In Russland wurden seit Beginn der Invasion zahlreiche Gesetze verschärft, um Proteste zu unterdrücken – mit Gummi-Paragraphen, die willkürlich ausgelegt werden. So droht Lagerhaft all jenen, die offen von Krieg sprechen, angeblich Falschinformationen verbreiten oder die – in den Augen der Sicherheitsorgane – die russischen Streitkräfte diskreditieren.
Trotzdem gibt es Andersdenkende, die zeigen, dass sie nicht einverstanden sind. Die Formen, wie sie das tun, haben sich in den Monaten des Krieges verändert. Viele agieren anonym, um sich zu schützen, andere haben sich radikalisiert und wenden Gewalt an.
Coded Language
Die Gesetze, die die „Verbreitung von Falschinformationen“ über die russische Armee unter Gefängnisstrafe stellen, haben zur Folge, dass in zahlreichen öffentlichen Antikriegsbotschaften kodierte Sprache verwendet wird. Die prominenteste und am häufigsten kreativ umschriebene Botschaft ist dabei „Net Woine“ – „Nein zum Krieg“. Statt diese beiden Worte selbst aufs Plakat zu schreiben fanden sich zum Beispiel Botschaften wie „Zwei Worte“ oder „*** ****“ – und alle wissen, was gemeint ist.
Bekannt wurde eine Aktivistin aus Sibirien, die „Net w***e“ geschrieben hatte, verklagt wurde und dann das Gericht überzeugen konnte, sie habe „Net Woble“ gemeint – Nein zur Wobla. Die Wobla ist laut Wikipedia „eine endemisch im Kaspischen Meer und an der unteren Wolga vorkommende Fischart“. Doch die Geschichte geht nicht so lustig weiter, denn das Verfahren wurde mittlerweile wieder aufgerollt. Ein Urteil ist wahrscheinlich.
Einzelakteure
Die zahlreichen Repressionen gegen führende Köpfe verschiedener oppositioneller Organisationen und Strömungen, die teils zu Gefängnisstrafen und teils zu Auswanderung führten, haben die Organisation von Widerstand enorm erschwert. Auch aus diesem Grund ist die Antikriegsbewegung kein kollektiver Akteur. Das bedeutet aber keineswegs, dass es keinen Widerstand gibt. Auch jenseits gewaltsamer Aktionen, wie den Brandanschlägen auf Einberufungsämter oder Attentaten auf Kriegspropagandisten, gibt es immer wieder Individuen, die sich dem Krieg friedlich entgegenstellen – auf ganz unterschiedliche Art. Wichtig sind nach wie vor die Einzelproteste mit Antikriegsbotschaften, teils in Coded Language. Aber es gibt immer wieder auch andere kreative Wege des Protests, bei denen jedoch immer die Möglichkeit im Raum steht, dass sie mit Repressionen beantwortet werden. In Wologda stand etwa im Dezember 2022 der 61-jährige Wladimir Rumiantsew vor Gericht, weil er mit Hilfe eines selbstgebauten Radiosenders im Umkreis seiner Wohnung kritische Radioprogramme, unter anderem vom sonst nur noch online zu hörenden Sender Echo Moskwy, weiterverbreitet hatte. Der Staatsanwaltschaft war es zwar nicht gelungen, eine Person aufzuspüren, die diese Programme empfangen hatte. Das hinderte sie jedoch nicht daran, ihn anzuklagen. Rumiantsew wurde wegen der Verbreitung von „Falschinformationen“ über die russische Armee zu drei Jahren Strafkolonie verurteilt.
Ersuchen
Als weniger gefährliche Variante, Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, gilt noch immer die direkte Kontaktaufnahme mit Politiker:innen und Ämtern. So berichtet der Duma-Abgeordnete der Kommunistischen Partei Michail Matwejew regelmäßig bei Telegram von Bürger:innen, die ihn um Hilfe ersuchen – im Herbst 2022 etwa ging es oft um Ausnahmen von der Mobilisierung, die Frauen und Mütter für ihre Männer und Söhne erwirken wollten. Solche individuellen Maßnahmen haben einerseits mitunter größere Chancen auf Erfolg, weil sich Abgeordnete mit der Unterstützung Einzelner profilieren können und sie das System nicht viel kosten. Sie können aber andererseits genau deshalb wenig gegen den Krieg ausrichten und helfen sogar dabei, eine mögliche kollektive Organisation von Unmut zu zerstreuen – weil Einzelnen auf diese Weise manchmal geholfen wird. Etwas anders gelagert ist das Projekt des Aktivisten Michail Pletnjew, der zu Beginn der russischen Invasion ein System programmierte, das die Kontaktaufnahme zu Abgeordneten technisch stark erleichtert und vorformulierte Texte zu verschiedenen kriegskritischen (aber gleichwohl „erlaubten“) Themen anbietet – etwa zur Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine, zur atomaren Deeskalation oder zur Forderung an Putin, eine Anordnung zum offiziellen Ende der Mobilisierung zu unterzeichnen. Die meisten Eingaben auf der Website des Projekts – 14.900 im April 2023 – hat die Forderung nach der Umsetzung des in der Verfassung festgeschriebenen zivilen Ersatzdienstes für alle, die der Mobilisierung unterliegen.
Exil-Protest
Seit Beginn der Invasion haben hunderttausende junge bis mittelalte, gut ausgebildete Stadtbewohner:innen das Land verlassen. Einige haben dies mit Blick auf die eigenen ökonomischen Entwicklungsperspektiven getan – andere aus regimekritischen Gründen, aus Furcht vor Einberufung, manchmal ist es auch beides zusammen. Teile dieser neuen Emigrationsbewegung organisieren – zusammen mit anderen, bereits im Ausland ansässigen Russinnen und Russen – seitdem immer wieder Anti-Kriegs-Proteste außerhalb Russlands. Häufig beteiligen sich daran auch prominente Exil-Oppositionelle wie Garri Kasparow oder Michail Chodorkowski.
Die Proteste finden oft vor den diplomatischen Vertretungen Russlands im Ausland statt, oder an anderen zentralen Orten der westlichen Hauptstädte. Damit sollen Forderungen direkt an die russische Führung adressiert werden, die zumeist ungehört verhallen, bestenfalls in Stellungnahmen, Tweets oder Telegram-Posts ironisch kommentiert werden.
Proteste an symbolträchtigen Orten sollen auch den im Westen teils bestehenden Eindruck einer lethargischen bis kriegsstützenden russischen Gesellschaft zerstreuen, der angesichts der Kriegsverbrechen russischer Soldaten und der zahlenmäßig schwachen Proteste innerhalb Russlands bei vielen entstanden ist. Das hat zwei Effekte: Die Proteste tragen im Westen tatsächlich zur Aufklärung bei. Sie unterstreichen, dass die vielen Kriegsgegner:innen in Russland vor allem aufgrund der exorbitanten Repression so wenig sichtbar sind. Zugleich bedienen diese Exilproteste ein Bild „guter Russen“ und tragen so ihrerseits dazu bei, der (im Land verbliebenen) russischen Bevölkerung eine Kollektivschuld zuzuschreiben.
Trotzdem liegt in den Protesten eine Chance, nämlich das Bild eines positiven, zukunftsgewandten, neuen Russlands ohne geopolitische Minderwertigkeitskomplexe und imperiale Ansprüche zu begründen. Als visuelles Symbol eines solchen „generalüberholten“ Russlands dient die weiß-blau-weiße Flagge. Ihr fehlt das Rot der russischen Flagge, das laut Aktivisten als „Farbe des Blutes“ die russische Trikolore als positives Identifikationssymbol spätestens seit der Invasion diskreditiert habe1.
„Feministischer Antikriegswiderstand“ (FAS)
Die Gruppe gründete sich im Februar 2022 unmittelbar nach der Invasion. Auf Telegram wuchs sie schnell zu einer der größten Communities des Antikriegs-Protests heran. Die Aktivisten sprayen Graffiti, halten Einzelproteste ab, verteilen Flyer und organisieren andere Formen des Protests. Eine wichtige Protagonistin der Gruppe ist die Aktivistin, Lyrikerin und Kuratorin Daria Serenko. Bekannt unter anderem für das Projekt FemDatscha, ein 2020 gegründetes queer-feministisches Projekt außerhalb Moskaus, rief sie drei Tage nach der Invasion die Russinnen und Russen zum Widerstand auf:
„[…] Hört auf, erbärmliche Feiglinge, Konformisten, geduldige Leidtragende, loyale Bürger zu sein, hört auf, unpolitisch zu sein.
Die Welt hat sich verändert. Unsere Apathie könnte die Ursache für die Zerstörung einer großen Zahl von Menschen sein, einschließlich unserer Kinder und Angehörigen.
Hört auf, in Cafés zu sitzen. Hört auf, Urlaube zu planen. Hört auf, der Propaganda zuzuhören. Sterbt nicht als Idioten. Hört auf, Angst vor Gefängnis und Festnahmen zu haben, ich schwöre bei Gott, das sind nicht die schlechtesten Optionen.
Schließt euch Antikriegsaktivist:innen und -bewegungen an. Protestiert gegen diesen Krieg. […]“
Während sich eine internationale Gruppe von Feministinnen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen hatte und sich in ihrem Manifest auf den FAS bezogen hatte, stellt die Gruppe in ihren Statements häufig klar, dass Gewalt dann als legitimes Mittel anzusehen sei, wenn es um die „Befreiung von der Unterdrückung“ gehe2. So solidarisierte sich der FAS auch mit den ukrainischen Feminist:innen, die in ihrem Manifest wiederrum erklärten:
„Ein abstrakter Pazifismus, der alle am Krieg beteiligten Seiten verurteilt, führt in der Praxis zu unverantwortlichen Lösungen. Wir bestehen auf dem wesentlichen Unterschied zwischen Gewalt als Mittel der Unterdrückung und als legitimes Mittel der Selbstverteidigung.“
Attentate auf Kriegspropagandisten
Am 20. August 2022 kam Daria Dugina, konservative Aktivistin und Tochter des faschistischen Philosophen Alexander Dugin, bei einem Anschlag auf Dugins Auto bei Moskau ums Leben. Kurz darauf reklamierte der russische Exiloppositionelle Ilja Ponomarjow den Anschlag für die von ihm angeblich unterstützte Partisanengruppe „Nationale Republikanische Armee“. Die Existenz dieser Gruppe ist jedoch zweifelhaft; unabhängige Bestätigungen ihrer Aktivitäten und ihrer Zusammensetzung fehlen.
Am 2. April starb der ukrainische Staatsbürger Maxim Fomin bei einem Attentat in Sankt Petersburg. Fomin war ein glühender Unterstützer des Krieges und hatte unter dem Pseudonym Wladlen Tatarski als „Militärblogger“ bei Telegram vom Krieg berichtet. Fomin war am Rande der Zeremonie im Kreml zur Annexion der vier ukrainischen Oblasten im September 2022 durch die Äußerung aufgefallen, nun werde man „alle besiegen, alle töten […]. Alles wird kommen, wie wir es lieben.“ Er starb durch eine Bombe, die mutmaßlich in einer Büste versteckt war und die eine junge Frau ihm anlässlich eines Auftritts in einem Sankt Petersburger Café überreicht hatte. Die Frau, Daria Trepowa, wurde zwei Tage später verhaftet. Sie soll laut Behörden Alexej Nawalnys FBK nahegestanden haben.
Die Umstände beider Anschläge sind ungeklärt, Spekulationen reichen von Aktionen des ukrainischen Geheimdienstes über False-Flag-Aktionen der russischen Geheimdienste bis zur Existenz von oppositionellen Untergrundnetzwerken in Russland. Wenngleich nichts davon gesichert ist, ist es doch nicht unmöglich, dass sich der russische Widerstand in geheimer und dezentraler Form auch in gewaltsamen Aktionen gegen die Propagandisten des Krieges äußert.
Brandanschläge
Es gibt immer wieder Brandanschläge auf die Strukturen der Armee, insbesondere auf die Einberufungsämter. Der erste dieser Art fand schon drei Tage nach dem russischen Einmarsch statt. Der Attentäter veröffentlichte dazu ein Manifest, unter anderem mit den Worten „Die Ukrainer werden wissen, dass Russen für sie kämpfen; nicht alle haben Angst, nicht jedem ist [der Krieg] gleichgültig.“ Insgesamt schätzt das Online-Medium Mediazona die Zahl der Anschläge bis Ende 2022 auf etwa 77.
Die Anschläge stehen für einen kleinen Teil der Kriegsgegner, die sich – infolge der Radikalisierung des Regimes – ebenfalls radikalisieren. Anstatt bei Straßenprotesten „nur“ ihre Meinung zu äußern und damit letztlich an die Herrschenden zu appellieren, versuchen sie, die Kriegsmaschinerie so zu beschädigen, dass die materiellen Kosten für diesen Krieg steigen. Sabotage kann sehr effektiv sein, ist aber naturgemäß eine gefährliche Angelegenheit und wird daher nur für eine verschwindend geringe Minderheit in Frage kommen.
Hilfe für Geflüchtete aus der Ukraine
In einigen Telegram-Chats haben sich lokale Freiwillige zusammengefunden, um Hilfe für ukrainische Geflüchtete zu organisieren, die weiter nach Europa reisen wollen. Nicht alle Russinnen und Russen, die sich für Geflüchtete aus der Ukraine engagieren, sind gegen den Krieg. Doch Interviews zeigen, dass die Flüchtlingshilfe für viele, die aufgrund der immensen Repressionen vor radikalerem Widerstand zurückschrecken, eine willkommene Möglichkeit ist, sich einzubringen und auch das eigene Gewissen zu entlasten.
Künstler
Auch Künstlerinnen und Künstler sahen sich mit Beginn der Invasion vor die Frage gestellt, ob sie dagegen Position beziehen und damit den Ausschluss aus der Kulturszene oder andere Konsequenzen riskieren, oder ob sie stattdessen versuchen, den Krieg zu ignorieren – oder ihn sogar positiv in ihr Werk einzubeziehen. Beispiele gibt es für jede dieser Varianten.
Gleich nach der Invasion äußerten sich zum Beispiel die Sängerin Zemfira, der Sänger Waleri Meladse, der Comedian Maxim Galkin oder der Talkshow-Host Iwan Urgant unmissverständlich gegen den Krieg. Sie alle (und viele weitere) beendeten damit faktisch ihre Karriere in Russland. Urgants beliebte Prime-Time-Show im staatlichen Ersten Kanal wurde abgesetzt, Zemfira und Galkin emigrierten und treten nur noch im Ausland auf.
Der Sänger und Satiriker Semjon Slepakow versuchte es zunächst mit vorsichtigeren Tönen. Er erklärte, dass Frieden nötig sei, sparte aber zunächst mit direkter Kritik. Im Herbst 2022 veröffentlichte er schließlich einen kritischen Song und emigrierte nach Israel. Auch die große Alla Pugatschowa gab sich lange zurückhaltend, bis sie mit einer klaren Antikriegsposition längst nicht nur Beifall sondern viel Kritik und Schmähung erntete.
Auch abseits der großen Bühnen setzten sich viele Künstler:innen gegen den Krieg ein. Beispielhaft steht dafür die Sankt Petersburger Musikerin Sascha Skotschilenko, der als eine der ersten ein Verfahren über das Verbreiten von „Falschinformationen“ über die russische Armee angehängt wurde, weil sie Preisschilder im Supermarkt gegen kleine Zettel mit Informationen zu zivilen Kriegsopfern ausgetauscht hatte.
Die anderen Haltungen zum Krieg sind jedoch nicht weniger zahlreich zu finden: Viele lassen sich in die Propaganda einspannen und leihen den Kriegszielen ihren Namen. Im Herbst veröffentlichte ein Kollektiv, bestehend aus bekannten Sänger:innen wie zum Beispiel Stas Michailow, einen gemeinsamen Clip zum Titel Wstanem(„Wir stehen auf“) des Sängers Shaman (Jaroslaw Dronow). Der Song handelt von den Helden des Zweiten Weltkriegs, im Clip sind aber zu Worten wie „solange Gott und die Wahrheit mit uns sind“ immer wieder aktuelle Szenen des Krieges gegen die Ukraine zu sehen.
Oppositionspolitiker und -parteien
Gleich nach dem Einmarsch haben sich einige wenige Politiker der systemischen Opposition, vor allem der Kommunistischen Partei, zu Wort gemeldet. Darunter war der Duma-Abgeordnete Michail Matwejew, der sagte, er habe bei der Abstimmung über die Anerkennung der ukrainischen Donbas-Republiken als unabhängige Staaten mit seinem Ja „für Frieden“ gestimmt, und „nicht dafür, Kiew zu bombardieren“3. Es gab auch einige regionale Abgeordnete, die sich gegen den Krieg aussprachen. Einen solchen Fall gab es zum Beispiel in Wladiwostok mit zwei Abgeordneten, die beide sofort aus ihrer Fraktion ausgeschlossen wurden. Solche Stimmen sind jedoch Einzelfälle.
Anders ist das bei der liberalen Partei Jabloko. Sie hat sich als einzige der offiziell zugelassenen Parteien offen gegen den Krieg positioniert und hält diese Position seit Kriegsbeginn durch. Für die öffentliche Meinung spielt sie indes so gut wie keine Rolle: Die Partei ist seit Jahren komplett marginalisiert. Sie ist außerdem unter der nicht-systemischen Opposition, also den kompromissloseren Regimegegnern, weitgehend diskreditiert – weil sie als zahnlos gilt, ohne nennenswerten Einfluss gegen das System Putin.
Einer der letzten prominenten Politiker dieser demokratischen nicht-systemischen Opposition, Ilja Jaschin, hat sich ebenfalls deutlich gegen den Krieg ausgesprochen. In einem YouТube-Livestream sprach er über die getöteten Zivilisten in Butscha, woraufhin die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen der „Verbreitung von Falschinformationen“ über die russische Armee eröffnete. Er hat das Land nicht verlassen und wurde im Dezember 2022 zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt.
Ähnlich erging es dem liberalen Lokalpolitiker Alexej Gorinow. Er hatte im März bei der Sitzung eines Moskauer Stadtteilparlaments dazu aufgerufen, die russische Armee abzuziehen und hatte die „Spezialoperation“ einen Krieg genannt. Gorinow wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Der Name der Organisation OWD leitet sich von der Bezeichnung „organy wnutrennych del“ – „Organe des Inneren“ – ab, die die Einheiten der Polizei und weiterer Behörden zur Wahrung der inneren Sicherheit umfasst. Die Organisation besteht seit 2011 und widmet sich der juristischen Unterstützung für Menschen, die von Repression betroffen sind, außerdem der Aufklärung über politische Repression. Dazu stellt sie hilfreiche Informationen für politische Aktivist:innen zusammen, bietet juristische Beratung an und vermittelt anwaltliche Unterstützung. Sie hat zudem ein Netz von Korrespondent:innen in den russischen Regionen, die von Repressionsfällen berichten. OWD-Info sammelt systematisch Daten zu politisch motivierten Gerichtsverfahren und Verurteilungen: Sie zählt zum Stand August 2023 19.786 Festnahmen im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten, 7683 eingeleitete Verfahren zur „Diskreditierung der Streitkräfte“ (darunter auch Ordnungswidrigkeiten) sowie 663 Strafverfahren gegen Personen für ihre Antikriegsposition.4
Petition
Zu Beginn der Invasion setzten verschiedene Gruppen offene Briefe und Petitionen gegen den Krieg auf. Neben allgemeinen Antikriegs-Petitionen, wie es sie vom Feministischen Widerstand (rund 110.000 Unterschriften, Stand September 2023) und von dem Menschenrechtler Lew Ponomarjow (rund 1,3 Millionen Unterschriften, Stand September 2023) gab, waren dies häufig Offene Briefe von bestimmten Berufsgruppen oder anderer klar umrissener Kollektive. Darunter war zum Beispiel ein Brief, der von über 8000 ganz überwiegend in Russland ansässigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, ein offener Brief von Kino- und Filmschaffenden sowie ein Brief russischer Ärztinnen und Ärzte. Internationale Aufmerksamkeit erregte auch die Stellungnahme regionaler Abgeordneter aus Sankt Petersburg, die im September 2022 aufgrund des Krieges eine Petition der Staatsduma gegen Wladimir Putin wegen Hochverrats forderten.5 Die beteiligten Abgeordneten leben teils inzwischen im Exil, teils wurden strafrechtliche Verfahren eröffnet wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“.
Ähnlich wie die Proteste von Russinnen und Russen im Ausland dienen diese Stellungnahmen weniger der direkten Beeinflussung der Politik in Russland, sondern mehr der Signalisierung, dass es noch zahlreiche kritische Geister gibt, die in einer möglichen Post-Putin-Ära als Repräsentanten eines möglichen neuen Russlands (das zur Zeit freilich nicht mehr ist als ein Wunschtraum) zur Verfügung stehen.
Proteste
Im Rückblick ist die große Repressionskampagne des russischen Staates gegen Alexej Nawalnys Organisationen und gegen unabhängige Medien im Jahr 2021 fast zweifelsfrei als Kriegsvorbereitung zu interpretieren. Der organisierte Widerstand, dessen ressourcen- und reichweitenstärkster Repräsentant die Gruppe um Nawalny war, sollte präventiv zerschlagen werden. Trotzdem sind gleich zu Beginn der russischen Invasion zahlreiche Menschen in spontanen Aktionen auf die Straßen gegangen. Einzelne Politiker:innen riefen zum Protest auf, wie auch die Aktivistengruppe Wesna, die im April 2022 die vorletzte Protestwelle organisierte – zu der aber kaum noch jemand kam. Die letzten größeren Demonstrationen mit einigen hundert bis tausend Menschen gab es dann im September 2022 nach Ausrufung der „Teilmobilmachung“ in verschiedenen Landesteilen. So bleibt der Protest anonym, unorganisiert, und schwach. Das bedeutet nicht, dass er wirkungslos wäre; aber unmittelbare Auswirkungen auf die großen Entscheidungen in Bezug auf den Krieg sind von möglichen Protesten nicht zu erwarten.6
Pikety
Pikety sind kleine Protestkundgebungen ohne Bühne und Lautsprecher, die sich – im Gegensatz zum Demonstrationszug – nicht von der Stelle bewegen. Der „odinotschny piket“, der Einzelprotest, hat in den letzten Jahren eine immer wichtigere Rolle im russischen Repertoire des Protests eingenommen, denn er ist immer noch die öffentliche Protestform, die nicht grundsätzlich der Absprache (das heißt einer de-facto Genehmigung) der Behörden bedarf. Als die spontanen Kundgebungen und Demonstrationen nach Russlands Einmarsch immer gefährlicher wurden, waren Einzelproteste zunächst für viele das Mittel der Wahl. Es gibt sie immer noch zuweilen, an U-Bahn-Stationen und anderen belebten Orten, auch wenn man mittlerweile grundsätzlich mit Verhaftung und Gefängnis rechnen muss. Denn jede Antikriegsäußerung in der Öffentlichkeit kann grundsätzlich als Begründung für ein Strafverfahren wegen „wissentlicher Verbreitung von Falschinformationen“ herangezogen werden.
Wesna
Wesna ist eine politische Jugendgruppierung, die aus der liberalen Partei Jabloko in Sankt Petersburg hervorgegangen ist. Im Jahr 2012 gab es einen innerparteilichen Streit zwischen zwei aufstrebenden Abgeordneten, die sich weigerten, ihre erfolgreich errungenen Mandate an die Altvorderen abzutreten. Das führte zum Ausschluss, dem weitere Parteianhänger folgten. Daraus formierte sich unter anderem auch Wesna. Die Gruppe hat seither zahlreiche Protestaktionen organisiert, die in Petersburg für Aufsehen gesorgt haben. Wesna hat auch zum Antikriegsprotest nach dem 24. Februar 2022 beigetragen, gilt als eine der wenigen Kräfte, die überhaupt noch Menschen mobilisieren können. Zu Beginn des Krieges hat Wesna mehrmals zu Straßenprotesten aufgerufen, zuletzt im April 2022. Danach verlegten sie sich auf die Ermunterung zu weniger gefährlichen Einzelaktionen, wie das Verteilen von Flyern und Graffiti. Sie posten auch regelmäßig Bilder von visuellen Antikriegsbotschaften aus ganz Russland und organisieren juristische Unterstützung für verfolgte Antikriegsaktivist:innen. Ihre Aktivitäten bei Social Media sind wichtig, um im Inland zu demonstrieren, dass Menschen mit ihrer Haltung nicht allein sind – und ins Ausland das Signal zu senden, dass nicht nur viele Russen gegen den Krieg sind, sondern sich auch trauen, dies mehr oder weniger offen zu zeigen.
„Wir brauchen eine neue Verfassung, dazu müssen wir aber ein Referendum abhalten.“ Das sagte Alexander Lukaschenko Mitte August 2020. Die Proteste nach der gefälschten Präsidentschaftswahl in Belarus befanden sich damals auf dem Höhepunkt. Den autoritären Machthabern schien die Kontrolle zu entgleiten, die Lukaschenko anderthalb Jahre nach den Protesten nun wieder in der Hand hält. Dennoch soll das Referendum zur damals angekündigten Verfassungsreform nun tatsächlich stattfinden, am 27. Februar 2022.
Welchen Plan verfolgt Lukaschenko mit einer Verfassungsreform? Wird diese tatsächlich die Macht des nahezu allmächtigen Präsidenten beschränken? Wird die Opposition diese Gelegenheit nutzen, um wieder zu Protesten aufzurufen? In einem Bystro gibt Jan Matti Dollbaum, der zusammen mit Fabian Burkhardt eine Umfrage zur bevorstehenden Verfassungsreform durchgeführt hat, Antworten auf sieben Fragen.
1. Warum braucht es im Sinne von Lukaschenko überhaupt eine Verfassungsreform, der doch – so könnte man meinen – wieder fest im Sattel sitzt?
Lukaschenko hat seit einigen Jahren immer wieder Änderungen angekündigt. So sagte er schon 2014 zur 20-Jahr-Feier der Verfassung, dass Belarus sich „als souveräner Staat“ etabliert habe und die Verfassung, die aus einer Zeit der Transformation stamme, nun geändert werden müsse. Zum Inhalt möglicher Änderungen schwieg er sich allerdings aus. Auch hatte Lukaschenko auf diese Ankündigungen bisher nichts folgen lassen, die Verfassung blieb seit 2004 unverändert. Die Vermutung liegt daher nahe, dass Lukaschenko mit seinen Äußerungen vor allem klarmachen wollte, dass mögliche Veränderungsimpulse allein von ihm ausgehen werden.
Die aktuelle Verfassungsreform ist jedoch hinsichtlich ihres Timings maßgeblich von der Protestbewegung gegen die Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl im August 2020 beeinflusst. Teile der Bewegung hatten eine Rückkehr zur Verfassung von 1994 gefordert, die dem Präsidenten weit weniger Macht gibt. Ganz allgemein gibt es in der Bevölkerung den Wunsch nach einer Reduktion der präsidentiellen Vormachtstellung im politischen System. Obwohl das autoritäre Regime die Protestbewegung niedergeschlagen hat, weiß man um diese Forderungen. Insofern bot eine Verfassungsreform die Möglichkeit, Veränderungen von oben anzubieten, um damit zumindest formal einen Schritt auf die Enttäuschten und Aufgebrachten zuzugehen. Die Verfassungsreform ist auch deshalb ein wichtiges Instrument, weil das Regime die zentrale Forderung der Protestierenden nach freien und fairen Neuwahlen ausgeschlossen hat.
2. Am 27. Dezember 2021 wurden die Vorschläge für eine Verfassungsreform veröffentlicht. Wie sehen diese im Wesentlichen aus?
Die Vorschläge betreffen viele Bereiche der Verfassung. Zum einen sollen sie auf die Forderungen nach Machtbeschränkung des Präsidenten eingehen. Dazu wird zum Beispiel das Limit von maximal zwei Amtszeiten wieder eingeführt (dieses war 2004 per Referendum aus der Verfassung gestrichen worden). Der Präsident hat außerdem künftig nicht mehr das Recht, per Dekret am Parlament vorbei zu regieren.
Es gibt aber auch noch zahlreiche andere Änderungen. So können künftig Bürger Verfassungsbeschwerde einlegen, die außenpolitische Neutralität wird aus der Verfassung gestrichen und durch einen Passus ersetzt, der besagt, dass Belarus keine Angriffskriege führt, und dass dem Staat die Rolle des Garanten der Ehe als „Verbindung zwischen Mann und Frau“ zufällt. Der Staat wird außerdem verpflichtet, für „die Bewahrung der historischen Wahrheit und der Erinnerung an die Heldentaten des belarussischen Volkes während des Großen Vaterländischen Krieges“ zu sorgen. Doch auch die Bürger werden in die Verantwortung genommen. In Artikel 54 besagt eine Ergänzung etwa: „Patriotismus zu zeigen und die historische Erinnerung an die heldenhafte Vergangenheit des belarussischen Volkes zu bewahren, ist die Pflicht eines jeden Bürgers der Republik Belarus.“
Eine weitere wichtige Neuerung ist die Erhebung der Allbelarussischen Volksversammlung in Verfassungsrang, ein Organ, das sich aus nationalen und regionalen Abgeordneten, aber auch Vertretern der Exekutive, der Judikative und der Zivilgesellschaft zusammensetzt. Auch der jeweils aktuelle und ehemalige Präsident sind Mitglieder.
Insgesamt handelt es sich also um die weitreichendsten Veränderungen an der Verfassung seit 1996, insbesondere weil sie die Machtverteilung und direkt das Amt des Präsidenten betreffen.
3. Sehen die Vorschläge tatsächlich eine Beschränkung der Macht Lukaschenkos beziehungsweise einen Umbau des politischen Systems vor? Oder ist das alles Symbolpolitik?
Die Abschaffung der Dekretgewalt und die Wiedereinführung begrenzter Amtszeiten sind durchaus echte Machtbeschränkungen, die ein Zugeständnis an Lukaschenkos Gegner darstellen sollen und die bei seinen eigenen Unterstützern eher unpopulär sind. Dazu passt auch, dass Lukaschenko im Oktober 2021 erklärte, die neue Verfassung werde „demokratischer“ als die alte sein. Man sollte bei der Beurteilung dieser Maßnahmen aber unbedingt berücksichtigen, dass dem Präsidenten nach der geltenden Verfassung eine enorme Machtfülle zukommt, die sogar den russischen Superpräsidentialismus übertrifft. Diese Macht ist, selbst wenn sie nun etwas eingeschränkt wird, weiterhin erheblich. Auch wenn einzelne Kompetenzen an andere Institutionen wie die Regierung oder das Parlament abgegeben werden, sind diese zumeist direkt vom Präsidenten abhängig. Der Präsident bleibt zudem zentraler Akteur, der über den Gewalten steht und die „Einheit des Belarussischen Volkes“ verkörpern soll. Insofern ist die Reform insgesamt als Versuch zu verstehen, Veränderung zu suggerieren, ohne viel Macht abzugeben.
4. Unter anderem soll auch das Alter für Präsidentschaftskandidaten angehoben werden. Ist dies eine direkte Reaktion auf die Rolle von Swetlana Tichanowskaja bei den Wahlen im Jahr 2020?
Es ist möglich, dass in dieser Änderung auch eine Reserviertheit gegenüber der „Jugend“ als politischer Akteur zum Ausdruck kommt, die bei den Protesten im Jahr 2020 eine starke Kraft darstellte. Symbolisch und substantiell sehr viel wichtiger aber ist eine andere Ergänzung: Personen, die eine andere Staatsbürgerschaft oder eine Aufenthaltserlaubnis eines anderen Staates hatten oder haben, können künftig nicht mehr bei den Präsidentschaftswahlen als Kandidaten antreten. Damit sind auf einen Streich zahlreiche oppositionelle Exilbelarussen und Exilbelarussinnen ihres passiven Wahlrechts beraubt – was sicherlich die Absicht hinter dieser Änderung ist.
5. Der russische Außenminister Lawrow hat mehrmals auf die Bedeutung einer Verfassungsreform hingewiesen. Auch soll sie Thema in den Verhandlungen zwischen Lukaschenko und Putin gewesen sein. Warum hat der Kreml Interesse an solch einer innerbelarussischen Angelegenheit?
Nicht nur Lawrow, auch Putin hat sich öffentlich zum Reformvorschlag geäußert und nannte ihn „folgerichtig, zur richtigen Zeit kommend und angemessen“. Der Kreml hat aus verschiedener Perspektive ein Interesse daran, dass der Reformprozess so abläuft, wie Lukaschenko ihn sich vorstellt. Zum einen soll von diesem Prozess nicht das Signal an die russische Bevölkerung ausgehen, dass mit Protest eine demokratische Veränderung durchgesetzt werden kann. Zum anderen ist es für Russland von Vorteil, wenn es mit Lukaschenko weiterhin über einen Ansprechpartner verfügt, der weitgehend im Alleingang über die großen politischen Entscheidungen bestimmen kann. Das macht Absprachen weit weniger kompliziert, als wenn verschiedene Akteure mitreden oder sogar Vetos einlegen könnten.
Gleichwohl ist Russland aber auch daran gelegen, den politischen Konflikt möglichst nicht weiter eskalieren zu lassen, denn auch das bringt Unsicherheit ins Verhältnis zu Belarus – und gerade das kann Russland momentan nicht gebrauchen. Insofern ist es plausibel, dass Russland Lukaschenkos Zugeständnisse mitträgt, wenn sie seine Macht sichern.
6. Könnte die Opposition das Zeitfenster des Referendums auch für sich nutzen, um neuerliche Proteste in Belarus anzustoßen?
Ein Präsidialerlass vom 20. Januar sieht vor, das Referendum am 27. Februar abzuhalten. Dass man solange wie möglich die konkrete Planung geheim gehalten hat, ist höchstwahrscheinlich Teil der Strategie, anderen Akteuren so wenig Planungsspielraum wie möglich zu geben. Verschiedene Oppositionsgruppen haben sich gleichwohl schon vor Wochen auf eine Strategie geeinigt. Sie gehen davon aus, dass es auch diesmal erhebliche Fälschungen geben wird. Sie rufen die Belarussen trotzdem auf, zur Wahl zu gehen und dort die Stimme ungültig zu machen. Auf diese Weise soll bei hoher Wahlbeteiligung zum Ausdruck gebracht werden, dass das Referendum illegitim sei – da es ohne vorhergehende Diskussion, in repressiver Atmosphäre und im Paketwahlverfahren (nur „ja“ oder „nein“ möglich) sowie ohne echte oppositionelle Beteiligung abgehalten wird. Proteste sind aufgrund der hohen zu erwartenden Repressionen nicht geplant – obwohl Umfragen zeigen, dass die Gegner des autoritären Regimes durchaus weiterhin dazu bereit wären.
7. Wie sehen die Belarussen diese angekündigte Verfassungsreform?
In einer Online-Umfrage vom September 2021, die ich zusammen mit Fabian Burkhardt durchgeführt habe, gibt eine stabile Mehrheit von zwei Dritteln an, dass die Verfassung geändert oder ganz erneuert werden müsse. Auch für die nun anvisierten Machtbeschränkungen des Präsidentenamtes gibt es deutliche Mehrheiten. Insofern liegt Lukaschenko mit seinen Zugeständnissen strategisch richtig. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob diese ausreichen werden, den weit verbreiteten Wunsch nach echter Veränderung zu stillen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Russlandweit sind am vergangenen Sonntag wieder tausende Menschen auf die Straßen gegangen, um ihre Solidarität mit dem inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zu bekunden. Bereits zuvor hatte es zahlreiche Festnahmen und Durchsuchungen gegeben, Mitarbeiter und Verbündete Nawalnys wurden teilweise unter Hausarrest gestellt, etwa sein Bruder Oleg Nawalny. Bei den Protesten am Sonntag schließlich kam es landesweit zu mehr als 5000 Festnahmen, wie die NGO OWD-Infoberichtet. In Sozialen Netzwerken machten Bilder von Polizeigewalt die Runde, Spezialeinheiten setzten etwa Elektroschocker ein. Was treibt die Menschen auf die Straße? Weshalb die hohe Polizeigewalt? Und wie nervös ist der Kreml? Ein Bystro in fünf Fragen und Antworten von Jan Matti Dollbaum.
1. Derzeit registrieren wir die größten Proteste mindestens seit 2012. Woher kommt dieser Unmut? Sind das alles nur Nawalny-Befürworter? Oder ist der gemeinsame Nenner Protest gegen Putin?
Nawalny ist in russischen Oppositionskreisen eine durchaus kontroverse Figur. Das ist zum einen seiner Neigung geschuldet, sich auf Social Media unerbittlich zu streiten – auch mit politisch Gleichgesinnten. Es liegt zum anderen auch an seinen politischen Positionen und Strategien, mit denen weder Linke noch Liberale durchgehend sympathisieren. Doch zurzeit sind solche Differenzen vorübergehend einer breiten Solidarität gewichen – angesichts des Giftanschlags und Nawalnys mutigen Entschlusses, nach Russland zurückzukehren, obwohl die Verhaftung drohte. Das heißt: Es sind nicht alle dort glühende Nawalny-Fans, aber die meisten sind erbost darüber, wie ihm mitgespielt wurde. Hinzu kommen mittlerweile auch Wut und Fassungslosigkeit darüber, wie die Polizei mit friedlichen Demonstranten umgeht. Und immer klarer spitzt sich der Protest auf Putin zu. Dazu trägt Nawalnys Film über Putins Palast sicher einen Teil bei – zumindest indem er denjenigen, die ohnehin an Putin zweifeln, weitere Argumente an die Hand gibt.
2. Es gibt zahlreiche Verhaftungen und Festnahmen, Strafverfahren, die eingeleitet werden. Wie nervös ist die Regierung?
Den Verantwortlichen im Kreml wird dieser Tage oft Nervosität attestiert. Und tatsächlich sitzt Putin nicht mehr so fest im Sattel wie noch vor drei Jahren. Der Grund dafür sind aber nicht die Proteste selbst, sondern das schwindende Vertrauen der Bevölkerung in den Präsidenten. Solange es keine Aufrüstung und koordinierte Gewalt der Protestierenden gibt (und das ist nicht zu erwarten), würde der Sicherheitsapparat auch mit größeren Protesten locker fertig werden (Wasserwerfer wurden bislang noch nicht aufgefahren). Die Verhaftungen und Strafverfahren sind deshalb weniger ein Zeichen von Nervosität, sondern ein Teil der Abschreckungsbotschaft, die schon seit 2012 gilt und seitdem immer deutlicher gemacht wird: Wer politisch protestiert, muss mit Repression rechnen. Das Polizeiaufgebot und der Gewalteinsatz sind also nicht deshalb so hoch, weil der Kreml aktuell Massen erwartet, sondern um die Aussichtslosigkeit des Widerstands zu kommunizieren.
3. Wie ist vor diesem Hintergrund der Prozess gegen Alexej Nawalny zu bewerten, der für den morgigen Dienstag, 2. Februar, angesetzt ist?
Die erneuten Proteste diesen Sonntag haben gezeigt, dass Nawalny ein größeres Mobilisierungspotential hat, als man es sich im Kreml eingestehen wollte: Trotz Verhaftungen und Strafverfahren seit vergangenem Wochenende gingen wieder Zehntausende auf die Straßen. Die Überlegungen im Kreml werden jetzt dahin gehen, wie dieses Potential am effektivsten auszubremsen ist: Lässt man Nawalny frei und hofft auf ein langsames Abflauen, riskiert aber, dass er jetzt die Opposition hinter sich vereinigt? Oder schickt man ihn für mehrere Jahre ins Gefängnis, nimmt in Kauf, dass er zur Symbolfigur des Widerstands wird und weitere Proteste möglicherweise noch repressiver niedergeschlagen werden müssen? Die Entscheidung bleibt abzuwarten, doch die zweite Variante ist wahrscheinlicher.
4. Ende 2020 hat die Duma eine ganze Reihe schärferer Gesetze beschlossen, betroffen ist auch das Demonstrationsrecht. Es geht demnach um die Aufrechterhaltung der Sicherheit des öffentlichen Raums. Wie viel haben die Maßnahmen aber auch mit der Dumawahl 2021 zu tun?
Bei Protesten geht es in Russland – wie auch anderswo – viel um die öffentliche Wirkung. Wenn man, wie der Kreml, politischen Protest diskreditieren will, dann hilft es, wenn man diesen Protest als „illegal“ bezeichnen kann. Auch ein harscher Polizeieinsatz lässt sich so leichter öffentlich rechtfertigen. Die Regeln zu verschärfen ergibt also schon allein aus dieser Perspektive heraus Sinn. Da es anlässlich der Lokalwahlen in Moskau schon zu großen Protesten kam, und auch jetzt wieder zahlreiche oppositionelle Kandidaten antreten (und wahrscheinlich nicht zugelassen) werden, ist auch diesmal mit Protest zu rechnen. Die Gesetze sind also sicher auch mit Blick auf die Wahlen erlassen worden.
5. Auch das sogenannte ausländische Agentengesetz wurde verschärft. Was sind da die wichtigsten Änderungen, und wie sind sie zu bewerten?
Bereits seit 2019 kann das Justizministerium nicht nur Nichtregierungsorganisationen, sondern auch Medien auf die Liste ausländischer Agenten setzen. Im Februar 2020 kamen dann auch Einzelpersonen dazu, die öffentlich Informationen verbreiten und Geld aus dem Ausland erhalten. Die jetzigen Änderungen verschärfen dies noch einmal: Nun kann jede „politische Tätigkeit“ in Kombination mit ausländischer Geldquelle dazu führen, dass man auf der Liste landet. Was als politische Tätigkeit gilt, ist dabei höchst vage. Ein weiterer Trick: Die ausländische Finanzierung muss ab jetzt überhaupt nicht mehr mit der „politischen Tätigkeit“ in Zusammenhang stehen. Weitere wichtige Änderungen besagen, dass das Label Ausländischer Agent auch an Organisationen vergeben werden kann, die nicht offiziell registriert sind. Dies ist insbesondere deshalb brisant, weil zudem alle Medien verpflichtet sind, den Status jedesmal zu nennen, wenn sie öffentlich über einen sogenannten Ausländischen Agenten berichten. Es scheint also insgesamt, als hätte sich aus Sicht des Kreml das Gesetz, das 2012 erlassen wurde, bewährt.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
„Sie verfügen über eine der besten Ermittlungsstrukturen in Russland,“ setzt Tichon Dsjadko vom Internetfernsehsender Doshd an. Er will Alexej Nawalny die Frage stellen, ob sein Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) selbst recherchieren werde, wer genau hinter seiner Vergiftung im August 2020 steht. Doch bevor Dsjadko die Frage aussprechen kann, korrigiert ihn Nawalny schon: „Nicht eine der besten. Wir haben die beste.“
In der medialen Wahrnehmung tritt die Organisation, die Nawalny im Jahr 2011 gründete, um seine zahlreichen Projekte unter einem Dach zusammenzuführen, oft in den Hintergrund. Schließlich war Nawalny bis zu seiner Verurteilung zu einer Haftstrafe Anfang Februar 2021 das Gesicht seiner Kampagne: Er präsentierte die Ergebnisse der Recherchen auf seinem Blog und auf YouTube und legte auch persönlich Rechenschaft über die Finanzen der Organisation ab. Doch auch schon vor Nawalnys Verurteilung sind alle Fäden bei den etwa 30 Mitarbeitern des FBK zusammengelaufen: Der Fonds ist das Herzstück des Projekts Nawalny – eines Projekts, das längst über die Person hinausgewachsen ist.1
Da sind zum einen die detailreichen Recherchen zu Korruption und Vetternwirtschaft in der Politik. Die Mächtigen, die ihre Macht zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil nutzen, sind meist verschwiegen – in Russland genauso wie anderswo. Doch trotz hoher Mauern und juristischer Tricks fördert der FBK mit diebischer Freude immer weitere Villen, Jets und Weingüter der russischen Elite zutage. Zum Markenzeichen wurden die Drohnenaufnahmen von gut versteckten Schlössern, doch die Investigativ-Abteilung des FBK nutzt zuweilen sogar öffentliche Daten. Informationen zur komplexen Struktur, hinter der sich laut FBK die toskanischen Weinberge des Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew verbergen, stammen zum Beispiel aus dem Handelsregister Zyperns und der Handelskammer der italienischen Region Siena.
Recherchen, Social Media und Personalrekrutierung
Auf diese Enthüllungen folgen dann oft Klagen oder Beschwerden, die die juristische Abteilung des FBK bei den staatlichen Ermittlungsbehörden einreicht, doch meistens wird nichts daraus. Dies verwundert nicht weiter, wenn man bedenkt, dass es ein tragendes Prinzip der politischen Ordnung im heutigen Russland ist, Loyalität mit der Möglichkeit der Selbstbereicherung zu entlohnen. Dieses kleptokratische Prinzip aufzudecken und in Unterstützung für Nawalny umzumünzen – das ist eine der Hauptaufgaben des FBK.
Eine weitere besteht in der Bündelung aller Projekte und Ressourcen Nawalnys. Hier arbeiten nicht nur Journalisten und Juristinnen, sondern auch Soziologinnen und Videoproduzenten. Erstere ermitteln regelmäßig in eigenen Umfragen die Popularität Nawalnys, evaluieren die Arbeit seiner Regionalbüros und identifizieren zentrale Themen, die Nawalny dann aufgreift. Letztere setzen die Ergebnisse der Recherchen in technisch hochwertige Videoreportagen um. Denn wer um die Macht konkurriert, aber nicht im Fernsehen auftreten darf, der braucht seine eigenen Medien.
Schließlich ist der FBK auch eine Art Kaderschmiede: Sowohl Producerin Ljubow Sobol als auch FBK-Direktor Iwan Shdanow haben hier als Juristen angefangen, mittlerweile treten sie aber auch als Nawalnys Kandidaten an. Bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament 2019 wurden sie, wie viele andere Oppositionskandidaten, von den Behörden nicht zugelassen.
Diese drei Dinge – Recherchen, Social Media und Personalrekrutierung – laufen dann in Nawalnys Kampagnen zusammen: Im August 2020 veröffentlichte er auf seinem YouTube-Kanal zwei millionenfach geklickte Enthüllungsvideos über Korruptionsnetzwerke in Tomsk und Nowosibirsk, die höchstwahrscheinlich einen Gutteil zum Erfolg seiner Kandidaten in den jeweiligen Stadtparlamenten beigetragen haben.
„Russland der Zukunft“
All dies macht den FBK faktisch zur Zentrale der Nawalny-Partei Russland der Zukunft – auch wenn diese Partei keine Chance auf offizielle Zulassung hat. In diesem Sinne ist der FBK eine Behelfslösung, denn Nawalnys eigentliches Ziel ist weder die Korruptionsermittlung noch das YouTuber-Dasein, sondern die Politik. Und das weiß auch der Kreml. Aus diesem Grund ist der FBK regelmäßigen Repressionen ausgesetzt. Das Justizministerium etwa klassifizierte ihn im Jahr 2019 als ausländischen Agenten, nachdem der Fonds eine dubiose Zahlung eines spanischen Boxers2 erhalten hatte. Obwohl das Geld sofort zurücküberwiesen wurde, zogen die Behörden die Einstufung nicht zurück. Im Dezember 2019 wurde dann der Mitarbeiter des FBK Ruslan Schaweddinow verhaftet und zum Militärdienst auf der abgelegenen Insel Nowaja Semlja eingezogen. Infolge einer Klage des Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoshin verpflichtete ein Gericht die Organisation zur Zahlung von knapp 30 Millionen Rubel Schadenersatz und veranlasste die Sperrung ihres Kontos. Im April 2020 kündigte Nawalny deshalb an, die bisherige Organisation aufzulösen und neu zu gründen, den etablierten Markennamen Fonds für Korruptionsbekämpfungaber beizubehalten.3Dazu konnte der Oppositionspolitiker aber nicht kommen: Am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Nawalny bleibt damit bis Oktober 2023 in einer Strafkolonie.
Den vorläufigen Schlusspunkt der behördlichen Maßnahmen gegen den FBK bildete im Juni 2021 die Einstufung des Fonds als „extremistisch“: Dieser soll laut Staatsanwaltschaft unter anderem eine „Farbrevolution“ vorbereitet haben. Das Gerichtsverfahren fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, nach einer gescheiterten Berufungsverhandlung wurde das Urteil am 4. August rechtskräftig. Laut Medienberichten hat Ljubow Sobol das Land verlassen, gegen ihre Mitstreiter Iwan Shdanow und Leonid Wolkow hat das Ermittlungskomitee Strafverfahren eingeleitet: Ihnen wird vorgeworfen, Gelder zur Finanzierung von FBK und der Nawalny-Wahlteams beschafft zu haben. Mit der Aufnahme in die Verbotsliste des Justizministeriums droht allen, die mit oder für Nawalnys Fonds arbeiten – auch den zahlreichen Ehrenamtlichen – eine Haftstrafe.
Dorn im Auge des Kreml?
Das Konto des Fonds ist derzeit gesperrt, doch woher stammt das Geld darauf? Zu Beginn seiner Arbeit erhielt der FBK Zuwendungen einiger prominenter Sponsoren, darunter von dem Schriftsteller Boris Akunin und dem Unternehmer Boris Simin, der auch Nawalny persönlich unterstützt. Die dauerhafte Finanzierung wurde bislang größtenteils durch Crowdfunding gesichert. Aus dem letzten Finanzbericht4 geht hervor, dass von den insgesamt 89 Millionen Rubel (Ende 2019 waren es umgerechnet etwa 1,3 Millionen Euro), die der FBK im Jahr 2019 an Spenden erhielt, die Hälfte unter und die Hälfte über 500 Rubel lagen, wobei die durchschnittliche Summe 712 Rubel betrug (rund zehn Euro). Nawalny betont dabei stets, dass die Zahl der Zuwendungen jedes Mal merklich ansteige, wenn die Behörden die Büros der Organisation und ihrer Mitarbeiter durchsuchen und Computer, Kameras und Drohnen beschlagnahmen. Auch aus diesem Grund ist Nawalnys Team stets darauf bedacht, alle Repressionen so öffentlichkeitswirksam wie möglich zu kommunizieren, um die Maßnahmen der Staatsmacht gegen oppositionelles Engagement offenzulegen. Mit der Stigmatisierung als „extremistische Organisation“ wird das Finanzierungsmodell aber wohl zwangsläufig einbrechen: Allen, die sogenannte „extremistische Tätigkeit“ finanzieren, droht eine Haftstrafe von bis zu acht Jahren.
Ob der FBK tatsächlich die beste Ermittlungsorganisation in Russland ist, sei dahingestellt. Es ist jedenfalls bisher keiner anderen Organisationen gelungen, die Informationshoheit der staatsnahen Massenmedien so nachhaltig zu unterlaufen und dabei gut recherchierte Inhalte über einen wunden Punkt des politischen Systems zu verbreiten. Der FBK ist dem Kreml daher offenbar alles andere als egal.
Am vergangenen Wochenende ist die Polizei deutlich brutaler als zuvor gegen die Demonstranten in Chabarowsk vorgegangen. Seit Juli gehen die Menschen in der Stadt im Fernen Osten Russlands auf die Straße, um gegen die Festnahme des örtlichen Gouverneurs zu protestieren. Was bedeutet die Polizeigewalt für den Protest: Heizt sie ihn an? Oder steht er vor dem Aus? Ein Bystro von Jan-Matti Dollbaum in fünf Fragen und Antworten.
1. Die Polizei hielt sich lange zurück, nun kam es aber zu vermehrten Festnahmen. Warum gerade jetzt?
Es gab am vergangenen Samstag, dem 10. Oktober 2020, nicht nur 25 Festnahmen, die Polizei ging an diesem 92. Protesttag auch viel brutaler gegen die Demonstrierenden vor als zuvor. Es bewahrheitet sich damit, was viele Protestierende und Beobachter schon von Anfang an befürchtet haben: Sobald die Proteste kleiner werden, wird der verbliebene Teil der Demonstranten auseinandergetrieben. Dahinter kann die Überlegung stehen, dass, wenn ohnehin immer weniger Menschen auf die Straße gehen, dieser abnehmende Trend durch Repression noch verstärkt wird. Diese Erfahrung haben die Verantwortlichen zumindest bei den Bolotnaja-Protesten von 2011/12 schon einmal gemacht. Repression gegen eine so breit getragene Demonstration wie im Sommer dagegen, hätte die Wut vermutlich nur vergrößert (siehe Belarus im August).
2. Werden die Proteste in anderen Teilen Russlands wahrgenommen? Und wenn ja: Wie werden sie wahrgenommen?
In der öffentlichen Wahrnehmung waren die Proteste in Chabarowsk Teil einer wachsenden Zahl von Fällen, in denen BürgerInnen unermüdlich für Ihre Sache einstehen: gegen eine Mülldeponie in der Region Arсhangelsk im Jahr 2019, für die Anerkennung eines baschkirischen Berges als Naturdenkmal im September 2020 – und eben gegen die Verhaftung eines „Gouverneurs des Volkes“. Chabarowsk hat dabei noch eine besondere Stellung, weil es sich erstens um explizit politische Proteste handelt, und weil die Mobilisierung für russische Verhältnisse besonders stark und langanhaltend ist. Gerade aufgrund dieser Sonderstellung ist davon auszugehen, dass die Verantwortlichen im Kreml dafür sorgen wollen, dass Chabarowsk nicht zum inspirierenden Vorbild wird, sondern zu einem weiteren Beispiel dafür, dass Protest, zumal politischer, in Russland zu nichts führt.
3. Die Proteste in Chabarowsk gehen in den vierten Monat. Wie sehen sie aktuell aus?
Angesichts der totalen Blockadehaltung der Behörden ist es erstaunlich, dass die Proteste so lange angehalten haben. Zudem gibt es auch weiterhin (meist kleine) Solidaritätskundgebungen im ganzen Land. Doch die Zahl der Protestierenden ist über die Zeit stark zurückgegangen: Während im Juli noch Zehntausende auf die Straße gingen, waren es bei den letzten Protesten im Oktober nur noch einige Hundert. Am 10. Oktober versuchten einige Protestierende, ein Protestcamp zu errichten, wurden aber von der Spezialeinheit OMON auseinandergetrieben.
Zugleich haben sich die Protest-Themen über die Zeit erweitert und verändert. Im August etwa kam es zu Solidaritätsbekundungen mit Belarus, einige Protestierende forderten den Rücktritt Alexander Lukaschenkos. Auch die Vergiftung von Alexej Nawalny fand Ausdruck in Losungen wie „Ljoscha, bleib am Leben“. Die Proteste ordnen sich also in die großen überregionalen Ereignisse ein und richten sich auch immer wieder direkt gegen Putin. Der Fokus bleibt aber auf Furgal selbst.
Insgesamt scheint es allerdings zurzeit, dass die Mischung aus weitgehendem Ignorieren und erst spät angewandter Repression ein weiteres Mal ihre Wirkung zeigt und die Proteste langsam abklingen.
4. Was treibt die Protestierenden an?
Die Menschen protestieren, weil mit Sergej Furgal ein von der Mehrheit gewählter Kandidat, der sich überraschend gegen den Kandidaten der Regierungspartei durchgesetzt hatte, nach noch nicht einmal zwei Jahren aus dem Amt entfernt wurde. Viele hatten Furgal zu schätzen gelernt, andere fühlen sich einfach um ihre Stimme betrogen. Furgal gehört nicht der Regierungspartei an, sondern der LDPR. Die kremlloyale LDPR hat sich allerdings bei den Protesten von Anfang an zurückgehalten. Das hat sich, wie erwartet, nicht geändert. Und auch sonst sind Organisationen nicht dominant: Das Regionalbüro von Alexej Nawalny berichtet über die Proteste auf Twitter, aber die Proteste sind weiterhin eher von horizontalen, spontanen Organisationsformen gekennzeichnet.
5. Im Juli wurde Gouverneur Furgal festgenommen, was die Proteste ausgelöst hatte. Was ist der aktuelle Stand in seinem Verfahren?
Sergej Furgal befindet sich weiterhin in Untersuchungshaft, die kürzlich bis zum 9. Dezember 2020 verlängert wurde. Die Angehörigen der beiden Mordopfer haben unterdessen Furgal auf 1,5 Milliarden Rubel (etwa 16,5 Millionen Euro) Schadenersatz verklagt. In der Zwischenzeit ist außerdem – neben den Ermittlungen zu zwei Auftragsmorden – auch das im Jahr 2004 eingestellte Verfahren wegen eines weiteren versuchten Mordes wieder aufgenommen worden. Wenn das Verfahren tatsächlich politisch motiviert ist, dann statuieren diese Schritte ein Exempel: Straßenproteste, und seien sie noch so stark, können die Behörden nicht dazu zwingen, Entscheidungen von hoher politischer Wichtigkeit zu revidieren. Im Fall Furgal kann es sein, dass er aus dem Amt gedrängt werden sollte, weil er zu unabhängig oder zu beliebt wurde.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Zehntausende gehen in Chabarowsk regelmäßig auf die Straße, nachdem am 9. Juli der örtliche Gouverneur Sergej Furgal verhaftet wurde. Es sind die größten Proteste, die die Region je gesehen hat. Was motiviert die Demonstranten? Wer ist Sergej Furgal? Und was bedeuten die Proteste für das System Putin? Ein Bystro von Jan Matti Dollbaum in sieben Fragen und Antworten.
1. Die Medien schreiben über Massenproteste in Chabarowsk. Was ist da gerade los?
Am 9. Juli 2020 verhaftete die Polizei Sergej Furgal, den Gouverneur der fernöstlichen Region Chabarowsk. Furgal war lange Zeit Unternehmer und soll nach Angaben der Polizei in den Jahren 2004 und 2005 an zwei Morden und einem weiteren Mordanschlag auf wirtschaftliche Konkurrenten beteiligt gewesen sein.
Seit dem 11. Juli gehen Menschen in Chabarowsk und anderen Städten der Region gegen die Verhaftung auf die Straße. Sie sehen seine Verhaftung als politisch motiviert an: 2018 hat er bei den Regionalwahlen gegen den Vertreter der Regierungspartei gewonnen – dass sich der Kandidat der Regierungspartei Einiges Russland nicht durchsetzen konnte, das war nur in wenigen Regionen der Fall. Medien zählen bei den großen Demonstrationen an den Wochenenden übereinstimmend 30.000 bis 50.000 Menschen. Damit sind diese Proteste die größten, die diese Region in Russlands Fernem Osten seit Jahrzehnten gesehen hat.
2. Und wer ist dieser Sergej Furgal? Ist er ein Oppositionspolitiker?
Eindeutiger Oppositionspolitiker ist er nicht. Er gehört der rechtspopulistischen Partei LDPR an, die zur sogenannten parlamentarischen „Systemopposition“ gezählt wird. Die LDPR erfüllt innerhalb des russischen politischen Systems eine wichtige Funktion: Sie sorgt dafür, dass Wahlen den Anschein von Wettbewerb erwecken und fängt oppositionelle Stimmen ein. Gegen das autoritäre politische System unternimmt sie jedoch nichts.
Die Partei gilt vielmehr als ein verlässlicher Partner der Regierung gegen die wirkliche Opposition. Furgal selbst hat in seiner Zeit als Abgeordneter in der Staatsduma verschiedenen repressiven Gesetzen zugestimmt. Dazu passt, dass die LDPR sich schnell von den Protesten in Chabarowsk distanziert hat. Der an Stelle Furgals von Putin kommissarisch ernannte 39-jährige Michail Degtjarjow, der ebenso der LDPR angehört, erklärte, die Proteste würden von ausländischen Staatsbürgern organisiert, die dazu extra eingeflogen seien.
Und auch Parteichef Wladimir Shirinowski, der gute Beziehungen zu Putin unterhält, wird sicher nicht für einen Gouverneur aus dem Fernen Osten ein Zerwürfnis mit Putin in Kauf nehmen. Die Protestierenden in Chabarowsk werden daher ohne die Unterstützung der LDPR auskommen müssen.
3. Und haben die Vorwürfe gegen Furgal, an kriminellen Handlungen beteiligt gewesen zu sein, auch etwas mit der Realität zu tun?
Das ist schon möglich. Bereits während der Stichwahl 2018, als Furgal zum Gouverneur gewählt wurde, kursierten Medienberichte über seine kriminelle Vergangenheit. Damals hat das kaum jemand ernsthaft angezweifelt. Der Missbrauch der Justiz ist allerdings auch gängiges Mittel der Behörden, um unliebsame Gegner auszuschalten. Dabei geschieht es, dass Vorwürfe buchstäblich aus der Luft gegriffen werden. Es ist aber auch üblich, tatsächliche Verbrechen selektiv zu verfolgen, das heißt nur diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die beseitigt werden sollen. Dass das Verfahren gegen Furgal politisch motiviert ist, ist wahrscheinlich. Ob es gänzlich fingiert ist oder ein Beispiel der selektiven Strafverfolgung darstellt, ist unklar.
4. Warum setzen sich die Bürger für diesen Menschen ein? Oder protestieren sie eher gegen Putin?
Viele Bürger haben Furgal selbst gewählt und fühlen sich nun persönlich um ihre Stimme betrogen. Er hatte es im Jahr 2018 als Herausforderer des amtierenden Gouverneurs der Regierungspartei, Wjatscheslaw Schport, in die Stichwahl geschafft – und diese bei ungewöhnlich hoher Wahlbeteiligung mit 70 Prozent der Stimmen klar gewonnen. Dass die Proteste nicht wegen eines abstrakten Problems entstanden sind, wie etwa wegen der Demokratiedefizite in Russland, ist ganz charakteristisch: Wie Protestforscherin Carine Clement schreibt, entstehen Proteste meist aus Umständen, die die Menschen direkt betreffen, die sie aufregen und empören. In der Situation mit Furgal ist genau das der Fall.
Auch wenn die meisten Furgal nur gewählt haben dürften, um der Wlast eins auszuwischen, erarbeitete er sich in seiner kurzen Amtszeit eine ordentliche Reputation. In einer Umfrage zählten viele Protestierende Furgals Leistungen auf, etwa beim Ausbau des Gesundheitswesens und bei der Korruptionsbekämpfung im Bausektor. Zudem gilt er als „narodny gubernator“, als „Gouverneur des Volkes“, weil er sich in öffentlichkeitswirksamen Auftritten mit großen Baukonzernen anlegte und sich ohne Bodyguards bewegte.
Die Proteste sind also sowohl für Furgal als auch gegen die nationalen Behörden, denen die Menschen Einmischung in ihre Region vorwerfen – und Bestrafung für ihr vermeintlich illoyales Wahlverhalten. Chabarowsk hat den Ruf, generell keine besonders Kreml-loyale Region zu sein. Es geht daher offensichtlich auch um einen Konflikt zwischen der Region und dem Zentrum: Moskau, geh weg heißt es oft in den Slogans.
5. Bei den Protesten in Chabarowsk gibt es nur einzelne Festnahmen. Wird Protest in Russland nicht meistens mit Repressionen beantwortet?
Protest wird in Russland nicht grundsätzlich niedergeschlagen – die großen Proteste gegen die Rentenreform im Jahr 2018 zum Beispiel verliefen oft friedlich. Doch sobald politische Forderungen erhoben werden, wie es im vergangenen Jahr in Moskau der Fall war, ist die Polizei schnell mit Knüppeln, Bußgeldern und strafrechtlichen Verfahren bei der Hand.
Die Polizei geht in Chabarowsk tatsächlich ungewöhnlich vorsichtig vor und das kann verschiedene Gründe haben. Es kann sein, dass viele der einfachen Polizeikräfte mit den Demonstranten sympathisieren, und ihre Vorgesetzten nicht riskieren wollen, dass öffentlich Befehle verweigert werden. Es kann auch sein, dass die Sicherheitsbehörden befürchten, die Proteste durch breite Repression nur zusätzlich anzufachen und stattdessen darauf hoffen, dass sie sich mit der Zeit verlaufen. Wenn nur noch der harte Kern auf der Straße ist, sind Repressionen durchaus wahrscheinlich.
Ganz tatenlos bleiben die Sicherheitsbehörden aber auch im Moment nicht. Einzelne werden aufgrund angeblicher Verstöße bei der Polizei vorgeladen. Zudem attackierten Unbekannte die lokalen Koordinatoren der Organisation Offenes Russland von Michail Chodorkowski und die des Regionalbüros von Alexej Nawalny.
6. Alexej Nawalny? Was hat Nawalny damit zu tun?
Nawalny gilt seit einigen Jahren als einer der wenigen ernsthaften Oppositionspolitiker mit landesweiter Bedeutung. Seit seiner Präsidentschaftskampagne aus dem Jahr 2017 unterhält er in vielen Großstädten des Landes Kampagnenbüros. Auch dort war man Furgal gegenüber zunächst skeptisch, zitierte Medienberichte zu seiner kriminellen Vergangenheit und rang sich nur zu einer halbherzigen Wahlempfehlung durch. An den Protesten beteiligen sich Nawalnys Leute in Chabarowsk natürlich trotzdem, und auch Nawalny selbst schickt solidarische Grüße aus Moskau. Er nutzt dabei die Gelegenheit, Protest für eigene politische Ziele zu nutzen und für seine Strategie des „klugen Wählens“ zu werben, mit der er erreichen will, dass möglichst wenig Kandidatinnen und Kandidaten der Regierungspartei in die lokalen und regionalen Parlamente einziehen. Furgals Wahlsieg gilt dabei als motivierendes Beispiel, dass diese Strategie aufgehen und der Regierungspartei Kopfzerbrechen bereiten kann.
7. Was heißt das alles für die Zukunft? Ist jetzt Putins Herrschaft in Gefahr?
Unerschütterlich geglaubte autoritäre Regime brechen oftmals dann zusammen, wenn Polizei und Armee der politischen Führung den Gehorsam verweigern. Dies kann durch die Demonstration großer Unzufriedenheit in der Bevölkerung beschleunigt werden. Und diese Unzufriedenheit scheint in Russland derzeit größer zu sein, als sie lange war. Putins Beliebtheitswerte fallen. In anderen Regionen des Landes finden Solidaritätskundgebungen statt. Ende Juli 2020 zeigte eine Lewada–Umfrage, dass fast die Hälfte der Befragten (45 Prozent) in ganz Russland die Proteste in Chabarowsk positiv sehen. Das sind deutlich mehr als die 32 Prozent zu Zeiten der Bolotnaja-Proteste von 2011/13, die im Kreml durchaus Nervosität auslösten.
Doch trotz der Zurückhaltung der lokalen Polizei und der relativ breiten Unterstützung der Proteste muss sich Putin noch keine Sorgen machen. Zu ähnlichen Protesten in anderen Regionen fehlen noch die Anlässe. Und Moskau kann bei Bedarf immer die Nationalgarde oder andere Spezialtruppen nach Chabarowsk fliegen, um dort „aufzuräumen“. Von diesen Protesten geht also noch keine unmittelbare Bedrohung für das Regime aus. Aber sie zeigen doch, dass sich Widerstand schnell und unerwartet bilden kann und breite Solidarität erfährt. Ein gutes Zeichen für Putin ist das nicht.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.