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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • AIDS in der Sowjetunion

    AIDS in der Sowjetunion

    Der Eiserne Vorhang sei das „größte Kondom der Welt“, so hieß es in den 1980er Jahren mitunter. Diese ironische Formulierung beruhte auf der Annahme, dass die weitgehende geopolitische Isolation und die restriktiven Ein- und Ausreisebestimmungen der Sowjetunion für einen relativ effektiven Schutz der sowjetischen Bevölkerung vor HIV/AIDS sorgen würden.1 

    Doch dem war nicht so. 

    Zwar wurden die ersten AIDS-Fälle in der Sowjetunion tatsächlich erst einige Jahre nach dem Auftreten der Erkrankung in afrikanischen und westlichen Staaten registriert. Doch ab Mitte der 1980er Jahre erreichte das AIDS-auslösende Humane Immundefizienz-Virus (HIV) auch die Sowjetunion und andere Ostblockstaaten. Medizinische und politische Entscheidungsträger in der UdSSR assoziierten die Erkrankung vor allem mit Homosexualität, Prostitution und Drogenkonsum. Chancen, aus den Erfahrungen bereits früher betroffener Gesellschaften zu lernen, blieben weitgehend ungenutzt. Dies prägt den Umgang mit der Krankheit in Russland bis heute. Derzeit sind in Russland mehr als eine Million Menschen mit dem HI-Virus infiziert.2

    Mitte der 1980er Jahre erreichte das HI-Virus auch die Sowjetunion und andere Ostblockstaaten / Foto © Vladimir Velengurin/TASS
    Mitte der 1980er Jahre erreichte das HI-Virus auch die Sowjetunion und andere Ostblockstaaten / Foto © Vladimir Velengurin/TASS

    Sowjetische Fachkreise haben durchaus wahrgenommen, dass medizinische Fachjournale in den USA ab 1981 eine neuartige Krankheit beschrieben: Diese verursachte bei zuvor gesunden Menschen eine schwerwiegende Immunschwäche, an deren Folgeerkrankungen sie starben. Allerdings führte die Sowjetunion lange Zeit keine eigenen Untersuchungen oder präventive Maßnahmen zu der ab 1982 offiziell als AIDS (Russisch SPID – Sindrom priobretennogo immunnogo defizita, dt. Syndrom des erworbenen Immundefizits) bezeichneten Erkrankung durch. 

    Auch die Bevölkerung erfuhr nichts über die neue Krankheit, und die Medien thematisierten AIDS lange so gut wie gar nicht.3 So hörten die Bewohner der Sowjetunion einzig durch westliche Radiosender davon, dass es bereits fast überall auf dem Globus zu Ansteckungen gekommen war und auch sozialistische Staaten betroffen sein könnten.4

    Tabuisieren und Externalisieren

    Möglicherweise um solchen Informationen aus dem Westen etwas entgegenzusetzen, begann ab 1985 auch in der Sowjetunion die Berichterstattung über AIDS. Beiträge, die AIDS im Zusammenhang mit dem eigenen Land behandelten, suchte man in den ersten zwei Jahren der Thematisierung allerdings vergeblich. Dass so lange vermieden wurde, über AIDS in der Sowjetunion zu informieren, hängt auch mit verwandten Tabu-Themen wie Homosexualität, Prostitution und Drogen zusammen, über die ebenfalls nicht berichtet wurde. Stattdessen wurde AIDS fast ausschließlich mit dem kapitalistischen Westen verbunden.5 

    In einem Artikel der auflagenstarken Zeitung Trud äußerte sich etwa der stellvertretende sowjetische Gesundheitsminister Pjotr Burgassow dahingehend, dass AIDS dort auftrete, wo „geschlechtliche Verirrungen“ geduldet würden. Dies sei in „bestimmten Zirkeln“ des Westens der Fall, in der Sowjetunion sei so ein Verhalten jedoch „widernatürlich“.6 
    Ähnlich äußerte sich zwei Jahre später auch einer der führenden Virologen des Landes, Viktor Shdanow. In der Izvestia sprach er davon, dass AIDS eine Krankheit von Menschen mit „perversem Geschlechtsleben“ sei, womit er Homosexuelle meinte, und die Sowjetunion mit diesen „keine Probleme“ habe.7 

    Somit wurde von oberster Stellen vermittelt, dass es bestimmte sexuelle Praktiken oder auch Drogenkonsumenten in der Sowjetunion nicht gebe und somit auch kein AIDS, zirkuliere das Virus doch ausschließlich unter Angehörigen dieser Gruppen, vornehmlich in den USA. Entsprechend konstatierte der Gesundheitsminister der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) Anatoli Potapow 1986 in der Fernsehsendung Wremja, dass AIDS eine „westliche Erkrankung“ sei. 

    So wurde das Thema zu einem Nebenschauplatz des Kalten Krieges. AIDS wurde dabei nicht nur als westliche Krankheit, sondern auch als Krankheit aus dem Westen dargestellt. Konkret hatten KGB und Stasi im Rahmen einer Desinformationskampagne eine international rezipierte Verschwörungstheorie lanciert, wonach das HI-Virus die Nebenwirkung US-amerikanischer Biowaffenexperimente sei.8

    Keine Aufklärung

    Diese Darstellung der Krankheit als westlich blieb nicht ohne Folgen: So wurden etwa sowjetische Seeleute, Übersetzer, Entwicklungshelfer oder Militärberater, die in afrikanischen Ländern tätig waren, vor ihren Einsätzen nicht auf das Risiko einer Ansteckung hingewiesen. Unter anderem über sie erreichte das Virus schließlich die Sowjetunion.9 Auch die Tatsache, dass durch einige der in Afghanistan eingesetzten Soldaten Heroin in die Sowjetunion gelangte und sich so eine Drogenszene entwickelte, wurde übersehen.10

    Stattdessen wurde der Bevölkerung das trügerische Gefühl vermittelt, dass die sozialistischen Moralvorstellungen – mit ihren im Vergleich zum Westen vermeintlich höheren sittlichen Standards – einen umfassenden Schutz darstellten. Solche Grundsätze standen einer sachlichen Betrachtung der Krankheit im Weg. So fand etwa aufgrund der Annahme, dass Sexualität der Sphäre des Privaten zuzuordnen sei und in der Öffentlichkeit nichts zu suchen habe, in Schulen oder Jugendverbänden keine Sexualaufklärung statt. Selbst Ärzte erhielten lange keine Weiterbildungen zu HIV/AIDS.11

    Dabei hatten sich nach anfänglicher Ratlosigkeit bis Mitte der 1980er Jahre auf globaler Ebene viele Wissenslücken hinsichtlich HIV und seiner Übertragung geschlossen. Vor allem Aufklärungskampagnen und Präventionsmaßnahmen hatten sich als effektive Mittel im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus erwiesen. Doch in der Sowjetunion bediente man sich nicht an diesem Wissen, entsprechende Kampagnen wurden nicht durchgeführt. Über besonders gefährdete gesellschaftliche Gruppen wie Homosexuelle, Prostituierte und Drogenkonsumenten existierten zudem kaum Kenntnisse – ein Resultat ihrer langjährigen Kriminalisierung und Marginalisierung. Darüber hinaus waren Kondome nicht nur unpopulär, sondern auch Mangelware.12

    1985 wurde schließlich ein Austauschstudent aus Südafrika als erster AIDS-Erkrankter in der Sowjetunion registriert, was den Staat erstmalig zum Handeln zwang.13 So wurden Untersuchungen unter ausländischen Studierenden durchgeführt, Infizierte unter ihnen wurden ausgewiesen. 1986 öffnete das erste Diagnose- und Therapiezentrum in Moskau, und es wurden – mit mäßigem Erfolg – eigene HIV-Tests entwickelt.14 Doch die Bevölkerung war über diese Maßnahmen kaum informiert, die Sowjetunion galt offiziell weiterhin als frei von AIDS. 

    1987/88 als Zäsur

    Erst die Jahre 1987 und 1988 markierten einen Wandel sowohl der staatlichen Maßnahmen als auch der öffentlichen Berichterstattung. So wurde 1987 der erste infizierte Sowjetbürger registriert, 1988 die erste offiziell an AIDS gestorbene Sowjetbürgerin – und es wurde auch darüber berichtet. Die Politik der Glasnost, die Gorbatschows Perestroika begleitete, hatte diese Entwicklung ermöglicht. 

    Endlich konnten auch kritische Positionen artikuliert werden. Beispielsweise war in einem Artikel in der Literaturnaja Gaseta von „verbrecherischer Tatenlosigkeit bei der medizinischen Aufklärung“ sowie „Gleichgültigkeit und organisatorischer Unfähigkeit“ der verantwortlichen Organe die Rede.15 Dazu kam, dass 1987 die sowjetische AIDS-Desinformationskampagne offiziell beendet wurde und sich auch die sowjetische Akademie der Wissenschaften gegen die These aussprach, HIV sei von den US-Amerikanern bewusst geschaffen oder zumindest verbreitet worden.16

    Doch trotz des Eingeständnisses, auch im eigenen Land mit Fällen von HIV und AIDS konfrontiert zu sein, erfolgten die notwendigen staatlichen Maßnahmen nur schleppend und waren von Vorurteilen geleitet. Sozialwissenschaftler und Betroffene hatten in den Aushandlungen über den Umgang mit der Krankheit und den Erkrankten keine Stimme. Auch die für die Bekämpfung von AIDS zentrale Zusammenarbeit von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren wurde durch die Marginalisierung der zweiten Gruppe unmöglich gemacht. 

    Die sowjetischen Maßnahmen setzten stattdessen auf Abschreckung und Strafen. So erließ der Oberste Sowjet im August 1987 eine Anordnung „über die Maßnahmen zur Verhinderung einer Infektion mit dem AIDS-Virus“, der zufolge das Anstecken einer anderen Person mit fünf bis acht Jahren Freiheitsentzug bestraft würde. Zudem wurde festgelegt, dass alle Angehörigen der sogenannten Risikogruppen zwangsweise auf HIV zu testen seien. Infizierte und erkrankte Bürger wurden auf speziellen Stationen isoliert. 

    Folgenreiche Stigmatisierung

    Als ab 1987 die ersten staatlichen Informationsmaterialien auftauchten, sorgten sie bei vielen Menschen für Irritationen. Von einem Tag auf den anderen sollte das, was jahrelang als westliches Randgruppenproblem beschrieben worden war, auch sie selbst betreffen können. Entsprechend kollidierten die neuen Maßnahmen von Politik und Medizin mit den Ansichten in der Bevölkerung. Die Moskowskja Prawda veröffentlichte 1987 etwa einen offenen Brief 16 junger Ärzte, die keine AIDS-Erkrankten behandeln wollten. Man sollte AIDS eher als Chance sehen, die Gesellschaft von „schädlichen Elementen“ zu „reinigen“.17

    Ähnlich dachte die breite Bevölkerung, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitut WZIOM von 1989 zeigte: 15 Prozent der Befragten forderten, AIDS-Erkrankte zu „liquidieren“ und circa ein Viertel forderte zudem die Todesstrafe für Drogenabhängige und Prostituierte, 31 Prozent sprachen sich für die Todesstrafe für Homosexuelle aus.18 In diesem Klima der Stigmatisierung vermieden es einige Menschen, sich auf HIV testen zu lassen.

    Zum größten AIDS-Skandal der UdSSR kam es Ende 1988, als in einem Krankenhaus der kalmückischen Hauptstadt Elista mindestens 35 Kinder und acht Mütter mit dem HI-Virus infiziert wurden. Aus Mangel an Einmalspritzen hatte das Personal die gleichen Spritzen mehrfach benutzt. Ähnliche Fälle ereigneten sich kurz darauf auch in Wolgograd und Rostow am Don.19    

    Die Mehrheit der HIV-Infizierten im heutigen Russland steckte sich jedoch erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion an. Zur wirtschaftlichen Krise der 1990er Jahre kam ein in Trümmern liegendes Gesundheitssystem, sich ändernde sexuelle Normen und eine höhere Verfügbarkeit von Drogen. Doch diese neuen Gegebenheiten trafen in Gesellschaft, Politik und öffentlicher Gesundheitspflege auf Einstellungen zu HIV/AIDS, die den in der Sowjetunion geprägten Denkmustern verhaftet blieben.20 Die offiziellen moralisch-sittlichen Dogmen sowie die jahrelang unterlassene Aufklärung hatten zu einer starken gesellschaftlichen Stigmatisierung der Erkrankten geführt. Sie prägten auch die ersten Reaktionen auf AIDS in der Sowjetunion, welche wiederum als Blaupausen für das spätere Vorgehen in Russland dienten. Bereits Ende der 1980er Jahre stand dem Erfolg der Aufklärungsbotschaften die langjährige Politik des Verschweigens und Verdrängens im Weg – eine massive Hypothek auch für die Anti-AIDS-Arbeit in Russland heute. 


    1. Altman, Dennis (2008): AIDS and the Globalization of Sexuality, in: Social Identities, 14(2), S. 145-160, hier S. 147 ↩︎
    2. UNAIDS (2017): Overview Russian Federation ↩︎
    3. Eine Ausnahme bildet etwa der Artikel von R. Petrov: Immunodefizity: Čto eto takoe? in: Literaturnaja Gazeta vom 22.06.1983, S. 15 ↩︎
    4. Sigl, Elfie: Was den Bürgern der UdSSR über AIDS berichtet wird, in: Frankfurter Rundschau vom 15. Oktober 1985 ↩︎
    5. Pape, Ulla (2014): The Politics of HIV/AIDS in Russia. New York, S, 72 ↩︎
    6. Williams, Christopher (1995): AIDS in Post-Communist Russia and its Successor States,Avebury, S. 57 ↩︎
    7. Šdanov, Viktor: Čto my znaem o SPID, in: Izvestija vom 18.03.1987, S. 3 ↩︎
    8. Selvage, Douglas/ Nehring, Christopher (2014): Die AIDS-Verschwörung: Das Ministerium für Staatssicherheit und die AIDS-Desinformationskampagne des KGB, Berlin, S. 21 ↩︎
    9. Cromley, Ellen (2010): Pandemic Disease in Russia: From Black Death to AIDS, in: Eurasian Geography and Economics 51(2), S. 184-202, hier S. 194-195 ↩︎
    10. batenka.ru: Kak sovetskaja armija poznakomilas‘ s geroinom ↩︎
    11. Williams, Christopher (1994): Sex Education and the AIDS Epidemic in the Former Soviet Union, in: Sociology of Health and Illness 16(1), S. 81-102, hier S. 84 ↩︎
    12. Baldwin, Peter (2005): Disease and Democracy: The Industrialized World Faces AIDS, S. 141 ↩︎
    13. batenka.ru: VIČ za železnym zanavesom ↩︎
    14. Medwedew, Zhores (1986): Evolution of AIDS Policy in the Soviet Union. I. Serological Screening 1986–7, in: British Medical Journal 300, S. 860–861 ↩︎
    15. Moroz, Oleg: Ljudi, vy že ljudi, in: Literaturnaja Gazeta vom 14.12.1988, S. 12 ↩︎
    16. Selvage/Nehring: Die AIDS-Verschwörung, S. 99 ↩︎
    17. Feshbach, Murray (2006): The Early Days of the HIV/AIDS Epidemic in the Former Soviet Union, in: Judyth L. Twigg (Hrsg.): HIV/AIDS in Russia and Eurasia. Vol. 1. New York, S. 7-32, hier S. 8 ↩︎
    18. WCIOM: Uroven‘ tolerantnosti v Rossii: rastet ili padaet? ↩︎
    19. Mediazona: «Na nas pokasyvali palzem. Obsyvali spidonoszami». Kak sakryli delo o pervoi massovoi vspyschke VITsch-infekzii v SSSR ↩︎
    20. Baldwin: Disease and Democracy, S. 252 ↩︎

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  • Erinnerung an den Afghanistan-Krieg

    Erinnerung an den Afghanistan-Krieg

    Mit dem Abzug der letzten Rotarmisten am 15. Februar 1989 endete die zehnjährige militärische Intervention der Sowjetunion in Afghanistan. Doch bis heute wird um die Deutungshoheit über den Einsatz gerungen: Der Kongress der Volksdeputierten der UdSSR hatte auf dem Höhepunkt der Perestroika im Dezember 1989 die Truppenentsendung noch als moralische und politische Fehlentscheidung verurteilt. Doch zum 30. Jahrestags des Abzugs im Februar 2019 bewertet die russische Staatsduma dies neu. Darin spiegelt sich die vom Staat betriebene Umdeutung der Intervention seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin in den 2000er Jahren wider. Afghanistan fungiert hier gemeinsam mit anderen sowjetischen und russischen Kriegen als Symbol für soldatische Pflichterfüllung und Patriotismus und wird zur Legitimation aktueller russischer Politik und Identität.

    Vom Krieg gezeichnete Afganzy gehörten in den 1990er Jahren zum alltäglichen Stadtbild russischer Metropolen / Foto © Oleg Lastochkin/Sputnik
    Vom Krieg gezeichnete Afganzy gehörten in den 1990er Jahren zum alltäglichen Stadtbild russischer Metropolen / Foto © Oleg Lastochkin/Sputnik

    Das 1979 nach Afghanistan entsandte Begrenzte Kontingent der sowjetischen Truppen führe keinen Krieg, sondern leiste lediglich friedliche Aufbauarbeit und sozialistische Bruderhilfe. So wurde es der sowjetischen Öffentlichkeit zumindest anfänglich vermittelt. Erst als sich ab 1985 durch Perestroika und Glasnost das Spektrum des Sagbaren erweiterte, erfuhren die BürgerInnen vom tatsächlichen Krieg, seinem Umfang und den zahlreichen Toten. Es entstanden Spannungen zwischen der offiziellen Propaganda, in der die Soldaten zu Verteidigern der südlichen Landesgrenze erklärt wurden, und einer Öffentlichkeit, die auf einen Abzug drängte.1 

    Rückkehr aus Afghanistan

    Den 600.000 in Afghanistan eingesetzten militärischen und zivilen Kräften schlug nach ihrer Rückkehr häufig fehlendes Verständnis oder gar offene Ablehnung entgegen. Zudem konnte der zerfallende Staat seiner Fürsorgepflicht ihnen gegenüber nicht gerecht werden. Eine offizielle Anerkennung als Veteranen erhielten sie nicht, schließlich galt die Intervention in Afghanistan nicht als Krieg. Nach der Auflösung der Sowjetunion fehlte auf Seiten der Regierung der Wille, sich mit dem Krieg auseinanderzusetzen. Zusätzlich erschwerte die desolate Wirtschaftslage eine finanzielle und materielle Unterstützung der ehemaligen Soldaten. Teilweise obdachlose und vom Krieg gezeichnete Afganzy, wie die ehemaligen Soldaten genannt wurden, gehörten in den 1990er Jahren zum alltäglichen Stadtbild russischer Metropolen.2 Wer damals Moskau besuchte erinnert sich wohl bis heute an die in Tarnfleck gekleideten Invaliden, die oft ohne Beine auf Rollbrettern durch die Metro fuhren, Kriegslieder sangen und um Geld bettelten. 

    Die fehlende Anerkennung enttäuschte die ehemaligen Soldaten, viele verloren ihr Vertrauen in den Staat. Mit dem Zerfall der Sowjetunion löste sich auch der politisch-ideologische Rahmen auf, der das eigene militärische Handeln gerechtfertigt hatte. Das militärische Chanson des Ensembles der Luftlandetruppen, Golubyje Berety (dt. Blauhelme, 1994), zeugt beispielhaft vom Gefühl der Orientierungslosigkeit, wenn der Sänger klagt: 

    „War das etwa alles umsonst? 
    Sagt, woran sind wir schuld? 
    Zehn Jahre Krieg, zehn Jahre Not. 
    Und wir sind doch nur Soldaten … 
    Ist das alles etwa Betrug? […] 
    Für immer gezeichnet mit dem Mal des Schmerzes [sind wir].“3

    Einige Afganzy zeigten sich nach ihrer Rückkehr offen für Rekrutierungsversuche aus Kreisen der organisierten Kriminalität. Als mächtige Begleiterscheinung des Staatszerfalls glitten besonders Arbeitslose, ehemalige Soldaten und Angehörige der Sicherheitsorgane in kriminelle Strukturen ab.4 

    Patriotische Vorbilder

    Erst 1995 änderte sich der Status der Afganzy in „Veteranen von Kampfhandlungen“, was ihnen soziale und medizinische Unterstützung sicherte. Ähnliche Anerkennung und gleiche Privilegien wie den Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges blieben ihnen hingegen verwehrt. In den 2000er Jahren setzte auch eine staatliche Neubewertung des Krieges ein. Seitdem nähern sich die Sichtweise der Veteranenverbände und das offizielle Staatsnarrativ kontinuierlich einander an. Dabei profitieren beide Seiten: Die Veteranenverbände erhalten materielle Vorteile und können ihr positives Soldatenbild durch Kooperation mit der Politik verbreiten. Dafür nutzt die russische Regierung die Veteranen als Vorbilder zur Konstruktion eines militärisch-nationalen Mythos sowie als wichtiges Sprachrohr der aktuellen Außenpolitik.

    Mit Wladimir Putins Amtsantritt im Jahr 2000 sind der heldenhafte Soldat und die aufopferungsvolle Pflichterfüllung gegenüber dem Vaterland einmal mehr als moralische Bezugspunkte zentral geworden – offenbar ein Rückgriff auf einen seit Jahrhunderten fest verankerten Bestandteil russischer politischer Mentalität.5 Die Afghanistanveteranen sollten hierbei eine Vermittlungsrolle spielen. So sprach Putin 2002 angesichts sinkender Zustimmungswerte zum zweiten Tschetschenienkrieg den Afganzy eine Vorbildfunktion bezüglich Widerstandskraft und Vaterlandstreue zu. Verteidigungsminister Sergej Schoigu bestärkte diese Position anlässlich des 25. Jahrestages des Abzuges 2014 erneut: „In der Zeit, die seit dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan vergangen ist, wurden ihre Handlungen unterschiedlich bewertet, doch für das Land und für das Volk werden die Afghanistankämpfer immer echte Patrioten bleiben. [Wir] werden das unschätzbare Wissen und die einzigartige Erfahrung [der Afghanistanveteranen] weiterhin in der theoretischen Ausbildung sowie in der Praxis nutzen, unter anderem gegen den Terror und für den Frieden.“6  

    Großer Vaterländischer Krieg als Bezugspunkt

    Indem Putins Regierung an die Legitimationsrhetorik der ersten Kriegsjahre anknüpft, wird sein Versuch deutlich, den Einsatz in Afghanistan genauso wie andere militärische „Großtaten“ zur Identitätsstiftung zu nutzen und als frühes Engagement gegen Islamismus und Drogenhandel zu inszenieren. Zudem werden die Afganzy in symbolische Nähe zu den RotarmistInnen des Großen Vaterländischen Krieges gerückt, dem wichtigsten erinnerungspolitischen Bezugspunkt. Davon zeugen etwa das zentrale Denkmal für die Internationalistenkämpfer in Moskau, welches 2005 im Park des Sieges, dem zentralen Gedenkort für die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges, errichtet wurde7 sowie die geplante Premiere des Films Bratstwo (Leaving Afghanistan) von Pawel Lungin am 9. Mai 2019. 

    Die Ehrung der Veteranen und die Rehabilitierung des Krieges gipfelten bisher in einer im November 2018 von der Duma angenommenen Vorlage der Partei Einiges Russland. Dort hieß es, die offizielle negative Beurteilung des Krieges sei historisch ungerecht.8 Das Land habe unter dieser „voreiligen“ Bewertung genauso gelitten wie unter den Verlusten des Krieges und dem als schmachvoll empfundenen Abzug.9 Entsprechend sei eine Neubewertung unerlässlich, da das Bild des Krieges im historischen Gedächtnis Russlands nicht weiterhin von „Geschichtsfälschung und prowestlicher Propaganda“ geprägt sein dürfe.10  

    (Populär-)kulturelle Erinnerung 

    Der Afghanistankrieg ist im russischen kollektiven Gedächtnis durchaus präsent. Laut einer Studie rangiert er nach der Tschernobyl-Katastrophe und der russischen Wirtschaftskrise von 1998 auf dem dritten Platz der historisch relevanten Ereignisse am Ende des 20. Jahrhunderts.11 Außerdem ist er Gegenstand vieler Filme, Bücher und Lieder, zuletzt in der Veteranenserie Nenastje (dt. Schlechtwetter, 2018, Regie: Sergej Ursuljak). In der Populärkultur wird der Krieg teils deutlich kritischer verhandelt als vonseiten der Veteranenverbände und des Staats. Die Erinnerung an den Afghanistankrieg ist hier als Mosaik zu verstehen: Sie unterscheidet sich je nach Haltung zur Intervention und je nach Interesse warum und woran erinnert werden soll.12 Dies schlägt sich besonders deutlich in den ungefähr 320 russischen Denkmälern zum Krieg nieder. Abhängig davon, welche Akteursgruppe ein Denkmal errichtet hat, steht die Sakralisierung der Gefallenen, die Heroisierung der Kampfgemeinschaft, der Triumph der russischen Nation oder der Halt des russisch-orthodoxen Glaubens im Vordergrund. 

    Militärische Chansons der frühen 1990er Jahre, die sich auf den Afghanistankrieg beziehen, setzten sich auch mit persönlichen Erlebnissen und Traumata auseinander, womit sie sich von den Helden- und Propagandanarrativen der Kriegsjahre emanzipierten.13 In den 2000er Jahren polarisierte vor allem Alexej Balabanows Film Gruz 200 (Fracht 200, 2007) das Land. Der Afghanistankrieg fungiert dort als Symbol für das Machtstreben der alten Eliten auf Kosten der jungen Generation. 

    Die wichtigste Stimme der kritischen Erinnerung an den Afghanistankrieg ist jedoch sowohl in Russland als auch darüber hinaus Swetlana Alexijewitsch. Ihr vielfach übersetztes Buch Zinkjungen gilt als das Anti-Kriegs-Werk. In dem dokumentarischen Roman setzte die Literaturnobelpreis-Trägerin, die im belarussischen Minsk lebt, der „Sinnlosigkeit“ des sowjetischen Afghanistankriegs ein literarisches Denkmal, indem sie die Gräuel des Einsatzes und die Zweifel der Soldaten in den Vordergrund rückt. Mit der Gewalt und dem Drogenmissbrauch innerhalb der Truppe, mit Raub und Kriegsverbrechen benennt sie auch Aspekte des Kriegs, die im offiziellen Narrativ ausgelassen werden. 

    Diese Gesichtspunkte werden auch in Internetforen vermehrt thematisiert. Der virtuelle bietet im Vergleich zum öffentlichen Raum eine verhältnismäßig hohe Freiheit, da er weniger institutionell kontrolliert wird. Hier kann auch ohne jegliche Romantik vom Kampf ums Überleben geschrieben werden, in dem das Töten den Alltag strukturierte.14 Gegenstimmen zum staatlichen Narrativ sind folglich eher im Internet oder im privaten Raum vernehmbar als in Presse oder Populärkultur. 

    „Wir sind gleichsam im Krieg aufgewachsen“

    Auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken leben Afghanistanveteranen. Während viele Kriegsteilnehmer aus den zentralasiatischen Ländern ihren Einsatz für die Sowjetunion mehrheitlich positiv bewerten, distanzieren sich etwa in den baltischen Republiken einige Veteranen von dem Krieg. Sie betrachten sich zusammen mit den AfghanInnen als Opfer sowjetischer Besatzungen. Anders als in Russland, wo die Veteranen mittlerweile in ein patriotisches Narrativ eingebunden werden, ist dies etwa in Litauen nicht der Fall. Dort sind sie gesellschaftlich weitestgehend isoliert und fordern mehr staatliche Unterstützung. In Belarus hingegen dominiert ein ähnlicher Umgang wie in Russland, auch hier stehen die Afghanistanveteranen in einer Linie mit denen des Großen Vaterländischen Krieges.15 

    Wenngleich anhand von Denkmälern und politischen Verlautbarungen in den letzten Jahren eine Diskursverschiebung „von oben“ zu beobachten ist, bleibt offen, wie wirkmächtig diese Politik tatsächlich ist. Umfragen des Lewada-Zentrums legen jedoch nahe, dass die vom Staat propagierte Erzählung des Afghanistankriegs von Teilen der Bevölkerung angenommen wird.  Zwar lehnen immer noch zwei Drittel den Einmarsch als „unnötig“ ab, allerdings sind dies 20 Prozent weniger als 1991. Die Rehabilitierungskampagne, die nicht die politischen und militärischen Entscheidungen, sondern das als positiv bewertete Handeln der Soldaten in den Vordergrund stellt, wird sich vermutlich in den nächsten Jahren fortsetzen. 

    Was Swetlana Alexijewitsch bereits 1992 erklärte, behält somit seine Gültigkeit: „Von Kindheit an wurde uns die Liebe zu dem Mann mit dem Gewehr eingeredet, sie wurde uns in die Gene gepflanzt. Wir sind gleichsam im Krieg aufgewachsen, sogar diejenigen, die Jahrzehnte danach geboren wurden.“16


    Weiterführende Literatur:
    Meier, Esther/Penter, Tanja (Hrsg., 2017): Sovietnam: Die UdSSR in Afghanistan 1979–1989, Paderborn
    Alexijewitsch, Swetlana (206): Zinkjungen: Afghanistan und die Folgen, unter Mitarbeit von Ganna-Maria Braungardt und Ingeborg Kolinko, Berlin

    Diese Gnose ist im Rahmen eines Lehrprojekts an der Humboldt-Universität zu Berlin unter der Leitung von Robert Kindler entstanden. Das Vorhaben wurde vom bologna.lab der HU Berlin finanziell unterstützt.

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