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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Hinterhof-Diplomatie

    Hinterhof-Diplomatie

    Das Ergebnis mehrerer Gespräche zwischen den USA, der NATO und Russland in Genf und Brüssel aus den zurückliegenden Tagen ist kurz: Beide Seiten sind sich weiter uneins. Immerhin hat der NATO-Russland-Rat nach mehr als zwei Jahren erstmals überhaupt wieder als offizielles Gremium getagt. 
    Doch die Positionen bleiben verhärtet: Auf der einen Seite steht Russland mit Maximalforderungen, wonach die Ukraine und Georgien keine Mitglieder der NATO werden dürften und wonach die USA ihre Atomwaffen aus Europa abziehen sollten. 
    Auf der anderen Seite halten die USA und die NATO am Prinzip des Selbstbestimmungsrechts möglicher neuer Mitglieder in dem Verteidigungsbündnis fest und lehnen ein Vetorecht für Russland ab. Die massive russische Truppenpräsenz an der Grenze zur Ukraine wird zudem als unmittelbare Bedrohung für die Ukraine gewertet, und die NATO sicherte Unterstützung zu. Aus NATO-Sicht, das sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg, besteht weiter eine Kriegsgefahr. Die USA haben für den Fall der Fälle Sanktionen angekündigt. Die russische Seite streitet Angriffspläne ab.
    Seit Wochen beunruhigt die russische Truppenpräsenz internationale Beobachter, Diplomaten und politische Vertreter in der Ukraine, der EU und den USA. Die große Frage bleibt, ob es sich um Säbelrasseln handelt, um einen gefährlichen Bluff, um mehr Druck in Verhandlungen auszuüben, oder ob womöglich doch ein direkter Einmarsch droht. Bei diesen aktuellen Krisen-Gesprächen zu zentralen sicherheitspolitischen Fragen für Europa saßen Vertreter der Europäischen Union sowie der Ukraine nicht mit am Tisch; beziehungsweise erst dann, als schließlich noch die Vertreter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) am Donnerstag in Wien tagten.

    Was bleibt? Vor allem die Tatsache, dass überhaupt gesprochen wurde. Doch wie wird eigentlich gesprochen? Iwan Dawydow hat sich die öffentlichen Umgangsformen von Vertretern des russischen Außenministeriums genauer angeschaut und in bissiger Manier für Republic analysiert.

    In der Außenpolitik geht es um Worte, sowohl um geschriebene in Verträgen, als auch um gesprochene aus dem Mund von Diplomaten. Alles erwächst aus Worten, sogar Kriege.

    Mich hat gar nicht so sehr der Ausgang der Verhandlungen interessiert [Dawydow bezieht sich auf die Gespräche zwischen Russland und den USA in Genf – dek] – der war nach dem offenkundig unerfüllbaren Ultimatum von Putin vollkommen vorhersehbar – als vielmehr die Worte, die noch vor Beginn zu hören waren. Hier ein kurzer Satz des stellvertretenden Außenministers Russlands Sergej Rjabkow: „Die NATO soll ihre Siebensachen packen und in die Grenzen von 1997 abmarschieren.“

    Interessant wäre nachzuvollziehen, ab wann die Sprache der russischen Diplomatie mutiert ist

    Interessant wäre nachzuvollziehen, ab wann die Sprache der russischen Diplomatie mutiert ist. Ich denke mal seit Ende 2013, doch das ist schwer zu sagen. Hier sind brandneue Beispiele:
    Maria Sacharowa kommentiert (nicht sehr korrekt, doch ohne Flüche und direkte Beleidigungen) die Erklärung von US-Außenminister Antony Blinken zu den Ereignissen in Kasachstan: „Wenn in dieser Situation amerikanische Vertreter etwas zu Kasachstan sagen sollen, geraten sie öffentlich in eine Sackgasse. Sie wissen gar nicht, was sie sagen sollen. Sehen Sie sich doch das kindische Geplapper und den Quatsch an, den die verbreiten.“

    Oder dieser andere Fall, als Xenija Sobtschak in ihrem Telegram-Kanal irgendeinen witzigen Tweet geteilt und angemerkt hat, dass Sacharowa sich widersprüchlich äußere. Und sie dann noch „ihre liebste Optimistin“ nannte. 
    Da stellte sich der gesamte Pressedienst des Ministeriums auf die Hinterbeine, um die Sprecherin des russischen Außenministeriums in Schutz zu nehmen. Und auch hier haben die Diplomaten, wie ja eigentlich üblich, ihre Worte nicht sorgfältig gewählt. „Nicht bei Sacharowa stimmt da was nicht – sondern Sie zeigen hier einen akuten Ausbruch von Dummheit und Wut“ (so der Anfang der Reaktion auf Sobtschak). „Lassen Sie uns mal nachdenken, was die Welt nötiger braucht: einen optimistischen Menschen oder einen depressiven Unmenschen. Frohe Festtage! Frohe Weihnachten!“ (so das Ende der Erklärung). 

    Und so weiter, geradewegs bis zu den berühmten „Debilen“ aus dem Mund des Außenministers daselbst.

    Ich habe eine Hypothese, warum die Auftritte russischer Diplomaten schrittweise zu einer recht erbärmlichen Stand-up-Show verkommen, wo jede Nachricht in den offiziellen (also zum Begeistern verpflichteten) Medien mit Worten wie „auslachen“, „auf seinen Platz verweisen“ und so weiter beginnt.

    Ich denke, der Grund ist, dass die Außenpolitik in Putins Staat zwar die größte Rolle spielt, er jedoch innerhalb des Landes gefallen möchte. Denen hier, uns. Schlussendlich sind es keineswegs Wahlen, die für seine Legitimierung grundlegend sind, wie in den trostlosen Demokratien. Es ist dieses nicht greifbare Gefühl der Unterstützung durch das Volk. Das Regime braucht das Gefühl der Einheit der Nation – und es ist alles andere als ein Zufall, dass sie alle, begonnen beim Führer, besonders oft und gern inspirierte Reden von unserer besonderen Einigkeit schwingen. Geopolitische Erfolge sind auch ein Mittel der Vereinigung, ein Motiv für Großtuerei, das oft – häufig als einziges – gar nicht so schlecht funktioniert (siehe Krim).

    Das ist alles nur für uns – sie wollen ja mit ihren Pöbeleien und Beleidigungen nicht erreichen, dass sich die Amerikaner in sie verlieben.

    Die Sprache ist ein wildes Tier, das leicht seinen Sprecher zum Untertan macht

    An den Reden unserer Diplomaten erkennen wir, als was der Staat uns sieht. Welches „uns“ er da beeindrucken möchte. Offenbar sieht er in uns jene Bürger, die auf der Straße hocken und Adiletten tragen. Die mit den „traditionellen Werten“, die ungefähr den ungeschriebenen Diebesgesetzen gleichen. Die, die sich sicher sind, dass Respekt Angst bedeutet und es nichts Wichtigeres als rohe Gewalt gibt und dass das Recht des Stärkeren das einzig wirkliche Recht ist und dass ein Mensch mit echter Autorität der ist, der das Viertel kontrolliert und alle Schwächeren traktiert. 

    Sie inszenieren sich, passen sich an, versuchen in der Sprache zu sprechen, von der sie glauben, dass sie verständlich und volksnah ist, und geraten dabei in die Falle: Die Sprache ist ein wildes Tier, das leicht seinen Sprecher zum Untertan macht. Und je mehr das geschieht, desto weniger treffen sie die Zielgruppe im Land (die Mehrheit mag bei uns vielleicht auf Reden über imperiale Größe versessen sein, aber wir sind dennoch keine Hinterhof-Gopniki). 

    Und je heftiger das wird, desto mehr werden sie selbst zu Gopniki von Rang. Denn die Welt eines Menschen ist seine Sprache, und die Sprache der Aggression macht den Menschen zu einem primitiven Aggressor – selbst wenn dieser einen renommierten Abschluss des MGIMO in Internationalen Beziehungen hat. Und irgendwie unbemerkt passiert es von alleine, dass sich der Staat einer ziemlich kleinen und unangenehmen Bevölkerungsgruppe anpasst und auf globaler Ebene genau deren Weltbild reproduziert. Sie haben Russland von den Knien erhoben, es in Hockstellung gebracht, und zischen nun den Passanten zu: „Ej Junge, komm ma her!“ Und wedeln dabei munter mit ihren Hyperschall-Knüppeln herum. 

    Wenn man das laut sagt, sind sie beleidigt – und nicht ohne Grund: Sie können mehrere Sprachen, mögen klassische Musik, lesen Bücher, in ihren Anzügen, mit Krawatte … Doch die Adiletten schimmern trotzdem durch den edlen Stoff von Brioni.  

    Hier ließen sich ein paar Witze über einen Petersburger Hinterhof ergänzen, aber das wäre, erstens, ziemlich banal, und, zweitens, ist unser Politiker Nummer eins trotz allem komplizierter als das primitive Bild, das missgünstige Kritiker von ihm malen. 

    Leider ist er komplizierter, sonst würde er uns nicht regieren.

     

     

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  • Das Echo von Kasachstan

    Das Echo von Kasachstan

    Auslöser waren deutlich gestiegene Preise für Flüssiggas: In den ersten Januartagen hat die größte Protestwelle seit Jahren vom Westen Kasachstans ausgehend schließlich das ganze Land erfasst. Die hohen Gaspreise erwiesen sich dabei als Ventil für lange angestaute Unzufriedenheit, auch über Korruption und Währungsverfall, die Demonstranten skandierten etwa „Weg mit dem alten Mann“ – gemeint ist Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew, der zwar 2019 die Amtsgeschäfte an seinen Nachfolger Kassim-Schomart Tokajew übergeben, aber weiter wichtige Posten behalten hatte.

    Am Mittwoch, 5. Januar, gab Tokajew bekannt, dass er nun den Sicherheitsrat leite – eine Position, die bislang Nasarbajew innehatte – und bat schließlich das von Russland geführte Militärbündnis OVKS um Hilfe. Tokajew sprach dabei von einer „terroristischen Bedrohung“ im Land. Am Donnerstagvormittag, 6. Januar, gab es Meldungen, wonach Russland Fallschirmjäger als Teil sogenannter „Friedenstruppen“ entsandte. 

    Der Hilferuf der kasachischen Regierung an Russland wurde in Sozialen Netzwerken heftig kritisiert. Der renommierte kasachische Politologe Dosym Satpayev kommentierte auf Facebook, Staatschef Tokajew zeige damit „nicht nur die Schwäche und Unfähigkeit der Regierung in Kasachstan, sondern wird auch zum Schuldner Russlands“. Das russische Außenministerium erklärte schließlich, die Proteste in Kasachstan als einen „von außen inspirierten Versuch“ zu betrachten, die Sicherheit und Integrität des Staates zu untergraben. 

    Im Land gelte die kritische rote Stufe der „Terrorgefahr“, informiert die Nachrichtenagentur Tengrinews, das Internet wurde in großen Teilen abgeschaltet, die Banken des Landes geschlossen. Nun sagte Präsident Tokajew, die Ordnung im Land sei weitestgehend wiederhergestellt. Das kasachische Innenministerium spricht von 26 Toten. Ein Staatssender berichtete von mehr als 3000 Festnahmen. 

    Welches Echo die Ereignisse in Kasachstan in der russischen Gesellschaft haben könnten – das kommentiert Iwan Dawydow auf Republic.

    Deutlich gestiegene Preise für Flüssiggas waren der Auslöser für die größte Protestwelle seit Jahren, die vom Westen Kasachstans ausgehend schließlich das ganze Land erfasst hat / Foto © Esetok/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Über Nacht ist ein Wunder geschehen – alle Virologen, die sich in den Sozialen Netzwerken rumtreiben, sind nun Kasachstan-Experten. Ich möchte den werten Lesern und Leserinnen nichts vormachen – ich verstehe von Kasachstan derzeit genauso wenig wie vor der Revolution dort. Mehr noch, sogar meine kasachischen Freunde, die die Ereignisse sehr aufmerksam verfolgen und eine gute Vorstellung von der politischen Situation in ihrer Heimat haben, sind durchaus perplex, wie sich die Ereignisse überstürzen. Und ganz bestimmt kann niemand vorhersagen, wie das alles endet (wobei es Massen von Propheten gibt; selbsternannte Propheten gibt es ungefähr so viele wie Pseudovirologen). 

    Aber das ist nicht schlimm – das Wochenende geht vorüber, die Proteste auch, echte Spezialisten werden aus den Schüsseln mit Kartoffelsalat Olivier auftauchen und uns alles erklären. Und bis dahin kann es keine Sünde sein, darüber nachzudenken, was wir schon jetzt verstehen, und sei es noch so wenig. Und darüber nachzudenken, welches Echo der Aufstand in Kasachstan im Putinschen Russland hervorrufen wird.

    Denn ein Echo wird es geben.

    Das moderne Russland hält sich für das Zentrum des Universums, wobei es keine eigene Politik macht. Und das ist kein Paradox, das ist ganz logisch: Je tiefer der Führer in den imaginierten Siebzigerjahren versinkt, je fester sein Glaube an seine höchsteigene Mission, desto seltener versucht seine Umgebung ihn in die langweilige Realität zurückzuholen. Das wäre doch furchtbar, denn es hätte höchst unangenehme Folgen. Je niedriger also die Kompetenz in den Staatsämtern, umso einfacher ist das Weltbild und desto unausweichlicher wird in der Politik nur noch reagiert: Putins Staat reagiert auf äußere Störenfriede und versucht damit, seine Fantasien zumindest irgendwie in die moderne Welt hineinzuzwängen. Und bei allen Unannehmlichkeiten – sowohl im Land selbst als auch jenseits der Grenzen – wird nur eines gesucht: Der FEIND. In Großbuchstaben, mit weniger geben wir uns nicht zufrieden.

    Bei allen Unannehmlichkeiten wird nur eines gesucht: Der Feind

    Haben Sie nicht auch schon von Experten unterschiedlichster Couleur gehört, dass die kasachischen Unruhen nur losgetreten wurden, um Putin vor den wichtigen Gesprächen mit den USA und der NATO die Laune zu verderben? In deren Welt ist Putin die Sonne, um die sich alles dreht.

    Und selbstverständlich, auch auf die Ereignisse in Kasachstan – wie diese Ereignisse auch immer enden werden – wird zu reagieren sein.
    Leute, die erst reden und dann denken, wenn sie überhaupt denken, weil sie lieber reden, haben schon wissen lassen: Die Ereignisse in Kasachstan begraben den Plan für einen Machttransfer in Russland, nun wird Putin für immer Präsident bleiben. 

    Was für eine Erkenntnis.

    Der Gedanke ist ganz einfach: Nasarbajew hat den Präsidentenposten einem gesichtslosen Platzhalter überlassen (Putin kann sich den Namen Kassim-Schomart Tokajew bis heute nicht merken, oder vielleicht hielt er es nicht für nötig), übernahm den Vorsitz des Sicherheitsrates und bewahrte sich die Macht. So etwas in der Art haben auch unsere Politologen vor ein paar Jahren [als potenzielles Szenario für einen Machttransfer Putins – dek] in Aussicht gestellt; bislang ist unklar, wie viele Briefe aufgeregte Bürger an Valentina Tereschkowa schreiben konnten.

    Unsere Autokratie lernt von den Fehlern der Nachbar-Diktaturen

    Und nun stellt sich heraus, dass man niemandem vertrauen darf. In einer Krisensituation werden jedwede Vereinbarungen vergessen, und Tokajew hat Nasarbajew in dem großen Spiel wie eine Schachfigur geopfert [indem er ihn als Chef des Sicherheitsrats absetzte und diesen Posten selbst übernahm – dek]. Also wird unser weiser Leader der Nation ganz sicher nichts riskieren.

    Natürlich, unsere Autokratie lernt von den Fehlern der Nachbar-Diktaturen, nur in diesem Fall ist das alles überflüssiger Murks. Putin hat mehrfach und ziemlich direkt gesagt, dass allein schon die Möglichkeit seiner Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen, die die Verfassung nun [nachdem die Amtszeiten auf Null gesetzt wurden – dek] vorsieht, ein Sicherheitspfand für die politische Stabilität sei.
    Allerdings ist das ein Sicherheitspfand, das ihn zur Geisel macht. Also um das mal zu übersetzen: Das bedeutet, dass er einfach gezwungen ist, ein ums andere Mal wieder bei der Präsidentschaftswahl anzutreten, um das Land vor Erschütterungen zu bewahren (oh, wie viel Aufopferung darin liegt). 

    Für den russischen Präsidenten liegt darin der Sinn der Ereignisse in Kasachstan – sie sind nur eine weitere Möglichkeit, um sich davon zu überzeugen, wie sehr er doch mit allem im Recht und wie weitsichtig er doch war, aber sicher kein Grund, um irgendwelche neuen Entscheidungen zu treffen.

    Die hat er schon lange getroffen: Putin für immer.

    Doch das heißt nicht, dass aus der kasachischen Erfahrung gar keine Schlüsse gezogen werden. Wir erinnern uns, wie stark die Proteste in Belarus auf den Kreml gewirkt haben: Nach der dortigen Wahl geriet unser Staat in Repressions-Rage, man bemühte sich, alle Fehler zu vermeiden, die Lukaschenko begangen hatte.

    Der Protest kann sich also selbst um einen zufälligen Kandidaten scharen? (Ich erinnere daran, dass Swetlana Tichanowskaja bis zur Verhaftung ihres Mannes überhaupt keine politische Führungsperson war und es auch nie werden wollte.) Es reicht also nicht aus, die reale Opposition niederzuwalzen und die reale Führungsperson zu verhaften? Nun, dann schließen wir doch am besten einfach aus, dass zufällige Kandidaten bei der Wahl auftauchen: Direkte Repressionen, rückwirkende Gesetze, neue Abstimmungsmethoden – egal, jedes Instrument ist recht. Hauptsache, es gibt keine Kraft, die den Staat beim Ausarbeiten dieser Instrumente stören könnte. Ich werde keine konkreten Beispiele nennen – wozu sich wiederholen? Seit über einem Jahr können wir das in Echtzeit verfolgen. Schaut einfach auf den Balken [der gesetzlich geforderte Hinweis, dass der Text in einem vom russischen Justizministerium als „ausländischer Agent“ eingestuften Medium erscheint – dek], der inzwischen jeden Artikel von Republic ziert. Das ist in gewisser Weise ein Echo auf die Minsker Proteste.

    Kasachstan ähnelt Russland und Belarus – wir alle sind aus dem grauen Sowjetmantel gestiegen – und ähnelt ihnen auch wieder nicht, nicht nur, was nationale Besonderheiten betrifft: Die Opposition wird in Kasachstan schon seit Langem und brutal unterdrückt, der Personenkult um den nationalen Führer (inzwischen offenbar ehemaligen) wurde unverstellbar aufgeblasen, eine freie Presse gab es überhaupt nicht. Und gleichzeitig hat man beispielsweise massenweise westliche NGOs geduldet und ihnen mehr oder weniger freie Hand dabei gelassen, sich Dingen zu widmen, die dem Land nutzen.

    Es wird rauer

    Reicht also auch das nicht aus, damit sich die Regierung in Sicherheit wähnt? Aber die Regierung will sich in Sicherheit wähnen! Und ist dafür bereit, Teile unserer friedlichen Bevölkerung zu opfern. Naja, also nur jenen kleinen Teil, dem Politik wichtig ist. Und falls jemand gehofft hat, dass sich die Repressionen ein wenig beruhigen werden: Vergesst es! Jetzt steht mit Sicherheit ein schweres Jahr bevor für politische Aktivisten, für die Überbleibsel der freien Presse, für alle nicht unmittelbar dem Staat unterstehenden Organisationen, ja, auch einfach für Bürger, die zu viel reden. Es wird rauer. Es wird ein solcher Frost kommen, dass wir noch vom freien, warmen 2021 schwärmen werden. 
    Die reaktive Politik des spät-putinschen Russlands kennt eine Antwort auf beliebige Herausforderungen: Bomben auf Woronesh. Auf jenes riesige, unbehagliche, traurige globale Woronesh, das noch Russische Föderation genannt wird. In dem wir leben und das wir lieben. 

    Wir schulden Putin was für Kasachstan, und er wird uns danach fragen.

    Soros‘ Finger

    Und noch etwas: Schon jetzt, wenn man die Ausführungen der aus dem Neujahrsschlaf erwachten, noch verkaterten „Experten“ liest, wenn man sich durch ihre Gedanken arbeitet, über die Spuren des Außenministeriums, über Soros‘ Finger, die er da im Spiel hat, und über die Hinterlist Großbritanniens (was alles nicht neu ausgedacht ist, all das wurde schon gesagt und wird noch tausend Mal gesagt werden), da kann man sich nur wundern, wie universal die russische Propagandamaschine ist.

    Sie interessiert sich nicht für die Realität, sie ist nicht in der Lage die Bevölkerung zu mobilisieren, und sie kann auch nicht adäquat auf tatsächlich existierende Probleme reagieren – aber wie universell ist doch ihre Welt! Man braucht keine methodischen Handbücher umzuschreiben, es genügt, in den vorhandenen das Wort „Ukrainer“ durch „Kasachen“ zu ersetzen – und los geht’s!

    Und was macht es schon für einen Unterschied, wie viel Unglück das für das eigene Land bedeutet? Für die Dummquatscher gibt’s lauter Belohnungen. Wer’s braucht, bekommt Krieg … Aus Ekel möchte ich nichts verlinken, aber ihr solltet mal sehen, wie Margarita Simonjan abging auf Twitter, nachdem sich Tokajew an die OVKS gewandt hatte mit der Bitte um Hilfe im Kampf gegen „terroristische Gruppierungen“. Das war aufrichtige, fast kindliche, reine Freude. Es roch nach Blut! Und nach Geld!

    Aber uns friedlichen Bürgern von Woronesh bleibt nur zuzusehen, wie uns unter ihrem Gerede über die Intrigen von Soros, Rothschild, Rockefeller, State Department und MI5 auch noch die letzten Rechte genommen, die letzten Krümel des normalen Lebens weggefressen werden. 

    Wir schauen zu. Und können uns nicht sattsehen.

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  • Bidens Bärendienst

    Bidens Bärendienst

    Denken Sie, dass Putin ein Killer ist? „Das tue ich“, antwortet Joe Biden, als US-Präsident noch ziemlich frisch im Amt, im ABC-Interview und löst damit eine weltweite Debatte aus: Endlich deutliche Worte? Unverschämte Beleidigung? Oder Zeichen dafür, dass die USA Russland (von Obama als „Regionalmacht“ geschmäht) wieder ernst nehmen, und sei es als Bedrohung – wie es der Historiker Sergej Radtschenko im Interview mit Meduza nahelegt. Insofern legitimiere Bidens Aussage Putin geradezu. 

    Der russische Präsident hatte zunächst mit einer Anekdote aus seiner Kindheit im Petersburger Hinterhof gekontert, damals hätte es geheißen: „Wer anderen einen Namen gibt, heißt selbst so.“ Er wünsche Biden Gesundheit, „ohne Ironie“, und bot ihm außerdem ein Gespräch an, online und live. Das Weiße Haus reagierte ausweichend, man werde sicher irgendwann wieder miteinander reden. Unmittelbar nach dem Interview hatte Moskau seinen Botschafter aus Washington zu Beratungen zurückbeordert.

    Ganz egal, welche Auswirkungen Bidens Antwort auf die russisch-amerikanischen Beziehungen haben mag: Vor allem spielt Biden der russischen Wir-sind-von-Feinden-umzingelt-Propaganda in die Hände, findet Iwan Dawydow in seinem Kommentar auf Republic.

    Der Präsident der Vereinigten Staaten hat den russischen Politikern und Propagandisten ein echtes Geschenk gemacht. Noch nie war es so leicht, Loyalität zu demonstrieren. Nach der (übrigens ziemlich unvorsichtigen) Bemerkung von Biden ist ein regelrechter Wettstreit darüber entflammt, wer wohl mutiger zurückschlagen oder sich liebedienerischer beim Führer einschleimen könne. Es lassen sich gar nicht alle zitieren – es gab bereits dutzende Reaktionen, und dieser Karneval wird wohl noch mindestens bis zum Ende der Woche andauern.

    Nehmen wir zum Beispiel Andrej Turtschak von der Regierungspartei Einiges Russland (in Journalistenkreisen natürlich vor allem für seine leidenschaftliche Liebe zu Eisenstangen bekannt): „Bidens Aussage ist Triumph des politischen Wahnsinns der USA und der altersbedingten Demenz seines Führers. Eine aus Hilflosigkeit geborene äußerste Stufe der Aggression.“ Was dann folgt ist beinahe poetisch, oder wie soll man es nennen, wenn etwas derart Heiliges berührt wird: „Wir besiegen die Pandemie. Unser Impfstoff ist der beste der Welt – die anderen planen nur. Wir haben die Familie und ihre Werte – die haben Gender und Transgender.“ Und das Wichtigste: „Überhaupt ist es schlicht eine schamlose und widerwärtige Aussage. Es ist eine Kampfansage an unser ganzes Land.“

    Oder Wjatscheslaw Wolodin. Der Duma-Vorsitzende verzichtet auf jedwede Sentimentalität und kommt direkt zum Punkt: „Biden hat mit seiner Äußerung die Bürger unseres Landes beleidigt. Aus einer ohnmächtigen Hysterie heraus. Putin ist unser Präsident, Angriffe auf ihn sind Angriffe auf unser Land.“

    Diese beiden prominenten Vertreter von Einiges Russland sind sehr politikerfahren. Oder, besser gesagt, erfahren in etwas, das in Russland schon seit Langem die Politik ersetzt. Beide spüren genau, was geschehen ist. Und beide setzen ohne zu zögern ein Gleichheitszeichen – und man beachte den feinen Unterschied – nicht zwischen Putin und dem Staat, sondern zwischen Putin und dem Land. Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz. Anders kann es gar nicht sein. 

    Russland ist Putin. Sein Schmerz ist unser Schmerz

    Während sich weise Analytiker fragen, ob wir eine neue Stufe der Verschlechterung der russisch-amerikanischen Beziehungen zu erwarten haben (falls das überhaupt möglich ist), wollen wir einen Blick darauf werfen, was uns die Ereignisse über die Struktur des russischen Regimes verraten.

    Regimekritiker sprechen oft – und nachdrücklich – von der „internationalen Isolation Russlands“. Die Verteidiger des Regimes weisen diesen Vorwurf zornig zurück und behaupten, die Isolation Russlands sei ein Mythos, wobei sie sich zum Beweis auf irgendein weiteres Abkommen mit Togo über die Nichtverbreitung von Waffen im Weltraum berufen. 

    Ich würde gern mal die Begriffe genauer klären:

    Alle Probleme in den Beziehungen zu Europa und den USA hat sich Putins Russland selbst geschaffen. Sukzessive, zielstrebig, über mehrere Jahre (dieser Text erscheint übrigens am Jahrestag der Rückkehr einer gewissen Halbinsel in den Heimathafen, herzlichen Glückwunsch, liebe russische Staatsbürger). Das heißt, es ist angemessener, nicht von „Isolation“, sondern von „Selbstisolation“ zu sprechen. Die russische Föderation hat auf internationaler Ebene die Praxis der Selbstisolation eingeführt.

    Anfänglich sah es wie eine „Gefechtsaufklärung“ aus, oder sogar, ich bitte um Entschuldigung, wie ein Test: Wenn wir den Westen hier anpieksen, wie wird er reagieren? Und hier? Aber mit der Zeit entwickelte sich dies zu einer Praxis, die vor allem für den internen Gebrauch notwendig war.
    Normale Beziehungen zum „kollektiven Westen“ werden sich nicht mehr herstellen lassen, immer weniger sind die dortigen Politiker bereit, in Putin einen verhandlungsfähigen Partner zu sehen (ich nehme übrigens an, dass Biden etwas Derartiges meinte, falls seine Bemerkung überhaupt irgendeinen Sinn hatte). Denn Putin ist Russland – denken Sie an die oben angeführten Sieger-Zitate im Wettkampf um die Liebe zum Präsidenten. Man kann ihn nicht ausklammern, und man kann auch Russland nicht gänzlich aus dem internationalen Leben streichen – letztendlich ist es zu groß, zu reich an immer noch wichtigen fossilen Brennstoffen und zu gefährlich. Also wird man es zähneknirschend ertragen. Wohin auch mit ihm – der Erdball ist klein.

    Und wenn das nunmal so ist, dann kann man dem Westen ganz unverblümt Gopnik-Streiche spielen und jeden seiner Versuche, darauf zu reagieren, zum eigenen Vorteil wenden.

    Konflikt als Strategie

    Sanktionen erfreuen die russische Führung immer weniger, aber sie bringen sie nicht um (auch künftig nicht, das ist ebenfalls klar). Also ist für die innere Ordnung jede Verschärfung der Beziehungen zur Welt ein Geschenk. Worte sind hier noch willkommener als Taten. Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen! Und zwar hier in Russland, wenn es um die Aufgabe des Machterhalts geht.

    Andere Aufgaben gibt es schon lange nicht mehr und seit die Bürger der Verfassungsänderung bei der Abstimmung an frischer Luft auf Baumstümpfen zugestimmt haben, wird nicht einmal mehr sonderlich versucht, diese Tatsache zu verbergen.

    Erheben die verdammten Russophoben jenseits des Ozeans etwa ihre Köpfe? Wagen sie es, unseren Wladimir, die Rote Sonne, zu beleidigen? Wie bitte? Auf die unverschämten Machenschaften des Buchhalters Kukuschkind werden wir, die Russen, antworten wie aus einem Mund: Rückt nahe zusammen! Schließt die Reihen! Der Feind steht vor der Tür!

    Biden hat Putin Killer genannt – nun, dann hat er ihn eben so genannt – wie viele Vorteile lassen sich doch daraus ziehen!

    Doch der eigentliche Feind des Regimes ist die eigene Bevölkerung. Deren Maß an Geduld ist zwar riesig, aber vermutlich doch nicht grenzenlos. Gegen ihre (hypothetischen) Einmischungsversuche in die Politik gilt es sich zu schützen. Mit einem Regime der Selbstisolation auf internationaler Ebene lässt sich die Notwendigkeit solcher Schutzmaßnahmen wunderbar rechtfertigen:

    All die endlosen Kommissionen, die „den Tatbestand ausländischer Einmischung untersuchen“, die Strafgesetze für ausländische Agenten, die Geschichten über eine internationale Verschwörung gegen Russland, das Einimpfen von Hass gegen die Welt über die staatlichen Fernsehsender ist nicht etwa deshalb nötig, weil die derzeitige russische Führung tatsächlich Angst vor einer Bedrohung durch den „kollektiven“ (das heißt fiktiven) Westen hat.

    Wobei es natürlich sein kann, dass sie mittlerweile tatsächlich Angst hat. Es spricht viel dafür, dass unsere Politiker, angefangen beim obersten Führer, irgendwann begonnen haben, an ihre eigene Propaganda zu glauben. Aber das ist nicht das Entscheidende.

    Das Entscheidende ist, dass es in einem Regime, das sich in internationaler Selbstisolaton befindet, leicht ist, jeden internen Kritiker zu einem Handlanger des Westens zu erklären, ihm seine Selbstbestimmung abzusprechen und ihn nicht (nur) zum Feind, sondern schlimmer noch, zum Komplizen des Feindes, zum Verräter zu machen. Ein Krieg vereinfacht das Weltbild stark, und ob tatsächlich Krieg herrscht, spielt im Endeffekt keine Rolle.

    Wenn du aber daran zweifelst, dass Krieg herrscht, heißt das, du bist ein feindlicher Agent.

    Der Leere entgegen

    Sinnvoller als darüber nachzudenken, wie sich Bidens kurze Bemerkung auf die russisch-amerikanischen Beziehungen auswirken werden, scheint es daher, sich Gedanken zu machen, was das Regime in seiner Selbstisolation auf internationaler Bühne der einfachen russischen Bevölkerung bereits (ein)gebracht hat und noch einbringen wird.

    Und hier liegen die Dinge sehr einfach. Es bedeutet, dass ein Russe, der von einem Polizisten zusammengeschlagen wurde (weil er Parolen gerufen hat, einen falschen Gesichtsausdruck hatte oder dem Polizisten zufällig seine Brieftasche gefiel) sich vom Vorsitzenden des Rats für Menschenrechte eine erbauliche Rede darüber anhören darf, wie wichtig es ist, unsere Sicherheitsbeamten zu unterstützen, die uns vor Terroristen und Verschwörern schützen. Das ist alles, was er zu hören bekommt, denn die wirklichen Menschenrechtsverteidiger haben immer weniger Raum zu überleben.

    Es bedeutet, dass es keine unabhängigen NGOs mehr geben wird, die die Wahlen verfolgen, Diabetikern helfen oder sich um obdachlose Katzen kümmern. Und es wird auch keine unabhängigen Aufklärungskampagnen mehr geben (die sowieso schon faktisch verboten sind).

    Es wird auch keine unabhängigen Medien mehr geben. Wenn sogar die Verfassung auf Bitten der Werktätigen hin geändert werden kann, warum sollte dann nicht auch eine Zeitung auf den Wunsch der Männer des Achmat-Kadyrow-Regiments geschlossen werden können? Und so wird es weitergehen.

    Für den Streit der Herren, die die Welt regieren, muss immer der Knecht seinen Kopf hinhalten.

    PS: Die Praxis der Selbstisolation ist durchaus wirksam, wir sind leider Zeugen davon. Ganz ohne Makel ist sie jedoch nicht: Unweigerlich wird der Moment kommen, da der Verweis auf die Machenschaften ausländischer Feinde und ihrer hiesigen Mitläufer nicht mehr als Antwort auf jede beliebige Frage ausreichen wird, schon gar nicht auf die einfachen. Also nicht die Fragen zu Wahlen und anderen komplizierten Angelegenheiten, sondern nach den Preisen in den Läden.

    Die Zerstörung jeglicher wirklicher Kommunikationskanäle mit der Gesellschaft ist kein Weg zur Stabilität, sondern zu einer Explosion. Aber erstens kann es ein langer Weg sein und zweitens gibt es keine Garantie, dass nach der Explosion auf den Trümmern der Autokratie von selbst ein wunderschönes Russland der Zukunft erwächst. Nach einer Explosion ist da normalerweise erstmal ein Krater. Ein Loch.

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  • Schluss mit lustig

    Schluss mit lustig

    Nur einen Tag nach der Verurteilung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, nach zahlreichen Festnahmen, Hausarresten und eingeleiteten Strafverfahren kommt das nächste Urteil: Der Journalist Sergej Smirnow muss 25 Tage in Haft. Er habe am 20. Januar mit einem Retweet gegen das Protestgesetz verstoßen.

    Sergej Smirnow ist Chefredakteur des Online-Portals Mediazona. Es wurde von den Pussy-Riot-Mitgliedern Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina nach deren Haft ins Leben gerufen und legt in seiner Berichterstattung den Fokus auf das russische Straf- und Justizwesen.

    Das Urteil gegen Smirnow nur einen Tag nach dem Prozess gegen Nawalny hat gerade in der liberalen Szene Russlands für Aufruhr gesorgt. Was es mit Tweet und Urteil auf sich hat – das kommentiert der Republic-Kolumnist Iwan Dawydow auf Facebook:

     Links der verwechselte Smirnow, rechts der tatsächliche Rapper Oxxxymiron  – Tweet  „Zur Frage nach den führenden Köpfen bei den Protesten. Dieses erbärmliche Geschöpf heißt Oxxxymiron.“ /  Screenshot @eskovoroda/Twitter / Foto © Igor Klepnew/flickr
    Links der verwechselte Smirnow, rechts der tatsächliche Rapper Oxxxymiron – Tweet „Zur Frage nach den führenden Köpfen bei den Protesten. Dieses erbärmliche Geschöpf heißt Oxxxymiron.“ / Screenshot @eskovoroda/Twitter / Foto © Igor Klepnew/flickr

    Irgendwann einst, vor langer Zeit, nach einer der vielen Protestaktionen hat ein putinfreundlicher Mitbürger ein Foto von Smirnow ins Netz gestellt mit dem Kommentar: „Dieses erbärmliche Geschöpf heißt Oxxxymiron.“ Der Mann hatte keinen Witz gemacht – die sind alle im Krieg, da gibts keine Witze –, sondern einfach zwei berühmte Menschen verwechselt, die an der Protestaktion teilgenommen hatten: den Hiphopper Oxxxymiron und Mediazona-Chefredakteur Sergej Smirnow.
     

    Aber Smirnows Freunde hatten es natürlich nicht vergessen, und Witze über Leute, die Smirnow auch nur irgendwie ähneln (was, entschuldigt bitte, meistens einfach Leute mit Glatze sind), wurden in ihrem Bekanntenkreis zur Regel. Sergej wurde getagged, und Sergej hat die Witze blind retweetet.

    Im Vorfeld des 23. Januar hat der Leadsänger der Punkband Tarakany (dt. Kakerlaken) Dimitri Spirin ein Foto veröffentlicht mit dem Logo „Nawalnys Team“ und der Aufschrift „Dimitri Spirin für Nawalny, 23. Januar, 14.00.“ 

    Mit etwas Mühe kann man erkennen, dass sich Spirin und Smirnow irgendwie ähneln. Der Twitter-User nemozhnya (ich weiß nicht, wer das ist) hat es jedenfalls erkannt. Und hat Spirins Tweet mit einem Kommentar retweetet: „Seit wann ist Smirnow denn bei der Moskauer Band Tarakany? Und sagt gar nichts über Mediazona, und die Unterschrift ist so merkwürdig – ‚Dimitri Spirin‘“. Aus guter alter Gewohnheit hat Smirnow den Witz retweetet.

    Und ab da ist Schluss mit lustig. Erst gab es eine Hausdurchsuchung bei Sergejs Mutter (unter seiner Meldeadresse, wo er schon lange nicht mehr wohnt). Die Durchsuchung dauerte vier Stunden, die Mutter durfte währenddessen niemanden anrufen und fühlte sich danach, gelinde gesagt, nicht so gut.  

    Danach wurde Smirnow selbst festgenommen. Auf der Straße, als er mit seinem kleinen Sohn unterwegs war. Die Einsatzkräfte wollten nicht warten, bis Smirnows Frau runterkommt und den Sohn abholt (in den Kommentaren unten wird übrigens eine weniger kannibalische Version angeführt). Zum Glück hatte sich Sergej draußen gerade mit einem Kollegen getroffen, der den Jungen dann nach Hause brachte.

    Auf der Polizeiwache stellte sich dann heraus, dass man Smirnow bestrafen wolle wegen „Aufrufs zur Teilnahme an einer nicht-genehmigten Demonstration am 23. Januar“. Seine Freunde haben ganz Twitter durchwühlt und fanden genau einen Tweet, der vor dem 23. geschrieben wurde und zumindest irgendeine Verbindung zu den Ereignissen hatte: „Am 23. Januar werden in Moskau etwa Null Grad.“ Auf der Demo war Sergej gar nicht, er hat die Arbeit seiner Korrespondenten koordiniert. Denn Arbeit gab es an dem Tag für Mediazona natürlich genug. 

    Es gab auch noch andere Versionen, doch dann trat der Ermittler in Erscheinung und es wurde klar, dass man Smirnow ausgerechnet für den Retweet des fremden Scherzes vor Gericht bringen wollte. Sie wollten ihn bis zur Verhandlung auf der Wache behalten, doch weil es in den Medien und Sozialen Netzwerken ordentlich Lärm gab, hat man ihn unter der Bedingung entlassen, dass er zum Gerichtstermin erscheint.

    Heute [am 3. Februar – dek] war der Prozess. 25 Tage Haft.

    Ich denke, dass diese Geschichte – und es geht hier nicht um Ausmaß oder Bedeutung, sondern nur um die Anschaulichkeit – sogar mehr über den Wahnsinn aussagt, dem der Staat verfallen ist, als der Prozess gegen Nawalny. 

    Sergej Smirnow gehört natürlich freigelassen. Wie auch alle anderen politischen Häftlinge.
     

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  • Corona-Wörterbuch

    Corona-Wörterbuch

    Sprache schafft Welt. Sie reagiert aber auch auf das, was in der Welt passiert, gewöhnliche Wörter ändern ihre Bedeutung, neue Wörter entstehen.
    Oder: Über das Lustige im Schlimmen. Ein Corona-Wörterbuch von Republic (in Auszügen).

    „Die Sprache ist das Haus des Seins“, sagte einmal ein deutscher Denker mit nicht lupenreinem Lebenslauf. Und ungeachtet dieses nicht lupenreinen Lebenslaufs hatte er damit ganz sicher recht. Unsere Welt lebt in Sprache – wir sehen nicht die Welt, wir sehen die Welt, wie sie sich in Sprache widerspiegelt. Die Sprache ist lebendig, sie reagiert auf das, was in der Welt passiert, gewöhnliche Wörter ändern ihre Bedeutung, neue Wörter entstehen. 

    Das Lustige im Schlimmen

    Beobachtet man das, versteht man erstens ein bisschen mehr von dem, was um einen herum passiert. Zumindest gibt es diese Illusion – und die Illusion von Kontrolle ist an Wichtigkeit nicht zu unterschätzen: Sie kann zerrüttete Nerven beruhigen.
    Und zweitens ist es durchaus unterhaltsam. Klar, es ist nicht zum Lachen, was hier gerade mit uns passiert. Das vergessen wir auch nicht, aber ein bisschen zu lachen ist doch keine Sünde. Es ist sogar gesund, im Schlimmen das Lustige zu sehen.

    Die Sprache schafft neue Mythen, die Mythen verstecken sich hinter den Wörtern, von denen einige wichtig sind für den Staat (offiziell, kurz: offiz.), andere entstehen ohne staatliche Beteiligung (Volksmund, kurz: volksm.). Wir werden das jeweils kennzeichnen.


    Abstimmung über die Verfassungs­änderungen (offiz.): Ist das Wichtigste, was für jeden ehrlichen russischen Bürger direkt nach dem Sieg über die Pandemie ansteht. In vielerlei Hinsicht ist die heutige Not der Russen gerade damit verbunden, dass die Russen es nicht rechtzeitig geschafft haben, über die Verfassungs­änderungen abzustimmen. Die Abstimmung wird das Land in Zukunft vor allen erdenklichen Viren schützen, den Feind daran hindern, unsere Geschichte umzuschreiben, die russische Sprache retten, die traditionelle Ehe, das historische Gedächtnis und die schlimmste unerträglichste Katastrophe verhindern: Nach der Abstimmung wird der beste Freund aller Sportler, der Schrecken aller polnischen Revisionisten, der Verfolger amerikanischer Hardliner, der große Historiker, Denker, Stratege und kurz vor der Ziellinie stehende Sieger über den Coronavirus Putin, Wladimir Russland nicht einfach seinem Schicksal und der Willkür überlassen können, selbst wenn er wollte. Und er will das ja gar nicht.

    Arbeitsfreie Wochen (offiz.): Glückliche Zeit, in der die Russen (s. Schaschlitsch­niki) nichts machen und die unverdiente Erholung genießen, Putins Fernseh­ansprache an die Nation anschauen, sich an seinem Heroismus und seiner Weisheit erfreuen und sich auch auf die Abstimmung über die Verfassungs­änderungen vorbereiten (s. Putin, Wladimir; Abstimmung über die Verfassungs­änderungen).

    Buchweizen (volksm.): Universeller Marker, anhand dessen abzulesen ist, dass das Land in Not ist, da die Russen (s. Schaschlitschniki) beim Herannahen schwerer Zeiten als erstes anfangen, in riesigen Mengen Buchweizen zu kaufen, auch wenn sie dieses Getreide bislang nicht konsumiert haben. 

    Bunker (volksm.): Gebräuchliche Bezeichnung für den Aufenthaltsort des moralischen Leaders der Nation (s. Putin, Wladimir).

    Gates, Bill (volksm.): Ein heimtückischer Amerikaner, der sich eine weltum­spannende Mikrochip­implantation ausgedacht hat, unter dem Deckmäntelchen einer Impfung gegen den neuen Virus. Seine Ziele sind unklar, aber widerwärtig (s. Gref, German).

    Geld (offiz.): Bedingungsloses Staatseigentum. Darf nicht an die Bevölkerung (s. Schaschlitschniki) verteilt werden – in welcher Form auch immer. Das Verteilen von Geld kann Menschen, die arbeitsfreie Wochen genießen, pervertieren (s. arbeitsfreie Wochen). „Die verfressen das Geld einfach“, wie Xenia Sobtschak richtig feststellte.

    Gref, German: Helfershelfer von Bill Gates in Russland (s. Gates, Bill).

    Hilfspaket (offiz.): Ephemere Substanz, von der den ignoranten Russen (s. Schaschlitschniki) erzählt wird, um direkte Finanzhilfen zu ersetzen (s. Geld).

    Hund (volksm.): Mittel zur legalen Fortbewegung in der Stadt während der Selbstisolation (s. Selbstisolation); kann unter glücklichen Umständen den Sobjauswais (s. Sobjauswais) ersetzen; bellt lustig, macht Dummheiten, versüßt das Leben ein wenig. 

    Impfung
    1. (offiz.): Erinnert an den Ausdruck „Wladimir Putin verpflichtet Schulen, den Schülern Patriotismus einzuimpfen“ (s. Putin, Wladimir; Bunker).
    2. (volksm.): Ein Mittel, durch das Agenten der Weltregierung der Bevölkerung Mikrochips implantieren. Deren Absichten sind unklar, jedoch abscheulich (s. Gates, Bill; Gref, German).

    Ingwer (volksm.): Gerüchten aus den ersten arbeitsfreien Wochen zufolge ein Lebensmittel mit Wundereigenschaften. Schützt demnach vor Coronavirus und Chip-Impfungen. War einige Zeit lang ein größeres Defizit als Buchweizen, verlor jedoch später an Wert (s. arbeitsfreie Wochen; Buchweizen). 

    Lukaschenko, Alexander (offiz.): Mutiger Präsident eines Nachbarstaates, spuckt dem Coronavirus ins Gesicht, ungeachtet dessen, dass der Coronavirus gar kein Gesicht hat. Außerdem Autor feuriger Reden und unwiderstehlicher Aphorismen. Virologe ersten Ranges (s. Virologe), der neue Therapien gegen Covid-19 entwickelt hat, darunter Wodka, Banja, Feldarbeit und Fahrradfahren. Hat eine Parade abgehalten (s. Parade).

    Maske (offiz.): Wichtigstes Modeaccessoir. Schützt vor Strafe (s. Strafe), aber nicht immer. Bei Masken- und Handschuhpflicht ohne Handschuhe nutzlos.

    Moskauer (volksm.): Infektionsquelle. Moskauer – ab mit euch in die Quarantäne (s. Quarantäne)!

    Parade (volksm., hurra-patriot.): Größte Leistung von Alexander Lukaschenko (s. Lukaschenko, Alexander) im Kampf gegen den Coronavirus. Nach Aussage Lukaschenkos sind Lungenerkrankungen in der Republik Belarus nach Durchführung der Parade deutlich zurückgegangen.

    Peskow, Dimitri (offiz.): Hervorragender Staatsmann, Pressesprecher des moralischen Leaders der Nation (s. Putin, Wladimir; Bunker). Trug als erster öffentlich ein Amulett zur Abschreckung des Coronavirus. Wurde Opfer einer Hetzkampagne liberaler Journalisten, woraufhin er das Amulett ablegte und erkrankte. Gute Besserung, Dimitri Peskow!

    (Für alle Fälle – und hierin liegt keinerlei Ironie! Mögen alle Erkrankten schnell genesen, ganz gleich, was wir derzeit über ihre vielfältigen Verdienste denken.)

    Putin, Wladimir
    1. (offiz.): Moralischer Leader der Nation. Er hat den Kampf gegen die Pandemie bereits vor ihrem Ausbruch unter Kontrolle gebracht; ist der beste Freund aller Sportler, der Schrecken aller polnischen Revisionisten, der Verfolger amerikanischer Hardliner, das Grauen der tschechischen Revanchisten, der große Historiker, Denker, Stratege. Autor und Interpret herzbewegender Reden, die den Russen halfen, durch Schwermut und Verzagtheit während der arbeitsfreien Wochen zu kommen und sich auf die Abstimmung über die Verfassungs­änderungen vorzubereiten (s. arbeitsfreie Wochen; Abstimmung über die Verfassungs­änderungen). Sieger über den Coronavirus kurz vor der Ziellinie.
    2. (volksm.): Älterer Herr aus der Risikogruppe, der sich im Bunker versteckt. Hat die Videotelefonie für sich entdeckt, woraufhin er ermüdende Erzählungen über die eigenen Errungenschaften verbreitete; irrlichtert in seinen Aussagen, erinnert sich, wie er die Petschenegen, Polowzer und Spartaner besiegt hat; will kein Geld geben (s. Geld).

    Quarantäne (offiz.): Quarantäne gibt es in Russland nicht! Arbeitsfreie Wochen gibt es (s. arbeitsfreie Wochen).

    Selbstisolation (offiz.): Völlig freiwilliges Zuhausebleiben während der arbeitsfreien Wochen (s. arbeitsfreie Wochen). Verstöße gegen die völlig freiwillige Selbstisolation werden mit Strafen geahndet (s. Strafe; Quarantäne).

    Schaschlik (offiz.): Objekt religiöser Verehrung der Schaschlitsch­niki (s. Schaschlitschniki). Beobachtungen von Beamten aus der Moskauer Stadtverwaltung zufolge grillen die Schaschlitschniki besonders aktiv, wenn es draußen kalt ist, Regen oder Schneeregen herrscht.

    Schaschlitschniki (offiz.): Ignorante Russen, die ihre arbeitsfreien Wochen nicht genießen können (s. arbeitsfreie Wochen), den Sinn der weisen Reden des moralischen Leaders der Nation (s. Putin, Wladimir) nicht verstehen und die Gebote der Selbstisolation (s. Selbstisolation) missachten. Breiter gefasst: die gesamte Bevölkerung der Russischen Föderation, denn gerade die Bevölkerung stört durch ihre bloße Existenz die Staatsmacht beim Besiegen der Pandemie (s. Schaschlik).

    Sobjanin, Sergej
    1. (offiz.): Hervorragender Staatsmann, Bürgermeister von Moskau, Berater Putins (s. Putin, Wladimir) im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Verfasser weiser Beschränkungen, welche die Sorge der Staatsmacht für ihr Volk (s. Schaschlitschnniki) demonstrieren.
    2. (volksm.): Erbauer eines digitalen KZs in Moskau; Urheber unerklärlicher Verbote, Schirmherr des Polizeistaates; Erfinder des Sobjauswaises (s. Sobjauswais); Mensch, der Putin auf den zweiten Platz gerückt hat (s. Putin, Wladimir).

    Sobjauswais (volksm.): Erlaubnis, die Moskauer von Sobjanin erhalten müssen, um öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder zur Arbeit zu fahren; Symbol uneingeschränkter Macht über den Moskauer (s. Moskauer; Sobjanin, Sergej; Hund).

    Strafe (offiz.): Hauptsäule der neuen russischen Wirtschaft; Tätigkeit, die ein Abpressen von Geld aus der Bevölkerung (s. Schaschlitschniki) ermöglicht – während der Ölpreis signifikant sinkt.

    Statistik (offiz.): Zahlen, die beweisen, dass sich in Russland selbst das Coronavirus dem moralischen Leader der Nation unterordnet und versteht, wie wichtig die Abstimmung über die Verfassungs­änderungen ist (s. Putin, Wladimir; Bunker; Abstimmung über die Verfassungs­änderungen).

    Virologe (volksm.): Der häufigste Beruf unter den Nutzern Sozialer Netzwerke. Eine spezielle Ausbildung ist nicht vonnöten. Kenntnisse in russischer Rechtschreibung und Grammatik sind nicht vonnöten. Der Beruf als Virologe ermöglicht kategorische Aussagen über die Gefährlichkeit des Virus, den Verlauf der Epidemie, die richtigen Methoden der Bekämpfung und die Zuverlässigkeit offizieller Statistiken. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es in Russland sogar mehr Virologen als Politikexperten und weitaus mehr Virologen als Menschen, die wissen, wie man die Nationalelf richtig trainiert.

    Wolken (offiz.): Erfüllen in Moskau die Rolle der Opposition. Da man in Moskau keine Opposition auseinandertreiben kann, da es sie nicht gibt, werden die Wolken auseinandergetrieben. Wolken auseinanderzutreiben ist einfacher und lohnt sich mehr.  

    Zoom (volksm.): Programm, mit dem Russen in der Selbstisolation (s. Schaschlitschniki; Selbstisolation) ihr Bildungslevel steigern und wichtige Zusammenkünfte abhalten. So zumindest stellt es sich in Legenden dar, die die Russen einander beim gemeinsamen Genuss alkoholischer Getränke per Zoom erzählen.

    Zweite Welle (offiz.): Ein neuer Angriff des Virus, vor dem der moralische Leader der Nation die Russen aufrichtig gewarnt hat. Doch selbst der Virus versteht die politische Dimension der Situation, darum wird zwischen der ersten und der zweiten Welle eine Pause gemacht, um die Abstimmung über die Verfassungs­änderungen abzuhalten (s. Abstimmung über die Verfassungs­änderungen; Putin, Wladimir; Bunker). 

     

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  • „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    „Ostarbeitery“ – Warum wir uns erinnern müssen

    Das Schicksal der sogenannten „Ostarbeiter“ ist auch in Russland kaum bekannt. Rund drei Millionen sowjetische Zivilisten waren während des Zweiten Weltkriegs als sogenannte „Ostarbeiter“ zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich eingesetzt. Darunter auch viele Frauen und Jugendliche. Nach dem Krieg stellte die Sowjetregierung sie unter pauschalen Verratsverdacht, einige kamen in Lager nach Sibirien. Ihr Schicksal blieb auch nach ihrer Rückkehr ein Stigma und Tabu. Trotz langsamer Aufarbeitung – vor allem durch die Menschenrechtsorganisation Memorial – wissen heute oft nicht mal die Enkel und Urenkel davon, schreibt Iwan Dawydow in seinem Text auf Republic. Dabei braucht Russland diese Erinnerung, meint Dawydow, um vom verlogenen Kitsch im offiziellen Kriegsgedenken wegzukommen. 

    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0
    Eine Minderheit ging freiwillig, die Mehrheit wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.0

    Es ist, als hätte es sie nie gegeben. Dabei ist das, was ihnen geschehen ist, im Schuldspruch der Nürnberger Prozesse zusammen mit den anderen Nazi-Verbrechen genannt. Mehrere Millionen Menschen wurden aus der offiziellen Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges einfach gestrichen. In ihrer Heimat betrachtete man sie nicht als Opfer: Einige kamen nach der Befreiung in [sowjetische – dek] Lager, manche kamen dort um, anderen wurde verboten, in den Großstädten zu leben und die Möglichkeit geraubt, eine angemessene Arbeit auszuüben. Sie lebten mit einem Gefühl der Schuld vor dem sowjetischen Staat, verbrannten Briefe und Postkarten, erzählten nicht einmal Freunden und Familie von dem, was sie im Krieg erlebt hatten.

    Ein Gefühl der Schuld vor dem Staat

    Ende der 1980er erinnerte man sich kurz an sie, als in Deutschland Entschädigungszahlungen diskutiert wurden, dann hat man sie wieder vergessen. Auf das Abstellgleis der Geschichte gedrängt, um ihre letzten Jahre zu fristen – ohne Hilfen, mit einem unveränderten Schuldgefühl. Kein Enkel oder Urenkel geht mit ihren Portraits zum Marsch des Unsterblichen Regiments. Oft wissen die Enkel und Urenkel nicht einmal etwas von dem tragischen Schicksal ihrer Großeltern.

    Unter den unzähligen Büchern über den Krieg, die in der Sowjetunion erschienen sind, findet sich eins (eins!), das ihrem Schicksal gewidmet ist und wie durch ein Wunder durch die Zensur der ruhigen 1970er gekommen ist: Vitalij Sjomins Roman Zum Unterschied ein Zeichen

    Nicht einmal die Enkel wissen vom Schicksal ihrer Großeltern

    Einige (die Minderheit) waren freiwillig nach Deutschland gegangen: verwirrt, zermürbt, zunächst vom Kolchose-Paradies des Sowjetstaates, dann von der schnellen Zerschlagung der Roten Armee und der Besatzung [durch die Nazis – dek]. Sie hatten der Nazipropaganda geglaubt, auf ein besseres Leben gehofft. Andere (die überwältigende Mehrheit) waren einfach zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt worden, wie Sklaven, wie Vieh. 

    Sie passten weder in den sowjetischen noch in den derzeitigen russischen Kriegsmythos. Keine Siege, keine Heldentaten und obendrein Arbeit für den Feind.

    Das Erinnern begann mit einem Missverständnis

    2016 hat die Organisation Memorial den Sammelband Das Zeichen bleibt herausgegeben: Auszüge aus Erinnerungen, Interviews und Briefen der ehemaligen Ostarbeiter. Die Auflage betrug 1000 Exemplare – ein Sammlerstück. 1989 war nämlich einem Journalisten, als er über die Debatte in Deutschland um die Entschädigungszahlungen für ehemalige Ostarbeiter berichtete, eine ungenaue Formulierung unterlaufen. Und dadurch hatten die Überlebenden fälschlicherweise angenommen, Memorial sei jene Organisation, die für die Auszahlungen zuständig sein würde: Sie überhäuften das Moskauer Büro mit Berichten darüber, was sie erlebt hatten. 

    So begann die systematische Erforschung ihrer Geschichten, so gelang es auch, die lebendige Erinnerung an die Schicksale von Millionen Kriegsopfern zu bewahren, die keinen Platz im offiziellen Diskurs finden, an Menschen, derer am Tag des Sieges nicht gedacht wird und die man auch sonst zu vergessen versucht. Heute gibt es bekanntermaßen immer weniger Zeitzeugen, und es erscheinen immer weniger Bücher zu diesem Thema.

    Von 1942 und noch bis 1945 wurden massenhaft Menschen in Zügen nach Deutschland gebracht. Die meisten kamen in Zwangsarbeitslager, die an staatliche oder private Fabriken angegliedert waren. Das bedeutete zwölf Stunden Arbeit täglich, Hunger, brutale Strafen und die drohende Gefahr, beim nächsten Fehler vom Arbeitslager ins KZ zu kommen, sprich den sicheren Tod. Andere kamen als Halbsklaven auf Bauernhöfe oder als Bedienstete in die Häuser deutscher Bildungsbürger: Offiziere, Ingenieure oder gar Wissenschaftler.

    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0
    Zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt – auch zur Arbeit in den Haushalten deutscher Bildungsbürger / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-2007-0618-500 / CC-BY-SA 3.0

    In den von Memorial veröffentlichten Erinnerungen gibt es auch seltene Beispiele eines menschlichen Umgangs zwischen den Ostarbeitern und ihren Herren, Geschichten von Freundschaft und sogar Liebe. Aber es überwiegen natürlich ganz andere Schicksale. 
    Die Begegnung mit Europa erschütterte unsere Landsleute: Sie sahen, dass das Leben auch anders sein konnte, dass die unmenschlichen Verhältnisse von Stalins Paradies alles andere als normal waren. Viele schickten ihren Verwandten Ansichtskarten von den Orten, in denen sie gelandet waren: hübsche einstöckige Reihenhäuser aus Backstein, ordentliche Kirchen. „Das hier, Schwesterchen, ist das Dorf, in dem ich jetzt wohne“, darin ist eine Verwunderung spürbar, aber auch ein naiver Stolz. Sie wunderten sich darüber, wie gut selbst die normalen Leute angezogen waren, wie viele verschiedene Lebensmittel es in den Geschäften gab.

    Am meisten wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten

    Ja, ihnen war erlaubt, Briefe in die Heimat zu schreiben und sogar Päckchen zu erhalten. Ein paar Wohltaten sah die deutsche Ordnung auch für die Sklaven vor. 

    Aber noch mehr wunderten sie sich darüber, dass diese gepflegten Leute aus den hübschen Häusern sie nicht als Menschen betrachteten. Man suchte sie sich aus wie auf dem Sklavenmarkt und behandelte sie danach wie Nutzvieh. Das taten sogar die, die in ihren Bücherregalen russische Klassiker mit Goldeinband stehen hatten. Das nette, behagliche Europa konnte in den Russen, Ukrainern und Belarussen keine Brüder erkennen.

    Zerstörte Biographien, Jahrzehnte des Schweigens

    Sie fanden sich in dem neuen Alptraum zurecht, entwickelten Überlebensstrategien und überlebten. Dann kam die Befreiung. Filtrationslager, unendliche Loyalitäts- und Gesinnungs-Prüfungen, für viele folgten Deportation und Zwangsarbeit beim Wiederaufbau der Sowjetwirtschaft, für einige der Gulag. Feiste Prüfer von den Behörden, zerstörte Biografien, nicht zu tilgende Schuldgefühle, Jahrzehnte des Schweigens. Verbrannte Briefe und Ansichtskarten von hübschen deutschen Dörfchen.

    Die Heimat sah einen Feind in den eigenen Bürgern, die einige Jahre lang die Sklaven des Feindes gewesen waren.

    „Wissen Sie, es ist sehr schwer das aus seiner Psyche zu bekommen. Man hat mir eingebläut, ich wäre schuldig, und damit lebe ich bis heute. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich unschuldig bin, nein. An irgendetwas bin ich schuld. Also lebe ich mit dieser Schuld“, erzählte eine ehemalige Zwangsarbeiterin, die ein deutsches Lager überlebt hat, in einem Interview mit Memorial.

    In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer

    Es ist sinnlos und peinlich darüber nachzudenken, ob das Leid der Ostarbeiter vergleichbar ist mit dem Leid der Soldaten im Krieg, der Menschen, die in den besetzten Gebieten geblieben sind oder sogar der Menschen, die im sowjetischen Hinterland gearbeitet und um ihr Überleben gekämpft haben. In diesem Krieg sind alle Sieger auch Opfer.

    Doch sogar heute, Jahrzehnte später, sind nicht alle Opfer gleich. Die einen werden für ihre Heldentaten geehrt (wobei die Heldentaten nicht selten erfunden und mit geschmacklosem Kitsch aus Propagandafilmen garniert werden, als gäbe es nicht genug echte Heldentaten), über die anderen schweigt man lieber.

    Dabei sind die Geschichten der Ostarbeiter ein ausgesprochen wichtiges Material, um eine richtige Vorstellung von jenem Krieg zu entwickeln. Der Krieg ist die Hölle, eine Wirklichkeit gewordene Hölle auf Erden, wo der Mensch oft nicht mehr über sich selbst bestimmt, wo Tod und Unfreiheit regieren. Die Lebensläufe der nach Deutschland verschleppten Menschen nach dem Krieg sind eine gute Möglichkeit zu verstehen, sich zu erinnern, den jungen und alten Sowjetnostalgikern einzuhämmern, was die Sowjetunion für ihre Bürger wirklich war. Es ist wichtig, sich an Menschen zu erinnern, die es verdienen, die die Not und das Elend des Kriegs überlebt haben – wenn auch an andere, als die offiziellen Mythenschreiber sie besingen, und anders als die Mythenschreiber es gern hätten. Sich an alle zu erinnern, ausnahmslos. Und endlich aufzuhören „die größte geopolitische Katastrophe“ zu beweinen. 

    Wir haben die Freiheit verteidigt. Zu schade, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben

    Der Tag des Sieges gehört zu unseren positivsten Feiertagen, der Tag des Sieges ist wie Ostern. Nicht weil „wir“ es der Welt gezeigt hätten, weil „wir“ ganz Europa zerschmettert hätten – oder was steht da sonst noch auf dem Themenplan der Internet-Patrioten? Nein, weil wir damals gemeinsam mit dem Rest der Welt das größte Ungeheuer des 20. Jahrhunderts bezwungen haben, uns auf die Seite der Freiheit gestellt und diese Freiheit mit unvorstellbaren Opfern verteidigt haben. Zu schade nur, dass wir sie nicht für uns verteidigt haben, wie sich dann bald herausstellte. 

    Ein ehrliches Gespräch über den Krieg schmälert den Sieg nicht. Eben das tut der verlogene Kitsch, der das Grauen in ein Postkartenmotiv verwandelt und das Andenken an die Opfer beleidigt. Deswegen brauchen wir die Erinnerung an die Millionen Menschen, die nach Deutschland verschleppt wurden, die Erinnerung daran, was ihnen erst die intelligenten Europäer und später die gutherzigen Sowjetbeamten angetan haben. Wir brauchen sie heute. 

    Sie ist (um das Thema wieder aufzugreifen) eine gute Impfung gegen die Krankheit, die wir heute kennen als ein „Wir können das wiederholen“. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«
    (EVZ)

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  • Auf gut Glück

    Auf gut Glück

    Am Mittwoch, 25. März 2020, hat sich Wladimir Putin in einer Fernsehansprache an die russischen Bürger gewandt – zum ersten Mal seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Nachdem es noch wenige Tage zuvor aus dem Kreml hieß, dass Russland alles unter Kontrolle hat, die offizielle Zahl der Infizierten mit wenigen Hundert sehr niedrig war und die der Corona-Toten lange bei Null lag, kündigte er nun Maßnahmen an: Die Abstimmung über die Verfassungsänderung ist verschoben, die meisten Bürger bekommen ab dem 30. März eine arbeitsfreie Woche, mit Lohnfortzahlung.

    Nach der Fernsehansprache Putins beschlossen mehrere Regionen Maßnahmen gegen die Pandemie. Zuvor war vor allem Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin mit einzelnen Beschränkungen vorangegangen. Offiziell gibt es in dem rund 144-Millionen-Einwohner-Land gegenwärtig (Stand: 27. März) 1036 Corona-Infizierte (703 davon in Moskau), drei Menschen sind bislang an den Folgen einer Corona-Infektion verstorben. Staatsnahe Medien vermitteln derzeit den Eindruck, dass ein Ruck durch Russland geht. Iwan Dawydow glaubt dagegen, dass die Maßnahmen in der Gesellschaft eher Verwirrung stiften: Auf The New Times argumentiert der Journalist, dass der Kreml widersprüchliche Signale sendet – und damit Menschenleben riskiert.

    Die Fahrt des Präsidenten ins Infektionskrankenhaus – ein erstes Signal, dass auch in Russland eine echte Gefahr droht? / Foto © kremlin.ru
    Die Fahrt des Präsidenten ins Infektionskrankenhaus – ein erstes Signal, dass auch in Russland eine echte Gefahr droht? / Foto © kremlin.ru

    Nun denn, eine Woche Ferien also – mit Lohnfortzahlung (allem Anschein nach auf Kosten der Arbeitgeber), und als kleiner Trost für die Arbeitgeber Steuervorteile für kleine und mittlere Unternehmen, ein Schuldenmoratorium für das nächste halbe Jahr, Hilfe für Familien mit Kindern, Zahlungen an Veteranen, und die Verschiebung der Abstimmung über die Verfassungsänderung auf unbestimmte Zeit. Das ist der unvollständige Maßnahmenkatalog, den Präsident Wladimir Putin gestern in seiner Ansprache die Bürger genannt hat.

    Aber das Wichtigste an dieser Ansprache waren nicht mal die vorgeschlagenen Maßnahmen, sondern erstens die Tatsache, dass sie stattfand, zweitens ihr Kontext und drittens einige stilistische Besonderheiten am Auftritt des Präsidenten.

    Aufrichtiges Eingeständnis: Die Sache ist ernst

    Die ungeplante Ansprache (erst am Mittwoch wurde bekannt, dass Putin zum Volk sprechen will) ist ein aufrichtiges Eingeständnis: Die Regierung hat beschlossen, ohne Umschweife zu erklären, dass die Sache mit dem Coronavirus sehr ernst ist. Naja, zumindest fast ohne Umschweife. Ziemlich lang sah schließlich alles danach aus, als habe man entschieden zu lügen und zu versuchen, möglichst kein Aufheben darum zu machen – sei es, um Panik zu vermeiden oder um die berüchtigte Abstimmung über die Verfassungsänderung durchzuziehen.

    Es hatte geheißen, man habe eine Rekordzahl an Tests durchgeführt – gar mehr als in allen Ländern Europas zusammengenommen – und es gäbe nur einzelne Infektionsfälle. Allerdings gab es zunächst im ganzen Land nur ein einziges Labor, das die Proben überhaupt auswerten konnte – und zwar in Nowosibirsk.

    Die Stunde des Sergej Sobjanin 

    Die Lage änderte sich erst in den vergangenen eineinhalb Wochen. Die Zahl der offiziell Infizierten schnellte in die Höhe auf einige Hundert. Allerdings hieß es laut offiziellen Daten, dass in ganz Russland niemand am Coronavirus gestorben sei. Es wurde ein Kontrollgremium gebildet, das die Ausbreitung der Infektion überwachen soll und von Sergej Sobjanin geleitet wird. Und außerdem gibt es einen Koordinationsrat der Regierung unter der Leitung von Premier Michail Mischustin. 

    Glaubt man den Gerüchten, ist Sobjanin jetzt der Mann in der Regierung, der den Ernst der Lage besser verstanden hat als alle anderen. Einfach deswegen, weil er nicht zum Sündenbock gemacht werden will, wenn sich alles nach italienischem Szenario entwickelt. Er war es, der beim Treffen mit dem Präsidenten am 24. März erklärte, dass die „Ansteckung hochdynamisch“ verläuft, dass in den Regionen „keiner weiß, wie die Lage wirklich ist“ und die lokalen Behörden einfach keine Ahnung haben, was zu tun ist. Natürlich gewinnt Sobjanin an politischem Gewicht, wenn er als größter Alarmist der Regierung auftritt. Wenn alles vorüber ist, hat er die Chance als einer der einflussreichsten Politiker des Landes dazustehen, der alle Konkurrenten aus Putins engstem Kreis beiseite gedrängt hat.

    Plakative Unbedachtsamkeit

    Die Fahrt des Präsidenten ins Infektionskrankenhaus von Kommunarka am Montag – übrigens, in Begleitung von, genau, Sobjanin – war das erste Signal: Die höchste Staatsspitze ist – endlich – bereit anzuerkennen, dass in Russland, genauso wie in anderen Ländern, eine echte Gefahr droht. Davon schienen auch die Aufnahmen aus dem Krankenhaus zu sprechen: Der Präsident im gelben Schutzanzug (der US-amerikanischen Firma DuPont) hat klar erkannt, was er riskiert, und versucht, die Risiken zu minimieren. 

    Übrigens begrüßte er unmittelbar danach – dann ohne jeglichen Schutz – den Chefarzt der Klinik mit Handschlag. Nachdem alle die Schutzanzüge ausgezogen hatten, trug nur noch einer der hochrangigen Gäste seinen Mundschutz, nämlich der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow. Diese plakative Unbedachtsamkeit, diese Halbherzigkeit ist zentral im Umgang mit Bedrohungen. Ich komme später nochmal darauf zurück.

    Kapitän, der vom Schiff flieht

    Doch zunächst eine weitere kleine Überlegung: Einer der Gründe für seinen Besuch im Krankenhaus könnte die am Vortag auf Telegram und in sozialen Netzwerken verbreitete Meldung gewesen sein, dass Putin angeblich aus Moskau in seine Residenz in Waldai evakuiert wurde, „mit seiner Familie und seinem geliebten Pony“. Es ist natürlich nicht klar, was für eine „Familie“ das ist, aber im Großen und Ganzen sind die Gerüchte ziemlich kränkend: Ein Kapitän, der vom Schiff flieht – das hat Geschmäckle. Der Besuch in Kommunarka war die wirksamste Widerlegung dieser Gerüchte.

    Und am Mittwoch hieß es ausdrücklich: „Als Ergebnis der vielen stundenlangen Sitzungen, die zuvor stattfanden“, musste sich der Leader an das Volk wenden.

    All diese Ereignisse bilden den Kontext der improvisierten Ansprache des Präsidenten an das Volk. Was sind die wichtigsten Schlussfolgerungen daraus? Erstens erkennt der Kreml den Ernst der Lage an. Keiner kann mehr so tun, als würde das globale Unheil Russland verschonen. Im weiteren Verlauf wird es noch schwieriger, und es wird ganz bestimmt nicht nur eine Woche so weitergehen. 

    Keiner kann mehr so tun, als würde das globale Unheil Russland verschonen

    Allein die Ankündigung, dass der Präsident sich an das Volk wenden wird, hat die Öffentlichkeit aufgewühlt. Genauso haben sie auch die Neuigkeit selbst aufgenommen: Es ist alles sehr ernst, und das ist nun auch offiziell. Der Präsident hat sich [mit der Ansprache – dek] traditionsgemäß um mehr als eine Stunde verspätet, was die Nervosität nur steigerte. Putin war in sozialen Netzwerken in und den Medien dafür gescholten worden, dass er keine offizielle Position verkündet hatte, obwohl sich bereits alle europäischen Staats- und Regierungschefs dazu geäußert haben. Wenn er sich nun doch vor die Kameras stellt, dann bedeutet dies, dass Herumdrucksen nicht mehr möglich ist.

    Zweitens geben die Behörden zwar zu, dass die Situation ernst ist, sie scheuen sich aber davor, dies ohne Umschweife zu sagen. Putin wählte äußerst schwammige Formulierungen, um den Grund seiner Ansprache zu verdeutlichen: „Dank der im Vorfeld getroffenen Maßnahmen sind wir noch immer in der Lage, sowohl die weite Streuung als auch die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Krankheit einzudämmen.“ Das Unheil herrscht weiterhin irgendwo da draußen, weit hinter den Grenzen Russlands, wir aber bereiten uns vor und nutzen den Vorsprung. Und selbst die eine Woche Quarantäne nannte der Präsident nicht Quarantäne, sondern Ferien.

    Als ob es bei uns keine Epidemie gäbe, sondern Feiertage. Übrigens, während die Leute auf die Ansprache warteten, sind schon ungeduldige Witze zu diesem Thema aufgetaucht: „Der Präsident im Fernsehen, aber irgendwie kommt keine Silvesterstimmung auf.“

    Zudem ist das auch keine Quarantäne: Schwer vorstellbar, dass die Russen in einer bezahlten Urlaubswoche zu Hause sitzen werden, auch wenn Cafés, Restaurants und andere Vergnügungseinrichtungen geschlossen werden. Die Sonne scheint, das Wetter wird besser, die Leidenschaft für Schaschlik hat noch keiner verboten, und auch die Liebe zur Disziplin hat uns bislang niemand eingeimpft. 

    Um Panik zu vermeiden, sendet der Staat – trotz Eingeständnis der Gefahr – dem Volk weiterhin widersprüchliche Signale. Er setzt weiterhin das Leben der Bevölkerung aufs Spiel und baut dabei auf das „russische gut Glück“ – wovon Putin noch dringlichst abgeraten hatte.

    Und Hand aufs Herz: Wir glauben doch wohl kaum, dass eine strenge Quarantäne po-russki so aussehen wird wie in den Videos aus europäischen Städten. Wohl kaum werden die Nationalgardisten – wie die spanischen Polizisten – improvisierte Konzerte für die Menschen in Quarantäne geben. Aber die Regelbrecher schlagen, einfangen, den Knüppel schwingen – das können sie (zumal sich die Duma gerade jetzt an eine Verschärfung der entsprechenden Gesetze gemacht hat) schon eher.
    Und dann überleg nochmal, was schlimmer ist: die Epidemie oder eine russische Quarantäne, sinnlos und erbarmungslos

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  • Loblied auf die Korruption

    Loblied auf die Korruption

    Ja, klar, sie klauen, aber wenigstens bringen sie keinen um, beziehungsweise manchmal schon, aber das ist nicht ihr Ziel. Und auch uns bleiben ja wiederum ein paar winzige Annehmlichkeiten … 
    Iwan Dawydow auf Republic mit einem (zwiespältigen) Loblied auf die Korruption.

    Einen meiner Bekannten hat das Leben nach England verschlagen. Dass die Russen eine Vorliebe für spitze Türme haben, ist ja allgemein bekannt. Doch sobald sie sich sattgesehen haben, bekommen sie Heimweh – der eine nach Buchweizen, der andere nach Roggenbrot. Auch meinem Bekannten erging es so. Jedes Mal, wenn er in Moskau ist, wird getrunken, klar, und wenn er getrunken hat, fängt er an zu erzählen, wie viel Glück wir doch haben. Und wie wenig wir doch unser Glück zu schätzen wüssten. Wir würden gar nicht begreifen, wie viele Vorteile uns die Korruption beschere. „Hier“, sagt er und kämpft mit den Tränen, „hier fahre ich betrunken über eine durchgezogene Linie, und was passiert? Nichts passiert. Ich zahle und fahre weiter. Aber dort …“ Und in die Tränen mischt sich offener Hass gegenüber diesem „dort“.

    Mit der Rückkehr nach Hause hat er es aber nicht besonders eilig. Er leidet und hält durch. Die Russen leiden gerne, auch das ist allgemein bekannt.

    Im Gefängnis sind noch mehr Russen als in London

    Ein anderer Bekannter von mir, ein erwachsener, gestandener Mann, der schon zu Sowjetzeiten eine Neigung zu dem hatte, was das Strafgesetzbuch als Betrug bezeichnet, kam einmal ins Gefängnis. Daran ist erst einmal nichts Außergewöhnliches. Im Gefängnis sind noch mehr Russen als in London. Er hegte den Wunsch, auf Bewährung rauszukommen, und fand heraus, dass der Leiter der Strafkolonie ein interessantes Hobby hatte. Er züchtete Kaninchen, besaß Käfige (offenbar eine Berufskrankheit; die Neigung dazu, die gewohnten Bedingungen auch auf andere Ebenen zu übertragen). In den Käfigen saßen die Rammler, er fütterte sie mit Kohl und freute sich an ihrer Niedlichkeit.

    Aber er war nicht bloß Kaninchenzüchter. Er war auch Sammler.

    In den Käfigen saßen edle Kaninchen seltener Rassen. Doch er wollte eine noch seltenere Rasse besitzen. Der Mensch braucht ja Träume. Mein Bekannter recherchierte, fand heraus, dass genau solche in einer Tierzucht in der Nähe von Rjasan gezüchtet werden, und beauftragte seine Kumpels auf freiem Fuß damit, das kostbare Geschenk für den Leiter zu besorgen. Darüber, wie ein paar ziemlich harte Typen zwei Kaninchen quer durchs Land fuhren, hätte man einen Film drehen können, doch als sie ankamen, stellte sich heraus, dass ihnen jemand zuvorgekommen war und der Leiter diese Rasse schon in seiner Sammlung hatte. Außerdem stellte sich heraus, dass man diese für die Bewährung notwendigen „Belohnungen“ problemlos kaufen konnte – 10.000 Rubel das Stück. Mein Bekannter machte vor Freude einen Luftsprung und sagte, er nehme gleich hundert. Der bescheidene Leiter der Strafkolonie senkte den Blick und bemerkte, dass ein Dutzend ja auch schon genügen würde.

    Der Bekannte kam frei und sprach von dem Kaninchenzüchter aus dem Strafvollzug seitdem nur ausgesprochen liebevoll.

    Woher diese Korruptionäre kommen, ist ein Rätsel

    Überhaupt sind wir von von Grund auf ehrlichen Menschen umgeben, niemals besticht jemand irgendjemanden, woher diese Korruptionäre kommen, ist ein Rätsel, und doch hat jeder von Grund auf ehrliche Mensch eine eigene Bestechungsgeschichte zu erzählen. Auch ich habe meine. Vor langer Zeit, als noch Freiheit herrschte, lebte ich in einer Mietwohnung. Einmal, nach einer wilden Party, weckte mich ein Polizist und stieß einen Jubelschrei aus, als er hörte, dass ich in der Wohnung nicht gemeldet war. Er lud mich und den Wohnungseigentümer zu sich aufs Revier ein und kam gleich nach den Begrüßungsformalitäten zur Sache. Er zeigte auf eine aufgeschlagene Zeitschrift auf seinem Tisch und sagte: „Ich brauche ein Lesezeichen“ (ich glaube, damals bedeutete das Wort „Lesezeichen“ wirklich nur Lesezeichen). Ich legte einen Schein mit Benjamin Franklins Porträt zwischen die Seiten, der bekanntermaßen nie Präsident der USA war. Der Beamte klappte die Zeitschrift zu und sagte: „Danke schön. Ich komme in einem Jahr wieder.“

    Ich zog aus, an den höflichen Polizisten dachte ich schon gar nicht mehr, bis mich genau ein Jahr später völlig ratlos mein Freund anrief, der nach mir in die Wohnung gezogen war, und erzählte: „Hier ist irgend so ein Polizist. Er sagt, ich schulde ihm 100 Dollar.“ „Stimmt, du schuldest ihm 100 Dollar“, bestätigte ich. „Warum?!“ – „Weil er Polizist ist, und du nicht.“

    Und keiner wundert sich

    Korruption ist das unbedingte Böse. Es kommt vor, dass Korruption tötet: Simnjaja Wischnja, Bulgarija und so weiter, die Liste der Beispiele ist leider lang. Dabei haben wir einfache Russen uns längst mit der Tatsache abgefunden, dass jeder Bürger, der die Macht zu fassen kriegt (jede Macht, von der kleinsten bis zur beinahe unbeschränkten), zu Diebstahl und Erpressung neigt. Man empört sich gewöhnlich, wenn man Ergebnisse immer neuer Untersuchungen liest, den erbärmlichen Prunk der Schlösser bestaunt, mit Häuschen für Bedienstete und Häuschen für Entlein, aber man wundert sich überhaupt nicht. Wundern würde man sich wohl über eine fundierte Untersuchung, die belegt, dass ein Staatsbeamter X ehrlich von einem einzigen Gehalt lebt. Aber eine derartige Untersuchung hat noch nie jemand veröffentlicht und wird vermutlich auch nie jemand veröffentlichen.

    Eine Menge eigentümlicher Annehmlichkeiten

    Der Kampf gegen die Korruption gerät hierzulande ständig ins Stocken. Zum Teil, weil sich die echten Mechanismen der Korruptionsbekämpfung in den Händen eben jener befinden, die sich von dieser Korruption ernähren. Zum Teil liegt es an unserer eigenen Ergebenheit, der Bereitschaft, den unredlichen Reichtum der Mächtigen als unabdingbar ins gewohnte Weltbild zu schreiben. Bis dato ist Ergebenheit ein weiterer Wesenszug der Russen. Zum Teil aber auch, möchte man meinen, weil Korruption sogar dem einfachen Bürger, sogar einem Opfer der Korruption, eine Menge eigentümlicher Annehmlichkeiten sichert. Im Sinn haben wir alle genau das, was mein betrunkener Gast aus London laut ausspricht.

    Ein großer Teil des russischen Lebens besteht aus dem Hindurchlavieren zwischen tödlichen Gefahren, deren Ursache die Korruption ist, und lächerlichen Annehmlichkeiten, für die dasselbe gilt. Es ist ein banges Leben, wenn man sich klarmacht, dass jedes einzelne Gebäude über dir einstürzen könnte, weil der Bauherr die Bauaufsicht geschmiert hat und der Subunternehmer Sand statt Zement verwendet. Aber es ruft auch Panik hervor, sich in die Papierhölle der Bürokratie zu vertiefen. Schwer zu sagen, was bei unseren Gewohnheiten mehr Schrecken erzeugt. Doch die Wahl zwischen den beiden Optionen ist sowieso illusorisch – die Papierhölle ist nämlich nicht dazu gedacht, das Prozedere zu überwachen, sondern sie dient der Erpressung.

    Makabere Lotterie mit hohem Einsatz

    Das Ergebnis ist eine makabere Lotterie mit hohem Einsatz. Wenn du lebst und in Freiheit bist, hast du bisher Glück gehabt, wenn du stirbst, ist alles vorbei, und wenn nur deine Freiheit vorbei ist, beginnt eine neue Lotterie. Vielleicht wird man dich schlagen und foltern, vielleicht auch nicht. Aber sicher ist, dass es immer einen Weg geben wird, sich zu einigen, und sogar an Orten, die eher unangenehm sind, zum Schaschlik einen Cognac hinunterzustürzen. 

    Aber vor allem scheint es, als würden wir den Rest der Welt allmählich auch an diese Lotterie gewöhnen. Unser nationaler Leader schüchtert die Welt eifrig mit dem Endkrieg ein, zeigt Zeichentrickfilme mit Raketen, prophezeit den Feinden den Tod und den Freunden den Weg ins Paradies. Also auch den Tod. Klingt beeindruckend und hebt nicht gerade die Stimmung, doch dann taucht eine neue Untersuchung auf – sogar zwei, von der Novaya Gazeta und von Nawalny – die recht ausführlich darlegen, dass das Geld, welches für die furchteinflößenden Raketen gedacht war, höchstwahrscheinlich einfach geklaut wurde, so wie das hier eben üblich ist. Du liest, empörst dich, wunderst dich nicht – alles in allem das bekannte Gefühlsspektrum – aber vor allem begreifst du, dass es keinen Krieg geben wird. Wie denn, Krieg ohne Raketen?

    Und so wursteln sie herum auf dem geschundenen Leib der armen Heimat, die Satten und Unersättlichen, ziehen, zerren und schleppen das Zusammengeklaute, Häuser für Entlein und Schlösser am Comer See, züchten Kaninchen und nehmen uns aus wie dieselbigen, und du schaust sie dir an und denkst, na ja, vielleicht sollte man sie lassen? Ja, klar, sie klauen, aber wenigstens bringen sie keinen um, beziehungsweise manchmal schon, aber das ist nicht ihr Ziel, und auch nicht alle auf einmal, obwohl sie doch könnten. Und auch uns bleiben ja wiederum ein paar winzige Annehmlichkeiten …

    Die Russen gehen gerne im Kreis, auch das ist, glaube ich, allgemein bekannt.

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  • Die kurze Geschichte der Demokratischen Koalition

    Im April 2015 war sie angetreten, um bei den Dumawahlen 2016 eine geeinte, breite Front gegen die Kreml-Partei Einiges Russland zu bilden. Doch nur knapp ein Jahr nach ihrem Entstehen zerbrach Russlands Demokratische Koalition wieder. Zu der hatten sich Parteien der nicht-systemischen Opposition zusammengeschlossen – also diejenigen Oppositionsparteien, die nicht in der Duma vertreten sind. Darunter waren auch einige Gruppen, denen bereits bei der offiziellen Registrierung als politische Partei immer wieder Steine in den Weg gelegt werden.

    Iwan Dawydow analysiert die Hintergründe in The New Times.

    Da lachen sie noch – Vertreter der Demokratischen Koalition im Dezember 2015. Am Mikrofon Alexej Nawalny, links daneben Michail Kassjanow (PARNAS), ganz links Wladimir Milow (Demokratische Wahl). Foto © Juri Martjanow/Kommersant
    Da lachen sie noch – Vertreter der Demokratischen Koalition im Dezember 2015. Am Mikrofon Alexej Nawalny, links daneben Michail Kassjanow (PARNAS), ganz links Wladimir Milow (Demokratische Wahl). Foto © Juri Martjanow/Kommersant

    Anfang Mai hat sich endgültig gezeigt: Die Demokratische Koalition um die Partei PARNAS ist gescheitert. Und daran sind keineswegs nur Intrigen des hinterlistigen Kreml schuld.

    Das Scheitern dieser Koalition hat natürlich Folgen: vermindertes Vertrauen der potentiellen Wähler in die nicht-systemische Opposition; verlorene Zeit, die die Kandidaten, die behindert worden waren, nun aufholen müssen, wenn sie im Wahlkampf noch irgendwie in Erscheinung treten wollen; schwindende Chancen, dass Abgeordnete mit einer vom Kreml unabhängigen Position in die siebte Staatsduma einziehen werden.

    Der Start

    Am 27. Februar 2015 wurde in Moskau Boris Nemzow, der Ko-Vorsitzende der Partei PARNAS, ermordet. Daraufhin unternahmen zahlreiche Oppositionspolitiker den Versuch, vor der anstehenden großen Wahlperiode die kremlkritischen Bewegungen in einer Koalition zu vereinen. Im Herbst 2015 standen Wahlen in elf Regionen an, im Herbst 2016 folgen nun die Wahlen zur Staatsduma.

    Als die Oppositionellen mit den Verhandlungen über die Bildung einer Koalition begannen, waren sie in einer Krisensituation: Die Demonstrationen in den Städten, die den Kreml 2011/12 so beunruhigt hatten, waren komplett abgeflaut. Putins Beliebtheitswerte wuchsen dank der Krim-Euphorie und weiterer „geopolitischer Erfolge“ unablässig.

    EINE CHANCE, DIE KRISE ZU ÜBERWINDEN

    Lässt man einmal die systemischen Oppositionsparteien außer Acht und auch die Partei Jabloko, die den Ruf hat, notorisch kompromissunfähig zu sein, dann hatte die Opposition „außerhalb des Systems“ Folgendes zu bieten: Parteien, bei deren Namen und Programmen selbst ihre Anhänger durcheinanderkamen sowie eine Handvoll landesweit bekannter Politiker.

    Die Bildung einer Koalition war eine Chance, die Krise zu überwinden. Und – allen russischen politischen Traditionen zum Trotz – gelang es den Oppositionellen, sich zu einigen.

    Am 17. April 2015 unterzeichneten die Partei PARNAS, mit Michail Kassjanow an der Spitze, und Nawalnys Fortschrittspartei ein Koalitionsabkommen. Am 20. April schlossen sich ihnen die Parteien Demokratische Wahl (Wladimir Milow), Bürgerinitiative (Andrej Netschajew) und auch die nicht-registrierte Partei des 5. Dezember und die Libertäre Partei an. Michail Chodorkowskis Offenes Russland gab seine Unterstützung der Demokratischen Koalition bekannt.

    Dabei sein ist alles?

    Unter den mit der Demokratischen Koalition sympathisierenden Politologen und Journalisten begann ein Streit: Sollten die Oppositionellen überhaupt an den Wahlen teilnehmen?

    Die Argumente derer, die gegen eine Teilnahme sind, brachte Fjodor Krascheninnikow für The New Times auf den Punkt: „An Wahlen sollte man nur teilnehmen, wenn eine Chance auf Erfolg besteht und wenn man Vertrauen in die Wahlkommission hat. Andernfalls spielt die Opposition durch die Teilnahme an den Wahlen nur den Machthabern in die Hände – sie legitimiert sowohl die Wahlen als auch das gewählte Machtorgan.

    Wenn man sich einverstanden zeigt, beim Hütchenspiel mitzumachen, macht man damit nicht nur den Hütchenspieler reich, sondern führt auch zufällige Passanten in die Irre: Sie sehen, dass da ein anständiger Mensch mitspielt, und schließen daraus, dass wohl alles rechtens zugeht.“

    DIE WAHLEN ALS HÜTCHENSPIEL

    Es gibt aber auch starke Argumente für eine Teilnahme an den Wahlen. Denn die Machthaber brauchen nicht nur einfach Oppositionelle, die an den Wahlen teilnehmen. Sie brauchen Oppositionelle, die verlieren.

    Und das bedeutet, dass die Machthaber während des Wahlkampfs alle nur denkbaren Verstöße zulassen werden, um eine Niederlage der Opposition sicherzustellen, einfach weil sie nicht anders handeln können.

    Ob nun aber solche Skandale dazu beitragen, den Wahlprozess zu legitimieren, darüber ließe sich streiten. Wichtiger ist, dass man selbst bei aussichtslosen Wahlen die Gelegenheit bekommt, größere Bekanntheit zu erlangen und das eigene Wahlprogramm an diejenigen Wähler heranzutragen, die nicht lesen, was die Opposition in den sozialen Netzwerken schreibt.

    VORWAHLEN: KOMPLIZIERTES PROZEDERE

    Unterdessen hat sich gezeigt, dass das Prozedere von Vorwahlen kompliziert und selbst für treue Wähler wenig attraktiv ist. Außerdem greift die Antikorruptionsagenda in den Regionen einfach nicht: Wie Ilja Jaschin, der stellvertretende Vorsitzende von PARNAS, nach mehr als einem Dutzend Treffen mit Bewohnern von Kostroma erzählt, hörten die Omas in den Höfen seinen Erzählungen über die Mehreinnahmen der Osero-Mitglieder zwar interessiert zu. Aber die Nachricht, dass Beamte und der Machtelite nahestehende Bürger in Russland stehlen, ist für Bürger, deren Leben sich fern der Machtzirkel abspielt, keine große oder besonders erschütternde Nachricht.

    Der Weg zum Scheitern

    Für die Mitglieder der Demokratischen Koalition selbst stellte sich die Frage nicht, ob sie an den Wahlen teilnehmen sollten oder nicht. Sie konzentrierten sich auf die Vorbereitung des Wahlkampfs.

    Ihre Listen sollten mit Hilfe von Vorwahlen aufgestellt werden. Im Dezember 2015 wurde bekannt, dass die ersten drei Plätze auf der Liste schon vergeben waren. Den ersten bekam der Vorsitzende von PARNAS, Michail Kassjanow, der zweite und dritte waren für „russlandweit bekannte Leute“ reserviert, deren Namen nicht genannt wurden.

    Ilja Jaschin verkündete damals, das sei eine „bewusste Entscheidung der ganzen Koalition“. Die Vorwahlen hätten am 23. und 24. April stattfinden sollen. Später verschob man sie „aus technischen Gründen“ auf Ende Mai.

    Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass das Problem nicht Störungen auf der Vorwahlen-Website waren. Es war das geringe Interesse am Verfahren, auf das die Vertreter von PARNAS bestürzt reagierten.

    Man hatte in der Koalition damit gerechnet, dass rund 100.000 Personen an den Vorwahlen teilnehmen würden, doch nach Informationen, die The New Times vorliegen, hatten sich zwei Wochen vor Abstimmung nur rund 6000 Wähler auf der Website registriert.

    Es gab Gerüchte, PARNAS erwäge, die Liste doch nicht auf der Grundlage von Vorwahlen aufzustellen. Damals sagte Alexej Nawalny gegenüber The New Times: „Die Fortschrittspartei kann im Falle einer Nichtanerkennung der Vorwahlen nicht in der Koalition verbleiben.“

    Der letzte Schlag war der Film Kassjanows Tag, den NTW am 1. April ausstrahlte: Dass kompromittierendes Material über sie verbreitet und in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt wird – daran sind Oppositionelle ja gewöhnt, sollte man meinen. Doch durch die scharfen Bemerkungen, die Natalja Pelewina, eine Parteigenossin Michail Kassjanows, in dem Film über andere Mitstreiter aus dem Bündnis machte, fühlten sich manche Mitglieder der Demokratischen Koalition ernsthaft vor den Kopf gestoßen.

    KLEINLICHER ZANK UND SCHULDZUWEISUNGEN

    Zunächst machte Ilja Jaschin von PARNAS Kassjanow den Vorschlag, er möge auf seinen ersten Listenplatz verzichten und gleichberechtigt mit allen anderen an den Vorwahlen teilnehmen. Kassjanow lehnte ab. „Als Zeichen des Protests“ zog Jaschin seine Kandidatur für die Vorwahlen zurück.

    Später wiederholte Alexej Nawalny die Forderung Jaschins. Darauf folgten lange und offenbar selbst für die Mitglieder der Koalition uninteressante Streitereien darüber, wer als erster welche Abmachungen verletzt hat. Demokratische Wahl und die Fortschrittspartei verließen die Koalition, die dann aufhörte auf zu existieren.

    Der vergessene Wähler

    Was bleibt übrig statt einem Wahlbündnis der Opposition? Kleinlicher Zank und eine Reihe gegenseitiger Schuldzuweisungen.

    Die Kleinlichkeit ist das Traurigste an der ganzen Geschichte. Es ist ja für niemanden ein Geheimnis, dass die PARNAS-Liste ohnehin nicht durchkommen wird. Falls jemand Chancen hatte, waren es die Abgeordneten aus einzelnen Einerwahlkreisen mit einer vornehmlich gebildeten städtischen Bevölkerung.

    Doch die Koalitionsmitglieder interessierten sich nicht für die Einerwahlkreise, sondern konzentrierten sich auf das Gefeilsche um die Listenplätze. Sie kämpften, als hätten sie bereits die Duma-Mehrheit inne, als wäre ihnen bei den kommenden Wahlen der Sieg sicher und es ginge nur noch darum, wie man die Mandate aufteilen soll.

    WAS ERFÄHRT DER WÄHLER DENN ÜBER DIE OPPOSITION?

    Was hat ein potentieller Wähler letztlich über die Opposition erfahren? Ein neuer Wähler, kein treuer, der ergeben die Blogs der Koalitionsleader liest? Nur das, was Pelewina in dem NTW-Film über ihre Kollegen gesagt hat und was man lieber nicht laut wiederholt.

    Die Mitglieder der Koalition, die beschlossen hatten, mit der Regierung Wahlen zu spielen, haben die wichtigsten Teilnehmer an diesem Spiel übersehen: die Wähler. Sie haben sich mit Fragen zur Vorgehensweise herumgeschlagen, statt den Wählern zu erklären, warum man eigentlich für die Opposition stimmen soll. Und zwar sowohl bei den Vorwahlen als auch bei den Dumawahlen.

    Dem Wähler ist doch egal, wer wen hintergangen hat und wer immer noch mit weißer Weste und stolzem Blick dasteht. Den Wähler interessiert, was ihm die Leute, die „in der realen Politik“ mitmischen wollen, neben Schockmeldungen über die Reichtümer der Brüder Rotenberg tatsächlich anzubieten haben.

    Der offizielle Wahlkampf hat noch nicht begonnen, noch bleibt Zeit, die Fehler auszubügeln. Aber dazu gilt es über den eigenen Schatten zu springen, die eigene Makellosigkeit in Frage zu stellen, den schmachvollen Erfahrungen Rechnung zu tragen.  

    Und es ist überhaupt nicht gesagt, dass das für die Anführer der nicht-systemischen Opposition eine lösbare Aufgabe ist.

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    Argument mit Sahne

    Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow liefert sich derzeit einen Schlagabtausch mit der russischen Opposition: Nachdem er sie erst auf einer Pressekonferenz als „Volksfeinde“ bezeichnet hatte, sorgte er weiter mit Posts in Sozialen Medien für Aufruhr.

    Während der Kreml-Sprecher abwiegelt, reagierte die Opposition alarmiert. Zumal auch die Spuren zur Ermordung von Boris Nemzow im Februar 2015 nach Überzeugung der Opposition in die nächste Umgebung Kadyrows führen – PARNAS-Politiker Ilja Jaschin veröffentlicht seinen Bericht dazu am 23. Februar.

    Iwan Dawydow analysiert in der New Times, weshalb auch ein Tortenwurf eine Atmosphäre der Angst entstehen lassen kann.

    Anfang Februar gegen halb zehn Uhr abends nimmt der Vorsitzende der Partei der Volksfreiheit PARNAS, Michail Kassjanow, in einem Moskauer Restaurant sein Nachtmahl ein. Drei Unbekannte platzen herein und werfen dem Politiker eine Torte ins Gesicht. „Feind!“ schreien die Angreifer. Es waren „ungefähr zehn Personen“ von „nicht-slawischem Aussehen“, so steht es später in Kassjanows Anzeige bei der Polizei. Moskauer Polizisten nehmen in der Nähe des Restaurants drei ihrer Kollegen aus Tschetschenien fest, doch der Geschädigte identifiziert sie nicht als Täter.  

    Man könnte meinen, damit habe auch die Geschichte mit Ramsan Kadyrows Instagram-Video ein Ende gefunden, in dem Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zu sehen war.

    In den Social Media entflammte unter Oppositionellen sogar eine Diskussion: Darf man über den Vorfall scherzen oder nicht? Es handele sich ja schließlich um ein klassisches Motiv aus alten Schwarz-Weiß-Komödien: Ein Mensch kriegt eine Torte ins Gesicht. Direkter Verweis auf Charlie Chaplin und Buster Keaton. Ein unfehlbarer Gag, der noch immer funktioniert. Sie haben Blutvergießen erwartet? Wir servieren eine Farce!

    Kadyrow hat alle übertrumpft. Aber hat das überhaupt etwas mit Kadyrow zu tun? Komm, los, beweis erst mal, dass das mittlerweile gelöschte Video etwas mit dem Vorfall in Moskau zu tun hat. Sind etwa patriotisch gestimmte „Personen nicht-slawischen Aussehens“ in der Hauptstadt des Imperiums eine Seltenheit?

    Kadyrow selbst reagierte mit: „Schon wieder ich?“ und einem Schwarm lustiger Smileys. Um später ein Foto zu posten – wie immer, bei Instagram –, auf dem der Sänger Nikolaj Baskow bei einem Fest in Grosny eine Torte ins Gesicht kriegt. Und alle, inklusive Baskow, amüsieren sich prächtig. Eine liebenswürdige Tradition in den Bergen, muss man eben verstehen.  

    Dieselbe Muss-man-eben-verstehen-These äußerte Kadyrows Sprecher Alwi Karimow: „Ramsan Achmatowitsch hat einen sehr feinen Humor, äußerst tiefgründig. Der ist einfach einzigartig, basierend auf unserer Folklore, die schon über Jahrhunderte lebt. Leider hat nicht jeder Sinn für Humor. Selbst wenn er etwas im Spaß sagt, kommt es vor, dass Leute das ernst oder gar persönlich nehmen. Spaß muss man eben verstehen.“   

    Aber noch etwas muss man verstehen: Das Leben jedes Menschen, der es riskiert, das Regime zu kritisieren, ist transparent – wenn die wollen, finden sie dich. Sogar in einem feinen Restaurant. Und die Security schützt dich nicht.

    Wenn du ein bekannter Politiker bist, wird der Kreml natürlich reagieren. In diesem konkreten Fall etwa riet der Pressesprecher des Präsidenten, Dimitri Peskow, dazu, die Angreifer „nicht mit der Führung Tschetscheniens und anderer Regionen Russlands“ gleichzusetzen. Die Polizei wird sich tätig zeigen. Aber eben nur, wenn du ein bekannter Politiker bist.          

    Die schreckliche russische Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns gelehrt, dass es sich um Terror handelt, wenn getötet wird, und zwar massenhaft. Oder zumindest, wenn „lange Haftstrafen sich in endlosen Etappen dahinziehen“, ebenfalls zu Tausenden.

    Aber Terror, das ist, wenn man Angst hat. Drohungen in sozialen Netzwerken – sind Terror. Das Eindringen in die Privatsphäre und die Verfolgung wegen politischer Ansichten – auf ihre Art vielleicht lustig, mit Argumenten aus Sahne statt Blei – ist Terror. Anschläge auf Freiheiten, auf das Recht der freien Meinungsäußerung (übrigens nur innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens, denn mit jenen Widersachern, die diesen Rahmen übertreten, geht der Staat schon lang nicht mehr zimperlich um) – all das ist Terror.       

    Und wenn sich der Staat nicht einmischt, heißt das, der Terror ist zumindest staatlich genehmigt. Und gut und nützlich für die Machthaber.

    Ach, wird etwa in Russland getötet? Bald jährt sich der Todestag von Boris Nemzow. Wird etwa verhaftet? Viele der Bolotnaja-Aktivisten haben ihre Strafen schon abgesessen nach völlig abstrusen Urteilsbegründungen, ein paar warten auf ihre Verhandlung, die Ermittler sind noch an der Arbeit …

    Selbst wenn es sich bei alldem nur um nationale Besonderheiten „basierend auf Folklore“ handelt – nein, das ist kein regionaler Trend, sondern ein staatlicher. Um staatlich genehmigten Terror auszuüben, muss man lange anstehen.

    Da stehen Mitglieder der Nationalen Befreiungsbewegung des Abgeordneten Jewgeni Fjodorow an, die es der Fünften Kolonne schon lange heimzahlen wollen (am 11. Februar bewarfen sie das Auto von Kassjanow mit Eiern, auch sehr witzig), da steht die Antimaidan-Bewegung. Und das jetzt, wo der Staat nicht direkt sagt: „Los, macht schon“, sondern lediglich durch seine Untätigkeit zu verstehen gibt: „Ist schon ok.“   

    Dass es Bedarf an Terror und an Terrorbereitschaft gibt, ist offensichtlich – und Nachfrage erzeugt Angebot.

    Gegenspieler mit Torten und Eiern zu bewerfen, damit rühmten sich einst Aktivisten der in Russland mittlerweile verbotenen Nationalbolschewistischen Partei. Doch die Nazboly überfielen seinerzeit die Großen dieser Welt und mussten für ihre Scherze bitter bezahlen.

    Die heutigen Tortenwerfer hetzen Menschen, die weder Polizei noch Justiz noch Staatsanwaltschaft stärkend hinter sich haben. Sondern nur ihre Sicht auf das Schicksal des Landes. Das ist, milde ausgedrückt, widerlich. Einfach widerlich.

    Ansonsten, klar, irre lustig. Eine Torte ins Gesicht – ganz wie bei Charlie Chaplin.          

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