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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Genozid“ als Vorwand?

    „Genozid“ als Vorwand?

    Droht der Ukraine eine russische Invasion? „Das Risiko steigt,“ warnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Wochenende in der ARD. Stoltenberg sagte, er befürchte, dass Russland derzeit einen Vorwand für einen Einmarsch suche.

    Am Freitag hatten Denis Puschilin und Leonid Pasetschnik die Bevölkerung per Videoansprache zur „Evakuierung“ aufgerufen. Die beiden sind die Chefs der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, wo Russland in der Vergangenheit auch massenweise russische Pässe ausgestellt hat. Wie später anhand von Video-Metadaten bekannt wurde, wurden die beiden Aufrufe offenbar schon zwei Tage zuvor aufgenommen – als die Lage vor Ort noch ruhig war. Mitte Februar 2022 hatte die Staatsduma zudem eine Initiative der KPRF verabschiedet, die beiden abtrünnigen Regionen als unabhängig anzuerkennen. Am heutigen Montag tagt der Sicherheitsrat dazu in einer außerordentlichen Sitzung. Die USA und weitere westliche Staaten warnen bereits seit Wochen davor, dass Russland einen Anlass für einen Angriff auf die Ukraine erfinden wolle. 

    Beim Besuch von Olaf Scholz am 15. Februar in Moskau sprach Präsident Wladimir Putin von einem „Genozid“ im Osten der Ukraine. Berichte im russischen Staatsfernsehen verbreiten diese Lesart: Im staatlichen Perwy Kanal erzählte RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan am Wochenende zuvor von angeblichen Gräueltaten der ukrainischen Armee im Osten der Ukraine und tausenden Kindern im Donbass „ohne Arme und Beine“. Weder UN noch OSZE sehen im Donbass dagegen Hinweise für einen Genozid.

    Genozid, Völkermord – die militärische Operation der NATO gegen Jugoslawien im Jahr 1999 legitimierten viele westliche Politiker damals als eine humanitäre Intervention, die NATO handle aus einer „Schutzverantwortung“ heraus. Derzeit weisen Beobachter immer wieder auf solche vermeintlichen Parallelen zum Kosovokrieg hin – als Russland auf der Seite Serbiens stand: Unter dem Vorwand eines „Genozids“ und einer „Schutzverantwortung“ könnte Russland nun auch die Ukraine angreifen.

    Auch in russischen unabhängigen Medien kommentieren Beobachter die jüngsten Ereignisse mit wachsender Sorge. Meduza hat am Freitag außerdem Bewohnerinnen und Bewohner der „Volksrepubliken“ zur aktuellen Lage befragt. dekoder bringt Ausschnitte daraus und aus der Debatte.

    Evakuierung aus der DNR / Foto © Denis Grigorjuk, Kommersant
    Evakuierung aus der DNR / Foto © Denis Grigorjuk, Kommersant

    Kirill Martynow: Den Krieg heranzüchten

    Kirill Martynow, Redakteur der Novaya Gazeta, kommentiert die aktuellen Ereignisse in einem emotionalen Post auf Facebook:
     

    Samstag, der 19. Februar, der Tag vorm Abschluss der Olympischen Spiele, hat Anschauungsmaterial wie aus dem Lehrbuch geliefert für die Entfesselung eines aggressiven Krieges.

    Was ist zu tun, wenn niemand Krieg will, du ihn aber dringend brauchst, um ernst genommen zu werden? Ein Schlüsselmoment ist hierbei die Entschmenschlichung des Feindes: Um ein Nachbarland zu überfallen, muss man erst einmal der eigenen Gesellschaft beibringen, dass in diesem Land Unmenschen leben, die eine Un-Sprache sprechen. Belofinnen, Belopolen, Banderowzy – you name it.

    Ein Schlüsselmoment ist die Entschmenschlichung des Feindes

    Von solchen Unmenschen ist immer und alles zu erwarten, deswegen wundert sich wohl niemand, wenn sie pünktlich, im Moment der Konzentration von zehntausenden mobilisierter Soldaten an ihren Grenzen, einen Tag vor Ende des Sportfestes in China, eine Jagd auf friedliche Bürger beginnen. Am Horizont erscheint ein gekreuzigter Junge von der Größe der Donbass-Gebiete: Um das Bild der unmenschlichen Grausamkeit zu vollenden, benutzt man Freitagabend Waisenkinder aus dem dortigen Kinderheim und bringt sie mitten in der Nacht irgendwohin. Wer bringt Kinder in eine solche Lage? Nur Todfeinde des guten russischen Volkes, Unmenschen.

    Pünktlich beginnen an der Grenze zur Russischen Föderation Granaten zu explodieren. Zum Glück gibt es keine Opfer, und woher die Granaten angeflogen kamen, ist auch nicht klar, aber das ist auch nicht wichtig, denn alles ist false flag – ein Täuschungsmanöver. Dazu sind nur die da in der Lage, die Untiere! 

    Die Evakuierung angesichts eines unsichtbaren Feindes entwickelt sich von allein in eine humanitäre Katastrophe – verbunden damit ist das Abpressen von Hilfsgeldern russischer Staatsbediensteter, die aufgerufen sind, Teile ihres Gehalts für „die Kinder des Donbass“ zu spenden. Zusätzlich wird es zu einem es zu einem Casus Belli, denn wenn den Menschen befohlen wird zu fliehen, dann ist die Lage ja sehr ernst. Für alle Fälle werden parallel dazu Männer, die in der Donezker und Luhansker Volksrepublik leben, unter dem Vorwand der Mobilmachung als Geiseln genommen – vielleicht töten die Unmenschen einige von ihnen.

    Der Krieg jedoch will einfach nicht beginnen, weil ihn immer noch niemand will, aber man muss ihn heranzüchten, ihm auf die Beine helfen, ihn mit Geld füttern und mit Propaganda aufblasen

    Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?

    In Donezk explodiert als erstes ein oller UAZ und wenig später stellt sich heraus, dass mit diesem Nummernschild bis vor Kurzem ein anderes, neueres Fahrzeug unterwegs war. Der hinterlistige Feind hat wohl vor dem Terroranschlag den neuen Geländewagen gegen den alten getauscht: So wirtschaftlich clever konzipiert ist die Operation Mungo-Volte – wie sie in den Metadaten [der Evakuierungsaufrufe] der Chefs der Donezker und Luhansker Volksrepublik heißt, aus denen auch hervorgeht, dass diese Eil-Videobotschaften bereits [zwei Tage – dek] zuvor aufgenommen worden waren. 

    Aus dem Kommandopunkt wird der Start unserer neusten Friedensraketen verfolgt. Ihren Flug beobachten auch die „harten Nüsse“ [Lukaschenko und Putin – dek]. Das Verteidigungsministerium erklärt, dass unsere russischen Truppen in einem weiteren Nachbarland so lange bleiben werden, wie es die aufgekommene internationale Anspannung erfordert. Vielleicht greifen die Unmenschen ja irgendwann auch Minsk an?

    Wir sind historisch doch die Unschuld in Person

    Die Unzufriedenheit in der Gesellschaft wächst quasi wie von selbst: In einer Spezoperazija hat die Duma die Bereitschaft erklärt, die DNR und LNR anzuerkennen. Jetzt ist der Sprecher des Parlaments empört, dass das Leiden der Kinder im Donbass westliche Politiker völlig kalt lässt. Die Regierung Kubas beschreibt die Politik des Westens als Hysterie und Provokation.

    Dimitri Peskow teilt uns seine historiosophischen Anschauungen mit, nach denen Russland in seiner gesamten Geschichte nie jemanden angegriffen hat. Ich denke, das ist ein seltener Fall, in dem Peskow aufrichtig spricht. Viele Menschen, bei denen Propaganda an die Stelle von Bildung getreten ist, teilen diese Ansicht: Diese Unmenschen an unserer Grenze provozieren uns – wir sind historisch doch die Unschuld in Person. 

    Die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen

    Die Qualität der Inszenierung wirkt, als hätte der betrunkene Chef eines Provinz-Jugendtheaters Regie geführt. Viele glauben ihr nicht, doch die werden dann zu Helfershelfern der Unmenschen und zu Feinden erklärt, und die Mehrheit der Ungläubigen schweigt um des eigenen Wohles willen. Beim Rest der Gesellschaft führt der ganz normale Konformismus zu der Haltung, dass der Krieg nun unausweichlich ist: Wir sind die belagerte Festung und müssen den Gürtel enger schnallen. Da muss doch was dran sein, wo Rauch ist, ist auch Feuer, schließlich könnte doch niemand so dreist unser großes Volk belügen und der Kaiser kann doch nicht nackt sein.

    Dimitri Kolesew: Humanitäre Krise als zusätzliches Argument und Druckmittel

    Dimitri Kolesew fasst die Geschehnisse in einem Überblicksartikel auf Republic zusammen – an dessen Ende geht er auch auf die Warnung von US-Präsident Biden ein, dass Russland plane, die ukrainische Hauptstadt Kiew anzugreifen:
     

    Die ausgerufene Evakuierung wirkt bislang eher wie der Teil einer Informationskampagne, die Russland im Konflikt mit dem Westen und der Ukraine braucht. Derzeit ist eher zweifelhaft, ob aus DNR und LNR tatsächlich große Flüchtlingsströme zu erwarten sind, für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es aber reichen.

    Die Frage ist, warum es notwendig ist, die Situation auf diese Weise anzuheizen. Die Vereinigten Staaten erklären nach wie vor, dass Russland eine kriegerische Invasion in die Ukraine vorbereitet, wobei sogar damit zu rechnen sei, dass sie bis Kiew vordringen wollen. Das ist eines der möglichen Szenarien, doch ist es nicht sehr wahrscheinlich. Und sei es nur, weil die an der Grenze zusammengezogenen Truppen für eine großangelegte Invasion oder Besatzung nicht ausreichen würden. 

    Für effektvolle Fernsehbilder inklusive ein paar Dutzend Bussen mit Frauen und Kindern wird es reichen

    Realistischer wirkt da schon die Variante eines Einmarschs russischer Truppen in das Gebiet von DNR und LNR, wo Russland de facto bereits vor Ort ist. Womöglich wäre dafür eine Anerkennung der beiden Republiken nötig. Das allerdings würde vom Westen als Verletzung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine gewertet werden, hätte harte Sanktionen zur Folge und würde die internationale Lage Russland noch mehr erschweren. Der Nutzen eines solchen Schritts liegt nicht auf der Hand.

    Womöglich hat Moskau nun in Reaktion auf die USA, die die Situation mit Erklärungen über eine unmittelbar bevorstehende russische Invasion aufgeheizt haben, die Unruhe gesteigert, indem es eine humanitäre Krise simuliert. Das könnte ein zusätzliches Argument und Druckmittel gegenüber Washington und Kiew sein, um Garantien für den Nichteintritt der Ukraine in die NATO und für die Erfüllung des Minsker Abkommens nach russischer Lesart zu bekommen.

    Meduza: „Auf uns wartet keiner, nirgends”

    Unmittelbar dem Evakuierungsaufruf am Freitag hat Meduza Stimmen vor Ort eingeholt. dekoder übersetzt Ausschnitte daraus.
     

    „Wir haben schon lange keine Angst mehr“
    Jelena, Schachtjorsk

    Ich selbst möchte nirgends hinfahren. Auf uns wartet keiner, nirgends – ja, und was ist mit der Arbeit, sowieso klar. Keiner will wegfahren. Die Leute glauben nicht, dass es Krieg geben wird. Und ich auch nicht: Ihr werdet sehen, es passiert nichts. Da bin ich sicher, Schluss, aus. Wir haben schon lange keine Angst mehr, wir sind an all das schon seit vielen Jahren gewöhnt.

    Mir scheint, das ist alles Politik. Russland wollte unsere Republiken anerkennen, dann sagte Putin: „Nein, nein, ich werde nichts anerkennen.“ Jetzt muss man einen Präzedenzfall schaffen. Was werden wir tun, wenn die Ukraine die DNR und LNR angreift? Wir werden die Republiken anerkennen, denn da leben viele unserer Bürger – die, die einen russischen Pass bekommen haben.
    Es ist unklar, warum das ausgerechnet jetzt passiert. In den letzten Jahren haben wir friedlich gelebt sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland.

    „Ich kämpf auch mit der Mistgabel gegen Ukro-Faschisty“
    Denis, Donezk

    Meine Familie und ich, wir sind 2014 nirgendwohin geflohen und haben auch jetzt beschlossen, hier zu bleiben. Ich bin 45 Jahre alt, hatte vor kurzem erst einen Herzinfarkt, meine Angina pectoris macht sich bemerkbar, aber wenn es richtig knallt, klar, dann kämpf ich sogar mit einer Mistgabel gegen die ukrofaschisty. Im Kriegsfall ist meine Hauptaufgabe meine Familie und mein Land zu schützen.

    Was die tatsächliche Situation vor Ort betrifft, da kann ich sagen, dass das, was sie in der Zombiekiste zeigen, stark übertrieben ist. Es sind bei weitem nicht alle willens wegzufahren. Viele wollen hier weiterhin wohnen bleiben, wie sie auch 2014 geblieben sind.

    „Die hätten jemanden aus Hollywood beauftragen sollen“
    Jewgeni, Donezk

    Ich wohne am Rande der Stadt. Bei uns wurde gestern nur ein bisschen geschossen und heute auch etwas – in der Ferne. Ich glaube, dass die Infrastruktur in der Stadt von den Einheimischen selbst vermint wurde. Mir scheint, sie haben sich nicht einmal viel Mühe gegeben. Die hätten doch jemanden aus Hollywood beauftragen sollen, um es etwas raffinierter zu machen. Einen UAZ im Stadtzentrum in die Luft jagen und behaupten, es sei der UAZ des Polizeichefs gewesen – das ist nicht mal lustig. Ich habe noch nie einen Polizeichef in einem UAZ gesehen. Ich glaube, die DNR-Behörden selbst haben sich das einfallen lassen. Ich glaube an eine Invasion der Ukraine, aber die Ukraine braucht das am wenigsten.

    Die Gescheiten – Geschäftsleute, Politiker, Banditen – haben dieses Gebiet 2014 verlassen. Ich blieb und fragte mich, was passieren wird. Für diese Regierung würde ich aber nicht in den Krieg ziehen. Ich werde nicht kämpfen, um meine Heimat zu verteidigen, weil ich ein anderes Land als mein Heimatland betrachte: Ich wurde als Ukrainer geboren, ich werde als Ukrainer sterben, einen russischen Pass will ich nicht.

    „Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen“
    Alexander, Makejewka

    Ich bin Wehrpflichtiger. Jetzt heißt es, dass sie schon von Haus zu Haus gehen und einberufen, bis jetzt ist noch niemand zu mir gekommen. Ich will nicht kämpfen. Ich denke, es muss nicht sein. Die Leute versuchen, ihre Taschen zu füllen und Macht aufzuteilen. Einer braucht ein Amt, ein anderer Geld. An der Macht ist jetzt, wer früher ein Niemand war. Jetzt haben sie Befugnisse und versuchen, sich etwas aus den Fingern zu saugen. Wer in den Krieg ziehen wollte, ist schon dort. Soldat in der Armee zu sein ist nur eine Verdienstmöglichkeit.

    Im Internet vergleichen viele die aktuelle Situation mit 1941 oder 1945. Damals haben die Menschen für ihre Heimat gekämpft, die Deutschen haben angegriffen. Gegen wen soll man aber jetzt Krieg führen? Gegen Brüder und Schwestern auf der anderen Seite? Viele haben Verwandte in der Ukraine. Viele. Wahrscheinlich jeder. Es hat einfach keinen Sinn, in den Krieg zu ziehen.

    Die Grundstimmung ist: „Kann uns nicht irgendjemand irgendwo aufnehmen.“ Wenn Russland uns aufnimmt – gut, damit könnten wir leben. Wenn die Ukraine uns aufnimmt, auch gut. Jetzt sind wir in einer Zwischenzone: In Russland scheint es einigermaßen gut zu laufen, auch in der Ukraine ist es ok, nur bei uns wie immer – nicht so richtig.

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  • Nachruf auf den Don Quichote der russischen Bildungslandschaft

    Nachruf auf den Don Quichote der russischen Bildungslandschaft

    Teodor Shanin war neun Jahre alt, als sein Heimatland Polen von Deutschland und der Sowjetunion überfallen wurde. Als er zehn war, wurde seine Heimatstadt Wilno (heute: Vilnius) Teil der Sowjetunion. Die Familie wurde inhaftiert und nach Sibirien deportiert, von wo aus sie nach Usbekistan umsiedelte. Kälte, Hunger, Krankheiten, Zersplitterung der Familie – das war der Hintergrund seiner Jugend, die ihn hätte zerstören können. „Ich habe aber nie Angst gehabt“, sagte er in einem seiner letzten Interviews. 

    Nach dem Krieg durfte die Familie die Sowjetunion verlassen. Shanin war in Polen und Frankreich, kämpfte in Israel mit der Waffe in der Hand für die Entstehung des israelischen Staates und machte eine steile akademische Karriere in Großbritannien. 

    Jahrzehnte später kehrte er nach Russland zurück, in ein Land, dem er nichts schuldete. Dort gründete er 1995 The Moscow School of Social and Economic Sciences, von seinem Namen abgeleitet vor allem als Schaninka bekannt – eine russisch-britische private Hochschule, die zu den besten und renommiertesten des Landes zählt. 

    Teodor Shanin war ein intellektueller und kultureller Grenzgänger zwischen Ost und West, der in den dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhundert aufgewachsenen ist. „Sei Realist, fordere das Unmögliche“ – das war Shanins Lebensmotto. Am 4. Februar 2020 ist er im Alter von 89 Jahren gestorben. dekoder bringt einen Nachruf von seinem Nachfolger an der Schaninka Anatoli Kasprshak. 

    Teodor Shanin war ein zielstrebiger, unbeirrbarer und bemerkenswert sanftmütiger Mensch / Foto © Alexander Utkin
    Teodor Shanin war ein zielstrebiger, unbeirrbarer und bemerkenswert sanftmütiger Mensch / Foto © Alexander Utkin

    [bilingbox]Ich bin ein glücklicher Mensch. Warum bin ich glücklich? Weil mein Leben immer interessant war. Ich habe gemacht, was ich wollte. Habe viel gemacht, was niemand von mir erwartet hat. Also betrachte ich, was meine Biographie betrifft, die Dinge sehr optimistisch. Was die weltweite Entwicklung angeht, bin ich ein Pessimist. Im Laufe des letzten Jahrzehnts oder auch der letzten 20 Jahre ist die Welt in ein Horrorkarussel hineingeraten. Wenn vor zehn oder 20 Jahren irgendjemand meinen Freunden oder mir gesagt hätte, dass es in nächster Zukunft mehr und nicht weniger Kriege geben wird, dass Armut die Norm bleibt, dass ein Teil der Bevölkerung selbst in den reichsten Ländern Hunger leiden wird, hätte ich gesagt, der spinnt. Und dass ausgerechnet mein persönliches Leben so gut gelaufen ist, gibt mir ein Schuldgefühl. Dass mich übrigens seit jeher begleitet hat. ~~~Я — счастливый человек. Почему счастливый? Потому что мне всегда было интересно. Я делал только то, что хотел. Сделал много такого, чего от меня не ждали. Так что с биографической точки зрения я — оптимист. С точки зрения развития мира я — пессимист. В течение последнего десятилетия (а то и двадцатилетия) мир начал сползать в какую-то чехарду ужасов. Если бы кто-нибудь десять-двадцать лет тому назад сказал моим друзьям и мне, что в ближайшем будущем войн будет больше, а не меньше, что бедность останется нормой, что часть населения будет голодать даже в слишком богатых странах, я бы сказал, что он сумасшедший. И то, что лично у меня жизнь получилась, дает мне чувство вины. Которое, между прочим, сопровождало меня всегда.[/bilingbox]

     

    aus: Alexander Archangelski, Nessoglasny Teodor (dt.: Der trotzige Teodor), Kapitel 5

    Zu fast jedem Geburtstag bekam Shanin kleine Don-Quijote-Figuren geschenkt oder solche, die ihn selbst als Don Quijote zeigten. Und es stimmt: So einer war er. Er löste Probleme, die man nicht lösen konnte. Sein Geheimnis war, dass er alle Hindernisse überwand, wenn er fest daran glaubte, dass seine Sache rechtens war. Er war einerseits extrem zielstrebig und wusste genau, wie er dieses Ziel erreicht, andererseits hatte er etwas sehr Naives. Man konnte ihn oft weinen sehen oder sehen, wie er feuchte Augen bekam, weil jemand offensichtlich ungerecht behandelt wurde. Und das war keine Alterssentimentalität. Als ich ihn kennenlernte, war er vielleicht Anfang 60, schon da war das so. Er war ein zielstrebiger, unbeirrbarer Mensch mit einem bemerkenswert sanftmütigen Charakter, wie man ihn eher bei Kindern als bei Erwachsenen findet.

    Nach Russland kam Shanin als einer der Leiter der heute verpönten Soros-Stiftung, die damals innovative Schulen unterstützte und Bücher verlegte. Er war einer von denen, die George Soros davon überzeugten, dass Russland noch mehr zu bieten hatte außer Ballett, Waffen und Raketen – nämlich Bildung. Und wenn wir Russland als Teil der zivilisierten Welt behalten wollten, müssten wir die Menschen unterstützen, die das Bildungswesen und die Forschung auf ihren Schultern tragen, aber an den Rand der Existenz gedrängt werden. Shanin hat dafür gesorgt, dass diese Menschen leben konnten.

    Ich glaube, dass es nicht leicht war, Soros davon zu überzeugen, solche gewaltigen Summen in die Unterstützung von Lehrern und Gelehrten in Russland zu stecken, ihre Bücher zu verlegen oder die Stiftung Kulturnaja inizijatiwa zu gründen (heute ist das die Stiftung Otkrytoje obschtschestwo, dt.: Offene Gesellschaft). Aber genau das war die rechte Sache, an die Shanin glaubte und an die er andere glauben machte.

    Allein die Gründung der Moskauer Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die heute Schaninka genannt wird, war für Russland eine Sensation. Stellen Sie sich vor, da kommt Anfang der 1990er Jahre so ein seltsamer Ausländer mit Akzent ins Kulturministerium und behauptet, Russland brauche eine Hochschule für Geisteswissenschaften. Er sagte, in Sachen Physik und Mathematik seid ihr zwar ausgezeichnet, aber bei den Geisteswissenschaften macht ihr etwas falsch. Dazu muss man wissen, dass die Universität für Geisteswissenschaften Anfang der 1990er Jahre aus den ehemaligen Parteischulen des Komsomol bestand, die jetzt zwar anders hießen, aber im Kern noch dieselben waren. Insofern kann man getrost behaupten, dass Shanin in diesem Moment die [erste] Universität für Geisteswissenschaften in Russland gegründet hat.

    Wenn wir heute Bibliotheken mit öffentlichem Zugang, Wahlkurse und Sprechstunden mit Professoren für selbstverständlich halten, nichts, worüber sich Studenten wundern, dann war das damals ein Modell aus dem Westen, das Shanin dazu nutzte, die besten Hochschulen Russlands aufzubauen. Die Hochschule für Wirtschaft und Handel, wie wir sie heute kennen, zum Beispiel: Die kleine beschauliche Schaninka hatte einen riesigen Einfluss auf sie, weil sie gezeigt hat, dass man in Russland eine geisteswissenschaftliche Elite-Universität aufbauen kann.

    Ebenfalls elementar und für viele führende Hochschulen bis heute ein Novum und eine bildungstechnische Offenbarung ist, dass die Lehrenden nicht die Arbeiten der Studierenden korrigieren. Denn genau daher kommt ja die Unterwürfigkeit des Schülers vor dem Lehrer. Shanin hat dieses Verfahren an der Schaninka gleich Mitte der 1990er Jahre eingeführt. Das war eine Revolution im Bewusstsein von Dozenten und Professoren, es veränderte ihren Blick auf das Wesen der Bildung.

    Shanin hat das westliche Modell nicht eins zu eins übertragen, sondern gezeigt, dass sich diese Modelle mit den besten Methoden der russischen Pädagogen verbinden lassen. Es wäre leicht gewesen, Harvard oder Oxford einfach zu kopieren, aber Shanin wusste genau, dass das nicht funktionieren würde. Stattdessen hat er die besten Traditionen des russischen und des westlichen Bildungssystems miteinander in Einklang gebracht. Er hat nicht einfach das West-Modell übergestülpt, sondern das Beste daraus genommen und mit dem Besten verknüpft, was das russische Bildungswesen zu bieten hatte. In diesem Sinne führen Shanins Schüler, die heute an zahlreichen Hochschulen des Landes tätig sind und die gesehen haben, dass seine Sache rechtens ist, diese Sache jetzt fort.

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  • Zuhause im 8-Bett-Zimmer

    Zuhause im 8-Bett-Zimmer

    Backpacking, Kurzurlaub, Studi-Bude zum Semesterstart – ein Hostel ist für die meisten jungen Leute beliebter Anlaufpunkt auf Reisen oder wenn es mal kurzzeitig knapp wird mit Wohnraum. In Russland ist das Hostelleben ebenfalls bei jungen Leuten sehr beliebt. Für manche hat es in einer Millionenmetropole wie Moskau so viele Vorzüge, dass ein Schlafplatz im Achtbettzimmer besser erscheint als eine Wohnung. Manchmal über Monate oder sogar Jahre. Eine Kommunalka unter neuen Vorzeichen? Flucht vor einem Pendler-Leben am Stadtrand? Oder finanziell einfach eine Notwendigkeit?

    Das Webmagazin The Village stellt drei junge Männer vor, die aus ihrem Alltag berichten.

    Sergej, wohnt seit über zwei Monaten im Hostel Apricot

    Ich komme aus Magnitogorsk. Ich bin Akrobatik-Meister und studiere im zweiten Jahr Sport auf Lehramt. Hier in Moskau lebe ich seit über zwei Monaten in einem Achtbettzimmer. Die Leute wechseln ständig – sowohl Männer als auch Frauen schlafen hier. Meist sind wir zu viert oder zu fünft und im Hostel insgesamt über 30. Da ich schon lange in diesem Hostel lebe und alles weiß, bieten sie mir manchmal einen Nebenjob an der Rezeption an.

    Ich wohne hier, weil es viel teurer wäre, eine Wohnung oder ein Zimmer zu mieten. Hinzu kommt noch die Kaution, die man beim Einzug zahlen muss. Vor allem sind relativ günstige Wohnungen nur am Stadtrand zu finden. Und ich finde, wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum. Wenn ich etwa nach Chimki rausfahre und mich da umsehe, kommt es mir vor, als wäre ich wieder in meiner Heimatstadt in der Provinz gelandet: genau dasselbe eintönige Leben, dieselben Buden mit Obst und Gemüse. Wozu dann überhaupt wegziehen?  

    Keine Frage, das Leben im Hostel bedeutet, dass ich in Moskau nichts Eigenes habe – außer mein Bett. Das steht dafür mitten in der Hauptstadt. Am Abend spaziere ich zum Roten Platz und zurück – das ist schön. Daher habe ich vor, so lang wie möglich so zu leben. Also eigentlich bis ich heirate und Kinder bekomme. Sollte ich vorher schon ordentlich Geld verdienen, werde ich mir trotzdem keine Wohnung mieten – das wäre Unsinn. Dann leg ich das Geld lieber an.

    Sergej –  „Wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum.“ – Foto © Uwe Brodrecht/flickr.com
    Sergej – „Wenn ich schon in Moskau lebe, dann auf jeden Fall im Zentrum.“ – Foto © Uwe Brodrecht/flickr.com

    In unserem Hostel bekommen wir gratis Tee, Kaffee und Zucker. Und es  gibt ein Schachspiel, ein Damespiel und eine Xbox. Am Abend schlage ich den anderen Bewohnern oft vor, einen Film zu gucken – dann sitzen wir alle auf dem Sofa im Aufenthaltsraum.    

    Manchmal kochen wir gemeinsam und essen zusammen zu Abend.

    Wenn du lange in einem Hostel wohnst, ist das untere Bett praktischer – also wenn es, wie bei uns, Stockbetten gibt. Ich stehe morgens auf, ziehe meinen Koffer unterm Bett hervor, ziehe mich an und gehe. Ja, hier gibt es keine Schränke, wie übrigens in den meisten Hostels. Aber ich komme auch ohne Schrank gut aus – meine Sachen liegen immer ordentlich im Koffer, ich muss nichts suchen.  

    Klar, manchmal würde ich echt gern allein sein. Im Hostel ist das schwierig – überall sind Leute. Deswegen frage ich manchmal an der Rezeption, ob ich für ein Stündchen in ein freies Zimmer kann, einfach nur, um da ein bisschen rumzusitzen.

    Ich kriege auch Besuch. Wir kochen gemeinsam, trinken Tee in der Küche, sehen im Aufenthaltsraum fern. Bis 23 Uhr ist das erlaubt.

    Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol

    Außerdem habe ich angefangen, auf eigene Faust Englisch zu lernen. Daher freue ich mich, dass oft Ausländer bei uns im Hostel sind: So kann ich üben. Würde ich eine Wohnung mieten, hätte ich diese Möglichkeit nicht.   

    An manche Eigenarten von Mitbewohnern gewöhnt man sich schwer. Bei uns wohnt zum Beispiel eine Vertreterin, die in einem Schneeballsystem arbeitet. Und sie will jeden Gesprächspartner da mit reinziehen. Anfangs schaffte ich es aus Höflichkeit nicht, ihr zu sagen, dass mich das alles nicht interessiert, und ich musste ihr immer wieder stundenlang zuhören.

    Dann hatten wir noch einen Gast, der immer gern trank. Er kam besoffen ins Hostel, setzte sich aufs Fensterbrett, rauchte, drehte Musik auf und sang dazu. Vor Kurzem wurde er rausgeschmissen.

    Und letztens lebte hier eine Familie aus Jakutien. Zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend aßen sie Fleisch. Sie waren mit einem riesigen Koffer angereist, in dem hauptsächlich Fleisch war – damit stopften sie den ganzen Kühlschrank voll. Jeder Morgen begann mit dem Kochen von Fleisch, noch dazu war das irgendein Wild, Hirsch oder so. Der Geruch hing in der ganzen Küche.

    Sie hatten auch kleine Kinder, die auf den Sofas herumhüpften, rumschrien, Zeichentrickfilme einschalteten, wenn ich Olympia sehen wollte, und einen beim Schlafen störten. Aber auch die sind ja nun wieder weg.

    Es gibt alles Mögliche. Aber am schwierigsten sind nicht Kinder, sondern Leute, die im Hostel absteigen und sich aufführen, als wären sie im Metropol abgestiegen – die rümpfen wegen allem die Nase, mäkeln an allem herum.


    Nikolaj, wohnt seit anderthalb Jahren im Hostel Napoleon  

    Vor eineinhalb Jahren bin ich aus Rostow am Don nach Moskau gekommen. Der Ableger der Universität, an der ich in Rostow studierte, wurde geschlossen, und so musste ich nach Moskau wechseln. Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com, und dieses Hostel war das erste Suchergebnis. Es heißt Napoleon, weil der Legende nach Napoleon in diesem Haus eingekehrt sein soll. Mit der Uni hat das bei mir irgendwie nicht hingehauen, und ich hab dann eine Arbeit am Empfang eines georgischen Restaurants gefunden.

    Im Restaurant arbeite ich in Schichten, von 9 Uhr bis Mitternacht. Ich bekomme dann auch den Schlüssel und kann im Lokal übernachten – so läuft das ein paarmal die Woche. An diesen Tagen zahle ich im Hostel nichts, danach komme ich zurück und nehme irgendein freies Bett. Ich habe also keinen dauerhaften Platz, sondern wechsele immer.   

    Wie alle, die ständig im Hostel wohnen, kann auch ich hier im Waschsalon kostenlos Wäsche waschen und trocknen. Zucker, Salz, Waschpulver und Klopapier sind hier auch gratis. Das klingt jetzt nach Kleinigkeiten, aber glauben Sie mir, das Leben wird viel einfacher, wenn man nicht an diese Dinge denken muss. Dazu kommt noch, dass im Hostel die Zimmer geputzt werden, und ich muss nur mein Geschirr spülen.  

    Ich wohne in einem gemischten Achtbettzimmer – also mit Männern und Frauen. Abgesehen von den Sommermonaten wohnen hier meistens drei bis vier Personen, hauptsächlich Männer. Weil ich mit dem Personal befreundet bin, darf ich manchmal ein leerstehendes Zimmer allein bewohnen. Außerdem darf ich als Alteingesessener ein paar Tage später bezahlen, obwohl das normalerweise 50 Rubel Strafe pro Tag kostet.    

    Dieses Hostel gefällt mir wegen seiner Lage – direkt im Stadtzentrum. Ein Katzensprung bis zum Roten Platz, rundherum Clubs und ein Dixi-Supermarkt.

    Ein paarmal habe ich schon erlebt, wie sich unter Dauergästen Pärchen gebildet haben. Im Grunde war ihr Alltag nicht viel anders als bei Paaren, die zusammen leben: Sie kommen von der Arbeit, kochen was, sehen im Aufenthaltsraum fern und gehen schlafen. Nur dass das eben alles im Hostel geschieht und nicht zu Hause. Ich hatte auch schon eine Beziehung mit einem Mädchen aus dem Hostel. Wir kamen zusammen, als ich hier einzog – sie wohnte hier schon mit ihrer Mutter. Wir schliefen zusammen hinter einem Vorhang in einem gemischten Achtbettzimmer. Das ist erlaubt, wenn du für die zweite Person die Hälfte zahlst. Später habe ich dann erfahren, dass sie zusammen mit ihrer Mutter in Bars junge Männer abzockt. Naja, wir waren nicht lange zusammen.

    Zuerst wollte ich ins Studentenwohnheim ziehen, aber das war einfach gruselig, ewig nicht renoviert. Also suchte ich auf Booking.com

    Unser Hostel ist beliebt, weil hier eine Atmosphäre ist wie zu Hause – man kann sich mit anderen unterhalten, was trinken, gemeinsam rumhängen. Lärm machen wir dabei aber nicht viel – wir setzen uns in die Küche, trinken was und gehen dann aus. Wir lieben Kommunikation und Gemeinschaft: gemeinsam Filme gucken, Pokern oder Videospiele. Voriges Jahr waren viele Franzosen da, wir becherten ordentlich, hatten es lustig, sahen uns Filme an. In anderen Hostels ist alles viel strenger.      

    Ich hatte schon mal den Gedanken, in eine Wohnung zu ziehen, aber dann dachte ich: „Was werde ich da tun, allein in meinen vier Wänden?“ Wenn ich ins Hostel komme, schaue ich fern, quatsche ein bisschen mit den Leuten in der Küche, spiele mit irgendwem Videospiele. Also wird es nie langweilig. Es gibt Leute, die das Alleinsein unbedingt brauchen, Privatsphäre. Aber ich bin zufrieden so – ich verhänge mein Bett mit Tüchern, und was rundherum passiert, ist mir egal. Es gab eine Zeit, da wollte ich ausziehen – Frauen mit herzubringen ist schwierig. Die Betreiber des Hostels haben zwar nichts dagegen, aber bei den Frauen kommt das nicht gut an, die wollen das nicht.

    Vor einem halben Jahr hatte ich was mit einer Moskauerin am Laufen, die hat vielleicht fünf Mal bei mir im Achtbettzimmer übernachtet. Sie war nicht begeistert davon, dass hier alles gemeinschaftlich ist, sie mochte die Leute nicht. Auch wenn uns das nicht daran hinderte, das Bett mit einem Laken zu verhängen und Sex zu haben, mit allen Geräuschen. Und das, obwohl in dieser Nacht junge Sportler mit uns in einem Zimmer schliefen, Jungs und Mädchen von 13, 14 Jahren, die in Moskau ein Trainingslager hatten.

    Ein Doppelzimmer habe ich im Hostel nie gemietet. Wozu auch? Ich kann auch im Achtbettzimmer ungestört tun, was ich will.

    Manchmal geniere ich mich zu sagen, dass ich im Hostel lebe. Es kommt vor, dass ich Moskauerinnen kennenlerne, die anbeißen, weil ich attraktiv bin, aber wenn sie erfahren, dass ich im Hostel wohne, verduften sie schnell. Irgendwie hab ich es gut hier, aber manchmal belastet es mich, nichts Eigenes zu haben.


    Wladimir, wohnt seit über einem Monat in einem Schlafsaal mit 20 Betten in einem namenlosen Hostel

    Ich komme aus Asow. Von Beruf bin ich spezialisiert auf Videoüberwachung in Casinos. Ich habe einen Job im Nahen Ausland angeboten bekommen, aber als ich in die Hauptstadt kam, wurde das Angebot erstmal auf unbestimmte Zeit verschoben. Also beschloss ich, in Moskau zu bleiben, weil man mit dem Flugzeug von hier immer leicht wegkommt, hier ist meine Schnittstelle. Ich weiß nicht, wann ich das nächste Mal zu einem Projekt bestellt werde, deswegen habe ich mir keine Wohnung gesucht, sondern bin ins Hostel gegangen. Da wohne ich nun schon seit über einem Monat und arbeite erstmal auf dem Bau.

    Für mich ist das Hostel eher kein Wohnheim, sondern eine Pension. Ich habe schon in verschiedenen Hostels gewohnt, und überall gibt es andere Regeln und Zustände. Zum Beispiel werden in manchen prinzipiell keine Staatsbürger aus dem Nahen Ausland genommen. In meinem vorigen Hostel stand ein klitzekleiner Fernseher, unmöglich, damit fernzusehen. Aber ich bin ein Sowjetbürger, ich bin mit Fernseher aufgewachsen, für mich ist es wichtig, am Abend kurz reinzugucken. Ja, das ist diese gute, alte Schizophrenie – durch die Kanäle zappen. Als ich also in dieses Hostel hier kam und auf einmal abends normal fernsehen konnte, das war mir schon sehr viel wert.  

    Die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu

    Hier bei uns wohnen viele, die in Moskau studieren, aber keinen Platz im Studentenheim bekommen haben, sowas in der Art. Oder junge Moskauer, die nicht mehr bei den Eltern wohnen wollen.  

    Am besten finde ich, dass am Abend immer jemand in der Küche ist, mit dem man reden kann. Man kann sich hinsetzen und über Politik, Religion, Sport oder das Leben austauschen. In der Küche darf über Gott und die Welt gestritten werden. Dort wird entschieden: Bist du ganz vorne dabei oder bist du Außenseiter? Und es wird gecheckt, bei wem es sich lohnt, zuzuhören. Man diskutiert, beharrt auf seiner Meinung, trennt sich fast als Feind  – und am nächsten Morgen wacht man auf und und raucht zusammen eine, weil man sich ja gestern in der Küche ausgesprochen hat. Der Streit ist vergessen, das war ja gestern.

    Wir hier im Hostel vergessen oft die Namen voneinander – es sind zu viele, die einen reisen ab, neue ziehen ein. Es kommt vor, dass ich dieselben Mitbewohner vier Mal im Monat kennenlerne. Aber die Namen sind nicht wichtig. Die Hauptsache ist, dass man sich durch das Zusammenleben mit so vielen Leuten ausquatschen kann, dass es die Illusion gibt, dir hört jemand zu, dass deine Gedanken und Gefühle irgendwen interessieren. Mir ist das wichtig.   

    Ich kann gar nicht sagen, wie viel Leute mit mir im Zimmer sind. Alle Betten sind mit Tüchern verhängt, und ich treffe die anderen nicht oft. Mädchen nehme ich nie mit hierher. Das Hostel eignet sich nicht dafür, Sex zu haben, und der einzige Ausweg wäre, sich in die Dusche zu verdrücken. Aber da muss man es schon sehr nötig haben, ein normaler Mensch wird kaum auf die Idee kommen, jemanden für Sex ins Hostel mitzubringen.

    Im Grunde ist Moskau eine gute Stadt, mit dem Hostel-Leben bin ich total zufrieden. Solang ich nicht woanders eine Arbeit angeboten bekomme, bleibe ich hier.  

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