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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    Joe Biden ist designierter US-Präsident – was ändert sich für Russland? Als US-Präsident Trump vor vier Jahren ins Amt kam, fürchteten viele, er könne eine Marionette Russlands werden. US-Sicherheitsdienste berichteten über russische Einmischung im Wahlkampf. Joe Biden dagegen gilt als sehr kritisch gegenüber dem Kreml, bezeichnete Trump im Wahlkampf als „Putin's puppy“, „Putins Schoßhündchen“.
    Putin versicherte kürzlich, Russland werde mit jedem US-Präsidenten zusammenarbeiten, kritisierte aber Bidens „antirussische Rhetorik“.

    Was ist aus der erwarteten Annäherung zwischen den USA und Russland unter Trump tatsächlich geworden? Und was bedeutet ein US-Präsident Joe Biden für Russland? Diese Fragen stellt Meduza drei russischen Experten für die russisch-amerikanischen Beziehungen: Andrej Kortunow, Ivan Kurilla und Dimitri Trenin.
    dekoder stellt eine weitere Analyse der Politologin Nina Chruschtschowa dazu, die Projekt veröffentlichte.

    „In Russland selbst hat sich nichts zum Guten geändert“

    Ivan Kurilla, Historiker, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg

    Die Regierungszeit Trumps wurde zu einer Enttäuschung, da die russische Seite etwas anderes erwartet hatte. Man hatte auf warmherzige Beziehungen zwischen den USA und Russland gesetzt – oder zumindest auf eine Verbesserung im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren unter Präsident Obama.

    Doch besser wurde es nicht, aus zwei Gründen: In Russland selbst hat sich in dieser Zeit nichts zum Guten geändert, es blieb alles beim Alten. In den USA war das „russische Thema“ während der Präsidenschaft Trumps äußerst heiß. Die ersten zwei Jahre beschuldigte man ihn, ein russischer Agent zu sein. In den Beziehungen zu Russland etwas in Bewegung zu bringen, wurde für ihn unmöglich. Bestraft wurde so im Endeffekt nicht Russland, sondern Trump.

    Die Sanktionen gegen Russland liefen über den Kongress. Das ist viel schlimmer, als wenn sie über die Regierung laufen – die kann Sanktionen schnell erlassen, aber auch aufheben. Damit der Kongress auch nur zur Prüfung der Aufhebung von Sanktionen schreitet, braucht es großen Druck, was äußerst unwahrscheinlich ist.    

    Auch der Druck der USA auf Europa bedeutete großen Druck auf Russland. Der Baustopp von Nord Stream 2, weil die USA Sanktionen gegen die Firmen androhten, die daran beteiligt sind, war ein noch größerer Hieb als die direkten Sanktionen. Dieser indirekte Einfluss über Europa versetzte der russischen Wirtschaft einen herben Schlag. 

    Der Druck der USA auf Europa bedeutete auch großen Druck auf Russland

    Die künftigen Beziehungen zwischen den USA und Russland werden von den Beratern abhängen, die der neue Präsident auswählt. Biden wird im Unterschied zu Trump bei wichtigen Fragen auf kollektive Entscheidungen setzen. Mit Sicherheit wird es eine aktivere Außenpolitik geben als bei Trump. Trump hatte im Gegensatz dazu Amerika aus verschiedenen Regionen der Welt abgezogen und war aus internationalen Abkommen ausgetreten. Die Demokraten werden wiederkommen. 
    Der Präsidentenwechsel bedeutet ein kleines Fenster neuer Möglichkeiten. Vielleicht wird Russland innerhalb der USA nicht mehr als Schreckgespenst benutzt. Die Sackgassen, in die unsere Beziehungen geraten sind, könnten durchbrochen werden. Aber große Hoffnungen habe ich da nicht, weil sich auf russischer Seite nichts geändert hat, und das würde jeder US-Präsident zur Voraussetzung machen.


    „Es wird auch neue Möglichkeiten geben“

    Andrej Kortunow, Leiter des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten

    Russlands Hoffnungen in Bezug auf die USA, die vor vier Jahren aufkamen, wurden nicht erfüllt. Unsere Beziehungen mit den USA haben sich in dieser Zeit vielmehr verschlechtert, quantitativ wie qualitativ. Unter Trump wurden die russisch-amerikanischen Summits quasi abgeschafft. Wenn früher ein neuer US-Präsident gewählt wurde, gelang es schnell, ein Treffen auf höchster Ebene zu organisieren. Das war nötig, damit die Räder der schwerfälligen Staatsmaschinen in Gang kamen. In Trumps Fall gab es gerade mal ein Treffen in Helsinki 2018, das die Beziehungen nur verschlechtert hat. Gleich darauf folgten Sanktionen und Kritik an Trump dafür, dass er sich angeblich Putin ergeben habe.

    Der Hauptpfeiler in den Beziehungen zwischen den USA und Russland war immer die Rüstungskontrolle. Auch wenn sich beide Seiten über alles Mögliche stritten, auch wenn sich die Beziehungen verschlechterten, die USA und Russland waren stets der Meinung, dass die Kontrolle strategischer Waffen das ist, was ihre Beziehung so einzigartig macht auf der ganzen Welt und dass man das bewahren müsse. Unter Trump wurde all das zerstört. Die US-Administration ist aus dem INF-Vertrag ausgestiegen und hat praktisch jegliche Versuche abgelehnt, den New-Start-Vertrag zu verlängern. Das heißt: Der Grundpfeiler unserer Beziehungen ist zerstört.

    Die Rhetorik gegenüber Russland wird sich erheblich verändern

    Biden wird nun Präsident, und dies wird die Rhetorik gegenüber Russland erheblich verändern. Sie wird hart und kritisch sein, im Gegensatz zu Trump wird Biden Putin keine Komplimente machen. In einigen Bereichen wird Biden ein schwierigerer Partner sein als Trump. Er wird einen Akzent auf Menschenrechte in Russland setzen, vielleicht wird die Magnitski-Liste erweitert oder Neues beschlossen, wie zum Beispiel eine Nawalny-Liste. Intensiviert wird die Unterstützung für die Ukraine, Georgien – Staaten, die mit Russland in Konflikt stehen. Biden wird sich bereit zeigen, die Opposition in Belarus zu unterstützen und die Mittel für oppositionelle Menschenrechtsbewegungen im postsowjetischen Raum aufzustocken. Bidens Politik wird darauf abzielen, das transatlantische Bündnis wiederherzustellen und den Spielraum für russische Manöver einzuschränken. Er wird versuchen, die ruinierten Beziehungen zu den europäischen Partnern wiederherzustellen. 

    Es wird aber auch neue Möglichkeiten geben: Biden wird mehr Interesse an Rüstungskontrolle zeigen, da er die Entscheidung von Trump, sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, nicht unterstützt hat. Die wichtige Frage ist: Inwieweit ist Biden bereit, die Sanktionen gegen Russland auf ein qualitativ anderes Niveau zu heben? 


    „Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören“

    Dimitri Trenin, Politikwissenschaftler, Leiter des Moskauer Carnegie-Zentrums

    Unter Trump haben die Beziehungen zwischen den USA und Russland einen neuen Negativ-Rekord erreicht. Seit der ersten Hälfte der 1980er Jahre war das Niveau nie so schlecht wie heute. Doch die Grenze oder der Tiefpunkt sind noch nicht erreicht, wir bewegen uns weiter in diese Richtung. Präsident Putin bezeichnet den Handel als ein Plus, doch der findet in beiden Richtungen nur noch minimal statt. Außerdem haben die US-amerikanischen Sanktionen den Handel russischer Firmen mit ihren wichtigsten Partnern behindert.

    Dafür sind wir in keine direkte Auseinandersetzung mit amerikanischen Streitkräften geraten, obwohl das nicht unwahrscheinlich war. 
    Sehr unerfreulich war für Russland, dass es während der vergangenen vier Jahre zum Objekt der amerikanischen Innenpolitik wurde. Wer Verbindungen zu Russland unterhielt, wurde zum Prügelknaben – vor allem die Republikaner mussten dafür einstecken. Aber auch sie verhielten sich hart gegenüber Russland, um mit den Kollegen mitzuhalten.

    Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören und noch heftiger werden.

    Das Unangenehmste für Russland, was unter Biden geschehen könnte: Durch ihren Ausstieg aus dem INF-Vertrag könnten die USA in Europa riesige Raketen aufstellen, die auf die Zerstörung strategischer Zentren und Objekte in Russland zielen. Wichtige Stützpunkte und das russische Atomwaffenarsenal selbst wären dann drei bis fünf Flugminuten von Polen entfernt. Auf US-amerikanische Raketen zu reagieren wäre praktisch unmöglich. Das kann gefährlich sein und könnte dazu führen, dass Russland zur Ausarbeitung eines Präventivschlags übergeht. Im Ernstfall wird Russland nicht warten, bis eine Rakete fliegt, sondern wird als erstes zuschlagen, was die Situation auf der ganzen Welt angespannt macht. Das ist die größte militärische Gefahr. 

    Das Gute ist, dass die Rhetorik von der russischen Einmischung verstummen könnte. Sie wird nicht ganz verschwinden, aber sie wird nicht mehr so im Vordergrund stehen. 


    „Beide Länder verstehen sich als Imperien – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung“

    Nina Chruschtschowa, Politikwissenschaftlerin, New School, New York, Original

    Die Probleme in den russisch-amerikanischen Beziehungen sind deutlich gravierender als die Beziehungskrise zwischen den Länderchefs, unabhängig von ihrer persönlichen Politik. Beide Länder verstehen sich als Imperien, die im Zentrum des Weltgeschehens stehen – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung.

    Amerika – die strahlende „City upon a Hill“, die „große Demokratie“ und so weiter (Trumps Verkünden der amerikanischen Überlegenheit war keineswegs etwas Neues) – braucht es, dass alle die USA als überlegen anerkennen und so werden wollen wie sie. Russland besteht seit Jahrhunderten darauf, dass es eine Weltmacht und keine Regionalmacht ist (Obama hat Putin mit dieser Bezeichnung nach der Krim-Annexion schwer verletzt), und wird hinter niemandem herlaufen. Kopieren ja, wenn es um politische Formeln, Kino, Food Courts und so weiter geht. Aber die amerikanische Überlegenheit anerkennen – auf keinen Fall.

    Alle „Großmächte“ brauchen einen „Großfeind“. Für Russland ist das Amerika – und umgekehrt genau so.

    Ich habe viele Jahre als wissenschaftliche Assistentin für George Kennan gearbeitet, den berühmten amerikanischen Diplomaten, der US-Botschafter in der UdSSR und Philosoph des Kalten Kriegs war. Der hat gesagt, dass Russland und die USA Spiegelbilder seien. Beide Länder leiden unter einem Größen- und Heilsbringer-Komplex.

    In seiner Siegesansprache hat Biden gesagt, dass er die „Seele Amerikas heilen“ will. Diese Seele war unter jeder Administration die eines Messias. Der mit fast 78 Jahren gewählte Präsident Biden wird wohl kaum seine außenpolitischen Ansichten ändern, die sich in Zeiten der Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA geformt haben. Und Putin ist selbst genug Messias, mit ebensolchen internationalen Ambitionen.

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  • „Die Kommentare zu den USA offenbaren die Spaltung in Russland“

    „Die Kommentare zu den USA offenbaren die Spaltung in Russland“

    Der grausame Tod von George Floyd hat in weiten Teilen der russischen Gesellschaft weniger für eine Debatte gesorgt als vielmehr die Ausschreitungen und Proteste danach. „Seit zwei Wochen gibt es in den USA Massenproteste gegen Polizeigewalt und Rassismus – und etwa genauso lang gehen in Russland die Debatten darüber, ob die systemische Ungerechtigkeit des Staates einzelne Gewaltakte seitens der Randalierer rechtfertigt“, schreibt etwa Meduza. Und in der Moskauer Ausgabe von The Village heißt es: „Die Bilder von eingeschlagenen Schaufenstern und umgekippten Autos waren bei manchen Russen eher Thema als Rassismus oder Polizeigewalt.“

    Warum ist das so? Beide Medien befragten dazu den russischen Historiker und USA-Experten Ivan Kurilla, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg. dekoder bringt Ausschnitte aus beiden Interviews. 
     

    Meduza: Warum herrscht in Russland solch große Aufregung ob der Unruhen in den Vereinigten Staaten?

    Für Russland sind die Vereinigten Staaten traditionell der „Significant Other“. Darauf, was in den USA passiert, schauen sowohl die Regierung als auch die Gesellschaft. Doch in einer Krisensituation sucht sich (auf der Erfahrungsgrundlage jenes Anderen) jeder das aus, was ihm nah und wichtig erscheint. In diesem Sinne offenbart die Masse an Kommentaren zu Amerika nicht nur, was man derzeit in Russland über die USA weiß – sondern auch die Spaltung in Russland selbst. 
    Wenn die Menschen über die Vereinigten Staaten sprechen, müssen sie sich nicht zensieren. Wobei die Überlegungen über die amerikanischen Proteste ein kompliziertes Bild der russischen Gesellschaft zeigen: Rassistische Ausbrüche, eine Spaltung in Rechts und Links, Unterstützung für die Polizei – all das wird weitaus offener ausgesprochen, als dieselben Leute dies tun würden, wenn es um Ereignisse im eigenen Land ginge.

    Wenn die Menschen über die Vereinigten Staaten sprechen, müssen sie sich nicht zensieren

    Die Russen reproduzieren die wesentlichen Spaltungen, die auch innerhalb der USA charakteristisch sind. Doch typisch in Russland ist, dass nur ganz wenige die gewalttätige Komponente des Aufruhrs rechtfertigen. Eingeschlagene Schaufenster und geplünderte Läden gelten als offensichtliche Verbrechen, die durch keinen guten Zweck geheiligt werden. 

    Tatsächlich besteht ein heftiger Kontrast zwischen betont friedlichen Protestversuchen in Russland in den letzten zehn Jahren und den Bildern aus US-amerikanischen Städten. 
    Kommentatoren aus Staatsmedien verweisen gerne darauf, dass jeglicher Protest gesetzeswidrig ist und dass friedliche Demonstranten Plünderungen den Weg ebnen. Diese Idee fügt sich gut ein in die alte Anti-Maidan-Sichtweise des Kreml.

    Die Fernsehbilder könnten bei den Menschen jedoch auch einen anderen Effekt haben: So also kann politischer Protest auch aussehen! Und sollten wir als Folge der Aufstände ernsthafte Veränderungen in der amerikanischen Politik sehen, so wird auf die Frage „Wollt ihr die gleichen Zustände haben wie in New York?“ die Antwort vielleicht lauten: „Ja, das wollen wir.“

    The Village: Könnte es Aufstände wie in den USA auch in unserem Land geben?

    100-prozentig ausschließen kann man nichts, aber in Russland ernsthafte Massenproteste vorherzusagen, ist quasi unmöglich. Bisher sind solche Vorhersagen immer missglückt. Das gegenwärtige System hat immer noch ein Sicherheitspolster, und das ist dicker, als Beobachter manchmal denken.

    Die moderne russische Polizei ist gewappnet, Menschen zu verjagen, die auf die Straße gehen. Sowohl die technische Ausstattung als auch die Ausbildung der Nationalgarde und Polizei ist darauf ausgerichtet Massenunruhen niederzuschlagen, die es in Russland derzeit nicht gibt und schon recht lange nicht mehr gegeben hat. Im Fall der amerikanischen Polizei dagegen sind Massenunruhen nicht das Problem Nummer eins, auf das man sich vorbereitet. 

    Mit Blick auf Amerika sieht unser Regime jetzt, wie Protest-Szenarien Wirklichkeit werden können. Und das kann seine Angst verstärken

    In Russland haben die Menschen Angst vor der Nationalgarde und der Polizei. Eine der Strategien des Regimes besteht darin, dem Volk zu zeigen, wie viele Polizisten es gibt, wie stark sie bewaffnet sind und wie sie Demonstranten auf den Kopf schlagen. Die Nationalgarde und die russische Polizei sind quasi ausgebildet für das, was in den USA jetzt gerade vor sich geht.

    Doch Angst haben beide Seiten: Dass unser Regime die Polizei derart trainiert, zeigt, wie sehr es solche Ereignisse wie in den USA fürchtet. Und mit Blick auf Amerika sieht unser Regime jetzt, wie solche Szenarien Wirklichkeit werden können. Und das kann die Angst verstärken (aber vielleicht sind das nur meine Mutmaßungen).

    Meduza: Ist Trump an allem Schuld?

    Man hört oft, dass die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten die Spaltung vertieft hat. Mir scheint aber vielmehr, dass Trump nur ein Symptom für die Spannungen war, die die amerikanische Gesellschaft schon lange vor 2016 erlebte.

    Diese Spannungen in Amerika werden gemeinhin als Culture Wars bezeichnet: Dazu gehören Religionskonflikte oder Konflikte in Familienfragen, das Recht auf Abtreibung, die Einstellung zu Feminismus und zu neuen Geschlechterrollen, zu leichten Drogen, zu Klimawandel und natürlich zur Frage der Hautfarbe.

    Trump war nur ein Symptom für die Spannungen, die die amerikanische Gesellschaft schon lange vor 2016 erlebte

    Aber die Krise, in der sich Amerika seit einigen Jahren befindet, hat gezeigt, dass die Annahme, während der Culture Wars würden sich gesamtgesellschaftliche Grundwerte herausbilden, illusorisch war. Ein großer Teil der Amerikaner war nicht bereit zu solch einem raschen Diskurswandel und wurde allmählich unzufriedener. Trumps Erfolg hat diesem Teil der Amerikaner lediglich ermöglicht, aus dem Schatten zu treten.

    Für die Organisation des Aufruhrs gibt er weiterhin den linken Antifa-Genossen die Schuld, und er droht, sie als terroristisch einzustufen. Dabei ist das Problem nicht nur, dass es wahrscheinlich überhaupt keine monolithische Antifa gibt. Viel schlimmer ist vielleicht, dass diese Anschuldigungen nur die Rhetorik einiger Politiker der Demokraten widerspiegeln, die den gegenwärtigen Konflikt ebenfalls aus dem Handeln externer Kräfte heraus erklären – am ehesten aus Russland. Keine der beiden Seiten blickt der Realität in die Augen. 

    The Village: Warum wittert man in den USA schon wieder eine russische Spur?

    Das ist nichts Neues: Für ein politisches System ist es sehr bequem, die Verantwortung für eine Krise im Land zu exportieren. Denn wenn die Verantwortlichen im eigenen Land sind, dann wird das wahrgenommen als Krise der politischen Elite, und die muss gelöst werden. Wenn es aber ein äußerer Feind ist, dann muss man eh nicht mit ihm verhandeln – man muss ihn anprangern und politisch ausgrenzen.

    Es ist eine nahezu instinktive Reaktion der Eliten in beiden Ländern – sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben

    Es gibt einen alten Diskurs aus Zeiten des Kalten Krieges, der nach Trumps Wahl wiederbelebt wurde: Jeder in Amerika weiß, dass Russland böse ist, und dass es alles Böse in Amerika nur deshalb gibt, weil Russland sich wieder eingemischt hat. Gleichzeitig grassiert in Russland der Antiamerikanismus: Amerika ist schlecht und will Böses. Wenn in Russland jetzt etwas losbricht, dann hören wir sofort, dass das an den Amerikanern liegt. Es ist eine nahezu instinktive Reaktion der Eliten in beiden Ländern – sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben.

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  • Die Fehler des Westens

    Die Fehler des Westens

    Glaubt man der russischen Propaganda, dann hat sich der Westen nach dem Ende des Kalten Krieges als arroganter Sieger aufgeführt: In seinem eitlen Stolz und Siegesdünkel habe er in den 1990er Jahren alles darangesetzt, Russland zu demütigen. In den 2000er Jahren sei Russland „von den Knien auferstanden“. Der doppelmoralische Westen wolle den Phönix allerdings zurück in Staub zwingen, so die propagandistische Erzählung, die unter vielen Beobachtern als die wichtigste Legitimationsgrundlage für das heutige System Putin gilt. 

    Tatsächlich zweifeln auch in liberalen Kreisen Russlands nur wenige daran, dass der Westen im Russland der 1990er Jahre etwas falsch gemacht hat, dass auch heute noch Vieles im Argen liegt in den westlichen Ländern. Ende 2018 schrieb beispielsweise der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin: „Die Wahl unseres Weges wird zu großen Teilen davon abhängen, ob die Länder des Westens in der Lage sein werden, das eigene Haus in Ordnung zu bringen.“ 

    Eine differenzierte Perspektive eröffnet Ivan Kurilla – der russische Historiker beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen. Auf Riddle stellt der Professor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg die Frage, was genau für Fehler der Westen in den 1990er Jahren begangen hat, und was er heute tun kann, um sie zu korrigieren – gemeinsam mit Russland.

    Der vorliegende Text ist eher für ein westliches Publikum geschrieben – doch für die russischen Leser muss ich von vornherein klarstellen: Es geht hier nicht darum, den autoritären Wandel oder die konfrontative Außenpolitik Russlands der letzten Jahrzehnte zu rechtfertigen. Allerdings kann ein nüchternes Gespräch darüber, was schiefgelaufen ist, nicht von russischer Seite allein geführt werden, sondern erfordert die Teilnahme seiner Partner im Westen, besonders den USA.

    Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat Russland einen schwierigen Prozess eigenständiger Entwicklung durchgemacht. In den vergangenen 30 Jahren gab es in der russischen Gesellschaft und in den Eliten viel trial and error. Der derzeitige Stand dieser Entwicklung ist weder endgültig noch befriedigend. Die Stoßrichtung wurde hauptsächlich von inneren Faktoren und dem Kräfteverhältnis innerhalb der russischen Eliten bestimmt. Sie sind es auch, die den Großteil der Verantwortung an dem unbefriedigenden Zwischenergebnis tragen.

    Gleichzeitig machten und machen Akteure von außen ihre eigenen Spieleinsätze in der russischen Politik. Sie trafen Entscheidungen, die im russischen Diskurs oft schwer wogen, indem sie politische Kräfte im Inneren des Landes stärkten oder schwächten. Die Entscheidungen der westlichen Partner basierten dabei häufig auf innenpolitischen Überlegungen oder auf einer über lange Jahre gewachsenen Tradition, Russland zu „benutzen“. Die durch westliche Kampfansagen in Russland ausgelösten Veränderungen hatten dann entsprechende Bumerangwirkung in der russischen Außenpolitik.

    Tango tanzt man zu zweit

    Um morgen die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in konstruktive Bahnen zu lenken, genügt es nicht, wenn die russischen Eliten die Fehler der Regierung heute eingestehen. Wie es in Diplomatenkreisen so schön heißt: „Tango tanzt man zu zweit“, und die Haltung, der Westen habe „immer alles richtig gemacht“, erweckt kein großes Vertrauen.

    Ich beginne mit einer allgemeinen Aussage. Die US-amerikanische Öffentlichkeit hat in den 1990er Jahren in Bezug auf die Transformation in Russland zum wiederholten Mal folgenden Zyklus durchlaufen: Ungerechtfertigt hohe Erwartungen am Anfang mündeten in eine unangemessen tiefe Enttäuschung am Schluss. 

    Von ungerechtfertigt hohen Erwartungen zur unangemessen tiefen Enttäuschung

    Ähnliche Zyklen hat es im letzten Jahrhundert mehrfach gegeben: Viktoria Shurawljowa zeichnet in ihren Arbeiten nach, wie die Amerikaner erst 1905 und dann 1917 auf ein Entstehen der „Vereinigten Staaten von Russland“ gehofft hatten, um nur wenige Monate später zu konstatieren, Russland sei in einen Zustand „gewöhnlicher Despotie“ zurückgefallen.
    Die Hoffnung auf ein Russland, das den USA ähneln würde, war in den letzten Jahren der Perestroika und den ersten Jahren des neuen russischen Staates natürlich nicht erfüllbar: Nach dem Sturz des Sowjetregimes stand die russische Gesellschaft vor zu komplexen Aufgaben in Wirtschaft, Politik und Kultur. Und sowieso hätte die Demokratisierung des Landes nicht unbedingt nach amerikanischer Schablone verlaufen müssen. Allerdings haben die USA die Hinwendung der russischen Eliten zum Autoritarismus so empfunden, als sei das gesamte Demokratisierungsprojekt gescheitert, in den letzten Jahren gar so, als sei der Feind aus Zeiten des Kalten Krieges zurückgekehrt.

    Die Gleichsetzung Russlands mit der UdSSR versperrt die Sicht auf Möglichkeiten der Zusammenarbeit 

    Ich wage dennoch zu behaupten, dass das heutige autoritäre russische Regime, das gern vorgibt, eine neue Sowjetunion zu sein, kein Pendant der UdSSR ist. Die enttäuschten Amerikaner blenden die (Jahr um Jahr schwindenden, aber immer noch bestehenden) Freiheiten aus, die die russischen Bürger im Gegensatz zu den Sowjetbürgern genießen. Die russische Gesellschaft hat einen weiten Weg zurückgelegt – wenn man sie mit der Gesellschaft von 1980 oder 1990 vergleicht und nicht mit dem Ideal in den Köpfen außenstehender Beobachter. Die für politische Zwecke so bequeme Gleichsetzung Russlands mit der UdSSR versperrt die Sicht auf Möglichkeiten der Zusammenarbeit und erleichtert es dem herrschenden Regime, die autoritäre Ordnung weiter zu festigen.

    Aber zurück zu den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Zerfall der UdSSR: Wie Juri Lotman in seinem Buch Kultur und Explosion schrieb, eröffne sich einer Gesellschaft in solchen Momenten (er bezeichnete sie als Explosionspunkte) eine Vielzahl von möglichen Wegen, wobei die Richtung der weiteren Entwicklung noch offen sei. An einem solchen Punkt stand Russland der Anfang der 1990er Jahre. Der aktive Teil der Gesellschaft hatte das altersschwache totalitäre Regime besiegt, lehnte eine Fortsetzung des Kalten Kriegs ab und hoffte darauf, bald wieder ein vollwertiges Mitglied in der Gemeinschaft der entwickelten Länder der nördlichen Hemisphäre zu werden. 

    An Explosionspunkten gibt es eine Vielzahl von möglichen Wegen

    Zur wichtigsten Frage wurde damals die nach der russischen Identität: Wer sind wir? Auf der Suche nach einer Antwort hatten viele Angehörige der reform-orientierten Elite auf eine freundschaftlich und helfend ausgestreckte Hand aus dem Westen gehofft. Für die russische Gesellschaft und die russischen Eliten bestand eine der ersten Antwortmöglichkeiten in dem Versuch, sich als Teil der ersten Welt zu identifizieren, der Welt der Rivalen von gestern, von deren Annäherung Andrej Sacharow geträumt hatte. Dieser Versuch hätte zu einer umfassenden Integration Russlands in die Strukturen der westlichen Politik, Wirtschaft und Sicherheit führen können (die Rede ist von der EU bis hin zur NATO und natürlich der Schengen-Zone). Das hätte den nationalistischen Rückzug in den nachfolgenden Jahren zwar nicht verhindert, aber sehr wohl eingeschränkt, weil die in den Westen integrierten Eliten ihre privilegierte Stellung viel mehr wertzuschätzen gewusst hätten. Die Welt würde heute möglicherweise über einen russischen Brexit sprechen, den Austritt Russlands aus der EU, aber nicht über die Annexion der Krim und die Liquidierung konstitutioneller Freiheiten in Russland.

    Die Welt würde heute möglicherweise über einen russischen Brexit sprechen, aber nicht über die Annexion der Krim

    Zu diesem Zeitpunkt war die Idee von Russland als neuem Teil eines allumfassenden Westens ziemlich populär. Und das Handeln des damaligen Außenministers Andrej Kosyrew, das heute gerne als Paradebeispiel für die Preisgabe nationaler Interessen, ja fast schon Verrat gilt, lässt sich mit dem Streben nach schnellstmöglicher Integration in die internationale Gemeinschaft erklären. Gemeinsame Interessen der Weltgemeinschaft über den eigenen Staatsegoismus zu stellen, ist eine extreme Version des politischen Idealismus, doch hätte eine solche Politik die Integration in den Westen viel schneller vorantreiben und Kontexte schaffen können, die die autoritären Tendenzen im Land eingedämmt hätten. Wenn der Westen einen Schritt auf Russland zugegangen wäre.

    Aber Kosyrews Partner im Westen betrachteten Russland nicht als Teil eines gemeinsamen Ganzen, sondern versuchten in erster Linie, die Kontrolle über die neuen Länder westlich der russischen Grenzen zu sichern. Die Erweiterung der europäischen Grenzen und der NATO Richtung Osten haben vor den Grenzen Russlands Halt gemacht und zu einem Ausschluss aus Europa geführt (den Europarat und die OSZE nicht mitgezählt). Die Verantwortung für diesen Ausschluss liegt nicht allein bei der russischen Elite.

    Der Unwille (die mangelnde Bereitschaft), Russland in die westliche Gemeinschaft miteinzubeziehen, rührte von einer Triumphstimmung, die Anfang der 1990er Jahre die westlichen Eliten erfasste. Politiker sprachen plötzlich vom „Sieg des Westens“ statt vom gemeinsamen Sieg über den Kalten Krieg. Diese Haltung gegenüber Russland als besiegtem, wenn auch nicht zerschlagenem Land (wie manche Politiker im Westen heute präzisieren) äußerte sich in dem Unwillen, auf die Bedenken der Russen zu hören. Doch schon vorher war sie offensichtlich, da jegliche Integrationspläne fehlten. Manche Autoren sprechen sogar davon, dass die Erwartung eines Marschall-Plans für Russland enttäuscht wurde. Man kann dem Einwand zustimmen, dass ein solcher Plan in den frühen 1990er Jahren aufgrund von innenpolitischen und wirtschaftlichen Restriktionen in den USA und den Ländern Europas undenkbar gewesen wäre. Aber bedeutet es nicht auch, dass die westlichen Eliten unterschätzt haben, wie wichtig es ist, Russlands in den Aufbau einer gemeinsamen Zukunft einzubeziehen (was im Kontrast dazu steht, dass in den 1950er Jahren sehr wohl gesehen wurde, wie wichtig es ist, Deutschland in Europa zu integrieren)? Und erwächst aus dieser Triumphstimmung nicht der Revanchismus der russischen Gesellschaft, die die Regierung in ihrem Bestreben unterstützt, den Ausgang des Kalten Krieges neu auszufechten?

    Das window of opportunity für eine Transformation stand nicht lange offen: Eine jüngst erschienene Publikation zeigt, dass die russischen Eliten bereits 1995 einen neuen antiamerikanischen Konsens ausgebildet hatten. Doch zwischen 1992 und 1994 war noch Vieles möglich gewesen (das Fenster ging daraufhin bis 2007, und dann bis 2014 immer weiter zu).

    Das window of opportunity für eine Transformation stand nicht lange offen

    Insofern hat der Westen den größten Fehler ganz zu Beginn der 1990er Jahre begangen, als seine Eliten – die sich lieber auf regionale Erfolge konzentrierten – nicht an die Möglichkeit einer russischen Integration geglaubt und so die Chance verpasst haben. Doch es gibt zwei weitere wichtige Momente, in denen die Entscheidungen des Westens die Beziehungen zu Russland zum Schlechteren verändert haben.
    Zum Einen wurde es abgelehnt, feste Vereinbarungen zu treffen. Das offensichtlichste Beispiel hierfür ist die Jackson-Vanik-Klausel. Ihre Abschaffung sollte (ihrem Sinn nach) mit dem Ende der Perestroika und der Einführung der Reisefreiheit in Kraft treten. Doch in der Praxis belegte der US-Kongress die Abschaffung mit immer neuen Bedingungen, bevor die Änderung schließlich in einem Zuge mit der Einführung neuer Sanktionen gänzlich verworfen wurde (so gerechtfertigt die Sanktionen auch gewesen sein mögen, trug diese Verquickung nicht gerade dazu bei, die USA als verlässlichen Partner wahrzunehmen).

    Kosovo als kritischer Moment

    Zum Anderen ist da die Weigerung der USA, dem internationalen Recht Priorität einzuräumen. Die Vereinigten Staaten stellen die eigene Gesetzgebung traditionell über das internationale Recht, aber die Anerkennung der Unabhängigkeit Kosovos war ein besonders kritischer Moment. USA und NATO sprechen von einem „speziellen Einzelfall“, aber Ausnahmen machen das Prinzip zunichte. (Ohne näher auf die Auseinandersetzungen um den Kosovo einzugehen, sei daran erinnert, dass die internationale Gemeinschaft Bosnien, das eine ähnliche Tragödie erlebt hat, als einen Staat aus zwei Landesteilen erhalten hat.) Auf diese Weise hat ein starkes Land die Möglichkeit klar und deutlich demonstriert, dass es internationale Normen umgehen kann – und es ist nicht verwunderlich, dass folglich auch die russische Führung irgendwann beschlossen hat, das internationale Recht zu brechen und so die eigene Stärke zu demonstrieren.

    Für die bestmögliche Zukunft der ganzen Welt wird jede Seite ihre Fehler eingestehen müssen 

    Jede Entscheidung der USA und ihrer europäischen Partner lässt sich anhand von innenpolitischen Motiven und Einschränkungen erklären. Doch das ändert nichts an der Verantwortung der politischen Eliten im Westen – genauso wenig, wie objektive Gründe nichts ändern an der Verantwortung der russischen Führung dafür, dass das russische Regime wurde wie es ist.

    Wenn es darum geht, über die bestmögliche Zukunft für die ganze Welt nachzudenken, wird jede Seite ihre Fehler eingestehen müssen. Anders ist kein Vertrauensverhältnis möglich (dabei geht es nicht um Gleichberechtigung oder eine Verantwortungsbalance, sondern um die Bereitschaft des Partners zum Kompromiss). Wenn man in Russlands Fall von der nächsten Regierung erwarten kann, dass sie bereit sein wird, gewisse Aktivitäten der heutigen Führung zu verurteilen, stellt sich die Frage, ob das auch von politischen Kräften im Westen denkbar ist. Die NATO kann das per Definition nicht – sie besitzt schlicht kein Organ für das Eingestehen von politischen Fehlern. Es wäre also nur gerecht, solche Eingeständnisse von den jeweiligen Regierungen zu erwarten, allen voran den USA, so schwer das innerhalb der politischen Kultur Amerikas auch sein mag.

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  • Die Erzfreunde Russland und USA

    Die Erzfreunde Russland und USA

    Russische Trolle! US-amerikanische Bedrohung! Die Hysterie in den Beziehungen zwischen Russland und den USA erreicht gerade in letzter Zeit immer wieder neue Höhepunkte. Einer, der sich dagegen wohltuend ruhig und sachlich mit dem gegenseitigen Verhältnis auseinandersetzt, ist der Historiker Ivan Kurilla. Im Interview mit Olga Filina von Kommersant-Ogonjok erklärt er unter anderem, was die besondere „Erzfreundschaft“ zwischen beiden Ländern ausmacht, was Ford mit dem Kommunismus und Sputnik mit dem US-amerikanischen Bildungssystem zu tun hat. Und warnt vor zu viel „Schaum vor dem Mund“.

    Analysiert das Verhältnis zwischen Russland und den USA ruhig und sachlich – Historiker Ivan Kurilla / Foto © Gaidar Open University
    Analysiert das Verhältnis zwischen Russland und den USA ruhig und sachlich – Historiker Ivan Kurilla / Foto © Gaidar Open University

    Kommersant-Ogonjok: Schon im Titel Ihres Buches behaupten Sie, Russland und die USA seien zwar „Erzfreunde“, aber immerhin doch Freunde. Können Sie diese These begründen?

    Ivan Kurilla: Meinem Buch liegt ein zehnjähriges Projekt zugrunde: Ich habe Materialien gesammelt, die mit der gegenseitigen Beeinflussung zwischen Russland und den USA zu tun haben. Ein paar hundert kamen da zusammen.

    Ich möchte mit einer Art Metapher beginnen: Russland ist sehr stolz auf „seine Spur“ – die materialisiert sich in den russischen Eisenbahnschienen, die eine andere Spurweite haben als die in Europa. Aber warum sind unsere russischen Eisenbahnen anders als die europäischen? Weil sie amerikanisch sind, ein Modell von 1836. Heute haben die Amerikaner natürlich andere Standards, doch im 19. Jahrhundert lieferten sie uns die Schienen, die auch Baltimore mit Ohio verbanden. Und so setzten sich bei uns die Schienen aus Maryland durch.

    Die ganze Industrialisierung verdanken wir ,amerikanischer Einmischung‘

    Und weiter: Die ganze Industrialisierung der 1930er Jahre verdanken wir „amerikanischer Einmischung“. Das Stalingrader Traktorenwerk genauso wie die Nishni Nowgoroder Automobilfabrik, die Magnitka genauso wie das Wasserkraftwerk DniproHES, sie alle wurden nach amerikanischen Plänen gebaut. Wir waren das 20. Jahrhundert hindurch einander viel näher, als man uns zu denken erlaubte.

    Auch deutsche Ingenieure arbeiteten vor dem Krieg in der Sowjetunion …

    Trotzdem spielt Amerika bei jeder unserer Modernisierungen eine ganz besondere Rolle. Es ist sogar so: Jedes Mal, wenn unser Staatschef von der „Modernisierung“ spricht, meint er „Amerikanisierung“. Mit einem Ruck wollen wir durch Europa hindurch und direkt nach Amerika. Das war schon unter Nikolaus I. so und unter Lenin, unter Chruschtschow und Gorbatschow und sogar unter Medwedew. Trotzki war da übrigens sehr ehrlich: In den 1920ern verwendete er durchweg genau diesen Begriff – „Amerikanisierung“ – wenn er dem Land den Weg in die Zukunft aufzeigte. Berühmt ist noch eine weitere Losung aus diesen Jahren: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung“.

    Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung

    Wir erinnern uns an diese Formel natürlich mit dem Wort „Elektrifizierung“, weil die Geschichte der ersten Sowjetjahre erst in Zeiten des Anti-Amerikanismus geschrieben wurde. Der Kalte Krieg ließ uns überhaupt viel von der Präsenz Amerikas in Russland vergessen, obwohl die Spuren überall sichtbar sind, wenn man nur den Blick dafür schärft.

    Sie haben jetzt ein paar Beispiele genannt, wie Amerika Russland veränderte. Kann man auch Geschichten über den Einfluss Russlands in den USA finden?

    Die sucht man vielleicht nicht so sehr auf dem Gebiet der Technik, obwohl auch dort … etwa der Elektrotechniker Alexander Poniatoff mit seiner Firma Ampex, der den ersten funktionierenden Videorekorder erfand.

    Von der ersten Generation von Emigranten, die Russland noch als Kinder verließen und alle berühmten Hollywood-Filmstudios gründeten, rede ich schon gar nicht. Der kulturelle Einfluss von Auswanderern unseres Landes auf die USA ist wirklich offensichtlich: Man denke an Irving Berlin, aus dessen Feder die wichtigsten patriotischen Lieder Amerikas im 20. Jahrhundert stammen (inklusive God bless America), obwohl er in Tjumen geboren wurde.

    Der kulturelle Einfluss von russischen Auswanderern auf die USA ist offensichtlich

    Während des Kalten Krieges ging dann der berühmte Ausspruch des amerikanischen Impresarios Sol Hurok um, der den kulturellen Austausch zwischen UdSSR und USA organisierte: „Was ist denn unser kultureller Austausch? Das ist, wenn sie uns ihre Juden aus Odessa schicken, und wir schicken ihnen unsere Juden aus Odessa.“ Und da war viel Wahres dran.      

    Und der ideelle Einfluss, der ideologische? Der war, nehme ich an, einseitig …

    Bei den Amerikanern entwickelte sich ab dem 18. Jahrhundert, ab den ersten Puritanern, die Tradition, sich als Leader zu sehen: zuerst als religiöse („City upon a Hill“), dann als demokratische („Citadel of Freedom“) und so weiter.

    Damals im 19. Jahrhundert wurden amerikanische Verhältnisse von Nikolaus I. (der den transatlantischen Pioniergeist äußerst schätzte) und den Dekabristen (die ihre Verfassung nach amerikanischem Muster schrieben) gleichermaßen bewundert.

    Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft

    Mit Russland ist das komplizierter, doch Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft. Wir haben sie früher abgeschafft als Amerika die Sklaverei, und während des Bürgerkriegs studierten die USA aktiv die Erfahrungen Russlands. Wahrscheinlich haben wir sie genau in diesem Moment „eingeholt und überholt“, ohne es selbst zu bemerken.

    Eine weitere bekannte Geschichte erzählt davon, wie die Amerikaner ihr Bildungssystem zu reformieren begannen, als sie mit den Erfolgen des sowjetischen Raumfahrtprogramms konfrontiert waren. Das ist doch auch ein ideeller Einfluss.

    Wenn man heute vom Einfluss Amerikas auf Russland oder Russlands auf Amerika spricht, dann impliziert man etwas Ungutes. Bei Ihnen ist „Einfluss“ fast immer für beide Seiten vorteilhaft.

    Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht. Wie wir wissen, folgte nach der „Entspannung“ eine neuerliche Abkühlung der Beziehung zwischen UdSSR und USA, die mit der Präsidentschaft Jimmy Carters zusammenfiel. Ich betone, der Krieg in Afghanistan begann 1979, aber das Verhältnis verschlechterte sich bereits 1977. Anlass für diese Abkühlung war, dass Carter bei einem bilateralen Gespräch die Einhaltung der Menschenrechte in der Sowjetunion in den Vordergrund rückte. In den 1960er Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass die USA etwas derartiges vorbringen: Sie hatten damals selbst eine gesetzlich verankerte Rassentrennung. In den 1970ern jedoch hatte die Bürgerrechtsbewegung in Amerika Erfolge erzielt und stand auf dem Gipfel ihrer Popularität – Carter konnte sie nicht ignorieren.

    Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht

    Gleichzeitig verlor Amerika Mitte der 1970er auf anderen Gebieten praktisch überall: Misserfolg in Vietnam, die heftigste Wirtschaftskrise seit der Great Depression, Watergate … Beim besten Willen nichts, worauf man stolz sein konnte. Es ging darum, das Land wieder auf die Beine zu stellen. Und es zeigte sich, dass es vor diesem beklemmenden Hintergrund doch auch eine gute Nachricht gab – das Ende der Rassentrennung [im Jahr 1964 – dek], in den USA siegten die Bürgerrechte, anders als in der UdSSR!

    Die Sowjetunion, die Andersdenkende und die eigenen Bürger unterdrückte, wurde wie eine Spielkarte zu innenpolitischen Zwecken eingesetzt, um die Stärken Amerikas besser hervorzuheben.   

    Also waren wir einander nützlich als „Feindbilder“?

    Das Verhältnis zwischen Russland und den USA gestaltet sich generell auf einer bildhaften, symbolischen Ebene. Wenn sich etwas verändert darin, dann bedeutet das nicht, dass der eine dem anderen tatsächlich etwas angetan hat.  

    Kann man von einer eindeutigen Dynamik des Russlandbildes in Amerika sprechen?

    Im Laufe des ersten Jahrhunderts der Unabhängigkeit Amerikas war Russland das europäische Land, das ihm von allen am freundlichsten gesinnt war. Eine markante Episode jener Zeit war das Erscheinen von zwei russischen Geschwadern in den Häfen von New York und San Francisco im Jahr 1863. Ihre Präsenz unterstützte die Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg moralisch. Andererseits reisten in den Jahren des Krimkriegs einige Dutzend amerikanische Ärzte nach Russland, um im belagerten Sewastopol in den Spitälern zu arbeiten: Viele von ihnen starben an Infektionen, den Überlebenden überreichte unser Chirurg Pirogow zum Andenken Medaillen mit der knappen Aufschrift „Sewastopol. Alles getan, was möglich war“.

    Zu bröckeln begann das Russlandbild in den 1880er Jahren, als der Journalist und Schriftsteller George Kennan Sibirien bereiste und dort auf gebildete und liberal denkende Verbannte und Zwangsarbeiter stieß, da war zum ersten Mal die Rede von Russland als „großem Gefängnis“. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts steckten auch die USA in der Krise, da nach dem Bürgerkrieg im Süden die Weißen wieder an die Macht kamen, die Rassentrennung festgelegt wurde und sich die Amerikaner natürlich die Frage stellten: Wofür haben wir gekämpft? Da kamen die Beobachtungen von George Kennan gerade recht, der den kritischen Blick der Amerikaner von sich selbst in Richtung Russland umlenkte, à la: Seht mal, dort haben sie überhaupt die besten Leute nach Sibirien verbannt!
    Die einstigen Verfechter der Unabhängigkeit des schwarzen Südens vereinigten sich also zur amerikanischen Society of Friends of Russian Freedom, um für die Befreiung des russischen Volkes von der Alleinherrschaft zu kämpfen.

    Russland und die USA als zwei extreme Versionen von Europa: eine konservative und eine radikale

    Damals begann sich ein interessantes dreiteiliges Darstellungssystem herauszubilden, wonach Russland und Amerika zwei extreme Versionen von Europa sind: eine konservative und eine radikale. Deswegen erweist sich Russland als willkommener Vergleichspunkt – als entgegengesetzter Pol im europäischen Kulturraum. Und deswegen ist es so harscher Kritik ausgesetzt. 

    Die gegenwärtigen Anwandlungen von Antiamerikanismus und Russophobie – sind die auch der Tradition gezollt?

    Beide Länder benutzten und benutzen Bilder voneinander zur Lösung ihrer inneren Probleme. Vor allem von Problemen, die mit einer Identitätskrise zu tun haben.

    Beide Länder benutzen einander zur Lösung ihrer Identitäts-Probleme

    Wenn Russland sich von Amerika „geplagt“ fühlt, heißt das, etwas stimmt mit unserer Identität nicht, irgendwo haben wir uns verloren. Wenn Amerika sich von Russland „geplagt“ fühlt, stimmt mit Amerika etwas nicht, es schafft einfach nicht, sich zu entscheiden, wie es nun sein soll: wie Hillary, wie Obama oder wie Trump … Aus der Sicht des Durchschnittsamerikaners muss man, wenn sich Russland wirklich in die Präsidentenwahlen der USA eingemischt hat, konkrete Schritte tun, um das nicht mehr zuzulassen: die Cybersecurity verstärken, irgendwelche internationalen Verträge abschließen, zusätzliche Mittel für Geheimdienste ausgeben – was auch immer.

    Aber mit Schaum vor dem Mund zu wiederholen, wie schlecht Russland ist, trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Das hat eine andere Funktion – den eigenen Schmerz zu lindern. Und dasselbe gilt auch für Russland.

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  • Sofa oder Wahlurne?

    Sofa oder Wahlurne?

    Wählen oder Nicht-Wählen, das ist die Frage, die sich angesichts der bevorstehenden Dumawahl den oppositionell eingestellten Bürgern stellt: Hauptargument gegen den Gang an die Wahlurne ist, dass Wahlen in einem autokratischen System nichts weiter seien als eine Farce, eine Imitation von Demokratie, und das Ergebnis sowieso schon feststehe. Wer wählen geht, erkläre sich damit einverstanden – und solle deswegen besser zuhause auf dem Sofa bleiben.

    Die Opponenten dieser sogenannten „Sofapartei“ jedoch appellieren, dass jedes Nicht-Handeln apolitisch sei und es durchaus gute Gründe für den Wahlgang gebe. Schließlich gehe es auch darum, die „demokratischen Muskeln zu trainieren“ und Weichen für die nächsten Wahlen zu stellen.

    Sofa oder Wahlurne? Slon.ru bat sieben renommierte Politik-Experten um ihren Ratschlag.

    Wählt, auf wen die Flasche zeigt

    In einem britischen Kinderbuch mit dem Titel Sie sind ein schlechter Mensch, Mr. Gum pflegt die Hauptperson und der Antiheld, also jener Mr. Gum, einen sehr unhygienischen Lebenswandel. Daraufhin siedeln sich in seinem Haus Insekten an, aber keine gewöhnlichen, sondern, wie der Autor schreibt, riesenhafte: mit Gesichtern, Namen und Dienstposten. So ein Gefühl bekomme ich bei dem Angebot an Parteien und Kandidaten. Wählt bitte, wen ihr lustiger findet, oder auf wen die Flasche zeigt, es spielt keine Rolle.

    Foto © cogita.ru
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    Grigori Golossow (geb. 1963) ist Politikwissenschaftler. Der Experte für Parteiensysteme forschte an renommierten internationalen Universitäten. Seit 2011 lehrt er an der Europäischen Universität Sankt Petersburg am Lehrstuhl für vergleichende Politikwissenschaft.

     

     

     

     

     


    Die wären nur froh, wenn ihr nicht hingeht

    Unter einer Vielzahl an Äußerungen zu den bevorstehenden Wahlen findet sich oft folgende: „Sie wollen, dass wir wählen gehen, also gehen wir nicht – und wer hingeht, der kooperiert mit ihnen und ist also ein Kollaborateur.“ Darauf basieren alle Ideen von Boykott und Delegitimierung des Regimes.

    Doch  im ersten Teil des Satzes ist ein Fehler: Sie wollen ja eigentlich überhaupt keine Wahlen. Und haben alle Wahlen abgeschafft, die man abschaffen kann, und den Rest reglementiert. Die Wahlen generell abschaffen können sie aber nicht, das wäre ein zu radikaler Schritt  – vorerst jedenfalls.    

    Insofern sind Wahlen für sie ein unangenehmes Prozedere, zu dem sie leider verpflichtet sind, obwohl sie, hätten sie die Freiheit, sie am liebsten abschaffen würden. In dieser Lage – man muss Wahlen durchführen, die man fürchtet – wäre es am besten, wenn die Leute gar nicht hingingen. Deswegen muss der Satz, mit dem ich diesen Text begonnen habe, anders lauten: „Sie haben Angst vor den Wahlen, können sie aber nicht abschaffen. Deswegen wären sie nur froh, wenn ihr nicht hingeht.“

    Foto © polit.ru
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    Ivan Kurilla (geb. 1967) ist Historiker und Amerikanist. Der Experte für Geschichtspolitik lehrt seit 2015 an der Europäischen Universität Sankt Petersburg und leitet das Partnerprogramm der Universität.

     

     

     

     

     


    An der Türe rütteln!

    Bei diesen Wahlen spricht man nicht mehr von „Wählergruppen“ – die gibt es im herkömmlichen Sinne nicht – weder regierungstreue, noch liberale, noch linke. Die Wählergruppen der Zukunft schlummern innerhalb der Gruppe X – das sind die, die unschlüssig sind oder nicht einmal die Leute aus dem eigenen Lager wählen wollen. Je nach Quelle sind das 15 bis 30 Prozent.

    Die Abgeordneten der 7. Staatsduma werden in den kommenden zwei bis drei Jahren im Zentrum der Umbrüche stehen. Und dann werden wir alle wollen, dass es eine gute Duma ist. Umso wichtiger, dass auf dem Ochotny Rjad noch andere sein werden als die vier Kopfnicker-Parteien.

    Wen werden oppositionell gestimmte Bürger wählen? PARNAS, die Partei des Wachstums, Rodina oder Jabloko – egal. Aus der neuen Palette wird sich jeder was aussuchen. Wir wählen am 18. September nur für den Sand im Getriebe des Druckers. Sollten ein oder zwei neue Fraktionen in die Duma einziehen, knirscht es im Drucker, und dann kriegen sie ihn vielleicht nicht wieder in Gang.     

    Zur Wahl gehen in dem Wissen, dass man auf euch – genau auf euch – dort nicht wartet! Da haben wir ihn, den Einzelprotest, den man sich gefahrlos erlauben kann. Doch dieser seltene Einzelprotest birgt die Chance, ein schnelles Ergebnis zu bringen. Ohne den Versuch, die Wahlen zu politisieren, werden wir nie erfahren, wie weit die Gesellschaft politisiert ist. Einen Versuch ist es wert. Denn man kriegt die Tür nicht auf, wenn man nicht zumindest einmal dran gerüttelt hat.

    Foto © CC BY-SA 3.0
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    Gleb Pawlowski (geb. 1951) war Mitbegründer und Direktor der Stiftung für effektive Politik – eines Thinktanks, der sich 2011 auflöste. Für viele Beobachter galt Pawlowski als „Chef-Polittechnologe“ des Kreml, im Zuge der Schließung der Stiftung wandte sich Pawlowski weitgehend von Putin ab und gilt seitdem als ein Kritiker seines Regimes.

     

     

     

     


    Für die stimmen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen

    Fehlt eine maßgebliche, geeinte Opposition, dann ist ein Umschwung bei den Wahlen unmöglich. Selbst wenn die Regierungspartei deutlich an Popularität einbüßt, gibt es einfach keinen Ersatz – ein Alternativvorschlag steht nicht auf dem Stimmzettel.

    Man kann aber ein Parlament anstreben, das weniger monopolisiert ist und untereinander konkurriert – also eines, in dem die Mitglieder ständig miteinander verhandeln müssen, genau wie die Exekutive es mit ihnen allen tun muss. Niemand hat dann ein Mehrheitspaket an Stimmen (und damit die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, ohne mit den anderen zu kooperieren).

    Ein solches Szenario ist zwar auch bei einer inneren Spaltung der Regierungspartei denkbar. Effektiver aber wäre es , wenn mehrere unterschiedliche Fraktionen und Gruppen in die Duma einzögen, egal welche ideologische Ausrichtung sie haben. Deswegen sollten Protestwähler ihre Stimme vielleicht einfach irgendeiner Partei geben, die nicht im Parlament sitzt. Denn die im Parlament brauchen ihre Stimme ja nicht.  

    Dann beginnt ein recht spitzfindiges Spiel: Wenn die von den oppositionellen Wählern gewählten Parteien es nicht ins Parlament schaffen, dann kommen ihre Stimmen dem Sieger zu Gute – also einer Partei, die durchgekommen ist. Daher hoffen womöglich viele, jene zu unterstützen, die an der Fünf-Prozent-Hürde kratzen.

    Foto © Niece/livejournal.com
    Foto © Niece/livejournal.com
    Ekaterina Schulmann (geb. 1978) ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Sie schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti, Grani.ru und Colta und gilt als Expertin für das Herrschaftssystem Russlands.

     

     

     

     

     


    Schaut genau hin!

    Das Problem der aktuellen Wahlen für den oppositionellen Wähler ist: So gut wie jedes Votum konserviert das bestehende System. Möglichkeiten des Protestwählens fehlen praktisch völlig. Es gibt keine Option „gegen alle“ zu sein, die Abstimmung mit den Füßen mehrt die Stimmen für die regierende Partei. Die Unterstützung der systemischen Opposition, die sich dem Kreml immer weiter annähert, führt zu keiner Veränderung der Kräfteverhältnisse.

    Für den oppositionellen Wähler bleibt nur eine für ihn relativ wirksame Taktik: Beobachtung statt Teilnahme. Das Sammeln von Informationen über Verstöße, die Verbreitung dieser Daten über zugängliche, legale Wege, die Analyse, wie das System mit all seinen Nuancen funktioniert und genaue Kenntnis über das Wahlrecht – das alles ist eine Art Ressource, die sich positiv auf das oppositionelle Umfeld und seinen Reifungsprozess auswirkt.  

    Geht ins Wahllokal, seht euch an, wie alles funktioniert, schaut, welche Wahlbeobachter anwesend sind, notiert die persönlichen Angaben jener, die die Exit-Polls durchführen und vergleicht danach deren Daten mit den offiziellen Ergebnissen aus eurem Wahlbezirk. Den Stimmzettel kann man nach eigenem Gutdünken verwenden.

    Foto © obsfr.ru
    Foto © obsfr.ru

    Tatjana Stanowaja (geb. 1978) ist Leiterin der Analyse-Abteilung im Zentrum für Politische Technologien. Ihre Analysen werden oft von wissenschaftlichen und unabhängigen Massenmedien veröffentlicht

     

     

     

     

     

     


    Wählen als Widerstand

    Ich glaube, bei den bevorstehenden Wahlen wird den Leuten, die dem Land Wohlergehen und Fortschritt wünschen, im Großen und Ganzen dasselbe geboten wie vor vier Jahren. Das, was man uns anbietet, sind keine Wahlen, sondern ein sorgfältig inszenierter Betrug. Diesmal ist der Fake so einstudiert, dass er auch ohne Wahlbeteiligung auskommt. Er hat jetzt die Stufe der Selbstgenügsamkeit erreicht. Er ruft die Passivität der Bürger hervor, ja, er fördert sie sogar.

    Und deswegen wäre es meiner Ansicht nach für diejenigen, die sich diesem Betrug widersetzen wollen, am sinnvollsten, einfach wählen zu gehen. Aber nicht mit der Vorstellung, jemanden zu wählen oder für jemanden zu stimmen. Es gibt keine Wahlen. Es gibt eine rechtswidrige Aneignung von Wahlverfahren und es gibt Widerstand dagegen. Das Ausmaß des geleisteten Widerstands wird sich auf den weiteren Kurvenverlauf der Ereignisse auswirken.

    © V. Shaposhnikov/Kommersant
    © V. Shaposhnikov/Kommersant

    Kirill Rogow (geb. 1966) ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er war Mitbegründer und zwischen 1998 und 2002 Chefredakteur des Online-Mediums Polit.ru. Zwischen 2005 und 2007 war Rogow stellvertretender Chefredakteur der Zeitung Kommersant. Er schreibt regelmäßig für die unabhängigen Medien Vedomosti und Novaya Gazeta.

     

     

     

     


    Es gibt weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren

    Bei diesen Wahlen gibt es für den oppositionellen Wähler keine gute Strategie – ihr werdet nichts gewinnen, aber auch nichts verlieren, auch wenn ihr gar nicht hingeht.

    Diese Wahlen finden vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Niedergangs und einer tiefen Krise der liberalen Bewegung statt. Das Wahlergebnis – das Scheitern der alten liberalen Parteien – wird die Frage nach einer völlig neuen Etappe der Gesellschaft als ganzer aufwerfen. Der Kreml wird über die Einerwahlkreise eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit in der neuen Duma bilden.

    Als nächstes stellt sich die Frage der Präsidentenwahl 2018. Und hier wird dann das gebraucht, was vor der Dumawahl nicht zustande gekommen ist: eine neue demokratische Koalition, die eine Strategie des Widerstands anzubieten hat gegen das heraufziehende Regime lebenslänglicher Macht.  

    Foto © CC BY-SA3.0
    Foto © CC BY-SA3.0
    Alexander Morosow (geb. 1959) ist Journalist und war bis 2015 Chefredakteur des Russischen Journals – eines Onlinemediums, das seit 1997 existiert. Zwischen 2008 und 2013 schrieb Morosow regelmäßig für die unabhängigen Medien Slon, Colta, Vedomosti und Grani.ru.

     

     

     


    Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

  • Die Fragen der Enkel

    Die Fragen der Enkel

    „Es gab einen Mord.“ Der FSB-Beamte im sibirischen Tomsk muss sehr erschrocken sein. Der junge Mann vor ihm ließ nicht locker: „Es gab einen Mord und ich möchte wissen, wer die Verantwortlichen sind.“

    Der Mord, zu dem Denis Karagodin seit jenem Tag forscht, liegt viele Jahrzehnte zurück: Es geht um seinen Urgroßvater Stepan Karagodin. Der Kosake war Bauer, hatte neun Kinder und wurde in den Jahren des Großen Terrors unter Stalin vom NKWD verhaftet und als „japanischer Spion“ erschossen.

    Stepan Karagodins Schicksal ist kein Einzelfall, genauso wie das seiner Familie: Mehr als eine Million Menschen fielen in den Jahren 1937/38 dem Großen Terror zum Opfer. Mehrere Jahre wusste keiner in der Familie Karagodin, wo der Vater war, ob er überhaupt noch lebte. Irgendwann Mitte der 1950er Jahre erfuhr die Familie dann, dass Stepan Karagodin „rehabilitiert“ sei. Da war er schon fast 20 Jahre tot.

    Denis Karagodin gibt sich nicht zufrieden mit der „Entschuldigung“ aus den 1950er Jahren. „Jede Generation meiner Familie hat versucht, sein Schicksal zu rekonstruieren“, sagt er kürzlich im Interview mit Radio Svoboda. Karagodin möchte die Schuldigen zur Verantwortung ziehen. Sammelt seit Jahren Dokumente, die den Mord an seinem Urgroßvater belegen, rekonstruiert den Ablauf der Ereignisse und die Namen der Beteiligten. Alles hat er auf seinem Blog dokumentiert. Denis Karagodin sieht den FSB als Nachfolgeorganisation des NKWD in der Verantwortung, und er lässt nicht locker.

    Iwan Kurilla beschreibt auf slon.ru, was Karagodins Nachforschungen für die russische Gesellschaft bedeuten könnten.

    Jahrelang wusste keiner in der Familie, wo Stepan Karagodin war –  Foto © Denis Karagodin

    Dieser Tage ging die Geschichte von Denis Karagodin durch die Medien: Ein Absolvent der Tomsker Universität, der zu den Todesumständen seines Urgroßvaters Stepan forscht, Anfang 1938, in der Zeit des Großen Terrors. Nach der Verurteilung im „Prozess gegen die Spionage- und Sabotagegruppe von Harbinern und Deportierten aus dem Fernen Osten“ sowie als „Gruppenführer des japanischen Militärnachrichtendienstes“ wurde Stepan Karagodin Anfang 1938 vom NKWD erschossen.

    Denis ging zum FSB und verlangte, Nachforschungen zum Tod seines Urgroßvaters anzustellen und die Schuldigen an diesem Verbrechen festzustellen. In Russland erscheint ein solcher Schritt naheliegend – und gleichzeitig unmöglich.    

    Das Gebot „sich ja rauszuhalten“     

    Millionen von Menschen haben in den Jahren des Staatsterrors in der UdSSR ihre Verwandten verloren, bekamen während des Tauwetters der Ära Chruschtschow lückenhafte Informationen zu deren Rehabilitierung  und dann in Gorbatschows Perestroika ein etwas genaueres Bild – diesen Verlust erlebten sie als persönliches Leid. Der Staat hatte ihnen die Angehörigen entrissen und diese posthum (oder im Glücksfall auch noch zu Lebzeiten, nach Jahrzehnten im Gulag) von Schuld freigesprochen – und dafür konnte und musste man ihm „danke“ sagen.     

    Die Generation, die die Stalinzeit erlebt hat, hatte den Staat fürchten gelernt und ihren Kindern das Gebot mitgegeben, „sich ja rauszuhalten“. Eine besondere, fast abergläubische Angst empfanden die Bürger vor den Organen der Staatssicherheit.

    Wahrscheinlich war die politische Ruhe der relativ wenig repressiven Breshnew-Zeit teilweise der Fügsamkeit der Bevölkerung zu verdanken. Die wusste aus der Erfahrung ihrer Eltern, dass der Staat anfangen kann zu töten. Kein Wunder, dass allein der Gedanke, Ansprüche gegen den Staat geltend zu machen, erst dem in der Zeit nach Breshnew geborenen Urenkel eines Hingerichteten in den Sinn kam.

    Verbrechen als Verbrechen benennen

    Denis Karagodin warf die Frage auf nach der Verantwortung des Staates und der konkreten Terror-Vollstrecker. Und zwar nicht die Frage nach der politischen Verantwortung, über die man schon seit dem XX. KPdSU-Parteitag gesprochen hatte, sondern die ganz banale Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung.

    So ist es doch: Die Ermordung eines unschuldigen Menschen, egal durch wen, verlangt nach Ermittlungen und nach Bestrafung der Täter. Falls die Täter einen Befehl ausgeführt haben, dann muss sich die Strafe auf die ganze Befehlskette erstrecken. Ist seither zu viel Zeit vergangen und aus diesem Befehlsgefüge niemand mehr am Leben, dann müssen in strafrechtlichen Ermittlungen die Namen festgestellt und Verbrechen als Verbrechen benannt werden.

    Die Vergangenheit aufarbeiten

    In Russland hat es weder eine Kommission zur nationalen Versöhnung noch ein Tribunal für die Henker gegeben. Wie Alexander Etkind in seinem kürzlich erschienenen Buch Kriwoje gore (Verzerrtes Leid) aufzeigt, hat die russische Gesellschaft daher die Folgen des Gulag bis dato nicht verarbeitet. Sie schwingen noch mit in Kultur und Wissenschaft, in der Beziehung der Menschen untereinander und der Menschen zum Staat.

    Oft heißt es, eine völlige Verurteilung des Stalinismus sei in Russland nicht möglich, denn im Unterschied zu Deutschland, wo die Entnazifizierung von den Besatzungsmächten vorgenommen wurde, habe die UdSSR keine militärische Niederlage erlitten und sei daher gezwungen, ihre Vergangenheit selbst aufzuarbeiten. Die politische Kräftebalance erlaube es angeblich nicht, die Frage nach den Verbrechen des Staates unter Führung der Bolschewiken zu stellen.

    Verfechter der stalinistischen Sowjetunion reduzieren den Streit oft auf die Opferzahlen: Sind die nicht übertrieben? Waren es wirklich Millionen und nicht eher nur Hunderttausende Getötete? Als würde die Verlagerung der Diskussion in den Bereich der Statistik es obsolet machen, über das tragische und kriminelle Erbe des Staates zu sprechen.  

    Konkretes Schicksal statt trockene Statistik

    Denis Karagodin hat nun sein Modell der Vergangenheitsbewältigung vorgeschlagen: persönliche Ermittlung und eine persönliche Klage wegen Tötung seines Urgroßvaters. Das ist ein konkretes Schicksal, keine trockene Statistik. Die Archive des FSB bergen Geheimnisse von Spitzeln und Henkern – ob sie wohl auf die Forderung eines Bürgers hin geöffnet werden?

    Es ist zu erwarten, dass die Geschichte Karagodins Vorbildwirkung hat. Auch Angehörige anderer in den Jahren des Terrors Verurteilter könnten vor Gericht ziehen. Dass der Staat darauf mit Einverständnis reagiert, ist nicht gesagt. Womit aber will er begründen, solche Ermittlungen zu verweigern?

    In der Sowjetzeit war Angst das Hauptargument. Heute wird sich die Judikative, um solche Ermittlungen zu umgehen, irgendeine juristisch fachkundige Antwort überlegen müssen, die ihrerseits Anstoß für eine Diskussion innerhalb der Gesellschaft sein kann. Jener Diskussion, die es bei uns weder in den 50er- noch in den 80er-Jahren gab.  

    „Große Geschichte“ und familiäres Gedächtnis

    In den 80er-Jahren fand die Ent-Stalinisierung in den Medien und bei Aktivisten statt. Vielen kam das vor wie eine Art Propaganda: Journalisten schrieben über Repressionen, Memorial sammelte Dokumente von Verfolgten, doch im Grunde blieben die Bürger „Konsumenten“ dieser Informationen und hatten sie irgendwann satt (beteuern jedenfalls jene, die sich gegen eine neuerliche Diskussion zur sowjetischen Vergangenheit aussprechen).
    Jetzt aber geht es um die Rekonstruktion von Familiengeschichte, und in diesem Zusammenhang kann die Ent-Stalinisierung zu einer persönliche Angelegenheit von Hunderttausenden Staatsbürgern werden.     

    Erinnerungsforscher bemerkten vor einiger Zeit, dass das Interesse der Russen an ihren familiären Wurzen rasant ansteigt. Genealogische Forschungen, Familienchroniken, das Durchforsten von Dokumentenarchiven, Geburtsurkunden und Gräbern der Vorfahren verbreiteten sich überall in Russland, in ganz unterschiedlichen sozialen Schichten. Den Platz des „Geschichtslehrbuchs“ nimmt immer öfter die Familiengeschichte ein – als Teil der Landesgeschichte. Und wenn es in diesen Familiengeschichten noch offene, aufgeschlagene Seiten gibt, dann versucht die Enkelgeneration, diese endlich zu schließen.   

    Vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch

    Auf der Website von Memorial finden sich immer mehr Informationen zu Verfolgten, die Sparte wird oft angeklickt. Die Initiative Posledni Adres (dt. Letzte Adresse) montiert auf die Bitte Angehöriger hin Schilder an Häuser, wo Opfer des Staatsterrors abgeholt wurden. Diese wirkungsvolle Bewegung zur Aufarbeitung der Familiengeschichte ist etwas ganz anderes als der Kampf der Intelligenzija in den Medien um das richtige Verständnis der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Das neue Gedenken ist komplexer und vielschichtiger als ein Geschichtslehrbuch.  

    Es gibt eine deutliche Parallele zwischen dem Fall Karagodin und der Aktion Bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment). In beiden Fällen wenden sich Nachkommen ihrer Familiengeschichte zu; sie schreiben ihre Großväter in die Geschichte des Landes ein und betrachten die Geschichte des Landes mit den Augen ihrer Großväter. Im Fall des Unsterblichen Regiments entschloss sich der Staat, die Initiative der Bürger zu unterstützen. Wird er bereit sein, auch andere Initiativen zu unterstützen? Können Bürger den Staat dazu bringen, sich zu verändern?

    Man würde gern dran glauben, dass es auf diese Fragen eine positive Antwort gibt.

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