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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Vedomosti: Ende der Unabhängigkeit?

    Vedomosti: Ende der Unabhängigkeit?

    Zensur kritischer Inhalte, sinnverfälschende Einmischungen und eine unverkennbare Nähe zum Kreml und zu Rosneft – die Vorwürfe gegen den neu eingesetzten Vedomosti-Chefredakteur Andrej Schmarow sind schwerwiegend. Zahlreiche Redakteure der Zeitung haben aus Protest inzwischen ihre Kündigung eingereicht. Viele Beobachter fühlen sich an das Schicksal von NTW, Lenta.ru oder RBC erinnert: Geht mit Vedomosti nun ein weiteres Flaggschiff der unabhängigen Presse in Russland unter? Pjotr Mironenko und Irina Malkowa berichten auf The Bell.

    Die Zeitung Vedomosti, so wie wir sie seit zwanzig Jahren kennen, wird es bald nicht mehr geben. Der vom neuen Eigentümer Iwan Jeremin einberufene Verwaltungsrat hat Andrej Schmarow, den Mitgründer der Zeitschrift Expert, zum neuen Chefredakteur von Vedomosti ernannt. Schmarow hatte im März 2020 den Posten kommissarisch übernommen und war bald in Konflikt mit der Redaktion geraten: Diese beschuldigte ihn der Zensur. Aus Protest reichten [am 15. Juni 2020] alle leitenden Redakteure die Kündigung ein.

    An der Ernennung Schmarows war laut Recherchen von Meduza, The Bell, Forbes und Vedomosti vermutlich auch Michail Leontjew, der Pressesekretär von Rosneft beteiligt. Seit 2017 hatte das Unternehmen, dem Vedomosti gehörte, einen riesigen Kredit bei einer Tochterbank von Rosneft laufen.

    Das ist passiert

    Der Verwaltungsrat von Vedomosti (Aktiengesellschaft Business News Media (BNM)) hat Mitte Juni in neuer Zusammensetzung getagt und Andrej Schmarow als Chefredakteur der Zeitung bestätigt. Es war der neue Vedomosti-Eigentümer Iwan Jeremin, der die Ernennung Schmarows initiiert hatte. Am 10. Juni hatte Jeremin dann bekanntgegeben, dass der Verwaltungsrat in Kürze tagen werde und die Journalisten ihrerseits einen Kandidaten vorschlagen sollten. Denn laut Gesellschaftervertrag muss der Verwaltungsrat des BNM neben dem Kandidaten des Eigentümers auch einen Kandidaten der Redaktion in Betracht ziehen. Die Redaktion schlug daraufhin eine Herausgeberin zahlreicher Co-Projekte von Vedomosti vor, die ehemalige Vedomosti-Redakteurin Anfissa Woronina.

    Der neue Verwaltungsrat besteht aus Jeremin, dem Geschäftsführer eines seiner Unternehmen Michail Neljubin, dem ehemaligen Chefredakteur von TASS und ehemaligen Leiter des Finanzressorts von Vedomosti Anton Trifonow, dem anfänglichen Kaufinteressenten Konstantin Sjatkow und dem Dozenten für Unternehmensrecht der Juristischen Fakultät der MGU Alexander Molotnikow. Mit drei zu zwei stimmten die Ratsmitglieder für Schmarow. Die vierte und entscheidende Stimme für Schmarow kam vom Vorsitzenden des Verwaltungsrats – Jeremin.

    Nach Bekanntgabe der Entscheidung reichten die fünf stellvertretenden Chefredakteure von Vedomosti [am 15. Juni 2020] die Kündigung ein: Dimitri Simakow, Alexander Gubski, Boris Safranow, Filipp Stepkin und Kirill Charatjan. Damit verlässt das sogenannte Aquarium die Zeitung – der Kreis der leitenden Redakteure, die für die operativen Entscheidungen bei Vedomosti verantwortlich waren.
    Alle fünf hatten bereits leitende Positionen inne, bevor die ausländischen Aktionäre 2015 zum Verkauf der Zeitung genötigt wurden. Mit ihnen gehen auch die komissarische Chefredakteurin der Online-Redaktion Alexandra Tschunowa und die Redakteurin des Wirtschaftsressorts Jelisaweta Basanowa. Etwa zehn Journalisten, einschließlich mehrerer Ressortleiter, haben Vedomosti schon vorher verlassen.

    Ihre Kündigung begründeten die Redakteure in einer öffentlichen Erklärung damit, dass Andrej Schmarow in den drei Monaten als Chefredakteur demonstriert habe, wie wenig er mit den Standards von Vedomosti übereinstimme; seine Ernennung zeuge davon, dass diese Prinzipien bei der Zeitung nicht länger gebraucht würden. „Alle Vermittlungsversuche sind gescheitert und die endgültige Entscheidung für Schmarow ist getroffen, damit bleibt uns nichts als zu gehen“, heißt es in der Erklärung.

    Nach dem Verkauf der Zeitung – Ernennung des neuen Chefredakteurs im März

    Schmarow war am 24. März kommissarisch zum Chefredakteur von Vedomosti ernannt worden – eine Woche, nachdem Demjan Kudrjawzew den kurzfristigen Verkauf der Zeitung bekanntgegeben hatte.

    Vom ersten Tag an gab es Konflikte mit der Redaktion: Schmarow erklärte, er lese Vedomosti nicht und sei mit deren Redaktionskodex Dogma nicht vertraut. Er änderte eigenmächtig Überschriften ins komplette Gegenteil und verkündete den Journalisten, er verbiete auf Bitte der Kreml-Administration hin, Artikel zu Umfragen des Lewada-Zentrums zu veröffentlichen. Doch das offensichtlichste Beispiel für Zensur war, dass ein schon publizierter, kritischer Online-Artikel über den Vorstandsvorsitzenden von Rosneft Igor Setschin wieder gelöscht wurde.

    Eine Quelle von Meduza, die Einblicke in den Verkauf von Vedomosti hatte, berichtet, dass an der Entscheidung, Schmarow zum Chefredakteur zu machen, auch der Pressesekretär von Rosneft Michail Leontjew beteiligt gewesen sei. Darauf angesprochen, stritt Schmarow dies nicht ab. Leontjew antwortete auf die Nachfrage von The Bell mit: „Was habe ich denn damit zu tun?“

    Als Kudrjawzew im März 2020 den Verkauf von Vedomosti bekanntgab, sollten zunächst Konstantin Sjatkow, der Herausgeber der Zeitung Nascha Werssija, und der Investmentbanker Alexej Golubowitsch, Vedomosti kaufen. Doch Golubowitsch und später auch Sjatkow zogen ihr Angebot wieder zurück. Ende Mai wurde Iwan Jeremin zum alleinigen Eigentümer. Die Vertragsdetails blieben unter Verschluss, über Abmachungen zwischen Jeremin und der WBRR oder Rosneft ist nichts bekannt. Allerdings hatte Jeremins Online-Portal FederalPress PR-Verträge mit Tochterunternehmen von Rosneft und veröffentlichte geringfügig redigierte Pressemeldungen, ohne sie als Werbung zu kennzeichnen.

    Die Folgen

    Der Satz, Vedomosti werde es bald nicht mehr geben, mit dem dieser Artikel beginnt, ist keine Übertreibung. In den letzten zehn Jahren wurden mindestens zehn große unabhängige Redaktionen zerschlagen. Mal geschieht das langsam und qualvoll, mal gelingt es einer Redaktion, einen Teil der Unabhängigkeit zu bewahren, indem sie auf besonders sensible Themen verzichtet. Nichtsdestoweniger beweist eine Vielzahl von Beispielen: Hat eine Zeitung ihre Unabhängigkeit verloren, ist es unmöglich, die Qualität der Redaktionsarbeit zu erhalten.

    Angenommen, das Ziel der ganzen Aktion war es, Vedomosti als Marke zu erhalten und bloß jenen Teil loszuwerden, der sich nicht per Telefonanruf steuern lässt, so ist dieser Plan doch zum Scheitern verurteilt. Das kann nicht funktionieren. Denn mit der redaktionellen Unabhängigkeit verschwinden nicht nur die kritischen Artikel über Politik oder die Aufdeckung von Korruption, sondern nach und nach auch die qualitativ hochwertigen Inhalte zu Wirtschaft und Finanzen. Vor allem aber verschwindet der Geist der Zeitung, der sie antreibt und den Leser an sie bindet.

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    Fall Golunow – hinter den Kulissen

  • Fall Golunow – hinter den Kulissen

    Fall Golunow – hinter den Kulissen

    Die Nachricht kam Dienstagnachmittag für viele völlig überraschend – umso größer war die Freude: Iwan Golunow ist frei!
    Der Investigativjournalist von Meduza stand seit Samstag unter Hausarrest, ihm war versuchter Drogenverkauf vorgeworfen worden. Sein Fall schlug hohe Wellen: So solidarisierten sich russische liberale wie staatsnahe Medien mit Golunow, außerdem Künstler wie der Regisseur Andrej Swjaginzew und die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, und auch die Zivilgesellschaft reagierte sofort, für den heutigen 12. Juni war ein Protestmarsch geplant. Die dekoder-Redaktion hatte noch am Dienstag einen offenen Brief veröffentlicht.

    Seine plötzliche Freilassung und das Fallenlassen der Anschuldigungen gegen ihn sorgten für großen Jubel. Hatten die Behörden dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben? 
    Auf The Bell erschien nun ein Text, der informiert, was seit dem Tag der Festnahme Golunows, dem 6. Juni, hinter den Kulissen geschah. Darin erzählt Dmitri Muratow, ehemaliger Chefredakteur der unabhängigen Novaya Gazeta, der an den Verhandlungen beteiligt war. Seine Schilderungen zeigen einmal mehr, dass es in Russland nicht unbedingt die Gerichte sind, die über eine Freilassung oder Verurteilung entscheiden.

    Im Fall Golunow hat es am Samstag ein Treffen in der Moskauer Stadtverwaltung gegeben – noch vor der eigentlichen Gerichtsverhandlung. Das berichtet Dmitri Muratow, Aufsichtsratschef der Novaya Gazeta.   

    Muratow zufolge waren [neben Muratow und Alexej Wenediktow, Chefredakteur des kritischen Radiosenders Echo Moskwydek] auch Natalja Sergunina (Leiterin des politischen Bereichs) und Alexander Gorbenko (Verantwortlicher für  Informationspolitik und Sicherheit) dabei, die beiden Stellvertreter von Bürgermeister Sergej Sobjanin.

    „Auf unsere Bitte hin war zu dem Treffen [der Moskauer Polizeichef] Generalleutnant Oleg Baranow eingeladen. 
    Wir haben lange Zeit Fragen gestellt, danach wurde den verschiedenen Seiten klar, dass die Argumente der Anklage völlig unhaltbar sind“, so Dmitri Muratow. „Genau dort in der Stadtverwaltung begann dann auch der Dialog, und es entstand die Idee, das Wanja freigelassen, ja zumindest in Hausarrest überführt werden muss. Die Anwälte stellten entsprechende Anträge und händigten unsere Bürgschaften aus. 
    Das Gericht hörte ihre Argumente an und bezog selbstverständlich in seine Überlegungen mit ein, dass die Öffentlichkeit nicht einfach nur kochte, sondern immer neue Unstimmigkeiten in der offiziellen Version aufgedeckt wurden. So traf das Gericht schließlich die erste richtige Entscheidung: Unter Berücksichtigung seines Gesundheitszustands und der Situation insgesamt wurde Golunow nicht inhaftiert.“ 
    Was mit ihm geschehen wäre, wenn er inhaftiert worden wäre, sei völlig unklar – denn niemand wisse, ob die Auftraggeber dieses Falls Kontrolle über die Untersuchungsgefängnisse hätten, fügt er noch hinzu. 

    Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen

    Den nächsten Schritt, fährt Muratow fort, habe man ab Montag besprochen. An der Entscheidung sei Wladimir Putin beteiligt gewesen. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa habe Putin die Situation „ausführlichst“ dargelegt. Beim Rausgehen habe sie die Vermutung geäußert, dass womöglich mehrere zehntausend Urteile in Drogendelikten fingiert seien. 
    „Die politische Führung des Landes hat die richtige Entscheidung getroffen; sie hat richtig eingeschätzt, dass die Geheimdienste, so meine Vermutung, ihren Vertrauensbonus ausgenutzt haben, um bei der Führung Moskaus und der Staatsführung eine für sie [die Geheimdienste – dek] nützliche Sichtweise zu etablieren“, so Muratow.

    Im Grunde sei die Entscheidung schon am Vorabend getroffen worden, doch alles sollte auf gesetzlicher Grundlage vonstatten gehen, also habe man auf die Auswertungen der DNA-Proben gewartet. Diese seien am 11. Juni tagsüber gekommen, an dem beschlagnahmten Gut habe es keinerlei Spuren von Golunow gegeben. 
    „Es blieb nur eine Möglichkeit: Golunow in seinen Beruf zurückzulassen und den Journalisten und der Öffentlichkeit zu danken für ihre beispielhafte Solidarität“, sagt Muratow. Er glaubt, der Brief mit der Aufforderung, Golunow freizulassen, sowie die Bereitschaft tausender Menschen, am 12. Juni am Solidaritätsmarsch teilzunehmen, hätten die Situation entscheidend beeinflusst.

    Feiern statt Protestieren – ein Deal mit der Stadtverwaltung?

    Am Dienstag veröffentlichten Muratow, Meduza-Gründerin Galina Timtschenko, Meduza-Chefredakteur Iwan Kolpakow und The Bell-Gründerin Jelisaweta Ossetinskaja eine gemeinsame Erklärung, in der sie schrieben, dass die Verhandlungen mit der Stadtverwaltung über den Marsch am 12. Juni in eine Sackgasse geraten sei. „Unser Vorschlag: morgen ein bisschen was trinken, und dann in den nächsten Tagen die Genehmigung für eine Aktion im Zentrum von Moskau erreichen“, heißt es in der Erklärung. Jedoch zählen diese Vier nicht zu den Organisatoren des Marsches.  

    Wir [The Bell] haben Muratow und Timtschenko gefragt, ob ihre Gesprächspartner in der Moskauer Stadtverwaltung den Wunsch geäußert hätten, den Marsch nach der Freilassung Golunows abzusagen. Muratow hat bislang noch nicht darauf geantwortet. Timtschenko sagte, sie habe überhaupt nicht mit der Stadtverwaltung gesprochen, sondern lediglich mit dem Anwalt Golunows, Sergej Badamschin, der sie gebeten habe, sich in den nächsten Tagen Gedanken um die Sicherheit und Gesundheit Golunows zu machen.  
    „Ich bin weder Initiatorin noch Organisatorin. Ich hatte eine andere Aufgabe: Wanja mit Hilfe von Anwälten rauszuholen. Aber ich danke allen zum hundertsten Mal für die Unterstützung und wünsche mir sehr, dass wir nicht vergessen, wie viel heller, besser und wirksamer Solidarität ist als Streitigkeiten und Skandale“, sagte Timtschenko The Bell.

    Erlaubnis, solidarisch zu sein

    Das Online-Journal Projekt hatte am Montag mit Verweis auf zwei Kremlbeamte berichtet, dass die Präsidialadministration bestrebt sei, das Strafverfahren gegen Golunow bis zum 20. Juni zu schließen – wenn Putins Direkter Draht stattfindet. Den Quellen von Projekt zufolge war es der Vorsitzende der Präsidialadministration Anton Waino, der am 8. Juni die Entscheidung getroffen hatte, Golunow unter Hausarrest zu stellen. Und Wainos Stellvertreter Alexej Gromow habe schließlich den Fernsehsendern erlaubt, den Journalisten öffentlich zu unterstützen.

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