus einem technisch einwandfreien, formal demokratischen Wahlprozess ableiten, andererseits aber zum Zweck des Machterhalts unfaire Mittel einsetzen, haben in der Politikwissenschaft einen Namen erhalten, der diese inhärente Widersprüchlichkeit betont: hybride Regime. Die Forschung zu solchen Regimen gewann in dem Maße an Plausibilität, in dem sich im Westen die Enttäuschung über die politischen Irrfahrten einiger junger Demokratien breit machte. Das „Ende der Geschichte“6 war nach 1990/91 keineswegs erreicht, und eine demokratische Verfassung bedeutete noch lange nicht den unabänderlichen Triumph liberaldemokratischer Prinzipien in der täglichen politischen Wirklichkeit. Und so gilt für Russland zurzeit, was Andreas Schedler den „elektoralen Autoritarismus“ nennt: es ist ein politisches System, in dem zwar Parteien regelmäßig Wahlen verlieren – aber eben nur Oppositionsparteien.7


    1. Einen Bericht über die Funktionsweise eines „Karussells“ in deutscher Sprache gibt es bei der Frankfurter Rundschau ↩︎
    2. Field experiment estimate of electoral fraud in Russian parliamentary elections ↩︎
    3. Die einzelnen Berichte können nachgelesen werden ↩︎
    4. White, S. (2014): The electoral process. In S. White, R. Sakwa & H.E. Hale (eds), Developments in Russian politics, pp. 60–76. Basingstoke [u.a.]: Palgrave Macmillan, S. 70 ↩︎
    5. White, S. (2014): S. 68 ↩︎
    6. Fukuyama, F. (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? ↩︎
    7. Schedler, A. (2002): The menu of manipulation. Journal of democracy, 13(2), 36-50, hier. S. 47 ↩︎


    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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    LDPR

    Ob Jelzin oder Putin, ob Wirtschaftskrise oder Boom – im politischen Russland gibt es seit dem Zerfall der Sowjetunion zwei Kräfte, die dazugehören wie der Weihrauch zur Messe: die Kommunistische Partei und die Liberal-Demokratische Partei Russlands, die LDPR. Ihr Name leitet dabei in die Irre: Von Liberalismus ist seit den frühen 1990er Jahren kaum noch etwas in ihrem Programm zu finden – stattdessen steht sie für Nationalismus, ja offen rechtsradikale Positionen, und für einen starken, zentralisierten Staat. Auch das Etikett demokratisch ist angesichts ihrer extremen Führerfixierung zumindest zweifelhaft: Wladimir Shirinowski ist Gründer, Vorsitzender, Chefideologe und Gesicht der Partei.

    Shirinowski bezeichnete die LDPR als „älteste Oppositionspartei Russlands“. Und tatsächlich: alt ist sie, zumindest verglichen mit den meisten anderen politischen Kräften. Ihre Wurzeln hat die LDPR in der Perestroika, als das politische Leben in Russland aufblühte: Zahlreiche Organisationen der demokratischen Opposition gründeten sich, fusionierten und zerstritten sich wieder. Der Staat duldete sie, beließ sie aber in der marginalisierten Halböffentlichkeit. Anders die 1989 gegründete Liberal-Demokratische Partei der Sowjetunion (LDPSU): Von Beginn an medial präsent, registrierte sie der Staat 1991 großzügig trotz formaler Fehler, was einige Beobachter persönlichen Verbindungen Shirinowskis zum KGB zuschreiben.1

    erste Wahlerfolge

    Im Jahr 1991 schwenkte die LDPR (damals noch LDPSU) auf einen offen nationalistischen Kurs ein, da Jelzin und seine Reformer mit der gängigen demokratisch-marktliberalen Ideologie nur schwer anzugreifen waren.2 So etablierte sich Shirinowski mit Forderungen nach territorialer Expansion, der Wiedereinführung der imperialen Flagge und einem zentralisierten, ethnisch russischen Staat als Vertreter derjenigen, die sowohl vom Kommunismus als auch von dessen Niedergang enttäuscht waren. Diese Position brachte der LDPR zunächst erhebliche Wahlerfolge ein: Im Jahr 1993 wurde sie unerwartet mit 23 Prozent der Stimmen stärkste Kraft im Parlament und sorgte damit für Panik im demokratischen Lager. Ein Großteil des Erfolgs war dabei Shirinowskis Auftreten geschuldet, der sich als dynamischer Gegensatz zu langweiligen Parteifunktionären inszenierte.3

    Bedeutung im Parteiensystem

    Wenngleich die Wahlergebnisse im Laufe der 1990er zurückgingen und nun zwischen 6 (1999) und 13 Prozent (2016) liegen, ist die LDPR aus dem Parteienspektrum nicht wegzudenken. Dabei nimmt sie eine eigentümliche Position im politischen Machtgefüge ein. Da ist, erstens, ihre Ideologie: Konstanten sind der rechtsradikale Nationalismus und die Forderung nach einer imperialistischen Außenpolitik. Davon abgesehen ist sie programmatisch allerdings flexibel. In einer Umfrage von 2006 waren die Befragten denn auch uneins darüber, ob die LDPR eher marktliberal (35 Prozent) oder für mehr Regulierung sei (28 Prozent), eher für individuelle Freiheit (39 Prozent) oder soziale Gleichheit (24 Prozent) einstehe, und ob sie eher der politischen Führung oder der Opposition angehöre (30 versus 34 Prozent).4 Zweitens also steht die LDPR im Ruf, eine zuverlässige Stütze von Putins Machtarrangement zu sein. Man muss nicht über personelle und finanzielle Verbindungen zwischen Kreml und Parteiführung spekulieren, um diese These zu bestätigen. Denn zwar äußert die LDPR programmatische Kritik am Kurs der Regierungspartei, stimmt aber oft genug für deren Gesetzesprojekte.5 Außerdem spart sie Putin persönlich von ihrer Kritik weitgehend aus und unterstützt damit sein Image als überparteiliche Führungsfigur der nationalen Einheit.

    Satellit des Kreml?

    Der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman bezeichnet die LDPR daher treffend als „Satelliten“ des Kreml: Die Partei ziehe unzufriedene Wähler an und halte sie so davon ab, umstürzlerische Kräfte zu unterstützen. Auch ihre radikale Propaganda gegen Kommunisten wie Liberale ist der Regierung durchaus dienlich.6 Wenngleich die Partei also im politischen System ihre Nische gefunden hat, ist ihre Zukunft ungewiss. Erstens zeigt die Stagnation ihrer Wahlergebnisse, dass es ihr nicht gelingt, ihre Wählerschaft zu verbreitern7 – wobei ihr im Falle einer andauernden ökonomischen Krise das Image als Protestpartei womöglich helfen könnte. Zweitens jedoch ist sie strukturell und inhaltlich derart auf Shirinowski fixiert, dass sie ohne den mittlerweile 70-Jährigen nicht vorstellbar ist. Zwar hat er bereits seinen Sohn Igor Lebedew als Fraktionschef installiert, doch der verfügt nicht über einen Bruchteil von Shirinowskis Charisma. Ob das früher oder später zu erwartende Abtreten Shirinowskis von der politischen Bühne die Gestalt des russischen Parteiensystems nachhaltig verändern wird, muss die Zukunft zeigen.


    1. Luchterhandt, Galina (1994): Die Entfesselung der Marionette: Wladimir Schirinowski und seine LDPR, S. 122, in: Eichwede, Wolfgang (Hrsg.): Der Schirinowski-Effekt: wohin treibt Russland?, S. 117-142 ↩︎
    2. Golosov, Grigorij (2004): Political parties in the regions of Russia: Democracy unclaimed, Boulder, S. 24 ↩︎
    3. Eatwell, Roger (2002): The rebirth of right-wing charisma? The cases of Jean-Marie Le Pen and Vladimir Zhirinovsky, S. 9, in: Totalitarian Movements & Political Religions, 3(3), S. 1-23 ↩︎
    4. Wciom.ru: Političeskie Partii: «Idejnyj Portret» ↩︎
    5. Für eine Zusammenfassung der Forderungen in der Finanzkrise 2008/9 siehe March, Luke (2012): The Russian Duma ‘opposition’: no drama out of crisis?, in: East European Politics, 28(3), S. 241-255 ↩︎
    6. Gelman, Wladimir (2008): Party Politics in Russia: From Competition to Hierarchy, S. 924, in: Europe-Asia Studies, 60(6), S. 913-930 ↩︎
    7. Golosov, Grigorii V. (2014): Co-optation in the process of dominant party system building: the case of Russia, in: East European Politics, 30(2), S. 271-285 ↩︎

    Weitere Themen

    Wladimir Shirinowski

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Jedinaja Rossija

    Die 1990er

    Auflösung der Sowjetunion

    Perestroika

  • Sprawedliwaja Rossija

    Sprawedliwaja Rossija

    Auf den ersten Blick scheint die Partei Gerechtes Russland ein höchst seltsames Konstrukt zu sein. Aus mehreren Klein- und Kleinstparteien unter der Aufsicht des Kreml-Strategen Wladislaw Surkow zusammengezimmert, ist sie seit 2007 als Oppositionspartei im russischen Parlament vertreten. Doch kann eine Partei mit so offensichtlichen Verbindungen zur Staatsmacht überhaupt eine oppositionelle Position vertreten? Nun, sie kann – und kann doch wieder nicht. Zu Beginn war sie durchaus ein Sammelbecken für Aktivisten, die den privilegierten Status des Gerechten Russlands zu nutzen suchten, um echte Veränderungen zu erwirken. Parteiausschlüsse allzu oppositioneller Abgeordneter jedoch zeigen den eingeschränkten Handlungsspielraum, der mit der Ukraine-Krise noch einmal enger wurde. Die Geschichte des Gerechten Russlands ist eine Geschichte der Krise politischer Opposition in Russland.

    Schon seit den 1990ern hatte es im Kreml Pläne gegeben, eine regimetreue Mitte-Links-Partei ins Leben zu rufen. Diese ideologische Position bot gute Wahlaussichten, schließlich hatte sich die sowjetnostalgische Kommunistische Partei (KPRF) nie ernsthaft in Richtung Sozialdemokratie bewegt, zudem setzte die Regierungspartei Einiges Russland wirtschaftlich eher auf neoliberale Politik. Beides öffnete Raum links der Mitte. Im Jahr 2003 entstand daher mit Unterstützung des Kreml die linksnationale Gruppierung Rodina (dt. „Heimat“). Unter der Führung von Dimitri Rogosin entzog sie sich jedoch der Kontrolle von oben und entwickelte sich in den Regionen schnell zu einer echten Konkurrenz für Einiges Russland.

    Die Gründung als zweites Standbein

    Die Verantwortlichen zogen die Reißleine, entließen die Führungsriege und verschmolzen den Rest des Rodina-Blocks mit der Partei der Pensionäre und der winzigen, esoterischen Partei des Lebens.1 Der Kreml-Stratege Wladislaw Surkow bezeichnete die Neugründung 2006 als „zweites Standbein“ der Macht. Dieses „zweite Bein“ erhielt den Namen Gerechtes Russland.

    Vorsitzender wurde Putins Freund Sergej Mironow – was die Absicht unterstreicht, mit der Partei eine Wahlalternative für Putin-treue Sozialdemokraten zu schaffen. Gerechtes Russland trat denn zunächst auch mit offizieller Starthilfe Putins an, der die Neugründung im Februar 2007 auf einer Pressekonferenz begrüßte. Als jedoch klar wurde, dass die Partei nicht in der Lage war, den Kommunisten das Wasser abzugraben und stattdessen die Regierungspartei Einiges Russland Wählerstimmen kostete, nahm man wieder Abstand von der Doppelstrategie. Das „zweite Standbein“ wurde zum Anhängsel.2

    Programmatische Entwicklung

    Unterdessen entwickelte die Partei ein echtes sozialdemokratisches Programm, das einen starken Sozialstaat mit politischer Liberalisierung verbinden wollte. Während der Wirtschaftskrise 2009 forderte sie weniger Geld für marode Banken und stattdessen höhere Sozialleistungen. Sie ging sogar so weit, als Ursache der Krise die „politische Monopolisierung“ zu beklagen.3 Wenngleich sie sich mit direkter Kritik an Putin zurückhielt, erarbeitete sich Gerechtes Russland so ein ernstzunehmendes Profil. Dazu passt, dass der Partei immer wieder auch Aktivisten aus linksgerichteten Oppositionsprojekten beitraten, so zum Beispiel der ehemalige KPRF-Anhänger Ilja Ponomarjow. Als im Jahr 2011 im Land die Unzufriedenheit mit wirtschaftlicher Stagnation und politischer Ohnmacht zunahm, versuchte Gerechtes Russland daraus Kapital zu schlagen und verschärfte die Kritik an der Regierung. Das zahlte sich aus: Bei der Parlamentswahl 2011 konnte sie durch Proteststimmen ihren Mandatsanteil um etwa die Hälfte auf insgesamt 64 Sitze steigern.

    Ein Drahtseilakt mit Schieflage

    Die Wahlen brachten das Dilemma der Partei ans Licht. Einerseits versuchte man, die Rolle als echte Alternative weiterhin auszufüllen. Mehrere Abgeordnete protestierten lautstark, und selbst Parteichef Mironow erklärte, es habe Fälschungen gegeben. Gleichzeitig wollte er das gute Ergebnis der Partei nicht durch einen Parlamentsboykott oder Neuwahlen gefährden.4 Und so begab sich Gerechtes Russland auf einen Drahtseilakt: Zwar beteiligte es sich an der Protestbewegung 2011/12 und zeigte auch im Parlament zuweilen oppositionelles Stimmverhalten – stellte sich zum Beispiel als einzige Fraktion gegen das NGO-„Agentengesetz“. Doch ging die Partei dabei nie zu weit: Im Frühjahr 2013 schloss Gerechtes Russsland die Abgeordneten Gennadi und Dimitri Gudkow – zwei der aktivsten Unterstützer der Proteste – aus der Partei aus. Ilja Ponomarjow gab daraufhin seinen Austritt bekannt, blieb aber zunächst im Parlament.

    Die Angliederung der Krim, die große Teile der russischen Gesellschaft um die Staatsführung zusammenrücken ließ, ging sodann auch an Gerechtes Russland nicht vorbei. Ponomarjow stimmte im März 2014 als einziger Abgeordneter der gesamten Duma gegen den „Anschluss“ der Krim – woraufhin Mironow ihn öffentlich aufforderte, sein Mandat niederzulegen.5 Im Frühjahr 2016 wurde mit Olga Shakowa eine weitere Abgeordnete entlassen – sie hatte von dem Unternehmer und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski Fördergelder für ihren Wahlkampf erhalten.6 Sie erklärte daraufhin, ihr Ausschluss sei ein weiteres Zeichen dafür, dass die Partei sich davor fürchte, mit der „wirklichen Opposition“ zusammenzuarbeiten.

    Unabhängig davon, ob man Chodorkowski für „wirkliche Opposition“ hält, trifft ihre Diagnose wohl zu. Gerechtes Russland hat seine widerspenstigsten Abgeordneten verloren und ist auf die „patriotische“ Linie des Kreml eingeschwenkt. Vor allem vor dem Hintergrund der Dumawahl 2016, bei der sie von 13,2 auf 6,2 Prozent abgerutscht ist, stellt sich aber immer stärker die Frage, ob der Partei die Balance zwischen Opposition und einem überlebensnotwendigen Maß an Loyalität gelingen wird.


    1. Zur Geschichte der Partei siehe ausführlicher: Luke March (2009): Managing opposition in a hybrid regime: Just Russia and parastatal opposition. In: Slavic Review 68(3), S. 504-527 sowie Vladimir Gel’man (2008): Party politics in Russia: from competition to hierarchy. In: Europe-Asia Studies 60(6), S. 913-930 ↩︎
    2. Gleichwohl zeigen die Ergebnisse der Präsidentschaftswahl, bei denen 30% der Anhänger des Gerechten Russlands anstatt für den eigenen Kandidaten für Putin stimmten, dass die Strategie durchaus aufgegangen ist. Siehe Colton, T. J., & Hale, H. E. (2014): Putin’s Uneasy Return and Hybrid Regime Stability: The 2012 Russian Election Studies Survey. In: Problems of Post-Communism, 61(2), S. 3-22 ↩︎
    3. Luke March (2012): The Russian Duma ‘opposition’: no drama out of crisis? In: East European Politics, 28(3), 241-255, hier S. 248 ↩︎
    4. Siehe Spravedlivo.ru: Sergej Mironov v efire radio „Finam FM“. ↩︎
    5. Siehe Facebook-Post von Sergej Mironow.Ein Interview mit Sergej Mironow, in dem er die Angliederung der Krim für unumkehrbar erklärt, gibt es hier zu sehen. ↩︎
    6. Siehe Slon.ru: Esery „vspomnili“ ob isključenii iz partii poprosivšego den’gi u Chodorkovskogo kandidata. ↩︎

    Weitere Themen

    Staatsduma

    Präsidialadministration

    Jedinaja Rossija

    LDPR

    KPRF

    Wladislaw Surkow

  • Jedinaja Rossija

    Jedinaja Rossija

    Vieles hat sich gewandelt im Russland der 2000er Jahre. Eine der wichtigsten Veränderungen war dabei zweifellos die kontrollierte Umgestaltung des Parteiensystems. Von einem chaotisch fluktuierenden Pool kurzlebiger politischer Kräfte wandelte es sich zu einem stabilen Gerüst aus drei bis vier Parteien, unangefochten angeführt von der Partei der Macht, der Regierungspartei Einiges Russland. Von ihren Kritikern als „Partei der Gauner und Diebe“ diffamiert, sorgt sie seit 2003 zuverlässig für Regierungsmehrheiten im Parlament und leistet gute Dienste bei der Integration der regionalen Eliten. Bei der Dumawahl 2016 sicherte sie sich eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit. Trotz ihrer Dominanz im politischen System unterscheidet sich ihre Rolle stark von derjenigen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: Einiges Russland ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument der politischen Führung.

    Entstehung aus einem politischen Vakuum

    Die Erosion der Kommunistischen Partei und der Zerfall des Staates zu Beginn der 1990er eröffneten ein politisches Vakuum, von dem sich die Parteienlandschaft in Russland lange nicht erholte. Die Bedeutung von Parteien im extrem personalisierten politischen Geschehen war marginal, zumal Jelzin es vorzog, als überparteilicher Staatsmann zu gelten, und seine Mitstreiter nicht nach Parteizugehörigkeit, sondern nach persönlicher Loyalität auszuwählen.1

    Auch die Entstehung von Einiges Russland ist nicht die Geschichte der Repräsentation von Bürgerinteressen, sondern die eines institutionell ausgefochtenen Elitenkonflikts im Vorfeld der Wahlen von 1999. Jelzin geriet durch Vaterland-Ganz Russland, eine Gruppe regionaler Politiker um den Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow, unter Druck. Jelzins Team gründete mit Einheit eine Gegenpartei und lancierte einen neuen Ministerpräsidenten. Nach den Bombenanschlägen auf Wohnblocks in Moskau, die das Land in einen kollektiven Schock versetzten, ordnete der Neue einen entschlossenen Militärschlag der russischen Armee gegen tschetschenische Separatisten an. Dies brachte ihm enorme Popularität ein. Staatliche Medien diskreditierten außerdem die Herausforderer um Lushkow und Jewgeni Primakow. Beides zusammen zeigte Wirkung: Einheit schlug Vaterland-Ganz Russland deutlich an der Wahlurne (23 Prozent versus 13 Prozent), und der Stern des Ministerpräsidenten stieg unaufhaltsam. Sein Name, natürlich: Wladimir Putin.

    Partei der Macht

    Obwohl Einheit anfangs nur als zeitlich limitiertes Gegenprojekt konzipiert war, baute der Kreml die Partei nach und nach zu einer stabilen politischen Kraft aus. Im Jahr 2001 fusionierte die Partei mit Vaterland-Ganz Russland und versammelte nach und nach die meisten einflussreichen Politiker unter ihrem neuen Label Einiges Russland. Sie erfüllt dabei alle Merkmale einer Partei der Macht nach dem Politikwissenschaftler Wladimir Gelman2.

    Erstens wird sie von der Staatsführung kontrolliert, um die Gesetzgebung zu bestimmen: Stand Jelzin noch in stetem Kampf mit der Duma, konnten Putin und später Medwedew sich mit Einiges Russland auf eine treue Regierungspartei im Parlament verlassen.

    Zweitens präsentierte sie sich weitgehend ideologiefrei und setzte stattdessen auf Stabilität. Damit bediente sie zum einen die Sehnsucht vieler Russen nach Ordnung Ende der 1990er Jahre und erschwert zum anderen einen glaubwürdigen Zusammenschluss der Opposition rechts und links von ihr. Drittens kann sie aufgrund ihrer privilegierten Position als Ziehkind des Kreml auf enorme Ressourcen zurückgreifen: Finanzierung, Sendezeit, die Unterstützung durch beliebte Politiker und Personen des öffentlichen Lebens. Im Gegenzug liefert sie zuverlässig Mehrheiten und sorgt für einen Interessenausgleich zwischen rivalisierenden Eliten, indem sie einen relativ breiten Zugang zu Staatseinnahmen, Aufstiegschancen und auch zu Schmiergeldzahlungen ermöglicht.3

    Wählerschaft

    Obgleich nicht aus einer eigenen gesellschaftlichen Strömung heraus entstanden, hat die Partei  über die Zeit doch so etwas wie eine Stammwählerschaft entwickelt. Diese setzt sich aus mehreren Segmenten der Bevölkerung zusammen. Ihre marktfreundliche Politik zu Beginn der 2000er brachte ihr die Unterstützung jüngerer, pragmatischer Wählergruppen ein. Der programmatische Schwenk zur Stabilisierung des Staates und zu höheren Sozialausgaben Mitte der 2000er Jahre sicherte ihr sodann auch die Unterstützung von Rentnern, Bewohnern ländlicher Regionen und Staatsangestellten, die zurzeit das Hauptklientel der Partei ausmachen.4 Gleichwohl führen Experten den Erfolg der Partei vor allem auf die Unterstützung durch regionale Politiker, den ökonomischen Aufschwung der 2000er Jahre und vor allem auf Putins persönliche Beliebtheit zurück.5

    Dabei ist Putin stets das Kunststück gelungen, sich in ausreichender Distanz zur Partei zu halten. Er selbst war nie Parteimitglied – obwohl er ihr von 2008 bis 2012 vorstand. Die politische Führung hat aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelernt: Eine Partei der Macht hat viele Vorteile, sie darf aber nicht zur „Partei an der Macht“ werden, um die Vormachtstellung des Präsidenten und des Zirkels seiner engen Vertrauten nicht zu gefährden.6

    Umgekehrt profitiert der Präsident in schwierigen Zeiten von seiner Überparteilichkeit – wie 2011 geschehen, als sich der Unmut frustrierter Wähler vor allem gegen die dominante Partei richtete: Im Frühjahr prägte Alexej Nawalny für Einiges Russland in Anspielung auf die verbreitete Korruption im Verwaltungsapparat den Begriff „Partei der Gauner und Diebe“. Der Slogan fand sich auf zahllosen Bannern und Reden während der Proteste von 2011/12 wieder7, und noch im Jahr 2013 stimmten etwa 40 Prozent der Befragten diesem Label zumindest teilweise zu.8 Trotz signifikanter Verluste der Partei bei den Parlamentswahlen von 2011 überstand Putin selbst diese Krise leidlich unbeschadet, während sich die Umfragewerte von Einiges Russland erst mit  Ausbruch der Ukraine-Krise Anfang 2014 wieder erholten.

    Die Geschichte von Einiges Russland ist eng mit Putins politischer Karriere verknüpft, Partei und Präsident existieren in einer Zweckgemeinschaft. Dabei ist jedoch immer klar, wer die zentralen Entscheidungen trifft. Sollte sich das Projekt Einiges Russland einmal als überholt erweisen, so wird der Kreml wohl nicht zögern, es durch eine effektivere Plattform zu ersetzen.9

     

    Grafik 1: Umfragewerte der größten russischen Parteien ab 2003

     


     

    1. Rose, Richard (2001): How floating parties frustrate democratic accountability – a supply-side view of Russia’s elections, in: Brown, Archi (Hrsg.): Contemporary Russian politics – a reader, Oxford, S. 215-223, hier S. 216 ↩︎
    2. Gelman, Wladimir (2006): From ‘feckless pluralism’ to ‘dominant power politics’? The transformation of Russia’s party system, in: Democratization, 13(4), S. 545-561 ↩︎
    3. Siehe Reuter, Ora John (2011): United Russia and the 2011 elections, Russian Analytical Digest Nr. 102, S. 3 ↩︎
    4. Reuter 2011, S. 4 ↩︎
    5. ebd. ↩︎
    6. Sakwa, Richard (2012): Party and power: between representation and mobilisation in contemporary Russia, in: East European Politics, 28:3, S. 310-327, hier S. 318f. ↩︎
    7. Gabowitsch, Mischa (2013): Putin kaputt!? Berlin ↩︎
    8. Siehe die Umfrage des Lewada-Zentrums: Sčitajut li rossijane „Edinuju Rossiju“ partiej žulikov i vorov? ↩︎
    9. Erste Anzeichen dazu gab es im Jahr 2011, als Putin die Gründung einer neuen politischen Gruppierung, der All-Russischen Volksfront, verkündete. Siehe Reuter (2011) und Graeme, Gill (2015): The Stabilization of Authoritarian Rule in Russia? In: Journal of Elections, Public Opinion and Parties, 25(1), S. 62-77, hier S. 75 ↩︎

    Weitere Themen

    Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

    Dimitri Medwedew

    PARNAS (Partei der Volksfreiheit)

    KPRF

    Der direkte Draht mit Wladimir Putin

    Präsidentenrating

    Alexej Nawalny