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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Antisemitismus in der Sowjetunion

    Antisemitismus in der Sowjetunion

    Der russische Angriffskrieg hat nicht nur große Flüchtlingsbewegungen in der Ukraine ausgelöst, auch aus Russland selbst sind Hunderttausende geflohen, die den Krieg ablehnen und Repressionen fürchten. Darunter sind viele Jüdinnen und Juden: Die israelische NGO Jewish Agency for Israel zählte allein im Jahr 2022 mehr als 43.600 Immigranten aus Russland – fünf Mal mehr als im Vorjahr. Der Oberrabiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, rief im Dezember 2022 die Juden in Russland zur Flucht auf und warnte vor einem wachsenden Antisemitismus: „Wenn wir auf die russische Geschichte zurückblicken, sah man, wann immer das politische System in Gefahr war, dass die Regierung versuchte, die Wut und Unzufriedenheit der Massen auf die jüdische Gemeinde umzulenken“, sagte er dem Guardian. Zuvor hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow Behauptungen seiner Regierung, die von einem jüdischen Präsidenten regierte Ukraine sei ein „faschistischer Staat“, damit gerechtfertigt, auch Hitler habe „jüdisches Blut“ gehabt und gesagt, „die schärfsten Antisemiten sind in der Regel Juden“. Unbekannte legten dem ehemaligen Chefredakteur des inzwischen geschlossenen liberalen Radiosenders Echo Moskwy einen Schweinekopf vor die Wohnung und klebten ein Wappen der Ukraine mit der Aufschrift „Judensau“ an seine Tür. Im Juni 2022 leitete das russische Justizministerium ein Verbotsverfahren gegen die Jewish Agency ein.

    Noch 2018 hatte in einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums im Аuftrag des Jüdischen Weltkongresses in Russland eine Mehrheit der Befragten Jüdinnen und Juden erklärt, der Antisemitismus sei im Vergleich zu Sowjetzeiten weniger geworden. Aber auch in der Sowjetunion wechselten sich Phasen, in denen Juden Hoffnungen mit dem sozialistischen Staat verbanden ab mit Perioden, in denen sie diskriminiert wurden und in großer Zahl das Land verließen.

    Larissa Bogoras (1929–2004) ist uns heute zu Recht als eine unerschütterliche sowjetische Dissidentin und Menschenrechtsaktivistin bekannt. Mitte der 1960er Jahre engagierte sie sich für ihren damaligen Ehemann Juli Daniel, indem sie heimlich bei den Gerichtsverhandlungen mitstenographierte, bei denen der Schriftsteller angeklagt war. Im Januar 1968 informierte Bogoras mit einem Tamisdat-Appell die internationale Öffentlichkeit über einen Schauprozess gegen Alexander Ginsburg und drei weitere Dissidenten. Im August desselben Jahres protestierte sie auf dem Roten Platz mit sechs weiteren Personen gegen die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings. 

    Im Gegensatz zu ihren politischen Aktivitäten ist Bogoras Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Herkunft wenig bekannt. Anfang der 1970er Jahre schrieb sie einen Essay mit dem Titel Fühle ich mich dem jüdischen Volk zugehörig?. Darin kam sie zu dem Schluss, dass sie sich nicht als Jüdin fühle, ebenso wenig aber als Russin oder Sowjetbürgerin: „Ich bin eine Fremde in diesem Land. Vielleicht spüre ich das alles nicht so deutlich, aber ich bin mir dessen bewusst.“1 

    Bogoras fünfseitiger Essay ist nicht nur ein besonderes individuelles Zeugnis einer Sowjetbürgerin jüdischer Herkunft. Er ist zugleich eine bemerkenswerte Analyse über den widersprüchlichen Umgang des Vielvölkerstaates mit seinen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, sowie über den Antisemitismus im Land, der zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Formen annahm. Anhand dieses Textes lassen sich die besonderen sowjetisch-jüdischen Erfahrungen zwischen politischem Aufbruch und anschließender Enttäuschung, staatlichem und gesellschaftlichem Antisemitismus, sowie dem ständigen Kampf um partikulare und universale Rechte nachzeichnen.

    Große Hoffnung

    Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges setzten viele nichtreligiöse Jüdinnen und Juden große Hoffnung auf den neuen sozialistischen Staat. Dieser Glaube an das Neue rührte aus der Lebenserfahrung unter zaristischer Herrschaft. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fanden im Zarenreich immer wieder grausame antisemitische Pogrome statt und der Staat erließ zahlreiche antijüdische Gesetze. Viele derjenigen, die ihre jüdische Zugehörigkeit durch die jiddische Sprache und Kultur ausdrückten oder sich in ihrer Umgebung assimilierten, suchten deshalb einen politischen Ausweg in den revolutionären Bewegungen. Vom sowjetischen Staat erhofften sie sich eine Verbesserung der eigenen Lebenssituation, und tatsächlich schienen sich nach der Februarrevolution einige ihrer Erwartungen zu erfüllen: Sowohl die kurzzeitig existierende ukrainische Regierung, die provisorische Regierung in Petrograd als auch die darauffolgenden Bolschewiki verurteilten antisemitische Gewalttaten, die es zu jener Zeit besonders auf ukrainischem Territorium gab. Zudem schafften die neuen Regierungen die antijüdischen Gesetze ab.2  

    Zur Gruppe jüdischer Revolutionäre gehörten auch Bogoras Eltern. Als Bürgerkriegsteilnehmer, Parteimitglieder und aktive Genossen profitierten auch sie zunächst vom neuen Staat.3 Nach der Revolution war es ihnen möglich, die kleinstädtische jüdische Umgebung Richtung Charkiw zu verlassen. Dabei ließen sie auch die jiddische Sprache und Kultur hinter sich. Bogoras verweist in ihrem Essay darauf, dass sie in ihrer Vorschulzeit ausschließlich ukrainisch sprach. Jiddisch hörte sie erstmals im eigenen Elternhaus, als während des Zweiten Weltkriegs ein aus der Westukraine evakuierter Bekannter ihre Mutter besuchte.

    Anders als von einigen marxistischen Theoretikern vorhergesagt, verschwanden im realsozialistischen Staat die antisemitischen Vorurteile nicht. Larissa Bogoras erfuhr in der russischen Schule von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, dass sie jüdisch war und sich dadurch in scheinbar unvorteilhafter Weise unterscheiden würde. In ihrem konkreten Fall vermischten sich die antisemitischen Vorurteile mit einer weiteren negativen Zuschreibung: Ihr Vater war während des Großen Terrors unter dem Vorwurf angeblicher „trotzkistischer Tätigkeit“ festgenommen worden. Damit teilte sie mit vielen anderen Mädchen das Schicksal, Tochter eines sogenannten Volksfeindes zu sein.

    Russifizierung der Gesellschaft

    Zeitgleich zum Terror betrieb die politische Führung in den 1930er Jahren eine Russifizierung der Gesellschaft. In den Anfangsjahren der Sowjetunion hatte sich die Idee der nationalen Selbstbestimmung auch positiv auf die Förderung der jiddischen Sprache und Kultur ausgewirkt. Jetzt wurden diese Schritte vollständig zurückgenommen. In den Gebieten Ostpolens, die gemäß den im Hitler-Stalin-Pakt getroffenen Vereinbarungen von der Sowjetunion okkupiert wurden, mussten die polnischen Jüdinnen und Juden ebenfalls eine brutale Sowjetisierung durchlaufen. Zynischerweise fand die sowjetische Führung erst unter der größten militärischen Bedrohung wieder zu einem etwas liberaleren Umgang mit den ethno-kulturellen und religiösen Minderheiten zurück:4 Wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde ein Jüdisches Antifaschistisches Komitee gegründet. Vorderste Aufgabe der staatlich kontrollierten Organisation war es, unter dem Eindruck der Judenvernichtung und des deutschen Ostfeldzuges jüdische Interessensvertretungen auf der ganzen Welt über die existenzielle Gefahr für alle Jüdinnen und Juden im östlichen Europa aufzuklären und diese als Unterstützer für die Sowjetunion zu gewinnen. Unter der jüdischen Bevölkerung des Landes führte die Gründung des Komitees abermals zu großen Hoffnungen, die nach dem Krieg jedoch erneut enttäuscht werden sollten. 
    Antisemitische Stereotypen waren in der sowjetischen Gesellschaft auch zu Kriegszeiten weit verbreitet. Nicht zuletzt trug hierzu die von den Deutschen hervorgerufene rassistische Betonung der sogenannten Nationalitätenfrage bei. Obwohl zahlreiche Jüdinnen und Juden in der Roten Armee gegen Deutschland kämpften, bestand auf Seiten der nichtjüdischen Bevölkerung ein antisemitisch geprägter Blick fort. Jüdinnen und Juden wurden entweder als hilflose Opfer der deutschen Vernichtungspolitik oder als „Drückeberger“ wahrgenommen, die sich vor dem Krieg versteckten. Bogoras verweist diesbezüglich auf einen zeitgenössisch gängigen antisemitischen Ausspruch: „[Der Russe] Iwan kämpft für Abraham, doch [der Jude] Abraham versteckt sich in der zentralasiatischen Stadt Taschkent.“

    Repression gegen „Kosmopoliten“

    Mit dem Beginn des Kalten Krieges nahmen Stalin und seine Gefolgsleute die zaghaften innenpolitischen Liberalisierungstendenzen aus der Kriegszeit zurück. Ebenso war der Spätstalinismus von staatlich orchestrierten antisemitischen Kampagnen geprägt: Im November 1948 wurde das Jüdische Antifaschistische Komitee verboten und anschließend zahlreiche ehemalige Mitglieder der Organisation verhaftet und ermordet. Die Verfolgung war Teil einer Kampagne gegen sogenannte „Kosmopoliten“. Die Kontakte ins Ausland, die während des Krieges noch gefördert wurden, wertete der Staat jetzt als Beleg für illoyales Verhalten gegenüber der Sowjetunion. Wenige Monate vor Stalins Tod begann mit der sogenannten „Ärzteverschwörung“ eine weitere antisemitische Kampagne: Ein erfundenes Komplott von mehrheitlich jüdischen Medizinern, deren Verfolgung erst mit dem Tod des grausamen Diktators im März 1953 endete.5  

    Stigmatisierungen

    Diese antisemitischen Kampagnen waren für sowjetische Jüdinnen und Juden eine Zäsur. Der sowjetische Staat, der sich bei seiner Gründung gegen den Antisemitismus des Zarenreichs gewandt und zumindest seit Juni 1941 den Nationalsozialismus erbittert bekämpft hatte, ließ selbst jüdische Intellektuelle ermorden: Eine Wendung, die in der jüdischen Bevölkerung zu einer Angst vor der Unberechenbarkeit der Staatsführung und einem irreparablen Vertrauensverlust führte. 

    Zwar sollte sich ein vergleichbarer Ausbruch staatlicher antisemitischer Gewalttaten nicht wiederholen, bestehen blieben jedoch weniger offensichtliche Ausgrenzungsmechanismen. Jüdinnen und Juden wurden von hohen Parteiämtern und Direktionsposten ferngehalten und bei der Vergabe von Studienplätzen und der Besetzung von Professuren benachteiligt. Der Eintrag „jüdisch“ unter Punkt fünf im sowjetischen Pass zog fast immer negative Folgen im Alltag und Berufsleben nach sich. Ebenso gab es wiederkehrende antireligiöse Kampagnen, die auch das Judentum betrafen, sowie einen staatlich geförderten Antizionismus. Dass darüber hinaus auch der alltägliche Antisemitismus fortbestand, verdeutlicht ein Beispiel aus Bogoras Dissidententätigkeit: Als sie mit ihren sechs Mitstreiterinnen und Mitstreitern im August 1968 auf dem Roten Platz gegen die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings demonstrierte, beschimpften die umstehenden Passanten sie nicht nur pauschal als antisowjetisch, sondern auch als Juden.6 

    Bogoras 1973 veröffentlichte Reflektionen über die eigene jüdische Herkunft passen in die frühen 1970er Jahre. Sowjetische Jüdinnen und Juden suchten in dieser Zeit nach Strategien im Umgang mit der Diktatur und der fortwährenden Diskriminierung. Viele ertrugen die Situation wie sie war und versuchten das eigene Leben so gut es ging fortzusetzen. Andere orientierten sich „zurück“ zum Judentum und gründeten im Untergrund jüdische, oftmals zionistische Gruppierungen. Ziel ihrer Mitglieder war es entweder, jüdisches Leben in der Sowjetunion aufzubauen oder nach Israel auszuwandern.7 Dagegen verwies die Menschenrechtsaktivistin Bogoras auf eine dritte Strategie: Für sie stand der universale Wert der Gleichheit über jeglicher national-kultureller Zugehörigkeit. Sie kämpfte dafür, nicht als Jüdin, sondern als Mensch wahrgenommen zu werden. Sie kämpfte für eine Gesellschaft, in der die nationalen und religiösen Zugehörigkeiten keine Rolle bei der Bewertung des Gegenübers spielen sollten: ein gesellschaftliches Ideal, das bis heute auf der ganzen Welt unerreicht ist. 

    Perestroika

    Angst vor Pogromen und einem neuerlichen gewalttätigen Ausbruch von Antisemitismus erfuhren die sowjetischen Jüdinnen und Juden abermals während der Perestroika. Der amerikanische Politikwissenschaftler Zvi Gitelman wies seinerzeit darauf hin, dass die knapp eineinhalb Millionen sowjetischer Jüdinnen und Juden durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zwar mehr kulturelle und religiöse Freiheiten genossen als zu jeder anderen Zeit seit 1948. Zugleich verstanden sie ihre Lebenssituation aber auch als so gefährdet wie nie zuvor seit dem Spätstalinismus.8  

    Die neu errungene Rede- und Pressefreiheit hatte auch zu einer Reihe von antisemitischen Verlautbarungen und Publikationen geführt; russische Nationalisten und Rechtsextremisten gründeten eigene Parteien. Für diese Gruppierungen benennt Gitelman vier Hauptnarrative des Antisemitismus: (1) jüdische Illoyalität zur Sowjetunion und im Speziellen zu Russland, (2) jüdische Dominanz in höheren Positionen, (3) jüdische Privilegien, die sich exemplarisch durch ein spezielles Recht zur Emigration ausdrücken würden, sowie (4) die Vorstellung davon, dass Jüdinnen und Juden die Wurzel allen gesellschaftlichen Übels seien. Vier antisemitische Motive, die sowohl Kontinuitäten in die russländisch-sowjetische Vergangenheit, als auch in die russische Gegenwart aufweisen. 

    Dass die Angst vor Pogromen innerhalb der jüdischen Bevölkerung während der Perestroika so verbreitet war, hat auch mit der jüdischen Erfahrung zu tun, dass in Umbruchs- und Krisenzeiten aufgrund der Schwäche des Staates Pogrome ausbrechen. Glücklicherweise geschah zu Beginn der 1990er Jahre nichts dergleichen. Dessen ungeachtet war der grassierende Antisemitismus ein wesentlicher Grund für die große jüdische Auswanderungswelle aus dem sich im Zusammenbruch befindenden Riesenreich. 

    Bogoras blieb und kämpfte auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland für die universalen Menschenrechte und eine Gesellschaft, in der die nationalen und religiösen Zugehörigkeiten keine Bedeutung mehr haben sollten. Bereits zu Beginn der 1970er Jahre hatte sie betont, dass sie sich keine andere Heimat als Russland vorstellen könne: „Ich bin an die Farben, den Geruch und das Rauschen der russischen Landschaft gewöhnt, ebenso wie an die russische Sprache und den Rhythmus der russischen Poesie. Alles andere ist für mich fremd. Selbst die Krim ist für mich exotisch.“9


     
    1. Bogoraz, Larisa (1973): „Do I feel I belong to the Jewish People?“, in: Voronel, Alexander/Yakhot, Victor (Hrsg.): I am a Jew. Essays on Jewish Identity in the Soviet Union, New York, S. 60–64, hier S. 64 ↑ ↩︎
    2. vgl. Slezkine, Yuri (2006): Das jüdische Jahrhundert, Göttingen und Jacobs, Jack (2018): Auf ein Neues: Juden und die Linke, in: Börner, Markus u. a. (Hrsg.): Judentum und Arbeiterbewegung: Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin/ Boston, S. 7–31 ↑ ↩︎
    3. bzgl. Larissa Bogoras Eltern siehe: Daniel, Aleksandr (2004): Larisa Bogoras ist tot – eine Biographie ↩︎
    4. vgl. Nesselrodt, Markus (2019): Dem Holocaust entkommen: Polnische Juden in der Sowjetunion, 1938–1946, Berlin/ Boston ↩︎
    5. vgl. Grüner, Frank (2008): Patrioten und Kosmopoliten: Juden im Sowjetstaat 1941–1953, Köln u. a. ↩︎
    6. vgl. Gorbanevskaya, Natalia (1972): Red Square at Noon, New York u. a., S. 27–41 ↩︎
    7. vgl. Ro’i, Yaacov (Hrsg., 2012): The Jewish Movement in the Soviet Union, Washington ↩︎
    8. vgl. Gitelman, Zvi (1991): Glassnost, Perestroika and Antisemitism, in: Foreign Afffairs 70 (1991) 2, S. 141–159 ↩︎
    9. Bogoraz, Larisa (1973): „Do I feel I belong to the Jewish People?“, in: Voronel, Alexander/Yakhot, Victor (Hrsg.): I am a Jew. Essays on Jewish Identity in the Soviet Union, New York, S. 60–64, hier: S. 63 ↩︎

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    Die Krim – ein jüdischer Sehnsuchtsort

  • Die Krim – ein jüdischer Sehnsuchtsort

    Die Krim – ein jüdischer Sehnsuchtsort

    „Auf dem Weg nach Sewastopol, nicht weit vor Simferopol, gibt es eine Haltestelle. Warum suchst du dein Glück anderswo?“ So fängt ein berühmtes jiddisches Lied an, komponiert in den 1930er Jahren in der Sowjetunion. Der im Lied besungene Ort heißt Dshankoi – heute eine mittelgroße Verwaltungsstadt im Norden der Halbinsel Krim. Auch wenn der Name Dshankoi krimtatarischen Ursprungs ist und wahrscheinlich schlicht „neues Dorf“ bedeutet, entstanden um die Siedlung herum auch jüdische Ansiedlungen. Denn die Krim war nicht nur Russen, Krimtataren, Ukrainern und anderen ein Sehnsuchtsort – im 20. Jahrhundert wurde sie auch für Juden auf der ganzen Welt zu einem Symbol. In den 1920er und 1930er Jahren entstanden im Norden der Halbinsel mehrere jüdische landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften. Es gab jüdische Linke, die eine Ansiedlung auf der Krim der Ansiedlung in Palästina vorzogen. Manche träumten gar von einer Jüdischen Sozialistischen Sowjetrepublik auf der Halbinsel. Überlagert von der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts existierte der jüdische Sehnsuchtsort jedoch nur weniger als zwei Jahrzehnte. 

    1. Mai-Feierlichkeiten in der jüdischen landwirtschaflichen Siedlung Fraidorf auf der Krim, 1926 / Foto © Projet de l’ORT Saint-Pétersbourg, Quelle: Wikipedia (public domain)

    Bis ins 20. Jahrhundert hinein lebte die Mehrheit der jüdischen Weltbevölkerung im Russischen Reich. Dort siedelte sie vornehmlich in städtischen Strukturen des heutigen Polens, der Ukraine, Moldawiens, Belarus‘ und des Baltikums – in einem Ansiedlungsgebiet, außerhalb dessen Juden das Niederlassen nur mit Sondergenehmigung erlaubt war. Dieses Gebiet war multikulturell geprägt und vor dem Ersten Weltkrieg entwickelten sich dort verschiedene Nationalbewegungen. Auch zahlreiche osteuropäische Juden begannen, sich als ethnische Minderheit zu verstehen und suchten nach einer Antwort auf Nationalismus und Antisemitismus. 

    Krim oder Zion?

    Mögliche Lösungen sahen die einen in der Erschaffung eines jüdischen Nationalstaats, die anderen in nationalen Autonomiekonzepten innerhalb eines osteuropäischen Vielvölkerstaates. Die einschneidenden politischen Veränderungen des Ersten Weltkrieges und des Revolutionsjahres 1917 ließen solche Pläne aber erst einmal in den Hintergrund treten. Denn schlagartig fanden sich viele Juden in dem neu entstandenen polnischen oder litauischen Nationalstaat wieder, ungefähr drei Millionen Juden wurden zu Bürgern der neu gegründeten Sowjetunion.

    In den nun folgenden Bürgerkriegsjahren litt die Bevölkerung in Osteuropa unter den Folgen von Krieg, Hunger und staatlicher Zwangseintreibung. Zugleich fanden im Laufe des Bürgerkrieges antisemitische Pogrome statt, in denen zehntausende Juden getötet wurden – mehrheitlich von Anhängern der Weißen Bewegung. Wie bei jeder anderen zeitgenössischen Gesellschaftsgruppe fanden sich unter den Juden Unterstützer und Gegner der bolschewistischen Regierung. Doch die Pogrome führten dazu, dass sich viele von den Bolschewiki mehr Sicherheit versprachen. Die Hoffnung der Juden auf rechtliche Gleichbehandlung sowie die bolschewistische Agitation für gesellschaftliche Emanzipation und Gleichheit taten ein übriges, um in der jüdischen Bevölkerung die sowjetische Regierung als kleineres Übel wahrzunehmen. 

    Die Konzepte jüdischer Nationalstaatlichkeit erhielten nach diesen turbulenten Jahren eine neue Aktualität. Sie waren innerhalb der sowjetischen Führung besonders umstritten, wurden aber verstärkt durch die sowjetische Politik der Korenisazija – der Idee, allen Völkern und Nationen den Kommunismus in ihrer eigenen Sprache und in ihren eigenen Territorien nahezubringen und zu diesem Zweck auch kleinere Völker zu fördern. So entsponn sich nach den Bürgerkriegsjahren unter jiddisch-sprachigen Linken eine hitzige Debatte über jüdische Ansiedlungsprojekte, die zugleich einem politischen Bekenntnis glich. Eine der damals debattierten Fragen lautete: Krim oder Zion? „Zion“ stand für das Konzept eines hebräisch-sprachigen jüdischen Nationalstaats im damaligen Mandatsgebiet Palästina, dem heutigen Israel. Mit dem ersten Zionistenkongress 1897 in Basel und der Balfour-Deklaration 1917 hatte die Idee der Migration in das für die jüdische Bevölkerung Heilige Land Eretz Israel auch in Osteuropa zahlreiche Anhänger gefunden. „Krim“ stand dagegen für jiddischsprachige landwirtschaftliche Ansiedlungsprojekte im Südwesten der Sowjetunion. Dort sollten zahlreiche, von kommunistisch gesinnten Juden getragene Genossenschaftsprojekte entstehen. Theoretisch auch für Juden offen, die nicht in der Sowjetunion lebten.

    Transnationale Debatten

    Doch das Thema der jüdischen Ansiedlung in der Sowjetunion vereinte nicht nur. Innerhalb der Sowjetunion und in den jüdischen Gemeinschaften von Berlin bis New York wurde mitunter erbittert über den Plan diskutiert und auch um finanzielle Unterstützung geworben. Auch wenn sich die Ansiedlungspläne nur auf einen Bruchteil der jüdischen Bevölkerung der Sowjetunion bezogen, hatte das Projekt dennoch eine herausragende Bedeutung: Es entstand eine besondere Dreiecksbeziehung zwischen den Juden, die in den Genossenschaftsprojekten lebten, dem sowjetischen Staat und jüdischen Hilfsorganisationen. Letztere unterstützten finanziell die landwirtschaftliche Ansiedlung. 

    Hieraus entstand eine komplizierte Gemengelage, in der es unterschiedliche Unterstützungsgründe gab: Für Juden in der Sowjetunion konnte es schlicht als möglicher Ausweg vor Hunger und Armut erscheinen, in den Genossenschaftsprojekten zu leben und zu arbeiten. Jüdische Hilfsorganisationen unterstützten die Projekte vornehmlich aus philanthropischen Gründen. Dagegen hofften linke Anhänger jüdischer Autonomiekonzepte, dass langfristig im Südwesten der Sowjetunion ein Autonomes Jüdisches Gebiet, eine Jüdische Sozialistische Sowjetrepublik, entstehen würde. Überzeugte Kommunisten verstanden die landwirtschaftlichen Genossenschaften als einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der Sowjetunion. Viele verbanden mit der Ansiedlung auch die Hoffnung, die stereotype antisemitische Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung herauszufordern: Indem die jüdische Bevölkerung nun im Agrarsektor arbeitete und damit sichtbar zur Produktivität des Landes beitrug, hoffte man, dass der Rest der Bevölkerung sie als gleichwertige sowjetische Bürger anerkennen würde. Die Gegner der Ansiedlung hoben dagegen die schlechte politische und ökonomische Situation in der Sowjetunion hervor. Ferner warfen sie der sowjetischen Regierung vor, dass sie die landwirtschaftliche Ansiedlung nur aufgrund der zu erwartenden finanziellen Unterstützung aus dem Ausland duldete.

    Tatsächlich stand die Sowjetunion in jener Zeit wirtschaftspolitisch unter enormem Druck – während die Bolschewiki gleichzeitig versuchten, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität durch Gründung neuer Produktionsgenossenschaften erschien hierbei naheliegend. Offizielles Ziel der sowjetischen Regierung war es, mehr als 100.000 Juden in dörflichen Strukturen auf dem weitläufigen Gebiet der Krim, der Ukraine und in Belarus anzusiedeln. Die überwiegende Mehrheit der hierfür notwendigen Finanzen, die für landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und zu errichtende Infrastruktur benötigt wurden, sollte von internationalen jüdischen Hilfsorganisationen erbracht werden. Allein auf der Krim entstanden bis Mitte der 1930er Jahre mehr als 80 landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, in denen knapp 20.000 Jüdinnen und Juden lebten und arbeiteten. Fraidorf (seit 1931) und Larindorf (seit 1935) wurden zu Autonomen Jüdischen Bezirken im Norden der Halbinsel. Drei weitere existierten in der Ukrainischen Sowjetrepublik. In den Bezirken lebte eine mehrheitlich jüdische Bevölkerung. Sie waren unterteilt in kleinere Dorfstrukturen, in denen in Produktionsgenossenschaften landwirtschaftliche Güter angebaut wurden. 

    Sehnsuchtsort Krim

    In den 1920er und 1930er Jahren war die Krim ein jüdischer Sehnsuchtsort. Neben Russisch wurde in den Dörfern Jiddisch gesprochen und gelesen, die gängige Sprache von Juden in Osteuropa. Es wurden in den Siedlungen gemeinsame Feste gefeiert, Traditionen gelebt und jiddisch-sprachige Bildungs-, Schul- und Kultureinrichtungen geschaffen.

    Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften können als eine sowjetische Antwort auf die zionistische Bewegung verstanden werden, um den Auswanderungswilligen eine Perspektive innerhalb des eigenen Landes zu bieten. Entsprechend wurden sie auch propagandistisch begleitet. In vielem unterschied sich die Realität aber von den sowjetischen Wunschvorstellungen. Zwar wurden einerseits sowjetische Bauern par excellence ausgebildet. Andererseits gab es auf dem Dorf mehr Freiräume und Handlungsoptionen als in der Stadt. Nach jüdischem Brauch wurde der Samstag zum Ruhetag bestimmt. Trotz offiziellem Verbot der Religion war es möglich, religiöse Praktiken im privaten und halböffentlichen Rahmen zu verrichten. Die Mehrheit der nun auf dem Land angesiedelten Juden kam ursprünglich aus Städten und erlernte die landwirtschaftliche Produktion erst vor Ort. Viele vermissten die kulturellen Möglichkeiten der Stadt, weswegen 1927 im Gebiet um Dshankoi fahrende Bibliotheken mit russischen und jiddischen Büchern eingesetzt wurden. Vor allen Dingen mussten sich die Städter aber an die schwere landwirtschaftliche Arbeit gewöhnen.

    Ein jüdischer Hirte auf einem Genossenschaftsprojekt auf der Krim, zwischen 1930 und 1940. / Foto © Photo 12/Ann Ronan Picture Library/imago images

    Dies taten sie offenbar erfolgreich, denn in den Dörfern wurden vergleichsweise hohe landwirtschaftliche Erträge erzielt. Sicherlich ein wichtiger Grund dafür, dass die jüdischen Genossenschaftsprojekte die Zeit der Neuen Ökonomischen Politik und der Zwangskollektivierung verhältnismäßig gut überstanden. Erklärt werden kann dies auch mit der finanziellen Unterstützung aus dem Ausland, die den Erwerb neuerer Gerätschaften ermöglichte. Ebenfalls waren die jüdischen Bauern durch ihre Unerfahrenheit offen für neue Erkenntnisse des effektiveren Anbaus in der Landwirtschaft. 

    Ende des Ansiedlungsprojektes

    Doch der jüdische Sehnsuchtsort Krim war nur von kurzer Dauer. Ein klares Bekenntnis der sowjetischen Regierung für die Ansiedlungsprojekte im Südwesten der Sowjetunion blieb aus. Stattdessen wurde in der ersten Hälfte der 1930er Jahre mit Birobidshan ein anderer Bezirk zu einem jüdischen Ansiedlungsprojekt proklamiert. Das Gebiet mit der gleichnamigen Hauptstadt lag im Fernen Osten des Landes. Jüdisches Leben musste dort von Grund auf neu errichtet werden, weil die Region tausende Kilometer entfernt war von den bisherigen Lebenswelten der jüdischen Bevölkerung. Hinzu kamen schwierige klimatische Bedingungen vor Ort. Trotz einzelner Enthusiasten, die dorthin zogen, war das Konzept des Jüdischen Autonomen Bezirks Birobidshan von Beginn an zum Scheitern verurteilt. 

    In den 1940er Jahren sollte es die auf der Krim lebenden Juden aber weitaus schlimmer treffen. Die europäische Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts machte auch vor ihnen nicht halt. Der Stalinistische Terror in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre traf sie noch vergleichsweise milde. Viel schlimmer verlief die Zeit der nationalsozialistischen Okkupation auf der Krim. Die jüdische Bevölkerung wurde gezielt getötet und die landwirtschaftlichen Produktionsgemeinschaften vernichtet. 

    Nach der Befreiung der Halbinsel durch die Rote Armee kehrten einige rechtzeitig evakuierte Juden zurück. Doch die unter anderem vom Jüdischen Antifaschistischen Komitee nach dem Krieg vorgetragene Idee, das Ansiedlungsprojekt wiederzubeleben, schlug fehl. Die politische Stimmung in der Sowjetunion hatte sich stark verändert. Viele Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees wurden Ende der 1940er Jahre in der Sowjetunion als Verschwörer angeklagt und am 12. August 1952, wenige Monate vor dem Tod Stalins, erschossen. Das jüdische Ansiedlungsprojekt lebt seitdem nur noch in der Folklore fort: 

    Juden, sagt mir,
    wo ist mein Bruder Abrascha?
    Der fährt seinen Traktor, lenkt wie einen Zug!
    Tante Leah ist am Mähen,
    Bella an der Dreschmaschine
    in Dshankoi, dshan, dshan, dshan…

     
    Zum Weiterlesen:
    Dekel-Chen, Jonathan: Crimea, in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe
    Dekel-Chen, Jonathan (2005): Farming the Red Land: Jewish Agricultural Colonization and Local Soviet Power, 1924–1941, New Haven/ London
    Dekel-Chen, Jonathan (2003): Farmers, Philanthropists, and Soviet Authority: Rural Crimea and Southern Ukraine, 1923–1941, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History, Vol. 4 (2003), Nr. 4., S. 849–885
    Veidlinger, Jeffrey (2014): Before Crimea Was an Ethnic Russian Stronghold, It Was a Potential Jewish Homeland

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