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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „In meinem Kopf fügen sich die Puzzleteile zusammen“

    „In meinem Kopf fügen sich die Puzzleteile zusammen“

    „Hallo, hier ist Nawalny“, so hatte der russische Oppositionspolitiker seine Instagram-Follower vergangene Woche begrüßt – mit Familienfoto aus dem Krankenbett. Inzwischen ist er aus der Charité entlassen, ist vorerst aber noch in Deutschland. „Er ist weiterhin in Behandlung“, teilte seine Pressesprecherin Kira Jarmysch mit.

    Die Nowitschok-Vergiftung Nawalnys hatte zu scharfen Worten zwischen Deutschland und Russland geführt. Die russische Regierung sprach von „Hysterie“, im russischen Staatsfernsehen hatte unter anderem Leonid Rink, der an der Entwicklung von Nowitschok beteiligt war, mehrfach behauptet, dass es unwahrscheinlich sei, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff vergiftet worden sei.

    Manche Beobachter, wie etwa Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, sprechen gar von einem Wendepunkt in den Beziehungen. Nun berichtet die französische Zeitung Le Monde von einem Telefonat zwischen Putin und Frankreichs Präsident Macron: In diesem habe Putin mehrere Versionen ins Spiel gebracht, wie Nawalny hätte vergiftet werden können, auch die einer „Selbstvergiftung“.

    Dmitri Muratow, Chefredakteur der Novaya Gazeta, hat auf Echo Moskwy ein Interview gegeben. Darin berichtet er von den Recherchen der Novaya Gazeta zu Leonid Rink – der Nowitschok in Ampullen verkauft und in Umlauf gebrachte habe. Und er spricht über zahlreiche Hinweise dafür, dass vermutlich auch Anna Politkowskaja und Dimitri Bykow, prominente Novaya-Gazeta-Journalisten, mit Nowitschok vergiftet wurden. Muratow betont in dem Interview: „Ich liefere nur Fakten.“ „Die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen“, entgegnet die Moderatorin.

    Irina Worobjowa: Hallo, willkommen bei Ossoboje Mnenije (dt. Die besondere Meinung). Heute ist Dmitri Muratow bei uns, der Chefredakteur der Zeitung Novaya Gazeta. Guten Abend, Dmitri! 

    Dmitri Muratow: Guten Abend! 

    Die Novaya Gazeta hatte auf der Titelseite ein Foto von Nawalny und die Bildunterschrift: „Willkommen zurück!“ Sind Sie sich sicher, dass Alexej wieder vollkommen gesund wird?

    Wir wissen nichts über die Folgeschäden, genauso wenig wie alle anderen, auch die Ärzte. Als die Ausgabe bereits in Druck war, kam uns der Gedanke, dass wir es halb in Farbe und halb in Schwarz-Weiß hätten drucken sollen. Denn er war von den Attentätern und Mördern schon mit einem Bein ins Grab befördert worden, hat sich jedoch an [seiner Frau] Julia, den Ärzten und seinen Freunden festgeklammert und konnte mit dem zweiten Bein in dieser Welt bleiben. 

    Nawalny war ja schon mit einem Bein ins Grab befördert worden

    Sie sprechen von „Attentätern“ und „Mördern“. Sie glauben also die Version der Deutschen, dass es sich um einen Giftanschlag handelt, dass ein Stoff aus der Nowitschok-Gruppe zum Einsatz kam und so weiter?

    Lassen Sie es mich von einer anderen Seite her aufziehen. In unserem Land lassen sich Beteiligungen und die verdeckten Interessen von jemandem ganz gut nachvollziehen anhand der Experten, die man uns im Staatsfernsehen präsentiert. Der wichtigste Experte im Zusammenhang mit diesem Mordanschlag ist ein gewisser Leonid Igorewitsch Rink. Der Mann, der Nowitschok eigenhändig in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat. Er hat nicht nur die Formel für Nowitschok erfunden, sondern es auch eigenhändig hergestellt. 
    Dieser Rink steht also vor dem Logo von Ria Nowosti (ich glaube, er steht da seit dem Giftanschlag auf Skripal immer wieder) und verkündet uns in der Fernsehsendung Wremja, auf NTW, in der Wirtschaftszeitung Wsgljad und in unzähligen anderen regierungsfreundlichen Medien: „Wen interessiert dieser Nawalny? Wenn man gewollt hätte, hätte man ihn getötet.“ Aber spezielles Nowitschok sei da sicher nicht im Spiel, sagt Rink. 

    Jetzt mache ich einen Sprung in die Vergangenheit und erinnere Sie daran, wie 1995 Iwan Kiwelidi ermordet wurde. Der Vorsitzende der Assoziation russischer Banken starb unter schweren Qualen im Krankenhaus. Davor hatte er mehrmals telefoniert. Am Telefonhörer wurde eine Substanz entdeckt, die der Nowitschok-Gruppe zugeordnet werden konnte. Offenbar war der Hörer aufgeschraubt und ein Wattebausch mit der Substanz hineingelegt worden. Mit diesem Hörer in der Hand hatte er mehrmals telefoniert. 

    Der wichtigste Experte im Fernsehen ist der Mann, der Nowitschok in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat

    Wie ist die Substanz dort hingekommen? Die Mörder hatten sie von [Rink] bekommen – dem Kommentator, den wir heute im Staatsfernsehen sehen, dem Chefpropagandisten und Verfechter der Version, dass Nawalny keinesfalls mit Nowitschok vergiftet worden sei.

    Das ist ein schwerer Vorwurf.

    Das ist es. Deswegen antworte ich auch mit seinen Worten. Aus dem Verhörprotokoll vom 16. Februar 2000: „Als ich in Schichany gearbeitet habe, in eben diesem Labor, hatte ich einen Konflikt mit Rjabow.“ Rjabow war irgendein hohes Tier im kriminellen Milieu. 
    „Er fragte mich nach Gift, um einen Hund zu vergiften. Ich gab ihm Diphacinon, ein Rattengift. Aber er kam wieder und sagte, das passe nicht, er brauche etwas für Menschen. Er hat mich bedroht. Ich bekam Angst und sicherte ihm zu, ein entsprechendes Gift zu besorgen.“ 

    Wie hat er dieses Gift besorgt? Er ging in das Labor, in dem er viele Jahre gearbeitet hatte. Bei dem Labor handelte es sich um das Staatliche Institut für Technologien organischer Synthese in Schichany. Das war eine geschlossene, streng geheime Einrichtung.  

    Er bat seine ehemalige Angestellte, Nowitschok zu synthetisieren, das sogenannte VX – das ist ein Nervengift, das als chemische Waffe eingesetzt wird, und füllte sich Ampullen mit je etwa 0,25 Gramm ab. Drei davon verstaute er in seiner Garage. 

    Wurde der Mensch, der das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?

    Der Mensch schleppt hunderte tödlicher Dosen aus einem vom FSB bewachten Labor in seine Garage in einer Stadt, die, wie wir wissen, auch heute noch bewacht wird, lange nachdem die chemischen Waffen vernichtet wurden – so zumindest die offiziellen Angaben.

    Im Gerichtssaal bekommt Rink folgende Frage gestellt: „War Ihnen zu dem Zeitpunkt, als Sie die von Ihnen hergestellten Substanzen weitergaben, bewusst, dass sie gegen Menschen eingesetzt würden?“ Der Staatsanwalt wollte sich vergewissern. „Ja, mir war bewusst, dass diese Leute vorhatten, sie gegen Menschen einzusetzen.“

    Entschuldigen Sie, welches Gerichtsprotokoll meinen Sie? Gab es einen Prozess gegen Rink?

    Vor zwei Jahren hat Roman Schleinow für die Novaya Gazeta recherchiert und jetzt haben wir  weitergemacht. Wir haben die Materialien im Zusammenhang mit den Skripals untersucht. Und da sind wir auf dieses Strafverfahren gestoßen. 

    Was glauben Sie: Wurde dieser Mensch, der hunderte Menschenleben gefährdet und das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?

    Es war also ein Verfahren gegen Rink?

    Es war der Prozess im Fall Kiwelidi. Rink war da als Zeuge! Das ist eine Zeugenaussage. Und er blieb auch Zeuge, denn ich denke mal, er ist äußerst nützlich. Dieser Kerl kann alles herstellen. Wer weiß, was er noch in seiner Garage unter der Werkbank hat. Das alles lässt sich wunderbar am Gesetz vorbei einsetzen. Wissen Sie, für wie viel er eine Ampulle, deren Inhalt hunderte Menschen umbringen könnte, an Mörder verkauft? Für 1500 US-Dollar.

    Da kann man sich in etwa ausrechnen, was ihm ein Menschenleben wert ist, diesem großen Fernsehexperten in staatlichen und staatsnahen Sendern und propagandistischen Talkshows.

    Als ihn die Kollegin, die auf seine Bitte hin Nowitschok synthetisierte, fragte: „Ist das nicht gefährlich?“, erwiderte er: „Nein, nein, ich mache das fürs Militär.“ Sie hakte nach: „Warum denn fürs Militär, wir sind doch eine zivile Einrichtung?“ Und er: „Naja, das haben Militärs schwarz bestellt.“ Niemand hat sich gewundert. 

    Ich würde gern über Folgendes sprechen: Die Vergiftung von Alexej Nawalny – wäre es die erste Geschichte dieser Art, würde man vermutlich nicht so viel darüber sprechen, aber wir haben das schon so oft mitangesehen …

    Genau, und irgendwie steckt Rink da mit drin. Jemand muss ihm den Befehl erteilt haben. Bei uns kommt ja keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung, Einladung und Vorbesprechung des Themas.

    Bei uns kommt keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung oder Einladung

    Außerdem stellen sich mir noch weitere Fragen. Erinnern Sie sich daran, wie im April vergangenen Jahres unser Kollege Dimitri Bykow, unser Rezensent und Ihr Moderator, aus Jekaterinburg nach Ufa geflogen ist, wo er eine Veranstaltung hatte? Bei der Landung lag er im Koma. Ich flog mit einem herausragenden Neurochirurgen und Intensivarzt aus einer der besten Kliniken hin. Als wir ankamen war Bykow völlig ruhig – er lag tatsächlich im Koma. Es wurde entschieden, dass er in eine andere Intensivklinik verlegt werden musste, mit anderen Versorgungsmöglichkeiten, anderer Ausstattung. 

    Damals habe ich mir nichts dabei gedacht. Das bereue ich heute. Ich dachte: Bykow eben, vielleicht hat er was Falsches gegessen. Vielleicht gesundheitliche Probleme. Wer weiß. Kann ja alles sein. Außerdem ist er ein absoluter Workaholic. Er schuftet Tag und Nacht. Vielleicht war er einfach überarbeitet. Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige. Der Zug ist offenbar schon abgefahren.

    Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige

    Uns war klar, dass wir ein Krankentransportflugzeug brauchten. Unsere Zeitung – wir haben eine Krankenversicherung – kam für die Kosten auf. Die Maschine mit zwei Intensivmedizinern an Bord war bereits unterwegs, als der Pilot uns plötzlich mitteilte, er hätte vom Gesundheitsministerium den Befehl erhalten, umzukehren und nicht nach Ufa zu fliegen. Wir waren schockiert. Das Flugzeug war bezahlt, sollte eigentlich bald landen. Dann versuchte man auch noch, den Arzt zurückzurufen, mit dem ich gekommen war. Später hieß es dann, das Gesundheitsministerium sehe keine Notwendigkeit einer Verlegung, er solle bleiben, wo er ist. 

    Das kommt einem bekannt vor.

    Genau das meine ich auch. Als das mit Nawalny passierte, habe ich eins und eins zusammengezählt: den Flughafen, das, was vor dem Flug geschah, damit dann auf dem Flug alles passiert. Nach dem Flug liegt der Mensch im Koma. Dann muss er verlegt werden in eine geeignete Intensivklinik – wie auch immer man das nennt –, damit andere Maßnahmen ergriffen werden können. Doch dieser Vorgang wird durch sonderbare Anordnungen verzögert, so wie man bei Bykow versucht hatte, das Flugzeug umkehren zu lassen. 

    Aber es ist nicht umgekehrt.

    Der Pilot sagte damals: „In zehn Minuten werde ich dem Befehl folgen müssen und umkehren, den Kurs ändern.“ Ich sage es offen: Ich habe also jemanden angerufen, einen der wenigen Kontakte, den ich von Treffen mit Chefredakteuren und hohen Politikern hatte. Er war damals und ist auch heute noch auf einem der höchsten Posten. Acht Minuten später teilte der Pilot uns mit, es sei eine Erlaubnis vom Himmel gefallen, er könne seinen Flug doch fortsetzen. Die Erlaubnis kam vom Kreml. 

    Als das alles mit Nawalny passiert ist und wir uns gefragt haben, was wohl dahintersteckt … Ob die Ärzte in Omsk vielleicht etwas sehen, was wir nicht sehen …

    Ob etwas durcheinandergeraten ist? Durchaus möglich. Aber wenn ich jetzt sehe, dass bei Bykow derselbe Algorithmus am Werk war: Hotel, Flughafen, Flugzeug, Koma, Notfallklinik, Verzögerungen beim Transport …

    Ich möchte keine Schlüsse ziehen. Neulich habe ich einen sehr treffenden Satz gehört: „Die Wahrheit genügt uns nicht, wir brauchen Fakten.“ Ich liefere Ihnen also nur Fakten. Sie stehen für sich. Das sind die Fakten über Rink, unseren gegenwärtigen Experten und Propagandisten. Das sind die Fakten über die Evakuierung von Bykow. Die Fakten über Politkowskaja – ich habe ja schon oft erzählt, wie das damals [als Politkowskaja 2004 nach Beslan flog, um über die dortige Geiselnahme zu berichten – dek] vonstatten ging: Flugzeug, Koma, zerstörte Proben, Krankenhaus. Die Proben gingen im Flughafen kaputt, Blut und Erbrochenes gingen verloren. [Politkowskaja überlebte – 2006 wurde sie vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen. Die Hintermänner der Tat sind bis heute nicht bekannt – dek.]

    Und auf der anderen Seite ist da ein Rink, der eine unbekannte Menge Ampullen an jemanden weitergegeben hat. Da fügen sich in meinem Kopf die Puzzleteile zusammen. Ich will diese Gedanken verjagen, will das alles nicht glauben. 

    Ja, lassen Sie uns bei den Fakten bleiben, die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen.

    Bitte, gern. Schlussfolgerungen sind ja kein Gift.

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  • „Im Wahlkampf wird das System nervös“

    „Im Wahlkampf wird das System nervös“

    Es waren gleich mehrere Nachrichten in den vergangenen Wochen, die (nicht nur) in Russlands Zivilgesellschaft für Aufruhr sorgten: Etwa die vorzeitige Haftentlassung des Aktivisten Ildar Dadin, eine Wohnungsdurchsuchung bei der unabhängigen Journalistin Soja Swetowa und schließlich der neueste Bericht des Oppositionspolitikers Nawalny. Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung publizierte belastendes Material über Russlands Premier Medwedew: Demnach verfügt der über ein Eigentum im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar – Vermögen, das offiziell gut versteckt dubiosen „Stiftungen“ gehört.

    Der Radiosender Echo Moskwy lud nun die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann ins Studio, zur Sendung Ossoboje Mnenije (dt. Besondere Meinung). Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft. Neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Moskauer Hochschule RANCHiGS schreibt sie häufig Analysen für verschiedene unabhängige Medien. Schulmann hält auch Vorlesungen an der Online-Universität openuni – ein Projekt von Offenes Russland, das von Michail Chodorkowski gegründet wurde.

    Besondere Meinung wiederum ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Besondere Meinung ist interaktiv, die Zuhörer werden eingebunden und bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, per Videostream wird die Sendung über Internet live aus dem Studio übertragen.

    Ekaterina Schulmann übt in ihren vielbeachteten Artikeln zum politischen System Russlands oft Kritik an der derzeitigen Situation des Landes – kein Wunder, dass auch die Hörer von Ossoboje Mnenije sie zu den neuesten Ereignissen kritisch befragten.

    Die Politologin Ekaterina Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft / Foto © Ekaterina Schulmann/Facebook
    Die Politologin Ekaterina Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft / Foto © Ekaterina Schulmann/Facebook

    Irina Worobjowa: Alle Welt spricht über den Anti-Korruptions-Bericht des FBK und über mögliches Eigentum von Premierminister Dimitri Medwedew. Die Untersuchung umfasst viele verschiedene Einzelgeschichten. Was ist denn nun das eigentlich Relevante?

    Ekaterina Schulmann: Um ehrlich zu sein – in allen Einzelheiten habe ich mir diese Arbeit bislang weder in der Video- noch in der Textversion angeschaut. Das Wichtigste ist wohl die Tatsache, dass sie überhaupt veröffentlicht wurde. So wie ich das verstehe, wird dort folgender Mechanismus beschrieben: Oligarchen, Großindustrielle und irgendwelche wirtschaftlichen Interessengruppen überweisen Geld auf die Konten von Stiftungen, die aussehen wie Wohltätigkeitsverbände oder anderweitig dem Gemeinwohl dienende Organisationen. Tatsächlich aber hat am Ende nur einer Zugriff auf das Geld und die Güter: der Premierminister.

    Allein die Tatsache der Veröffentlichung halte ich für wichtig – warum? Wie die Sprecherin des Premierministers Natalja Timakowa so schön gesagt hat: Wir befinden uns im Wahlkampf, und das ist eine Wahlkampfaktion.

    Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt. Schauen wir uns mal die früheren Wahlkampfperioden an: Da sehen wir, dass es vor und nach den Wahlen, ob nun zu den Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen, immer zu solchen Turbulenzen kam.

    Das heißt also grundlegend ändert sich nichts, aber auf dieser mittleren Ebene gibt es doch gewisse Veränderungen?

    Wie soll ich sagen … also, grundlegend wird sich nichts ändern, solange das Regime so bleibt, wie es ist. Aber es befindet sich ständig in Transformation. Und für die Leute, die diesem Regime angehören, sind diese Transformationen durchaus spürbar. Auch wenn es von außen nicht wie eine Revolution aussieht – für Insider können das revolutionäre Umbrüche sein. Der eine hat seinen Posten behalten, ein anderer ist rausgeflogen, und einem dritten haben sie ein Strafverfahren angehängt.

    Solche Informationsbomben werden von zwei Teilen der Öffentlichkeit ganz unterschiedlich aufgenommen: Da ist einmal das äußere Publikum, also wir Bürger, die Gesellschaft, das Sozium. Die breite Masse mag das einerseits nach dem Motto beurteilen: „Na und, wir haben doch schon immer gewusst, dass alle korrupt sind.“ Doch es ist ja eine Sache, das ganz allgemein zu wissen, und eine andere Sache, etwas ganz konkret zu sehen, etwas, das selbst bei ganz oberflächlicher Betrachtung jegliche Vorstellung übersteigt.

    Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt

    Dann gibt es natürlich auch noch das ganz äußere Publikum, also das Ausland. Für diese Menschen ist das alles noch viel verwunderlicher als für uns.

    Schließlich kommen wir zum inneren Publikum, zu den Insidern, also den Leuten, die zum Machtzirkel gehören. Deren Bewusstsein ist auf eine ganz spezifische Art verzerrt. Sie glauben weder an unabhängige Untersuchungen noch an Korruptionsbekämpfung. Den Medien glauben sie auch nicht. Sie glauben überhaupt niemandem so recht.

    In ihrer Welt sind sozusagen alle Vorkommnisse Signale einer Gruppe an eine andere, völlig unabhängig von den realen Gegebenheiten. In ihrer herrlich paranoiden Welt hat das etwas zu bedeuten. Sie fragen sich: Warum jetzt? Warum Medwedew? Wer gibt hier wem Signale? Daraus werden sie ihre grundlegenden und wertvollen Schlüsse ziehen.

    Natürlich können uns diese Details auch ziemlich egal sein. Nur Folgendes ist wichtig: Das alles ist Wahlkampf, wie er bei uns geführt wird. Das ist kein Wahlkampf eines gesunden Menschen, bei dem man um den Wähler kämpft. Das ist der Wahlkampf eines kranken Rauchers, bei dem gerade in der Zeit vor den Wahlen das Gleichgewicht innerhalb des Regierungssystems justiert wird.

    Ist es denn vorstellbar, dass sie jetzt kurzerhand Medwedew opfern? Um den Menschen zu zeigen: Eigentlich geht es hier bei uns doch ehrlich zu und wenn einer so schamlos mithilfe von Stiftungen …, also entschuldigen Sie bitte, Dimitri Anatoljewitsch, auf Wiedersehen. Oder ist das ausgeschlossen?

    Das, was Sie als „opfern“ bezeichnen, also die extremste Maßnahme, ihn vor den Präsidentschaftswahlen zu entlassen, ist äußerst unwahrscheinlich. Aber es gibt viele Arten, den einen oder anderen politischen Akteur, sagen wir, unter Druck zu setzen, ohne ihn zu entlassen. Für Sie gibt es wohl nur sowas wie, zack, gleich Erschießung oder Freispruch, was?

    Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden

    Aber jeder dieser Staatsbediensteten aus der obersten Etage vertritt ja eine ganze Gruppe, und das gilt ganz besonders für den Premierminister. Das heißt: Diese Gruppe kann Verluste erleiden oder Erfolge erzielen. Wenn sie Verluste erleidet, kann das auch völlig unter der Hand geschehen, wir werden das nicht sonderlich bemerken. Obwohl – wir kriegen es wohl doch mit, denn momentan ist die mediale Transparenz, Gott sei Dank, gegeben.

    Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden. Denn zu diesem Krieg gehören entsprechende Positionsverluste und auch entsprechende Siege.

    Unsere Hörer wollen wissen, ob es nicht müßig ist, sich darüber Gedanken zu machen, wer denn Medwedew attackiert hat, wenn das ohnehin nur den inneren Kreis der Elite betrifft. Es gibt ja ganz unterschiedliche Möglichkeiten, wer dahinter stehen könnte … Ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen? Oder geht uns das nichts an?

    Das ist wie beim Mord im Orient-Express. Der Kreis der Verdächtigen ist einigermaßen begrenzt, aber doch relativ groß. Es könnte jeder gewesen sein. Und stellen Sie sich vor, vielleicht war es keine Einzelperson, sondern vielleicht waren es irgendwelche ständigen oder temporären Koalitionen. Das ist ein weites Feld zum Rätseln. Wobei Herumrätseln da meines Erachtens nicht sinnvoll ist. Lassen Sie uns lieber über Folgendes nachdenken: Die Zeit des Wahlkampfs hat also begonnen, eine nervöse Zeit, alle sind zerstritten. Was kann der einfache Bürger daraus machen? Wie kann er das für sich nutzen?

    In diesem Zeitraum ist das System durchaus verletzlich, unter anderem dadurch, dass etwas öffentlich werden könnte, ja schon allein durch eine solche Bedrohung. Allе eingebildeten oder nicht ganz eingebildeten, in manchen Fällen sogar wesentlichen Liberalisierungen finden gerade dann statt. Wenn jemand also irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür.

    Wenn jemand irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür

    Da wird bei uns durchaus das Strafrecht abgemildert, oder die Führung ersetzt einen ganz hoffnungslosen Gouverneur durch einen jüngeren und etwas ruhigeren, oder es passiert sonst irgendetwas Positives für die Gesellschaft … Auch Inhaftierte werden zum Beispiel entlassen.

    Denn die Maschine so richtig zum Laufen zu bringen, wie es sich gehört, also zum Beispiel Verbrecher einzubuchten, das ist schwer. Aber die Praxis hat gezeigt, einen Unschuldigen zu befreien, das geht. Zumindest ist es leichter. Es gibt auch noch weitere Mechanismen, um, sagen wir mal, die Kiefer zu lockern und Happen rauszuholen.

    Aber wenn es darum geht, den Staat zu zwingen, seine direkten Funktionen auszuüben, also etwa gegen die Kriminalität zu kämpfen oder für Wirtschaftswachstum zu sorgen, dann wird es schon schwieriger. Aber man tut, was man kann.

    Die Hörer fragen nach der Hausdurchsuchung bei Soja Swetowa. Das ist doch eine dumme, völlig unnötige Aktion. Es ist gar nicht mal klar, was da eigentlich los war.

    Sie finden die Aktion dumm, aber die Ausführenden finden sie gar nicht dumm. Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, neue Dienstgrade, Beförderungen, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch. Wenn das schon 13 (sogar mehr) Jahre funktioniert, warum sollte das nicht auch jetzt funktionieren? Das zum einen.

    Zum anderen ist da rund um den Föderalen Strafvollzugsdienst einiges im Gange. Schon seit einigen Monaten geschehen da viele seltsame, ja erstaunliche Dinge. Der FSIN steht in diesem Jahr im Zentrum der Öffentlichkeit, falls es jemand noch nicht gemerkt haben sollte.

    Der frühere stellvertretender Leiter wird verhaftet. Gleichzeitig erscheinen zwei große Berichte darüber, wie der Sektor wirtschaftlich funktioniert. Ist ja klar, wie: Kostenlose Sklavenarbeit, große Staatsaufträge und entsprechend viel Geld.

    Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch

    Auch wissen wir, dass der FSIN noch einen weiteren großen Happen aus dem Staatsbudget haben will: Für eine großangelegte Renovierung der Gebäude und Gelände und den Bau neuer Straflager.

    Gleichzeitig haben wir noch den Dadin-Skandal, der sich zugespitzt hat: Erst die Folter im Straflager, dann die unerwartete (oder auch nicht sonderlich unerwartete) aber durchaus erfreuliche Entlassung.

    Gleichzeitig weist der Präsident die Staatsanwaltschaft an, den FSIN zu überprüfen. Woraufhin die Staatsanwaltschaft die vorherige Aufhebung einer Untersuchung der Foltervorwürfe in den Straflagern von Karelien wieder aufhebt. 

    Der FSIN beansprucht für sich also viel Geld aus dem Haushalt, und gleichzeitig gibt es andere Gruppen, die mit dem Amt offensichtlich anderes vorhaben. Vielleicht dessen Führung auswechseln, oder es zum Teil auflösen, irgendwie umgestalten, vielleicht einer anderen Behörde unterstellen. Irgendwie gibt es da Gerüchte.

    Ja, und dann zwei Hausdurchsuchungen an einem Tag: bei Soja Swetowa und bei Jelena Abdullajewa. Wobei Soja Swetowa nach der Durchsuchung erklärte, es sei nicht um Chodorkowski, sondern um ihre Bürgerrechtsaktivitäten gegangen. Worin besteht diese Tätigkeit? Sie besteht einzig und allein darin, dass sie Untersuchungsgefängnisse, Haftanstalten und Straflager besucht. Ihre Bürgerrechtsaktivitäten haben mit dem zu tun, was der FSIN tut.

    Das sind also alles Turbulenzen im Umfeld des Gefängnissystems, der Wirtschaft der Gefängnisse, der darin involvierten Gelder und Leute.

    Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht. Niemand hat sich dafür interessiert, was mit den Knastis lief. Und nun plötzlich interessieren sich alle dafür. Eine gewisse hemmende Wirkung hat dieser ganze Medienrummel also durchaus.

    Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht

    Ich wiederhole, man kann den Eindruck haben, dass nichts passiert sei – da ist einfach jemand früher aus der Haft entlassen worden, einige Monate bevor die Strafe ohnehin um gewesen wäre. Für alle aber, die sich innerhalb des Systems befinden, die daran gewöhnt sind, dass alles straffrei abläuft und im Dunkeln bleibt, ist dieser Lichtstrahl schon ein ziemlicher Stressfaktor. Auch dass der Direktor des Straflagers sich verstecken, in Urlaub gehen musste, das war für sie … Und wieder: In unseren Augen ist das keine besonders repressive Maßnahme, oder? Wir würden uns wünschen, dass dort alle entlassen und verurteilt werden. Aber für diese Leute ist das, als wäre ihnen der Himmel auf den Kopf gefallen, weil es so etwas früher nicht gab.

    Man hatte ohnehin schon den internen Konsens gefunden, dass politische Gefangene nicht angerührt werden dürfen (also körperlich), weil man den Rummel fürchtete. Bei Dadin hat dieser Mechanismus aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, und das hat dann einen umso größeren, umso wuchtigeren Skandal hervorgerufen, der sich angesichts der offensichtlichen Schwächung des FSIN auf alle möglichen Arten finanziell und strukturell auswirken kann.

    Offen gestanden, lösen Ihre Worte bei unseren Zuhörern eine Gegenreaktion aus, sie sind ein bisschen erstaunt, beziehungsweise verärgert: „Soll etwa der öffentliche Druck im Fall Dadin nichts bewirkt haben, und geht es bei der ganzen Sache nur darum, was im Dunstkreis des FSIN passiert, und so weiter und so fort?“ Oder wurden Sie einfach falsch verstanden?

    Was sind wir Russen doch für Maximalisten. Das ist wirklich erstaunlich.

    Es gibt doch zwei Ansätze: Entweder es heißt, man habe jemanden ausschließlich dank zivilgesellschaftlichem Engagement befreit, ja, buchstäblich dem Verlies entrissen. Oder es heißt: „Was seid ihr doch naiv! Eure ganze Bürgerrechtskampagne ist bedeutungslos. Das Ganze ist nur ein interner Kampf.“ Dann gibt es noch: „Das ist nur ein kümmerlicher Bissen, man hat euch damit abgefrühstückt, und ihr freut euch brav darüber.“

    Man muss die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität betrachten. Wenn die Zivilgesellschaft, also irgendeine organisierte Gruppe, beginnt, für ihre Interessen zu kämpfen, etwa für die Freilassung eines unschuldig Verurteilten, benutzt sie diverse Instrumente. Es gibt da ganz naheliegende Instrumente, oder? Öffentlichkeit, Medienpräsenz, Petitionen oder Beschwerden an die Obrigkeit. Auch die internationale Öffentlichkeit funktioniert – entgegen der verbreiteten Meinung, dass man damit alle nur verärgere – hervorragend.

    Startet man eine solche Kampagne, finden sich innerhalb des Machtsystems sofort Verbündete, denn keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein „die da“ – „Die tun da das und das“ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne.

    Keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein ‘die da‘ – ‘Die tun da das und das‘ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne

    Bei jeder Kampagne wird es unter Ihren Mitstreitern höchst unsympathische Akteure aus Regierungskreisen geben, die ihre eigenen Ziele verfolgen.

    Sollten Sie deswegen beleidigt sein, erschrecken oder sich von Ihren Aktivitäten abhalten lassen? Natürlich nicht. Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum zivilgesellschaftlichen Erfolg ist diese idiotische Angst davor, für die Ziele anderer benutzt zu werden.

    Wenn Sie Ihr Ziel immer im Auge behalten, immer an Ihre Interessen denken, wird Sie niemand benutzen, Sie hingegen benutzen, wen Sie wollen. Das ist übrigens auch genau das, was der Antikorruptionsfonds und Alexej Nawalny tun. So heißt es oft. Irgendjemand muss ihnen die ganzen Informationen ja zuspielen. Die haben dann das Gefühl, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Und die zivilgesellschaftlichen Aktivisten dürfen ihre Ziele nicht aus dem Blick verlieren.

    Sprechen wir über eine andere Angelegenheit, die sich schon lange hinzieht und in der es regelmäßig zu Verhaftungen kommt: der Bolotnaja-Fall. Einer der Beschuldigten, Dimitri Butschenkow, wurde plötzlich in Hausarrest überführt, was selbst für seine Verteidiger überraschend kam. Dieser Bolotnaja-Fall, so scheint es, wird noch ewig weitergehen. Oder werden sie irgendwann einfach aufhören?

    Nun, wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen. Solange man sich mit der Verfolgung unschuldiger Leute, die sich nicht widersetzen, einfach und bequem eine Beförderung, eine positive Statistik und gute Aufklärungsquoten verdienen kann, wird man das tun.

    Wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen

    Im Fall Butschenkow möchte ich die wirklich wichtige Rolle seiner Verteidigung hervorheben, Pawel Tschikow von der Gruppe 29. Das sind absolut heroische Leute, die politisch verfolgte Menschen verteidigen, und zwar mit Erfolg. Überhaupt ist Rechtshilfe, rechtliche Unterstützung bei jeder Bürgerrechtskampagne ein wichtiges Element, generell bei allen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Womit auch immer Sie sich beschäftigen, am Gericht führt kein Weg vorbei, und deshalb ist es sinnvoll, sich rechtzeitig damit zu befassen.

    Im vorliegenden Fall ist alles ziemlich offensichtlich, da man ja, den verfügbaren Videoaufzeichnungen und Fotos nach zu schließen, eindeutig nicht den Richtigen gefasst hat. Er sieht einfach nicht aus wie der Mann, der auf dem Bolotnaja-Platz war.

    Wir müssen uns nunmal mit dieser Art von Siegen begnügen (Überführung in Hausarrest, hurra!), obwohl ja klar ist, dass man das Verfahren einstellen sollte, weil der Mann nichts mit der Geschichte zu tun hat.

    Es kam die Frage auf, ob es einen Wandel gegeben habe: Früher führte man Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, Politikern, Gouverneuren, Beamten und Silowiki durch, und nun kommt es auch bei Menschenrechtlern und Journalisten vor. Soja Swetowa ist ja auch Journalistin. Handelt es sich wirklich um einen Wandel, dem man Beachtung schenken sollte? Oder hat die Tatsache, dass Soja Swetowa Journalistin ist, keinerlei Bedeutung?

    Ehrlich gesagt sehe ich hier keinen qualitativen Wandel. Die Hausdurchsuchung ist in unserer Rechtspraxis ein altbewährtes Einschüchterungsinstrument. Ihr Zweck ist, zu demoralisieren.

    Wobei unklar ist, inwiefern das bei den Ermittlungen hilft. Aber man muss irgendwie Angst einjagen, Eindruck machen.

    Diese Leute leben in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken

    Ich glaube nicht, dass die sich wahnsinnig viele Gedanken über die öffentliche Reaktion machen. Sie wollen gewöhnlich einfach den unmittelbaren Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit terrorisieren. Dass sich das dann in der ganzen Welt verbreitet, ist für sie aus irgendeinem Grund jedes Mal wieder eine echte Überraschung. Warum das? Weil es, wie im Fall Dadin, Folgen hat – dann muss man jemanden halbzerkaut wieder ausspucken, und aus irgendeinem Grund sind sie darüber jedes Mal wieder erstaunt.

    Diese Leute leben informationsmäßig in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht tatsächlich nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken, und auch nicht, wen sie da genau aufsuchen.

    Vielen Dank. Ekaterina Schulmann heute in der Sendung Ossoboje Mnenije.


    https://www.youtube.com/watch?v=KnQz4elxn48

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