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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Ein Schweißer auf Abwegen

    Ein Schweißer auf Abwegen

    Das war der Stoff, aus dem Helden gemacht werden: Ein bekannter junger Regimekritiker wird festgenommen, indem das Flugzeug, in dem er sitzt, zur Landung genötigt wird. Roman Protassewitsch wurde so zum bekanntesten politischen Gefangenen des Regimes von Alexander Lukaschenko, das ihn auf die Liste gesuchter „Terroristen” gesetzt hatte. Sein Vergehen: Der damals 26-Jährige war zeitweise Chefredakteur von Nexta, einer digitalen Plattform, die während der Proteste 2020 in Belarus zu einem der wichtigsten Medien avancierte.    

    Dann aber bekam die Geschichte einen gewaltigen Knick. Was ist passiert? Für das russische Online-Portal Novaya Gazeta Europe geht die belarussische Journalistin Iryna Chalip der Verwandlung des Roman Protassewitsch nach. 

    Die Verhaftung von Roman Protassewitsch und seiner Freundin Sofia Sapega war filmreif: Am 23. Mai 2021 machte ein Flugzeug der Ryanair, das von Athen nach Vilnius flog und sich gerade in belarussischem Luftraum befand, auf Anweisung der Flugsicherung eine Notlandung in Minsk. Angeblich bestand Verdacht, ein Sprengsatz sei an Bord. Alle Passagiere durften später nach Vilnius weiterreisen, nur Protassewitsch und Sapega wurden festgenommen.  

    Der Westen reagierte prompt: Der einzigen belarussischen Fluggesellschaft Belavia wurden nicht nur Flüge nach Europa verboten, sondern auch das Durchqueren des EU-Luftraums. Auf europäischen Flughäfen tauchten Porträts von Roman Protassewitsch auf, an Minsker Balkonen hingen Plakate mit einem einzigen Wort: Roma. Und schließlich erschien Roman höchstselbst.  

    Am 14. Juni versammelten sich Journalisten zu einer Pressekonferenz über den Zwischenfall mit dem Flugzeug. Das Aufgebot der Redner konnte sich sehen lassen: Igor Golub, Kommandeur der belarussischen Luftstreitkräfte und Flugabwehr, Dmitri Gora, Vorsitzender des Ermittlungskomitees, Artjom Sikorski, Chef der Abteilung für den Flugverkehr im Transportministerium, Andrej Filatow, Leiter der Ersten Hauptverwaltung des staatlichen Grenzkomitees – und der verhaftete Protassewitsch. 

    Roman war gutgelaunt und optimistisch, sagte, keiner würde ihm was tun, seine Kooperation mit den Ermittlern sei absolut freiwillig, das Wichtigste sei für ihn, den Schaden wiedergutzumachen, den er als Chefredakteur von Nexta seinem Heimatland zugefügt habe, er fordere seine Eltern zur Rückkehr nach Belarus auf, denn hier seien sie vollkommen außer Gefahr.  

    Damals hätte niemand gewagt, Protassewitschs Auftritt zu verurteilen oder auch nur schief zu gucken: Der Mann war im Gefängnis, und alle kennen die Methoden, mit denen Schuldeingeständnisse, Zusammenarbeit mit den Behörden und Reuebekundungen erzielt werden. Zehn Tage später wurde bekannt, dass Protassewitsch und Sapega in den Hausarrest wechseln durften, nämlich in ein Landhaus im Grünen, das die Silowiki den beiden zur Verfügung stellten.

     

    Ein Mann zeigt ein Plakat mit dem Porträt von Roman Protassewitsch auf dem Marsch der Solidarität mit Belarus am 29. Mai 2021 in Krakau / © Foto Beata Zawrzel/ NurPhoto/ Imago 

    Ein erfolgloser Telegram-Kanal 

    Im darauffolgenden Sommer 2021 gab Roman Protassewitsch reihenweise Interviews für Propagandamedien, in denen er genüsslich erzählte, wer von den Oppositionellen im Exil heftig trinke, wer Geldprobleme habe und wer Orgien feiere. Er stellte Nexta-Gründer Stepan Putilo bloß, der Roman zufolge gar nichts gegründet und geleitet habe, sondern nur ein Großmaul sei. Seine Behauptungen, die Proteste von 2020 in Belarus hätten westliche Geheimdienste organisiert und finanziert, waren Musik in den Ohren der Propagandisten. Alexander Lukaschenko war begeistert von Protassewitschs „eisernen Eiern“. 

    Im August gründete Protassewitsch seinen eigenen Telegram-Kanal, auf dem er Insiderwissen und exklusive Details versprach. Er kündigte an, auf seinem Kanal werde es „keine Feindseligkeit, keine ungesicherten Informationen und keinen Platz für unverblümte Propaganda“ geben. Der Hintergedanke des Regimes lag somit offen. Wer in Belarus unter Hausarrest steht, hat kein Recht auf Kontakte und darf keine Kommunikationsmittel benutzen. Interviews für Propagandamedien sind allerdings eine Ausnahme, für die auch Gefängnisse ihre Tore öffnen. Doch wenn einer unter Hausarrest einen Telegram-Kanal gründet, bedeutet das, dass er damit eine Aufgabe erfüllt, die ihm jene stellen, die ihn verhaftet haben.            

    In Protassewitschs Fall ist alles klar: Er ist der berühmteste Häftling von Belarus (niemand wurde je mit einer erzwungenen Landung eines Flugzeugs und unter Begleitung eines Kampffliegers MiG-29 im Abfangmodus verhaftet), sein Foto ist in der ganzen Welt bekannt, alle machen sich Sorgen um ihn. Immerhin war er Chefredakteur von Nexta, das 2020 über Belarus hinaus auf der ganzen Welt eines der beliebtesten Medien war. Und auch diesmal würden alle Belarussen und die ganze progressive Menschheit Roman Protassewitschs Telegram-Kanal abonnieren. Das ist kein Propagandist wie Asarjonok mit seinen anderthalb Bauarbeitern, die ihm folgen, und das nur zum Spaß. Das ist eine echte Chance, staatliche Lügen in einem riesigen Publikum zu verbreiten.        

    Doch dazu kam es nicht. Die Hoffnung wurde enttäuscht. Roman Protassewitschs Kanal folgten gerade mal zweieinhalbtausend Abonnenten – offenbar aus Mitgefühl. Die überwiegende Mehrheit der Belarussen, auch jene, denen er leidtat, ignorierten seinen Versuch, ein „alternatives“ Medium zu gründen: die einen, weil sie davon ausgingen, dass er das sowieso alles unter Folter macht, die anderen, weil sie den wahren Sinn dahinter schon begriffen hatten und nicht einmal mit simplen Views daran beteiligt sein wollten.  

    Zumal gleich der erste Post davon handelte, dass die Befreiung politischer Häftlinge kein Märchen sei, sondern Realität, aber unter der Bedingung, dass sie ihre Schuld eingestehen und ehrlichen Herzens bereuen. Und davon, dass auf Lukaschenkos Schreibtisch bereits die Liste der Menschenrechtler, Journalisten und engagierten Bürger liege, die demnächst das Gefängnis verlassen würden. Darunter auch der Blogger Ihar Losik, der seine Schuld gestehe und bereue. (Übrigens befindet sich Ihar Losik seit zwei Jahren in völliger Isolationshaft, sodass er diese Meldung nicht einmal dementieren oder bestätigen kann.)  

    Generell sind angesichts der Tatsache, dass noch nie eine Journalistin oder ein Menschenrechtsaktivist ohne [Lukaschenkos – dek] „Anruf“ freigekommen ist, die Informationen auf Protassewitschs Telegram-Kanal keinen roten Heller wert. Das haben wohl auch die Erfinder des Plans mit diesem alternativen Medium kapiert, denn der Kanal ist längst verstummt. 

    Im Mai 2022 gingen sogar den paar Wenigen die Augen auf, die noch glaubten, Protassewitsch werde auf der Folterbank dazu gezwungen, Posts über die notwendige Reue vor dem Staat zu verfassen. Gerade mal drei Tage, nachdem Sofia Sapega wegen „Anstiftung zum sozialen Unfrieden“ zu sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurde, sagte Roman sich von ihr los und publizierte einen Post mit dem Text: „Sonja wurde für ihre reale Tätigkeit verurteilt und nicht dafür, dass sie eine Beziehung mit mir hatte.“ Er beschrieb detailreich, wie Sapega den Telegram-Kanal Tschjornaja kniga Belarusi (dt. Schwarzbuch Belarus) betrieb, auf dem persönliche Daten von Silowiki veröffentlicht wurden: Er berichtete von Spam-Angriffen und Drohanrufen an Telefonnummern aus diesem „Schwarzbuch“ und von „Brandstiftungen und diversen anderen Aktionen“.  

    Überhaupt, schrieb Protassewitsch, sei er nicht mehr mit ihr zusammen, er habe geheiratet, und außerdem sei er politisch engagiert, während sie immer ganz direkt gegen die Silowiki agiert habe.  

    Apropos, auch Protassewitsch hatte inzwischen vor Gericht gestanden und war sogar zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden. Wobei er nicht inhaftiert wurde, sondern nach Hause gehen durfte. Zehn Tage später wurde er begnadigt. 

    Der letzte Verrat 

    Die Belarussen sind in den vergangenen Jahren zu einer Nation von Gefangenen geworden. Und haben vor allem eines verinnerlicht: Man darf sein Leben und seine Freiheit mit allen Mitteln verteidigen – man darf öffentlich Reue bekunden, Gnadengesuche schreiben, seine Schuld bekennen, gegen sich selbst aussagen. Nur eines darf man nicht: Man darf keine anderen Menschen preisgeben. Man darf nicht denunzieren. Man darf sich nicht durch Petzen freikaufen. Mit seinen Berichten auf Propagandasendern darüber, wer säuft, wer schnieft und wer in einer zu teuren Wohnung wohnt, hat Roman diese Grenze überschritten. Sein Post über Sofia nach dem Urteil gegen sie war sein letzter Verrat – danach hielt ihn endgültig niemand mehr für ein Opfer.          

    Wenn 2021 die Hochsaison des Bloggens war, so stand 2022 der Versuch im Vordergrund, Protassewitsch zum staatlichen Rechtsvertreter zu machen. Das Regime versuchte, ihn in der Wirtschaft einzusetzen, und im Januar 2022 wurde Roman, der offiziell noch unter Hausarrest stand, Mitarbeiter des regierungstreuen Zentrums Sistemnaja prawosaschtschita (dt. Systemische Menschenrechtsarbeit). 

    Zusammen mit „System-Kollegen“ begann er, eine Klage gegen die Fluggesellschaft Ryanair vorzubereiten und gleichzeitig seine ehemaligen Anhänger zu beschuldigen, den belarussischen Geheimdiensten die Informationen zu seinem Flug „gesteckt“ zu haben. Das Schicksal dieser Klage ist nicht bekannt, im Mai 2023 allerdings kommentierte Dmitri Beljakow, Direktor von Sistemnaja prawosaschtschita, Roman Protassewitschs Begnadigung durch Lukaschenko mit den Worten: „Wir sind sehr froh, dass unser Freiwilliger Roman Protassewitsch begnadigt wurde.“  

    Eigentlich hatten ein Jahr davor noch beide gesagt, dass Roman dort angestellt sei und nicht nur ehrenamtlich helfe. Aber egal, schon hatte die nächste Saison angefangen, und die vorige war wieder gescheitert, da Protassewitsch als staatlicher Rechtsschützer auch nicht wirklich „glänzte“. Also gaben sie ihm Helm und Visier und sagten: Du wirst jetzt Schweißer, du hast ja eh von nichts ‘ne Ahnung. 

    Als Schweißer in den Diensten der Propaganda tauchte Protassewitsch wieder öfter im belarussischen und russischen Fernsehen auf – bei Asarjonok, Sobtschak, Pridybajlo. Er erzählte, dass Schweißer in Belarus so viel verdienten, wie angehende IT-Fachkräfte nicht mal zu träumen wagten. Dass bei ihm in der Fabrik lauter starke, echte Männer arbeiteten, die viel schafften, viel verdienten und sich einen Dreck um Politik scherten.  

    Nach eineinhalb Jahren Stille holte Protassewitsch seinen verstaubten Telegram-Kanal wieder hervor und postete dort seine Urlaubsfotos aus den Emiraten: Seht alle her, ein einfacher belarussischer Arbeiter kann sich locker einen Urlaub in den Emiraten leisten, also, wer im Exil ist – beneidet uns. Wer in Belarus bleibt, schätzt bitte das, was ihr habt, und wer hinter Gittern sitzt – zeigt Reue!     

    Man muss ihm lassen, das Schweißer-Image zeigte in den ersten Wochen fast Wirkung: Protassewitsch bekam wieder Aufmerksamkeit. Aber nicht lange.              

    Fotos wie von Zauberhand 

    Das Problem mit den schlauen Köpfen der belarussischen Regierung ist, dass sie nicht über den nächsten Tag hinausdenken können, für übermorgen fehlt ihnen die Fantasie. Vom Schweißer haben sie genug gesehen, also widmen sie sich wieder wichtigeren Dingen. Aber so viel Aufwand, so viel Mühe, so viel Sendezeit, so viele Projekte – das schmeißt man doch nicht einfach weg, für nichts und wieder nichts.  

    Und da ließen sich Lukaschenkos Superköpfe einen schlauen Plan einfallen. Denn wer die Belarussen am allermeisten interessiert, um wen sie sich Sorgen machen und über wen sie mehr wissen wollen, das sind die politischen Häftlinge. Vor allem jene, die inkommunikado, also völlig isoliert, inhaftiert sind. Und wenn es Protassewitsch ist, der die Eisentür zur Gefängnisbaracke öffnet, dann kriegt eben er die Lorbeeren und die Aufmerksamkeit des Publikums, und alles, was er sagt, wird gierig verschlungen.  

    Der 12. November 2024 brachte dann eine Sensation: Die Belarussen bekamen ein Foto von Maria Kolesnikowa gezeigt, die seit 22 Monaten inkommunikado inhaftiert war. Der Kontakt zu ihr war im Februar 2023 abgerissen: Es kamen keine Briefe mehr, der Anwalt wurde nicht vorgelassen, und Frauen, die aus der Strafkolonie in Homel entlassen wurden, erzählten, Maria sei in eine Isolationszelle gesperrt worden und niemand habe sie gesehen. Es gab nur schreckliche Gerüchte, dass man sie verhungern lasse, sie wiege 45 Kilogramm. Im September veröffentlichte Kolesnikowas Schwester Tatjana Chomitsch auf Facebook die Forderung nach Nahrung und ärztlicher Versorgung für Maria. 

    Am 12. November 2024 konnten alle sehen, dass Maria am Leben ist. Roman Protassewitsch brachte ihren Vater in die Strafanstalt, und das Tor öffnete sich wie von Zauberhand. Der Schweißer wurde in das Gefängnis eingelassen und durfte Vater und Tochter fotografieren. Später nahm Roman im Auto ein Video auf, in dem Marias Vater sagt, sie habe ihm versprochen, über ein Gnadengesuch nachzudenken. Insofern wurden dank Protassewitsch nicht nur zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, sondern ein ganzer Fliegenschwarm. Inkommunikado? Ach was, der Papa war da, die Tür ging auf, alle sind happy. Maria wiegt nur 45 kg? Aber seht doch, wie rosig ihre Wangen sind. Ihr Anwalt hat sie zwei Jahre nicht gesprochen? Offenbar war er nicht sehr hinterher. Protassewitsch wurde ja auch reingelassen, dabei ist er für Kolesnikowa ein Niemand – nur so ein Schweißer. Dann noch dieses Versprechen, über ein Gnadengesuch nachzudenken: einfach nur Bingo.                          

    Am 8. Januar 2025 war Protassewitsch wieder in einer Strafkolonie, diesmal in Nowopolozk. Und veröffentlichte Fotos und Videos des ebenfalls seit fast zwei Jahren isolierten Viktor Babariko. Genau wie Kolesnikowa war Babariko im Februar 2023 verschwunden. Kein Anwalt, kein Brief, kein Anruf, keine Besuche. Doch dann kam Roman Protassewitsch, und die Türen gingen sperrangelweit auf. Und alle sahen, wie gut es Viktor Babariko geht, wie freundlich er lächelt und wie er überhaupt nicht aussieht wie einer, der hinter Mauern gemartert wird. In dem Video gratulierte er seiner Tochter und seiner Enkelin, und auf dem Foto sah man, wie er etwas schrieb.       

    Protassewitsch erklärte: Ich bin hier, um Babariko schöne Grüße von seinen Lieben zu überbringen und umgekehrt einen Brief von ihm mitzunehmen. Die Botschaft war klar: Ihr Menschenrechtler und Anwälte, ihr Journalisten und Politiker, internationale Gemeinschaft und Zivilgesellschaft, ihr seid alle Loser. Ihr habt in zwei Jahren nicht geschafft, was Roma Protassewitsch elegant und mühelos zuwege bringt: die Betonmauern zu durchbrechen. „Wir haben uns ziemlich lange unterhalten, haben gescherzt, sogar das eine oder andere Mal gelacht“, sagte Protassewitsch übermütig. Solche Töne schlugen früher gern die Erzieherinnen auf Pionierlagern an – glückliche Herrscherinnen über Trommel und Horn, für kleine Pioniere unerreichbar. Protassewitsch ist nun der Herrscher über den Zugang zu isolierten politischen Gefangenen, deren Angehörige in ihrem Unwissen seit zwei Jahren am Durchdrehen sind. 

    In Belarus wird nicht mehr darüber diskutiert, ob Protassewitsch trotzdem noch als Opfer gelten kann. Selbst die mit den weichsten Herzen haben zugegeben, dass die Opferstory an dem Punkt zu Ende war, als kübelweise Schmutz aus dem Fernsehen quoll. Einer, der auf allen möglichen Sendern genüsslich erzählt, wer von den Oppositionellen kokst, wer einen Preis abgeräumt hat und wer für den Geheimdienst arbeitet – der ist kein Opfer mehr. Die Belarussen sind in den letzten Jahren zu einer Nation von Häftlingen geworden. Sie sind nett zu Mithäftlingen und böse auf Verräter.  

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  • Zuflucht Theater

    Zuflucht Theater

    Diejenigen, die sich noch an Michail Borsykin erinnern, nennen ihn eine Legende. Aber es erinnern sich nicht mehr viele an den Musiker, der in der Zeit des großen Umbruchs Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre bekannt wurde. Kein Wunder: Während andere Bands Stadionhits komponierten, wollte er sich keinem Trend anpassen. Das galt auch politisch. Wladimir Putin war ihm von Anfang an suspekt. 2014, als Russland nach der Krim-Annexion im patriotischen Taumel lag, schrieb er das Lied „Vergib uns, Ukraine“. Als Putin acht Jahre später den großen Angriff startete, verließ er das Land. In einer kleinen Stadt an der Küste von Montenegro betreibt er gemeinsam mit einem Schauspielerpaar aus der Ukraine ein Theater. Die Vorstellungen sind ausverkauft. 

    Michail Borsykin auf einem Konzert in Budva am 19. Januar 2024 / Foto © Waleri Wassilewski
    Michail Borsykin auf einem Konzert in Budva am 19. Januar 2024 / Foto © Waleri Wassilewski

    Neulich rief während der Theater-Aufführung jemand die Polizei. Das Stück Almar von Alexander Gelman wurde in Montenegro gespielt, in einem kleinen Saal zwischen Budva und Bečići. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen. Eine Mitarbeiterin des Theaters bat die Polizisten, die Schauspieler noch zu Ende spielen zu lassen, es würde nur noch eine halbe Stunde dauern. Die Polizisten sagten: Gut, aber der da soll nicht so laut singen. Wer da so laut gesungen hatte, war Michail Borsykin.   

    Die Sankt Petersburger Band Telewisor ist eine besondere Band. Auch wer kein dezidierter Fan ist, kennt die Songs S wami goworit telewisor (dt. Hier spricht Ihr Fernseher) und Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist). In den 1990er Jahren, als in Russland Rock vorübergehend zum Showbusiness wurde, blieb Telewisor sich treu. Sie mussten nicht unbedingt Stadien füllen und schrieben keine Songs, zu denen man sich auf den Tribünen in den Armen lag und brennende Feuerzeuge schwenkte. 

    Seit zwei Jahren lebt Michail Borsykin im montenegrinischen Urlaubsort Budva und vermisst Sankt Petersburg kein bisschen – die Ästhetik einer Megapolis bedrückt ihn, wie er sagt, während ihn die kleinen Städtchen hier irgendwie an seine Kindheit in Pjatigorsk erinnern. 

    Zusammen mit den ukrainischen Schauspielern Katarina Sintschillo und Wiktor Koschel gründete er in Budva das European Art Community Theater (EuroACT). 

    Anfang der 1990er Jahre – es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen

    „Anfang der Neunziger war ich euphorisch, so wie alle damals“, erzählt Boryskin. „Das war eine Zeit der Innenschau: Wir dachten, wir könnten unser soziales Umfeld vergessen und uns endlich mit uns selbst beschäftigen. Doch auch da trat allerhand Schreckliches zutage. Also, es war eine Euphorie mit Tränen in den Augen. Als in der zweiten Hälfte der Neunziger der Tschetschenienkrieg begann, wurde mir klar, dass keineswegs alles so eindeutig ist, wie es heute so schön heißt. Irgendwo war Jelzin falsch abgebogen und kriminelle Energien wurden frei, die vorher geschlummert hatten – all diese Geheimdienstler und Geschäftsmänner.

    Unübersehbar verschmolzen Banditenmilieu und Geheimdienste, man erinnere sich nur an Kumarins und Putins gemeinsame Partys in Sankt Petersburg. Und dann trugen die plötzlich alle Schulterklappen, und es wurde ungemütlich. 

    Im Jahr 2000 war ich noch in einer Art Schockstarre. Putin konnte ich vom ersten Tag an nicht leiden – auf psychophysiologischer Ebene. Aber ich hielt ihn für eine temporäre Erscheinung, eine technische Übergangsfigur, die man als nichts Besonderes ausgesucht hatte. Dabei hat er anscheinend sein ganzes Leben der Aufgabe gewidmet, niemand Besonderer zu sein. 2002 begann schon die Panik, und nach Chodorkowskis Verhaftung war endgültig alles klar. 2017 ging ich mit einem Guest-Writer-Programm für ein paar Jahre nach Schweden. Ich sah bereits, dass die Zeit der friedlichen Proteste vorbei war und wir zum bewaffneten Widerstand übergehen müssten. Dazu war ich aber innerlich nicht bereit, weswegen ich anfing, über Emigration nachzudenken. Zehn Jahre, von 2007 bis 2017, hatte ich aktiv an Demos teilgenommen, die sukzessive zum Schweigen gebracht wurden, obwohl es natürlich auch Highlights gab. Dann kamen die weißen Luftballons und die Gummi-Enten – ich lief nur noch mit, um mein Gewissen zu beruhigen, denn die Zwecklosigkeit dieses Zivilgesellschaft-Spielens war mir sonnenklar. Russland war nicht Indien, ein Gandhi fand sich bei uns nicht. Es gibt die Ansicht, dass gewaltlose Proteste effektiver sind, das bestätigen sogar statistische Daten. Aber das gilt nicht für alle und nicht immer. Auf Russland trifft diese Statistik nicht zu. Während wir mit Taschenlampen und Gummi-Enten marschierten, wurden sie nur noch stärker und sammelten Kräfte, bis sie uns alle schließlich zerschmetterten. Ich schob meine Abreise lange hinaus. Ich hoffte, dieser große Krieg würde doch noch ausbleiben. Obwohl alles darauf hinwies, dass er jeden Moment beginnen würde. Aber so viele politische Analysten ringsum behaupteten netterweise das Gegenteil. Als es losging, besorgte ich mir ein Ticket und flog davon.“          

    Es gibt keine Rechtfertigung, den Bruder als Feind zu sehen.
    Das bedeutet jahrelanges Leiden und Jahrhunderte der Schande.
    Du und ich, wir sind schuld,
    der Freiheit unwürdige Söhne,
    mit Watte im Kopf,
    die Herzen in Gefangenschaft des Kriegs. 

    Das ist von Borsykin. 

    An Protesten hat Michail Borsykin immer teilgenommen. Als 1988 in Leningrad ein Rock-Festival abgesagt wurde, war er es, der die Leute, die sich Eintrittskarten kaufen wollten, zum Smolny führte. Auf dem Weg dahin schlossen sich ihnen Passanten an, die fragten, wohin sie gingen. Als sie vom Verbot des Rock-Festivals erfuhren, liefen sie mit. Beim Taurischen Park wurden sie von der Polizei gestoppt, der Vorsitzende des Rock-Clubs wurde zu einem Gespräch zitiert, man wartete ohne große Hoffnungen draußen, doch zu aller Überraschung wurde das Festival genehmigt und nicht einer der Demonstranten wurde festgenommen.

    Dann ging Telewisor auf Europa-Tournee, richtete sich ein eigenes Tonstudio ein und nahm ein Album auf. Und wechselte fast alle Bandmitglieder aus.  

    Wir wollten zur globalen Musikkultur gehören

    „Wir fingen an, das Album aufzunehmen“, erinnert sich Borsykin, „und merkten, dass die Musik einiger unserer Kollegen einen kommerziellen, massentauglichen Touch bekommen hatte. Da trafen wir die snobistische Entscheidung, das alles nicht mitzumachen. Wir hatten nichts gegen große Auftritte, spielten manchmal auch in Stadien, wollten uns aber von diesem Trend nicht vereinnahmen lassen.

    Sie kennen ja diesen Einheitsbrei – eine simple Melodie und die ewige Verbrüderung mit dem ganzen Volk. Seichte Hits wie Oj-jo sind ein typisches Beispiel. Viele Musiker prägten später den Begriff gownorok (dt. Kackrock) für so etwas – für diese stadionfüllenden Schlager mit gemeinsam gegröltem Refrain zum Mitklatschen. Dieser Weg widerstrebte uns: Wir sahen uns als Absolventen der europäischen Schule und wollten zur globalen Musikkultur gehören. Es ging alles in die falsche Richtung, und das passte uns nicht. Unsere Songs waren zu individualistisch und sogar misanthropisch – damit lässt sich kein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen und auch kein Geld verdienen. Das wirkte sich natürlich auf die Zahl unserer Konzerte aus und führte zu gewissen Problemen untereinander. Deswegen verabschiedeten wir uns von unserer bisherigen Besetzung. Einer ging zu Nautilus, ein anderer zu Grebenschtschikow, und ich suchte mir neue Leute.“



    Die Band Telewisor bei einem Live-Auftritt mit ihrem Song „Twoi papa – faschist“

    Das Album Metschta samoubizy (dt. Traum eines Selbstmörders), das die Band nach ihrer Rückkehr von der Europa-Tournee 1991 aufnahm, enthält die phänomenale Nummer Twoi papa – faschist (dt. Dein Papa ist ein Faschist), die nie an Aktualität verliert und nicht nach der guten alten Zeit klingt, in der die Mädchen noch jünger waren. Borsykin sagt, dass sie alle zwei, drei Jahre einfach wieder zu schwingen beginnt, zu vibrieren, mit der Umgebung zu interagieren und in neuen Farben zu schillern. Doch in den 1990er Jahren waren solche Lieder wirklich nichts für große Konzerthallen. Und Michail Borsykin wurde so was wie ein weißer Rabe oder ein schwarzes Schaf, er hob sich von der Masse ab, war unkonventionell, zu hart und zu wütend für die damalige Zeit. Und als sich zehn Jahre später die Zeiten änderten, bemerkten das viele erst einmal gar nicht.                

    Den Song Verzeih uns, Ukraine schrieb Michail Borsykin 2014

    Den Song Ty prosti nas, Ukraina (dt. Verzeih uns, Ukraine) schrieb Michail Borsykin 2014. Acht Jahre später nahm er im Sommer 2022 an einem Benefiz-Festival für ukrainische Flüchtlinge teil, das der Fonds Pristanischte (dt. Dock) in Budva in Montenegro veranstaltete. Er übte mit montenegrinischen Musikern zwei Songs ein – die bereits erwähnten Ty prosti nas, Ukraina und S wami goworit telewisor. Sie waren am Schluss an der Reihe, als es schon dunkel war. Die Scheinwerfer gingen aus, nur das Diskolicht flackerte. Der Beleuchter war aber nach Bali geflogen, erzählt Borsykin, und man konnte ihn nicht anrufen und fragen, wie man diese kitschigen Funzeln bedient. Also sang er fast im Dunkeln, griff am Keyboard immer wieder daneben. Im Publikum saßen Katarina Sintschillo und Viktor Koschel, zwei Schauspieler aus der Ukraine. An dieser Stelle würde man gern schreiben: Und damit nahm alles seinen Anfang.   

    Viktor Koschel ist verdienter Künstler der Ukraine, er spielte viele Jahre lang im Kyjiwer Lessja-Ukrajinka-Theater. Zusammen mit Katarina hatte er 13 Jahre zuvor das KChAT gegründet – das Klassische Alternative Künstlertheater, eines der landesweit größten unabhängigen Ensembletheater mit 13 Stücken im Repertoire. Als der großangelegte Einmarsch begann, wurden alle Theater geschlossen. 

    Katarina rief im Kulturministerium an und schlug vor, in der Metro Konzerte zu organisieren, weil es in vielen Häusern keine Bunker gab und die Kyjiwer unten in den Stationen Schutz suchten.

    Im Ministerium hatten sie aber gerade andere Sorgen, also begannen Katarina und Viktor, jeden Abend kleine Sendungen mit Gedichten, Liedern und Ansprachen aufzunehmen und zur moralischen Unterstützung der Menschen, die sich der Territorialverteidigung anschlossen, ins Netz zu stellen. Die Concierges waren geflüchtet, die jungen Männer waren an der Front oder in der Territorialverteidigung, und die restlichen paar Männer mittleren Alters teilten sich die Wachdienste auf, um das Haus vor Saboteuren und Plünderern zu schützen.      

    „Ich war vor allem im Nachtdienst“, erinnert sich Viktor Koschel. „Wenn ich nach Hause kam, war Katja wach. Sie schlief nicht mehr. Dann fing sie an, übertrieben heftig zu reagieren, sogar auf ganz kleine Alltagssorgen. Sie war am Durchdrehen, hielt das alles nervlich nicht aus. Wir wollten nicht weg, aber es war an der Zeit, sich um ihre mentale Gesundheit zu kümmern. Vor dem Krieg waren wir acht Jahre hintereinander in den Urlaub nach Montenegro gefahren, immer in dasselbe Ferienhaus in Dobrota bei Kotor. Der Vermieter der Apartments hatte uns gleich am Tag nach Kriegsbeginn geschrieben, dass wir kommen sollen, er nehme uns auf. Kostenlos. Hier wisse man, was Krieg bedeutet. Innerhalb von einer Stunde hatten wir gepackt.“  

    In Montenegro blieben Katarina und Viktor nicht am Strand sitzen, um ihr Trauma zu bewältigen, sondern begannen sofort, nach Arbeitsmöglichkeiten zu suchen. Sie wandten sich mit der Idee, ein Konzert mit ukrainischen Liedern zu veranstalten, an die Direktorin einer Galerie in der Altstadt von Budva. Die Direktorin sagte dasselbe wie der Vermieter des Ferienhauses: Wir wissen, was Krieg ist. Plakate und Flyer druckte die Galerie auf eigene Kosten, und jeden Monat gab es ein oder sogar mehrere Konzerte. Doch das Theater fehlte trotzdem.     

    Nach 50 Tagen Krieg in Kyjiw war es schwierig, die posttraumatische Belastungsstörung zu überwinden. Viktor und Katarina konnten kein Russisch mehr hören, sprachen nur noch Ukrainisch miteinander, obwohl ihr Kyjiwer Theater zweisprachig gewesen war: Die Hälfte der Vorstellungen war Ukrainisch, die andere Russisch.

    Psychologen meinten, sie müssten sich ausweinen, aber sie konnten nicht. Ihre Augen brannten vor Trockenheit. Und dann besuchten sie jenes Musikfestival in Budva, hörten Michail Borsykins „Verzeih uns, Ukraine“, und endlich flossen die Tränen.

    „Eine so kraftvolle Kombination aus Musik und Text habe ich noch nie gehört“, sagt Katarina. „Viktor und ich weinten uns aus und bekamen Lust, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten. Und – stellen Sie sich vor: Am selben Abend, es war schon ganz dunkel, bemerkten wir an einer Kreuzung eine Silhouette, in der wir Borsykin erkannten, und riefen: ‚Maestro!‘ Auf der Bühne war es genauso dunkel gewesen wie jetzt auf der Straße, trotzdem hatte Viktor ihn erkannt. Wir gingen zu ihm hin und sagten, dass wir gern mit ihm arbeiten würden. Obwohl das angesichts unseres Repertoires bedeutete, das Unvereinbare zu vereinbaren. Doch Mischa macht nun Mal tolle Rock-Versionen ukrainischer Lieder.“

    Die Konzerte bestanden immer aus drei Teilen: zuerst sang Viktor Koschel ukrainische Lieder, dann kamen ukrainische Lieder in Borsykins Bearbeitung und gemeinsamer Interpretation und dann eigene Songs von Borsykin. Viktor war ein guter Ukrainisch-Lehrer: Geduldig brachte er Borsykin die Aussprache bei, der jetzt jedes paljanyzja so aussprechen kann, dass er nicht von einem Ukrainer zu unterscheiden ist. Im Gegenzug war Borsykin Viktor ein strenger und anspruchsvoller Gesangslehrer.         

    Sehr schwer war es, erzählt Katarina, einen Gitarristen zu finden. Viele wurden beim Bewerbungsgespräch oder während der ersten Probe ausgesiebt. Eben wegen der hohen Ansprüche, die Borsykin an ihre musikalische Ausbildung stellte. Mit vereinten Kräften fanden sie schließlich Dima aus Dnepro, und endlich kann Borsykin sich auf der Bühne ganz dem „Zappeln und Winken“ widmen, wie er es selbst nennt.

    Viktor Koschel und Katerina Sintschillo im Stück "Jewreisskije Tschassy" am 26. Januar 2024 / Foto © Walerie Wassilewski
    Viktor Koschel und Katerina Sintschillo im Stück „Jewreisskije Tschassy“ am 26. Januar 2024 / Foto © Walerie Wassilewski

    Als das Programm fertig war, begann Katarina, nach Bühnen für mögliche Auftritte zu suchen. Sie ging in große Restaurants und sagte: „Im Winter ist bei euch sowieso nichts los, lasst uns einen Art-Club gründen!“ Fast ein Jahr lang tingelten sie von Bühne zu Bühne, die Katarina fand. Zum Tag des Theaters am 27. März wollten sie dann ein Stück spielen. Indessen hatten in Montenegro Schauspieler Fuß gefasst, die aus verschiedenen Städten und Theatern Russlands gekommen waren: aus Sankt Petersburg, Ischewsk, Krasnodar. Katarina und Wiktor entschieden sich für Tschechows Tschaika (Die Möwe) – zum Tag des Theaters sollte auch das Stück vom Theater handeln. In Kyjiw hatten sie für eine Produktion immer neun Monate eingeplant, hier schafften sie es in einem. Obwohl viele Schauspieler auf Baustellen und in Bäckereien arbeiteten und nur in ihrer Freizeit proben konnten. Aber alle hatten ihren Beruf so sehr vermisst, dass sie innerhalb eines Monats bereit für die Aufführung waren. Den Proberaum hatte Marat Gelman zur Verfügung gestellt, der ihn sich einmal als Lager für seine Bilder gekauft hatte. So befand sich die Bühne in einer Art Lager oder Galerie. Es kamen so viele Leute, dass sie auf Teppichen auf dem Boden sitzen mussten, weil nicht genug Stühle da waren, und in der Loge stehen mussten. Am zweiten Abend schlug Gelman vor: Gründet ein Theater, einen Raum habt ihr ja schon, ihr kriegt alles hin.    

    „Zur Eröffnung wollten wir etwas aus der ukrainischen Klassik spielen: Johanna von Lessja Ukrajinka. Die Möwe hatten wir schon, und dann kam noch Alexander Gelmans Stück Almar dazu – über die Liebe zwischen Albert Einstein und Margarita Konjonkowa. Plus ein abendfüllendes Konzert mit Michail Borsykin. Marat Gelman fragte: Mögt ihr Borsykin? Wollt ihr ihn zum musikalischen Leiter des Theaters machen? Natürlich wollen wir das, natürlich, wir lieben ihn!“

    So entstand innerhalb von nur drei Monaten ein Theater. Der Saal, in dem jetzt gespielt wird und früher Bilder aufbewahrt wurden, funktioniert wie ein Baukasten. Es gibt keine Bühne, die Schauspieler spielen eine Armlänge vom Publikum entfernt, und jedes Mal stehen die Stühle anders. Bei Almar längs, bei der Möwe quer, bei Pridurki (Dummköpfe) im rechten Winkel. Im Saal haben maximal 50 Zuschauer Platz, wenn sie sich quetschen wie die Sardinen. Das Bühnenbild ist minimalistisch – logisch, wenn das Theater lediglich über Tische und Stühle verfügt. Katarinas und Viktors Fantasie kennt allerdings keine Grenzen.    

    Nur bei Almar steht in der Ecke noch ein Keyboard, an dem Michail Borsykin sitzt. Das Zusammenwirken seiner Lieder mit Gelmans Drama und Sintschillos und Koschels glänzendem Spiel als Konjonkowa und Einstein ist nicht nur ein Theaterstück, sondern eine überraschend harmonische Kombination aus Rock-Konzert und Drama. „Mit unserem Krieg retten wir uns vor einem noch schrecklicheren Krieg“ [Swojeju woinoi my budem spassatsja ot boleje straschnoi woiny] klingt, als wäre es extra für dieses Stück verfasst worden. Doch Borsykin hat nichts extra geschrieben – Katarina hat die Songs für die Inszenierung ausgesucht.

    Viktor Koschel sagt, er habe Borsykin schon fast gehasst, weil seine Frau mehrere Wochen lang jeden Morgen Telewisor aufdrehte und bis zum Abend hörte. Die Songs, die sie aussuchte – von Schestwije ryb (dt. Marsch der Fische) aus dem ersten Album bis Krasny sneg (dt. Roter Schnee) aus dem letzten –, klingen tatsächlich ähnlich aktuell und wichtig sowohl für heute als auch für gestern oder jenen Frühherbst 1945, in dem Einstein sich von Margarita verabschiedete.

    Auf dem Plakat zu Almar steht: mit der Rock-Legende Michail Borsykin. Doch zu Ehrentiteln wie Rock-Legende oder Grundpfeiler des sowjetischen Rock sagt Michail immer nur: „Schreibt lieber so was wie ‚stand am Ursprung der Neoromantik‘ oder ‚an der Quelle von Dark Wave‘. Telewisor ist stilistisch nicht wirklich Rock, eher New Wave. Reiner, klassischer Rock war nie das, wofür sich meine Band begeisterte.“ Aber was mal auf einem Plakat steht, ist fix.        

    „Bei Almar wollte ich nur mitspielen. Das war mein Beitrag zur tätigen Reue. Ich bezwang meine Star-Allüren: Ich war immer mein eigener Herr gewesen, hatte selbst Regie geführt, auf meiner eigenen Bühne. Und auf einmal wurden meine Songs zurechtgeschnitten und anders zusammengebaut: Hier zwei Strophen, hier drei, und hier ohne Refrain. Ich fügte mich dem Ton, den Katarina vorgab.“

    Jetzt hat das Theater Tschechows Medwed (Der Bär), das Ein-Mann-Stück Tri goda (Drei Jahre), ebenfalls nach Tschechow, Jewreiskije tschassy (Die jüdische Uhr) der ukrainischen Dramenautoren Sergej Kisseljow und Andrej Ruschkowski und Pridurki (Dummköpfe) von Alexander Karabtschijewski im Repertoire. Insgesamt in diesem knappen Jahr sieben Stücke und drei Konzerte.    

    „Wir wiederholen jetzt, in einem fremden Land, was wir in Kyjiw schon einmal geschafft haben“, sagt Katarina. „Wir hätten in Kyjiw eigentlich noch eine kleine Bühne eröffnen wollen, es war schon fast soweit. Unsere Hauptbühne befand sich im Haus des Schauspielers, das sie immer abreißen wollten, um stattdessen eine Bank hinzubauen oder einfach, um es zu verkaufen. Das gab uns den Anstoß, auf die Barrikaden zu gehen, zu protestieren, uns an den Kyjiwer Bürgermeister Vitali Klitschko zu wenden. Er nannte uns ‚aggressive Intelligenzija‘. Er verstand uns einfach nicht: ‚Wollt ihr sagen, ihr habt keine 30 Millionen für eine anständige Sanierung?‘ 

    Wir saßen wie Studenten mit einer Flasche Wein am Strand und schmiedeten Pläne 

    Und dann saßen wir zu dritt da, Viktor war traurig, Mischa Borsykin war traurig, der eine ein verdienter Künstler, der andere eine Rock-Legende, und alle sahen sich gezwungen, von Null anzufangen und ihr ganzes Leben zurückzulassen. Ich sagte: ‚Was habt ihr denn bloß? Darin steckt unsere große Chance, wieder jung zu sein. Wir sind wieder wie Studenten, bei denen noch nichts fix ist, die mit einer Flasche Wein am Strand sitzen und Zukunftspläne schmieden. Zurück an den Start, ein neues Leben!‘“   

    Ein neues Leben. Auf den Ruinen des alten. Eine Flasche Wein für drei. An allen Enden der Welt sitzen sie jetzt genauso im Sand, auf dem Asphalt, auf dem Sofa – Menschen, die vor Krieg und Gefängnis geflüchtet sind, bei denen genauso nichts fix ist, die nicht wissen, wie es weitergeht. Vorerst in einem kleinen Dorf zwischen Budva und Bečići, in einem halbdunklen Saal, in dem noch vor einem Jahr Bilder gelagert wurden und sich jetzt Sintschillo als Arkadina aus der Tschaika mal im feurig folkloristischen Tanz dreht, mal als Phaidra Trigorin zu Füßen sinkt, während Koschel als Einstein die Eifersucht quält und Borsykin in der Ecke am Keyboard mal vom Tod und mal vom Glück singt. Dann scheint alles möglich, und die Verzweiflung schwindet mit der Ebbe. Der Weltuntergang ist ausgeblieben – Borsykin hat ihn abgewendet. 

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  • „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

    „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

    Die Suworow-Militärschulen waren in der Sowjetunion zentrale Ausbildungseinrichtungen für künftige Soldaten und Offiziere der sowjetischen Armee. Sie existierten in zahlreichen Sowjetrepubliken, wo Schüler zwischen 14 und 18 Jahren aus wiederum verschiedenen Sowjetrepubliken zusammenkamen, zusammen lernten und lebten. Diese Internatsschulen haben auch in zahlreichen Ländern das Ende der Sowjetunion wie beispielsweise in Belarus oder Russland überlebt, wo sie bis heute für die militärische Ausbildung eine zentrale Rolle spielen.

    Auch im Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, dürften zahlreiche Absolventen der Suworow-Schulen kämpfen – auf beiden Seiten der Front. Auf diesem Weg vermengt sich sowjetische Geschichte mit der Geschichte der Unabhängigkeitsbestrebung der Ukraine und der revanchistischen Politik in Russland unter Wladimir Putin. Die belarussische Journalistin Irina Chalip hat solch eine Geschichte für das russische Exil-Medium Novaya Gazeta Europe detailliert recherchiert und aufgeschrieben – es ist die tragische Geschichte von Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk, die in einem Jahrgang an der Suworow-Militärschule in Minsk zur Zeit der späten Sowjetunion ausgebildet wurden. Jahrzehnte später sind sie nun als Oberste im aktuellen Angriffskrieg gefallen – einer auf Seiten der russischen Angreifer und Besatzer, der andere, weil er seine ukrainische Heimat verteidigt hat.  

    „Das Arschloch ist auf unser Land gekommen, um die Suworowzy [die Absolventen der Suworow-Schule – dek] und ihre Familien zu töten. Mich, meine Familie, Walera Shutschko, der gerade kämpft. Und Oleg Makartschuk haben sie schon umgebracht.“

    Das sagt Witali Tschalow über seinen gefallenen Kommilitonen von der Minsker Suworow-Militärschule, den Oberst der russischen Armee Alexej Gorobez. Die dritte Kompanie aus dem 34. Abschlussjahr an der Suworow-Militärschule – zwei aus dieser Kompanie sind im Juli in diesem Krieg ums Leben gekommen. Beide waren Oberst. Oleg Makartschuk, Chef des Waffen- und Logistikdienstes der ukrainischen Streitkräfte, starb am 14. Juli beim Raketenangriff auf Winnyzja. Alexej Gorobez, Kommandeur der 20. motorisierten Schützendivision der russischen Streitkräfte, starb am 12. Juli bei Cherson infolge eines HIMARS-Einschlags in einem Militärstützpunkt. Makartschuk starb auf eigenem Boden, Gorobez auf fremdem.

    Gleich nach ihrem Tod fanden Journalisten heraus, dass beide ein und derselben Suworow-Kompanie angehört hatten, nur verschiedenen Truppen, und zogen daraus den Schluss, dass die beiden Bekannte gewesen sein müssten. Nein, liebe Leute. Die waren keine Bekannten. Das nennt man ganz anders. Wenn zwei Heranwachsende in einer Kaserne leben, in der sich hundert Mann (die ganze Kompanie) 150 Quadratmeter teilen, wenn sie zusammen für den Dienst eingeteilt werden, wenn sie jeden Tag im selben Hörsaal sitzen, wenn sie im Trockenraum nachts zusammen Gitarre üben, wenn sie in Kolonne zum Frühsport und in die Kantine marschieren, wenn sie vor den Sommerferien die Kaserne schrubben und die Böden wachsen – dann sind sie alles, nur keine Bekannten.

    Meistens nennt man das Bruderschaft. Aber die ist nicht mit Makartschuks und Gorobez’ Tod im Juli gestorben. Sie wurde von der ersten Rakete am 24. Februar zerstört.

    „Wir waren als Kompanie immer zusammen“, sagt Witali Tschalow. „Die Kaserne misst 30 mal 40 Meter, und wir waren hundert Mann. Wir sind bis heute in Kontakt. Lesen Sie mal den Brief von Alexej Gorobez’ Mutter. Sie schreibt, dass er auf der Akademie des Generalstabs war, dass man ihm aber 13 Jahre lang den Dienstgrad eines Generals nicht zuerkannt hat. Also haben viele von uns Kommilitonen den Eindruck, dass Gorobez – um sich die Schulterklappen zu verdienen – in die Ukraine gekommen ist, um die Familien der Suworowzy zu töten. Einfach nur, um General zu werden, verstehen Sie? Ich weiß, dass er in Syrien und Tschetschenien gekämpft hat. Aber in die Ukraine ist er gekommen, um mich und meine Familie zu töten und die Familien der anderen Suworowzy. Viele von uns waren nicht mehr aktiv beim Militär und sind trotzdem in den Krieg gezogen, obwohl wir über 50 sind. Gorobez hat als Kommandeur der Division gewusst – muss es gewusst haben –, dass der Einmarsch in die Ukraine bevorsteht. Er ist bewusst auf uns losgegangen. Obwohl es einen einfachen Ausweg gegeben hätte. Er hätte ein Entlassungsgesuch einreichen und als Oberst in Pension gehen können. Seine Rente war gut. Aber er wollte General werden, indem er uns tötet. Da haben Sie die Kadetten-Bruderschaft.“

    Oleg Makartschuk über der Ziffer 9, Alexej Gorobez als Sechster von links oben / Foto © Archiv von Oleg Roshkow
    Oleg Makartschuk über der Ziffer 9, Alexej Gorobez als Sechster von links oben / Foto © Archiv von Oleg Roshkow

    Der 34. Abschlussjahrgang der Suworow-Militärschule ist einer der tragischsten, und nicht nur, weil zwei aus einer Kompanie auf verschiedenen Seiten der Frontlinie gefallen sind – der eine als Okkupant, der andere als Verteidiger seines Heimatlandes. Die 17-jährigen Absolventen waren nach ihrem Abschluss den verschiedenen Militärhochschulen der UdSSR zugeteilt worden. Die einen gingen nach Taschkent, die anderen nach Omsk oder nach Charkiw. Ein Jahr später gab es auf der Weltkarte gar keine UdSSR mehr, und die frisch ausgebildeten Offiziere wurden zu einer verlorenen Generation.

    Die Suworowzy Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk gingen beide zum Studium nach Charkiw. Makartschuk auf die technische Hochschule der Luftstreitkräfte, Gorobez auf die Panzerakademie. Beide bekamen ihre Rangabzeichen als Oberst im Jahr 1994.

    „1994 hatten die Absolventen in der Ukraine noch die Wahl“, sagt Witali Tschalow. „Ich selbst war auf der Hochschule in Poltawa, meine Kommilitonen gingen [nach dem Abschluss – dek] nach Belarus, Tadschikistan, Russland oder Aserbaidshan. Viele blieben natürlich auch in der Ukraine. Auf der Abschlussfeier gab es noch den Trinkspruch: Auf dass wir niemals aufeinander schießen. 2014 hat diese Bruderschaft einen Riss bekommen, und am 24. Februar ist sie endgültig gestorben. 

    Gorobez ist nur ein Fall. Da gibt es zum Beispiel noch einen anderen Suworow-Abgänger, Sergej Rudskoi. Er ist bei den russischen Streitkräften Chef der Haupteinsatzverwaltung, der erste Stellvertretende des Generalstabschefs. Er ist Ukrainer, geboren in Mykolajiw. Sein Vater war ein Held der Sowjetunion, er war der Leiter unserer Suworow-Militärschule. Und sein Sohn organisiert jetzt die Spezialoperation in der Ukraine.“

    „Würden Sie Ihre ehemaligen Kameraden, die in der russischen Armee dienen, nicht gerne einmal treffen?“
    „Doch. Um ihnen eins in die Fresse zu geben.“

    Witali Tschalow ist direkt und geradezu grob. Aber er hat jedes Recht dazu. Er ist wieder im Dienst, genau wie Waleri Shutschko aus derselben Kompanie. Für sie war Alexej Gorobez seit dem 24. Februar nicht mehr der alte Kumpel, mit dem sie in der Kaserne Seite an Seite geschlafen haben, sondern ein Feind, ein Besatzer, ein Mistkerl. Genau wie ihre anderen ehemaligen Kadetten-Brüder, die jetzt die täglichen Militärschläge aus dem Generalstab leiten, die aus ihren Büros heraus Befehle an die Korps und Divisionen verteilen. Der Tod des Feindes ändert nichts an seinen Taten.

    „Im Jahr unseres Abschlusses ging der damalige Leiter der Akademie General Saizew gerade in den Ruhestand. Er ging mit den Worten: ‚Ich werde dafür sorgen, dass alle Jungs, die bei mir gelernt haben, gehen können, wohin sie wollen.‘“

    Alexej Gorobez erhielt sein Offiziersdiplom in der Ukraine. Warum er sich schließlich für die russische Armee entschied, weiß niemand. Oleg Roshkow, Absolvent der Akademie für Chiffrierwesen in Krasnodar, erzählt: „Ich weiß nicht, wie es an der Panzerschule war, aber bei uns lief es so: Als die Sowjetunion zerfiel, entstand in jedem unabhängigen Staat eine eigene Armee. Krasnodar liegt in Russland, also wurde uns gesagt: Wer in der russischen Armee bleiben will, muss einen Eid ablegen, ohne Eid wird man nicht zugelassen. Wer den Eid ablegte, bekam sofort ein viel höheres Stipendium. Ich weiß noch, wie die russischen Kadetten von diesem Geld Kühlschränke und Fernseher kauften. Und aus denen, die keinen Eid abgelegt hatten, wurde eine eigene Kompanie gebildet – die Nazmen-Kompanie, die Kompanie der nationalen Minderheiten. Sie bestand aus Ukrainern, Belarussen und zwei Usbeken. Unser Stipendium reichte gerade für Knöpfe und Nadeln zum Nähen. Also gingen wir, die Nazmeny, in unsere Länder zurück. Damals hatten die Kadetten, die eine andere Staatsangehörigkeit hatten, also die Wahl: In dem Land, in dem man studiert hat, einen Eid abzulegen und in dessen Armee zu bleiben oder in sein Herkunftsland zurückzugehen.“

    Aus jener 3. Suworow-Kompanie sind nicht viele beim Militär geblieben, nach Schätzungen der Absolventen selbst nur 20 bis 30 Prozent. Das letzte Treffen der Kompanie fand 2018 statt, anlässlich des Militärschul-Jubiläums. Makartschuk und Gorobez waren bei diesem Treffen nicht dabei. Bei den Minsker Suworowzy ist es nicht üblich, sich zu den runden Jubiläen des eigenen Abschlussjahres zu treffen, dafür kommen bei den Jubiläumsfeiern der Akademie alle Jahrgänge zusammen. Die in Minsk lebenden Absolventen bereiten den „Stützpunkt“ vor – mieten Wohnungen an, reservieren Restaurants und empfangen die Gäste. Aber gerade jene Absolventen, die beim Militär geblieben sind, kommen in der Regel nicht. Sie sind im Dienst, können nicht nach Belieben mehrere Tage verreisen, und auch die finanziellen Möglichkeiten sind geringer als bei denen, die in die Wirtschaft gegangen sind. Also saßen Makartschuk und Gorobez 2018 nicht an einem Tisch und tauschten in der Heimatkaserne keine Erinnerungen aus.

    Wir sind wirklich eine Generation des Zusammenbruchs

    Die Dritte Kompanie des 34. Jahrgangs der Minsker Suworow-Militärschule hatte wohl eine eigene, geschlossene Gruppe auf Social Media und beide – Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk – waren Mitglieder. Meistens gratulierten sie sich nur zum Geburtstag. Zu Ereignissen, die die Welt oder zumindest den Kontinent erschütterten, äußerten sie sich nicht. Dann verstummten sie komplett. Überhaupt war die erste Erschütterung für die Kompanie, die in dieser Gruppe kommunizierte, das Jahr 2020 und nicht erst 2022.

    „Als auf der Website der Absolventen unserer Schule Gorobez’ Tod gemeldet wurde, kamen in der Gruppe sehr viele emotionale Reaktionen von Ukrainern, die kein Blatt vor den Mund nahmen. Und zwei Tage darauf erschien auf derselben Website die Nachricht von Oleg Makartschuks Tod. Alle waren schockiert. Wir bemühen uns um Zurückhaltung, aber nicht immer erfolgreich. 
    Die ersten Emotionen kochten 2020 hoch, zu Beginn der Proteste in Belarus. Seltsamerweise gab es 2014, als der Krieg im Donbass begann, keine großen Gefühlsausbrüche in unserer Gruppe. Hier und da kam mal was auf, aber nicht nennenswert. Und zum Jubiläum unserer Schule 2018 kamen die Ukrainer noch. Im August 2020 verließen dann erst mal jene die Gruppe, die die Proteste nicht unterstützten. Die Ukrainer sind emotional nicht so leicht aus der Bahn zu werfen, die haben sich das angesehen, ohne sich groß einzumischen. Und so ging es schlecht und recht dahin, bis zum Februar 2022. Im Februar sind dann komischerweise die Russen aus der Gruppe ausgestiegen, die ihre Regierung unterstützt haben. Da gab es von den Ukrainern, die aus Prinzip in der Gruppe blieben, einen Schwall von Emotionen. Sie versuchten, ihre russischen Kommilitonen zur Vernunft zu bringen, versuchten, die Wahrheit zu erzählen. Irgendwann gaben sie natürlich auf. Aber circa ein Drittel der Kompanie hat die Gruppe verlassen. Und jetzt haben wir in der Gruppe keine Russen mehr dabei, die für den Krieg sind. Wissen Sie, wir hatten einen Burschen aus der Kompanie in der Gruppe, der mit Gorobez befreundet war – Walera Shutschko, der jetzt auf der Seite der Ukraine kämpft.   
    Die haben nach der Suworow-Militärschule gemeinsam die Panzerausbildung in Charkiw gemacht. Walera hat gesagt, er hat mit ihm gesprochen und versucht, ihm die Augen zu öffnen. Wir sind wirklich eine Generation des Zusammenbruchs. Das ruiniert natürlich jeglichen Verstand. Wie kann man von Bruderschaft sprechen, wenn man gegeneinander Krieg führt? Gorobez hatte übrigens ukrainische Wurzeln – er war, glaube ich, einmal auf der Beerdigung seines Großvaters in Shytomyr. Vielleicht wollte er deshalb seine Ausbildung in Charkiw machen. Und seine Eltern leben überhaupt in Transnistrien. Er hat in Tschetschenien und in Syrien gekämpft. Womöglich wurde er einfach eingesetzt, wo Personalmangel war.“ 
     
    Alexej Gorobez’ Eltern wohnen in Tiraspol. Der Vater Nikolaj Gorobez ist Gemeinderatsvorsitzender der Stadt. Die Mutter Nina Gorobez veröffentlichte nach dem Tod ihres Sohnes auf der Website der Absolventen der Minsker Suworow-Militärschule einen Brief:

    „Danke an alle, die unseres Sohnes gedenken und ihm die letzte Ehre erweisen. Ein ehrlicher, anständiger, gerechter, unbestechlicher, kluger und zielstrebiger Mensch wie er, der seine Heimat und seinen Beruf so aufrichtig liebt, ist in der heutigen Zeit nicht leicht zu finden. Sein ganzes nicht immer leichtes Schicksal liegt in diesen Zeilen:

    Minsker Suworow-Militärschule; Hochschule für Panzer Charkiw; Dienst in Tiraspol nach dem Krieg; Dienst in Fernost; Juristische Hochschule Blagoweschtschensk; Allgemeine Frunse-Militärakademie; Dienst als Regimentskommandeur auf Stützpunkt 201 in Tadschikistan; Dienst in Dagestan und Tschetschenien; drei Einsätze in Syrien; Studium an der Generalstabsakademie, Abschluss mit Silbermedaille im Juni 2021.
    Seitdem bei der Division in Wolgograd.

    Sie sehen ja: Dieser Mann war an allen Brennpunkten im Einsatz. Dreimal wurde ihm von den Streitkräften die Ernennung zum General (Dienstgrad) versprochen, aber wie es so schön heißt: Es blieb alles beim Alten.
    Gorobez A. N. erhielt den Dienstgrad des Oberst mit 36 Jahren. Gibt es in der Führungsriege der Streitkräfte jemanden, der 13 Jahre lang denselben Dienstgrad führt? Weil wir in unserer Familie und Verwandtschaft kein Vitamin B, kein Geld im Überfluss und keine hohen Tiere haben. Und mein Sohn seine Erfolge aus eigener Kraft und mit dem eigenen Kopf erreicht hat. Verzeiht, das ist mein mütterlicher Schmerz und meine Verzweiflung über den Verlust eines echten Menschen, meines geliebten und liebenden Sohnes. Gott habe ihn selig, in ewiger Erinnerung. Und viele Herzen werden ihn in Erinnerung behalten – so viel Gutes hat er den Menschen getan!“ 

    So eine Bruderschaft kann man sich sonstwohin stecken – sie existiert nicht

    Zur Beerdigung von Oleg Makartschuk kamen seine Kommilitonen von der Suworow-Militärschule, die in der Ukraine leben und dienen. Sie sammelten Geld für seine Familie. Gorobez wurde ganz leise auf dem Soldatenfriedhof von Mytischtschi bei Moskau bestattet. Jetzt verbindet Makartschuk und Gorobez nur mehr die Rubrik Dritter Trinkspruch auf der Website der Absolventen der Minsker Suworow-Militärschule. (Da findet man übrigens auch Pawel Piwowarenko aus dem 36. Jahrgang, Held der Ukraine, der vor acht Jahren bei der Einkesselung von Ilowajsk umgekommen ist.) Im Leben hätte sie nichts mehr verbinden können – nicht die gemeinsame Kindheit, nicht die Kaserne, nicht die Schulzeit in derselben Stadt, nicht die Offiziers-Schulterklappen, die sie in Charkiw bekommen haben. Seit dem 24. Februar ist von der Bruderschaft der Kadetten nichts mehr übrig als der Dritte Trinkspruch. 

    Sogar der Beirat der Belarussischen Union der Suworow-Absolventen und Kadetten hat – obwohl außerhalb des Kriegsgebiets angesiedelt – zu bröckeln begonnen. Dem Beirat gehören Absolventen verschiedener Jahrgänge an, die Bälle, Sportfeste und Absolvententreffen organisieren und Beiträge und Spenden sammeln. „Ich war viele Jahre im Beirat“, sagt Alexander aus Minsk, Abschlussjahrgang 1995 (er bat uns um Anonymität), „aber im Februar bin ich ausgetreten. Ein paarmal habe ich mich nach dem 24. noch mit Kollegen ausgetauscht. Aber wissen Sie, denen, die den Krieg rechtfertigen, gebe ich nicht mehr die Hand. Mit Menschen, die diese Aggression unterstützen, habe ich nichts zu besprechen. Ein paar andere sind derselben Meinung wie ich. Aber die Beiratsleitung und ein Großteil der Mitglieder unterstützen diese Aggression. Und nicht nur zum Beirat habe ich den Kontakt abgebrochen – auch zu vielen meiner Kommilitonen, mit denen ich jahrelang befreundet war. So eine Bruderschaft kann man sich sonstwohin stecken. Sie existiert nicht.“ 

    Die Kadettenbruderschaft, an die viele dieser Jungen einmal geglaubt haben, war offenbar nichts weiter als ein sowjetisches Ideologem wie so vieles andere. Nach der UdSSR hielten sie die Absolventen noch aufrecht. Sie unterhielten Gruppen in sozialen Netzwerken, halfen einander, gratulierten einander zum Geburtstag. Am 24. Februar war das alles vorbei. Ja, sogar von der Alten Oper, in die sie kolonnenweise geführt wurden, ist längst nichts mehr übrig – seit dem Umbau sieht sie aus wie ein türkisches Hotel.

    Verblichen sind die Erinnerungen; was bleibt, ist die Rubrik Dritter Trinkspruch auf der Absolventenseite. Da ist leider Platz für alle. Für viele Kriege im Voraus.

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  • Strenges Schulregime

    Strenges Schulregime

    Am 1. September beginnt in Belarus wie in vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken traditionell die Schule. „Der Tag des Wissen“ (russ. Den Snanii), an dem die Schulanfänger feierlich eingeschult werden und an dem die Hochschulen wieder ihre Arbeit aufnehmen, war im vergangenen Jahr auch der Beginn der Studenten-Proteste in Belarus, die sich mit den landesweiten Demonstrationen gegen Wahlfälschungen und Gewalt solidarisierten. Seit vielen Jahren wird das Schulsystem sowie auch die Lehrpläne den autoritären Vorstellungen der Machthaber um Alexander Lukaschenko angepasst. In ihrem Beitrag für die Novaya Gazeta erklärt die belarussische Journalistin Irina Chalip, wie das genau geschieht und welche Folgen die Umerziehung für die belarussische Gesellschaft hat. 

    Gehirnwäsche ist an belarussischen Schulen schon lange Teil des Lehrplans. Ab kommendem Schuljahr wird es auch eigens dafür zuständige Bereichsleiter geben: Mit dem 1. September 2021 wird das Amt des Leiters des Lehrbetriebs für militärisch-patriotische Erziehung eingeführt. Einfacher gesagt: ein Politoffizier. Oder ein Politruk. Oder – ganz altmodisch gesagt – ein Kommissar.  
    Speziell für die Schul-Politruks stellt der Staat Geld für 2000 Gehälter bereit. Wobei kein zusätzlicher Unterricht geplant ist. Mit dem Zeigestab an der Tafel stehen, Hefte kontrollieren oder die Klassenleitung übernehmen werden die neuen Chefs nämlich nicht (was auch offen gestanden besser ist). Sie haben eine kniffligere Aufgabe: „Die Implementierung der Ideologie militärischer Sicherheit in Bezug auf die staatsbürgerliche und patriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen“. Außerdem die „Entwicklung der für die Verteidigung des Vaterlandes notwendigen moralisch-psychologischen Qualitäten bei Jungen und Mädchen“. So steht es zumindest im Allgemeinen Qualifikationshandbuch für Staatsbedienstete. Die akute Notwendigkeit für solche Kommissare entstand offenbar im vergangenen Schuljahr, dessen Beginn mit dem Höhepunkt der Protestaktivität in Belarus zusammenfiel.    
    Absolventen verschiedener Jahrgänge hängten ihre Goldmedaillen und Zeugnisse an die Zäune der Schulen, um durch nichts mehr mit jenen Mauern verbunden zu sein, hinter denen am 9. August die Wahlergebnisse so schamlos gefälscht wurden. Eltern unternahmen Protestaktionen auf Schulhöfen. Lehrer drehten Videos, in denen sie an ihre Kollegen appellierten, Fälschungen zu verweigern und die Wahrheit zu erzählen. Diese Lehrer verloren dann ihre Jobs. Die Eltern von Grundschülern nahmen ihre Kinder massenweise aus den staatlichen Schulen und schlossen sich zu sogenannten Elternkooperativen zusammen: Mehrere Familien mieten zusammen einen Raum und suchen selbst Lehrer für ihre Kinder, die sie ohne jegliche Schulideologie unterrichten. Dieser Trick ist allerdings nur für die Grundschule erlaubt: Will man sein Kind von der Schule befreien, muss man es zum individuellen Unterricht anmelden. Ob dies genehmigt wird oder nicht, entscheidet die jeweilige Schulleitung. Und während man in den ersten Schulstufen diese Genehmigung noch kriegen kann, wird dies später praktisch unmöglich. Heranwachsende Belarussen müssen zumindest einem qualifizierten Leiter des Lehrbetriebs unterstehen. Im Idealfall ist es einer für militärisch-patriotische Erziehung.

    Belarussische Geschichte im Schnelldurchlauf

    Diese Erziehung beginnt für jeden Schulanfänger sofort, gleich am 1. September. Seit vielen Jahren bekommen alle Erstklässler an allen belarussischen Schulen feierlich das Buch Belarus – unsere Heimat überreicht. Auf dem Umschlag steht unter dem Buchtitel: „Geschenk des Präsidenten der Republik Belarus A. G. Lukaschenko zum Schulanfang“. In dem Buch kommt A. G. Lukaschenko selbst reichlich vor, fast auf jeder Doppelseite. Zudem sind darin wie auf Schautafeln die historischen Meilensteine des unabhängigen Belarus angeführt:

    1991: Ausrufung der unabhängigen Republik Belarus
    1994: Beschluss einer neuen Verfassung der Republik Belarus
    1994: Wahl Alexander Grigorjewitsch Lukaschenkos zum Präsidenten der Republik Belarus

    Damit ist die Geschichte der Republik Belarus in diesem Buch auch schon zu Ende, und für die Kinder beginnt das Schuljahr. Einmal wöchentlich gibt es in allen Klassen, von der ersten bis zur elften, Politinformationen. Offiziell heißt das „Informationsstunde“ – an diesem Tag beginnt der Unterricht eine halbe Stunde früher. Alles Weitere hängt von den Lehrenden ab. Die einen nehmen den Auftrag wörtlich und erzählen den Kindern jedes Mal, was für ein märchenhaftes Glück sie haben, in Belarus mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen und seiner politischen Stabilität zu leben. Andere sabotieren die Sache unauffällig, indem sie den Kindern erlauben, in dieser Zeit ihre Hausaufgaben zu machen. Doch im Klassenbuch wird bei allen Schülern klar und deutlich abgehakt: Informationsstunde erfolgt, Patriotismus gefördert. In den höheren Schulstufen gibt es außerdem Unterricht in vormilitärischer Ausbildung. Dort hören die Schüler der oberen Klassen nichts mehr von Stabilität, sondern im Gegenteil – man erklärt ihnen, dass Belarus von Feinden umzingelt sei, und zwar auch von inneren. 

    Nach dem Unterricht beginnen außerschulische Veranstaltungen. Ältere Kinder werden im Winter scharenweise in die Eispaläste getrieben, wo Lukaschenkos Jüngster, Nikolaj, Eishockey spielt, und im Sommer stellen alle, die nicht das Glück hatten, die Stadt zu verlassen, auf der Parade zum 3. Juli ihre glückliche Kindheit zur Schau. Die Jüngeren werden auf „patriotische“ Exkursionen geschleppt. Zum Beispiel hat es die Klasse meines Sohnes innerhalb eines Schuljahres geschafft, sowohl die OMON als auch die Sondertruppeneinheit 3214 zu besuchen, die landläufig längst Todesschwadron genannt wird. In der Polizei-Zeitung stand danach, die Kinder hätten „viel Spaß dabei gehabt, kugelsichere Westen, Helme und Schlagstöcke auszuprobieren“.  

    In der vierten Klasse werden aus den Oktjabrjata Pioniere, aus den roten Halstüchern werden rot-grüne / Foto © Zuma/tass
    In der vierten Klasse werden aus den Oktjabrjata Pioniere, aus den roten Halstüchern werden rot-grüne / Foto © Zuma/tass

    Ein weiteres beliebtes Exkursionsziel für Minsker Schüler ist die KGB-Schule, die mittlerweile Institut für nationale Sicherheit heißt. Dort dürfen sie schießen üben, und sie hören die Heldengeschichte der Bildungsanstalt, die viele herausragende Persönlichkeiten absolviert haben. Namen werden allerdings keine genannt – wahrscheinlich ein Militärgeheimnis. Und sie bekommen das Tschekistendenkmal zu sehen, das irgendwo in einer Nische steht, verborgen vor fremden Blicken. Anscheinend gehen die Offiziersschüler dahin, um zu beten und still zu trauern.  
    Auch schon in der ersten Klasse kommen die belarussischen Kinder zu den Oktjabrjata, der Vorstufe der Pioniere. Bei einer Feier in der Aula sprechen sie dem Sozialpädagogen den Schwur nach. Wer in der Sowjetunion Pionier war, kennt den Text. Er wurde, dem Willen des großen Lenin folgend, nie verändert.  
    In der vierten Klasse werden aus Oktjabrjata Pioniere. Nur tragen sie keine roten Halstücher mehr, sondern rot-grüne. Sonst bleibt alles beim Alten. In der Oberstufe kommen sie dann zur BRSM – der Belarussischen Republikanischen Jungen Union, im Volksmund „Lukamol“. 
    Zum Lukamol wird man sowohl mit der Peitsche getrieben als auch mit Zuckerbrot gelockt. Die Peitsche – das ist die Androhung eines schlechten Abschlusszeugnisses und die Warnung, ohne Mitgliedschaft in der BRSM nicht an der Universität aufgenommen zu werden. Das Zuckerbrot sind Rabatte bei Diskotheken und Konzerten und erleichterter Zugang zu Sommerjobs. Eine Bekannte erzählte mir, wie ihre jüngere Schwester sich um ein Haar hätte verführen lassen. Sie kam von der Schule nach Hause und sagte zum Vater, sie werde wohl der BRSM beitreten, weil  die ihr einen Sommerjob versprochen hätten. Der Vater sagte: „Das hast du dir ganz richtig überlegt, Tochter. Eine Arbeit wirst du nämlich brauchen, wenn du zum BRSM gehst, weil ein Dach über dem Kopf wirst du keines mehr haben.“

    Ein Aufseher für militärisch-patriotische Erziehung

    Früher waren die Eltern, die ihren Kindern alles richtig und wie Erwachsenen erklärten, in der Minderheit. Die Mehrheit schluckte angeekelt den Beitritt ihrer Sprösslinge zu all diesen Vereinen, um ihnen bloß nicht den Abschluss zu versauen. Nicht einmal den Jungen OMON-ler redeten sie ihnen aus – auch den gibt es in Belarus. 
    Doch das letzte Schuljahr hat Kinder wie Eltern verändert. Jetzt verbringen die Kinder ihre Zeit nicht mehr beim Jungen OMON-ler, sondern schreiben „Es lebe Belarus!“ auf den Asphalt. Oder sie sitzen auf der Polizeistation, weil sie wegen eines rot-weißen Regenschirms festgenommen wurden. Oder sie warten, dass ihre Eltern aus dem Gefängnis zurückkommen. Oder sie flüchten mit ihnen nachts über die Grenze. Sie werden jedenfalls schnell erwachsen – wie immer im Krieg.  

    Um dieses Erwachsenwerden und das Denken zu stoppen, um die Kinder wieder auf Linie zu bringen, verordnet ihnen der Staat nun einen Schulpolitruk für militärisch-patriotische Erziehung. Als Mutter eines Schülers, die sich mit seinen Klassenkameraden und Freunden sowie deren Eltern unterhält, sage ich felsenfest überzeugt: Da kann man das Geld gleich zum Fenster hinauswerfen. Was für ein erbärmliches und sinnloses Projekt, zum Scheitern verurteilt. Die Kinder stellen sich nicht mehr in Reih und Glied, und die Eltern werden nicht mehr den Mund halten, nur weil sie ein schlechtes Zeugnis fürchten. Nur Witze über diese Schulpolitruks werden in Belarus wie Pilze aus dem Boden schießen, sodass sich der Turn- und der Werklehrer von blöden Sprüchen endlich mal erholen können. 

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  • Warten auf den Tag der Freiheit

    Warten auf den Tag der Freiheit

    Am 22. Februar 2021 hatten sich Alexander Lukaschenko und sein russischer Kollege Wladimir Putin in der Nähe von Sotschi getroffen. Es war das zweite Treffen nach dem Beginn der historischen Protestwelle im August 2020 in Belarus. Beim ersten Treffen im September hatte Putin am Schwarzen Meer seine Unterstützung für Lukaschenko mit einem 1,5 Milliarden US-Dollar-Kredit untermauert. Diesmal ging es weniger um Geld, Gas und Kredite als wohl mehr um die Symbolik des Treffens, wie Kommentatoren urteilten: Zwei Autokraten präsentierten sich als Einheit im Kampf gegen die Proteste und potentielle demokratische Bewegungen in ihren jeweiligen Ländern. 

    Dass die belarussisch-russischen Beziehungen in der Vergangenheit immer wieder von großen Schwierigkeiten und wenig Harmonie geprägt waren, beschreibt die Wissenschaftlerin Nadja Douglas in der Gnose zum Thema.

    Lukaschenko befürchtet indes, dass die Proteste am 25. März, dem Tag der Freiheit, wieder im großen Stil ausbrechen könnten. Die Opposition hat eine Demonstration für diesen Tag angekündigt. Und der KGB-Chef Iwan Tertel will bereits Hinweise auf Destabilisierungspläne ausgemacht haben. Entsprechend ist zu erwarten, dass der Machtapparat weiter gezielt gegen jeglichen Widerstand vorgehen wird. Auch für diese Gangart diente das Treffen in Sotschi als Rückversicherung.

    In ihrem Beitrag für die Novaya Gazeta geht die bekannte belarussische Journalistin Irina Chalip der nicht ganz neuen Zweckharmonie zwischen den beiden Autokraten auf den Grund.

    An dem Tag, als  Putin und Lukaschenko in Sotschi fürstlich zu Mittag speisten, warf sich in Gomel der sechzehnjährige Nikita Solotarjow gegen die Gitterstäbe seines Käfigs im Gerichtssaal und schrie: „Lasst mich hier raus!“. Nikita wird wegen Vorbereitung von Massenunruhen zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Er hat Epilepsie.

    Verhaftet wurde Nikita Solotarjow im August 2020. „Papa, sie schlagen mich jeden Tag!“, sagte er zu seinem Vater, der bei den Verhören als gesetzlicher Vertreter des Minderjährigen dabei war. Nikita beklagte, man würde ihm seine Tabletten nicht geben, und einmal soll der Aufseher auf seine Bitte um Medikamente geantwortet haben: „Du bist ein Politischer und wirst verrecken!“

    Seit Beginn der Proteste in Belarus sind 200 Tage vergangen, und auf den ersten Blick scheint es, als wären die Proteste vorbei. Viele Menschen sind wegen Corona in Quarantäne. Andere verbringen ihre Zeit vor Gericht: Im Zuge der Proteste wurden an die zweitausend Strafverfahren eingeleitet.

    Die Belarussen sind zu einem Langstreckenlauf angetreten

    Die Gerichtsverhandlungen laufen seit Dezember. In vielen belarussischen Städten kommen Menschen zu den Gerichten, um die Angeklagten zu unterstützen: den minderjährigen Nikita, die Journalistinnen von Belsat, den Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko sowie Hunderte andere Protestteilnehmer, Journalisten, Administratoren von Telegram-Kanälen, Blogger und Unternehmer. Die Menschen bringen Sachen in die Gefängnisse und stehen in den Postämtern Schlange, um Päckchen, Telegramme oder Geld in die U-Haft zu schicken. Abends oder früh morgens gehen sie mit Flaggen raus zu lokalen Protestaktionen in ihren Vierteln und in den Hinterhöfen. Es ist natürlich dunkel. Und unheimlich. Manchmal scheint es, als sei die Morgendämmerung eine Erfindung der Autoren utopischer Romane.

    Die Partisanenaktionen in den Hinterhöfen sind natürlich keine hunderttausendköpfigen Märsche durch die Innenstadt von Minsk. Und die Lage in Belarus ist heute schwieriger denn je. Aber auf keinen Fall hoffnungslos. Im Gegensatz zu der von Lukaschenko, die ist praktisch hoffnungslos. Die Belarussen sind zu einem Langstreckenlauf angetreten, und er aus Gewohnheit zu einem 100-Meter-Sprint. Lukaschenko hat seine Kräfte falsch eingeteilt, und jetzt bleibt ihm nur noch, nach Sotschi zu fliegen und zu hoffen – wenn nicht auf Hilfe, dann wenigstens auf ein freundliches Wort.

    Noch vor einem Jahr waren die Treffen zwischen Lukaschenko und Putin Anlass für Diskussionen und akribische Analysen von Wortwahl und Gestik („er hat zweimal geguckt, und einmal hat er ‚kommen Sie rein, es zieht‘ gesagt“), sie schürten Ängste auf der einen und Hoffnung auf der anderen Seite. In Belarus kümmern die Treffen und Dialoge des Selbsternannten mit dem Nullgesetzten jetzt niemanden mehr. Gut, sie haben sich getroffen und umarmt. Getrunken und gegessen, auf Skiern gestanden. Aber das war‘s auch schon.

    Sie haben jetzt ihre eigenen Gesprächsthemen, die für die Belarussen nicht mehr interessant sind, weil es nichts mehr zu besprechen gibt außer Repressalien. Lukaschenko und Putin können Erfahrungen austauschen; sie können sich Gedanken machen, ob man Kinder schon jetzt einbuchtet oder noch abwartet, bis sie erwachsen sind; sie können über das Strafmaß für Andersdenkende beratschlagen und ob man ohne Folter auskommt oder doch lieber zu den langerprobten Methoden des Herausprügelns von Geständnissen greift. Putin und Lukaschenko verbindet heute mehr denn je. Die Integrationspläne beider Staaten, Öl- und Gaspreise, frühere Auseinandersetzungen – all das ist in den Hintergrund gerückt und hängt an unsichtbaren Schnüren, die aus dem Zuschauerraum nicht zu sehen sind. Jetzt ist der Moment der wahren Einigkeit gekommen. Es könnte der Beginn einer engen Männerfreundschaft werden, aber auch ihr Ende – Essen unter Freunden können sehr unterschiedlich ausgehen, da können Sie jeden Kellner fragen. Aber im Moment wirken Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko wie zwei alte Freunde, zwei Gleichgesinnte, die zusammen auf der Bank vor der Hütte sitzen, den Sonnenuntergang betrachten, und über den Lauf der Welt sinnieren.

    Abrechnung mit Andersdenkenden

    Man muss nur die Bilder des jüngsten Treffens in Sotschi mit älteren vergleichen: vor einem, zwei, fünf Jahren. Damals waren das noch zwei völlig unterschiedliche Menschen: Der fast gleich einer Würgeschlange ruhige Putin, der am Haupteingang einen Bittsteller empfängt. Und Lukaschenko, der sich dem Anführer von derartigem Kaliber anbiedert. Der eine genervt, weil er gezwungen ist den anderen zu empfangen, mit dem im selben Raum zu sein und Ebenbürtigkeit vorzutäuschen ihm sichtlich Unbehagen bereitet. Der andere voll Hass, weil er gezwungen ist, Freundlichkeit gepaart mit Gehorsam zu mimen und angesichts des Spotts der Kremlbelegschaft Fassung zu bewahren, der es erlaubt und sogar ausdrücklich empfohlen ist, über die politische Mesalliance zu scherzen.

    Und jetzt tun sie beide gleichermaßen so, als wäre in ihren Ländern alles stabil, lügen einander und der Außenwelt im gleichen Tonfall etwas vor, stellen sich gleichermaßen blind und beharren darauf, dass man sie zu Hause respektiert und wählt. Sogar die Kleiderwahl ist fast identisch – im Stil der sowjetischen Landbevölkerung der 1950er Jahre

    Im Grunde haben sie schon lange und jeder auf seine Art auf diese Nähe zugesteuert. Der eine Teilnehmer des Sotschi-Treffens stellte seine Legitimität durch hartnäckiges Nullierungsmanagement in Frage. Der zweite erstickte die Opposition bereits im Keim. Aber in diesem Winter trafen sich ihre Wege an einem Scheidepunkt. An diesem Punkt steht die massenhafte Abrechnung mit Andersdenkenden, willkürliche Verhaftungen und Prozesse, Gewalt gegen Kinder, Drohungen gegen ihre Eltern, Folter und Mord. Vielleicht sieht genau so der Bifurkationspunkt aus.

    Übrigens ist Lukaschenko schon ein paar Tage vor dem offiziellen Treffen mit seinem Verbündeten nach Sotschi geflogen – in seinen wohlverdienten Skiurlaub. Am Tag seiner Abreise wurde in Belarus der Prozess gegen die Journalistin Katerina Borissewitsch und den Arzt Artjom Sorokin aufgenommen (weil sie die Wahrheit über die null Promille im Blut des ermordeten Roman Bondarenko ans Tageslicht gebracht haben), wurde ein Dutzend weiterer Protestteilnehmer in Straflager und den offenen Vollzug geschickt, wurde gegen Viktor Babariko eine ellenlange Anklageschrift verlesen, wurde Maria Kolesnikowas Anwältin Ljudmilla Kasak die Lizenz entzogen, wurde die Haftstrafe von Pawel Sewerinzew, der seit dem 7. Juni in U-Haft sitzt, verlängert und wurde der am 11. August in Brest getötete Gennadi Schutow postum des Widerstands gegen die Staatsgewalt schuldig gesprochen. Das ist die Realität, in der die Belarussen heute leben.

    Kann man den Menschen vorwerfen, dass sie ihren Protest in die Hinterhöfe verlegt haben und im Partisanenformat fortsetzen? Nein, natürlich nicht. Kann man behaupten, dass Lukaschenko aufgibt und morgen abtritt? Ich würde gerne ja sagen, aber – nein. Kann man davon sprechen, dass die Proteste verloren sind und die Menschen nicht mehr zu Hunderttausenden auf die Straßen gehen werden? Nein, nein und noch dreimal nein.

    Am 25. März beginnt der Frühling

    Natürlich werden sie wieder auf die Straße gehen. Diese Winterpause war notwendig. Erstens wegen der zweiten Corona-Welle, die man zu Hause aussitzen musste, sich schützen. Zweitens hat das Ausmaß der Verluste die Menschen eine Zeitlang buchstäblich betäubt: Hunderte, die für lange Zeit durch Folter außer Gefecht gesetzt wurden, Tausende, die wegen Strafverfahren in Untersuchungshaft mussten, Zehntausende, die das Land verlassen haben. 

    Aber die Stimmung in der Gesellschaft zeigt, dass die Belarussen den Frühling kaum erwarten können. Und das Datum für den Beginn der Frühlingsproteste steht bereits fest: der 25. März – Tag der Freiheit, Jahrestag der Gründung der Unabhängigen Volksrepublik Belarus. Der unabhängige belarussische Staat wurde 1918 im deutsch besetzten Minsk ausgerufen und existierte bis Dezember, als die sowjetischen Truppen in Belarus einmarschierten. An diesem Tag gehen die Belarussen immer auf die Straße, auch wenn sie die restlichen 364 Tage zu Hause bleiben. Und immer mit weiß-rot-weißen Fahnen. 

    Genau dieser 25. März ist jetzt Gesprächsthema Nummer eins: bei den abendlichen, zur Tradition gewordenen Spaziergängen mit der Nachbarschaft, in der Schlange beim Postamt, im Bus und in den sozialen Netzwerken. Die Belarussen warten auf den Tag der Freiheit. Und es ist ihnen völlig egal, was die beiden neuen Busenfreunde irgendwo in Sotschi zu Mittag hatten.

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