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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Werden die Repressionen in Belarus nun nachlassen?

    Werden die Repressionen in Belarus nun nachlassen?

     

    „Lukaschenko hat heute eine Wahlfarce veranstaltet, und wir fliegen mit der Person nach Brüssel, die wirklich zum Präsidenten gewählt wurde. Frau Präsidentin, herzlich willkommen.“ Das sagte der polnische Außenminister Radosław Sikorski am Abend des 26. Januar 2025 kurz vor seinem Flug in die belgische Hauptstadt. Seine Begleitung: Swetlana Tichanowskaja. In Belarus hatte sich der Langzeit-Diktator gerade zum Sieger einer Pseudo-Wahl küren lassen. 

    Gab es bei dieser Scheinwahl überhaupt Überraschungen? Unter welchen Bedingungen fand die Wahl-Inszenierung statt? Konnte die Demokratiebewegung im Exil in irgendeiner Form profitieren? Wird das Regime die Repressionen nun abmildern? 

    Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS).

    Eine Gruppe junger Leute passiert ein Plakat, das die „Präsidentschaftswahlen” in Belarus bewirbt. Oktoberplatz, Minsk / © Foto IMAGO / ITAR-TASS Vladimir Smirnov

     

    dekoder: Was sagt das offizielle Ergebnis bei den Scheinwahlen aus? 

    Victoria Leukavets: Das Ergebnis von 86,82 Prozent, das sich das Regime selbst zuerkannt hat, zeigt den völligen Mangel an Glaubwürdigkeit und den zutiefst undemokratischen Charakter der Wahl. Schließlich hat das Regime die Gesellschaft in den vergangenen Jahren mit schrecklichen Repressionen überzogen. Eine solche Zahl deutet eindeutig darauf hin, dass die Wahl manipuliert wurde und das Ergebnis im Voraus feststand. Dies ist typisch für autoritäre Regime, in denen die offiziellen Ergebnisse von jeglichem echten Wahlprozess abgekoppelt sind. 

    Gab es tatsächlich keinerlei Überraschungen? 

    Die wahre Überraschung wäre, wenn die Wahl fair verlaufen wäre. Da es keine legitime Opposition gab und abweichende Meinungen unterdrückt wurden, war diese Wahl alles andere als frei und fair. Die Vorstellung, dass es „keine Überraschungen“ gab, zeigt nur, wie gründlich das System manipuliert ist.

    Wie sehen diese Manipulationen aus?

    Unter der Herrschaft von Aljaksandr Lukaschenka, der seit über drei Jahrzehnten an der Macht ist, wurden Oppositionelle systematisch zum Schweigen gebracht, entweder durch Inhaftierung, Exil oder Einschüchterung. Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen unterliegen mittlerweile strengen Beschränkungen, so dass die Wähler keinen Zugang zu alternativen Meinungsäußerungen hatten. Darüber hinaus mangelte es dem Wahlprozess an Transparenz und Fairness, es gab weit verbreitete Wahlmanipulationen und staatliche Kontrolle über die Wahlergebnisse. In einem solchen Umfeld, in dem echte Wahlmöglichkeiten und demokratische Grundsätze unterdrückt wurden, waren diese Wahlen weder frei noch rechtmäßig. 

    Die Parlamentswahlen Anfang 2024 fanden bereits unter enormen Sicherheitsvorkehrungen statt – wie sah es diesmal aus? 

    Es ist sehr wahrscheinlich, dass sowohl Schüler der Oberstufe als auch Studenten ideologisch geschult wurden, um auf die bevorstehenden Wahlen eingeschworen zu werden. Eine ähnliche Praxis gab es bereits vor den Wahlen 2020, und es wird erwartet, dass sie sich nach den Protesten von 2020 noch intensiviert hat. Der Staatssekretär von Lukaschenkas Sicherheitsrat, Aljaksandr Wolfawitsch, hat versucht, die Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen. Er hat vor möglichen Provokationen im Zusammenhang mit den Wahlen gewarnt. Die Staatsmedien und die „alternativen“ Kandidaten führten eine gedämpfte Agitationskampagne, vermieden Kundgebungen und Kritik an den Mitbewerbern. 

    Ab dem 20. Januar wurden die Miliz und die Truppen des Inneren in Erwartung der Wahl am 26. Januar rund um die Uhr in einen verstärkten Einsatzmodus versetzt. Mobile Einsatzteams, ausgerüstet mit Maschinenpistolen, waren zur Unterstützung in den Wahllokalen eingesetzt. Die vorzeitige Stimmabgabe begann am 21. Januar. Wjasna berichtete, dass die Belarussen gezwungen wurden, vor den Wahlen ein Dokument zu unterzeichnen, in dem sie sich verpflichteten, nicht zur Machtergreifung aufzurufen. Vor dem finalen Wahltag war von den Behörden angekündigt worden, dass der Zugang zu Webseiten in Belarus aus dem Ausland blockiert werde. 

    Welche Rolle haben Lukaschenkas Mitkandidaten gespielt? 

    Dieses Mal hat die Zentrale Wahlkommission nur regimetreue Kandidaten zugelassen. Insgesamt wurden fünf Kandidaten registriert – Lukaschenka selbst und Hanna Kanapazkaja – eine regimetreue Kandidatin – traten als Unabhängige an. Die anderen drei Kandidaten gehörten regimefreundlichen Parteien an: der Kommunistischen Partei, der Liberaldemokratischen Partei von Belarus und der Republikanischen Partei für Arbeit und Gerechtigkeit. Diese streng kontrollierte Kandidatenliste ließ wenig Raum für echten Wettbewerb und sicherte Lukaschenkas anhaltende Vorherrschaft.

    Die Spoiler-Kandidaten spielten für das Regime eine entscheidende Rolle, indem sie die Illusion eines politischen Wettbewerbs erzeugten und gleichzeitig die Macht der Herrschenden sicherten. Ihre Präsenz trug dazu bei, die das Bild als Mehrparteiensystems zu stärken, und vermittelte die Illusion einer Wahlmöglichkeit. In Wirklichkeit trugen diese Kandidaten jedoch dazu bei, die Legitimität der Wahlen aufrechtzuerhalten, die streng kontrolliert und manipuliert wurden, um jede ernsthafte Herausforderung der Regierung zu verhindern. 

    Im Vorfeld der Wahlen tourte ein „Marathon der Einheit“ durch das Land – eine Propagandashow mit Musikern, Kinderunterhaltung und Auftritten von Propagandisten. Einheit ist ein zentrales Konzept in Lukaschenkos Propaganda: Was verbirgt sich dahinter? 

    Der Marathon der Einheit war ein groß angelegtes soziales und kulturelles Ereignis, das am 17. September 2024 begann und sich über wichtige Städte und Regionen in ganz Belarus erstreckte. Er wurde bis zu den Wahlen fortgesetzt und fand seinen Höhepunkt in einem großen Konzert und einer Reihe von Aktivitäten in der Hauptstadt Minsk. Die Veranstaltung umfasste eine Vielzahl von Programmpunkten, wie beispielsweise die Vortragsreihe KEINE langweilige Vorlesung, Stadtspaziergänge mit dem Titel Das ist alles mein Geburtsland, Ausstellungen wie Belarus. Takeoff und Souveränes Belarus, eine mobile Ausstellung des Belarussischen Staatlichen Museums für die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges und eine Konzertreihe mit dem Titel Die Zeit hat uns erwählt.  

    Das Lukaschenka-Regime nutzte diesen Propaganda-Marathon, um Einigkeit zu demonstrieren und zu zeigen, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter seiner Führung steht. Einige Veranstaltungen im Programm zielten ausdrücklich darauf ab, den Staat als gegensätzlich zu den demokratischen Kräften im Exil zu sehen. So wurde in der Ausstellung Parallelwelten der belarussische Staat als Symbol für positive Entwicklung und Fortschritt dargestellt, während die Opposition für Zerstörung und Verfall steht. 

    Plakat an einer Bushaltestelle mit den Kandidaten und ihren Wahlprogrammen / © Foto Gazetaby.com  

     

    Hat Lukaschenkos Staat außer Propaganda-Slogans irgendwelche konkreten Ideen für die Zukunft?   

    Eines der Schlüsseldokumente ist das Konzept für die sozioökonomische Entwicklung, das in sowjetischer Tradition als Fünfjahresplan konzipiert ist. Im Dezember letzten Jahres wurde ein Konzeptentwurf für das die Jahre 2026–2030 erstellt, der dem Ministerrat im Frühjahr vorgelegt werden soll. In dem Entwurf werden mehrere Prioritäten genannt: 1. Technologischer Aufschwung – Sicherung der Souveränität in strategisch wichtigen Branchen, insbesondere durch den Einsatz künstlicher Intelligenz. 2. Investitionsmanöver – die Priorisierung von Investitionen in Projekte mit hohem Multiplikatoreffekt. 3. Humanressourcen der Zukunft  – die Entwicklung von Humankapital, um den Anforderungen der digitalen Wirtschaft gerecht zu werden. 4. Proaktiver Export – die Ausweitung des Handels und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit aufstrebenden Märkten in Südostasien, dem Nahen Osten, Afrika und Lateinamerika. 5. Regionalentwicklung – die Schaffung umweltfreundlicher, gut entwickelter Regionen mit hohem Lebensstandard. 

    Diese Ziele mögen erstmal vernünftig klingen, aber sie stehen nur auf dem Papier und adressieren die aktuell drängenden Probleme von Regime und Land. Das Konzept ist also dazu da, die Gesellschaft zu beruhigen und sie hinter sich zu scharen. In der Praxis wird jedoch eine der dringlichsten Herausforderungen und künftigen Ziele für das Lukaschenka-Regime darin bestehen, seine Souveränität zu bewahren und eine stille Übernahme durch Russland in allen Bereichen – Kultur, Wirtschaft, Militär und Politik – zu verhindern. 

    Konnte die Demokratiebewegung im Exil in irgendeiner Weise von den Wahlen profitieren? 

    Die Demokratiebewegung hat die „Wahlen” vor allem genutzt, um das internationale Bewusstsein für die Lage in Belarus zu schärfen und auf die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen. Am Wahltag gab es in Warschau eine Großdemonstration, eine Konferenz mit dem Titel Belarussen haben Besseres verdient und hochrangige Gespräche am Rande des Rates für Auswärtige Angelegenheiten in Brüssel. Das Europäische Parlament hat bereits eine Resolution verabschiedet, die die EU dazu aufruft, die Wahlen in Belarus nicht anzuerkennen. Mit großer Sicherheit werden weitere nationale Parlamente dieser Resolution folgen. 

    Seit letztem Sommer sind über 240 politische Gefangene freigelassen worden – von Kalesnikawa und Babaryka gab es Lebenszeichen. Wie können diese Zeichen gedeutet werden? 

    Das Regime verfolgt mit dieser Politik möglicherweise mehrere Ziele. Innenpolitisch ging es Lukaschenka womöglich darum, die Spannungen innerhalb der belarussischen Gesellschaft im Vorfeld der Wahlen zu verringern. Darüber hinaus könnte er auch versuchen, den Dialog mit dem Westen wieder aufzunehmen. Seine Bemühungen um eine subtile Liberalisierung könnten als Versuch gewertet werden, den westlichen Ländern zu signalisieren, dass er für Verhandlungen offen ist, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Lockerung oder Aufhebung der Sanktionen.  

    Außerdem könnte Lukaschenka seine Aussichten auf einen Dialog mit dem Westen in einem breiteren regionalen Kontext sehen. Angesichts der sich möglicherweise anbahnenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine verfolgt er diese Entwicklungen genau und kalkuliert ihre Auswirkungen. Möglicherweise geht er davon aus, dass Verhandlungen über die Ukraine unvermeidlich sind, und sein Handeln könnte ein frühzeitiger Versuch sein, sich auf eine mögliche Veränderung der regionalen Gegebenheiten vorzubereiten. 

    Viele fragen sich: Werden die Repressionen nach der Scheinwahl nachlassen?  

    Es ist höchst unwahrscheinlich, dass das Regime wirklich eine Liberalisierung oder eine Annäherung an den Westen anstrebt. Stattdessen wird sich das Lukaschenka-Regime mit ziemlicher Sicherheit darauf konzentrieren, die Kontrolle über die Lage im Land zu behalten, wobei die Wahlen nur einer von vielen Schritten in diesem Prozess waren. Tatsächlich könnte sich die Phase nach den Wahlen als noch kritischer erweisen als die Wahlen selbst, wie frühere Wahlzyklen gezeigt haben. Historisch gesehen ist die Zeit nach den Wahlen die Zeit, in der das Regime mit seinen größten Herausforderungen konfrontiert ist, mit möglichen Unruhen oder Versuchen, seine Macht in Frage zu stellen. In Anbetracht dessen ist Lukaschenkas Vorgehen eher Teil einer strategischen Bemühung, die Situation zu stabilisieren und dadurch sicherzustellen, dass jeglicher Dissens sowohl während als auch nach den Wahlen schnell eingedämmt wird. 

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    Podcast mit dem ZOiS: Scheinwahlen in Belarus

    Noch bis zum 26. Januar 2025 hält das Lukaschenko-Regime in Belarus „Präsidentschaftswahlen“ ab. Ohne transparente Formen der Wahlbeobachtung, ohne unabhängige Medien-Berichterstattung, ohne nennenswerte Konkurrenz, ohne die Möglichkeiten für Exil-Belarussen zu wählen oder zu kandidieren. Währenddessen sind Repression und Verfolgung im Land allgegenwärtig. Die sogenannten „Wahlen“ sind offensichtlich inszeniert statt demokratisch.  

    Und doch ist Amtsinhaber Lukaschenko bemüht, die Inszenierung aufrechtzuerhalten. Warum? 

    Ein Roundtable-Podcast des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien (ZOiS) mit dekoder-Redakteur und Belarus-Experte Ingo Petz und den Wissenschaftlerinnen Nadja Douglas und Nina Frieß über die politischen Hintergründe der vorgezogenen „Wahlen“, darüber, wie europäische Staatsführungen mit der Inszenierung umgehen können und welche Rolle Lukaschenko in möglichen Verhandlungen über ein Kriegsende spielen könnte.

    ZOiS-Podcast #Roundtable_Osteuropa abonnieren:

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  • Soll der Westen wieder mit Lukaschenko reden?

    Nach wie vor kommt es in Belarus fast täglich zu politisch motivierten Festnahmen und Verurteilungen mit langen Haftstrafen. Gleichzeitig wurden in den vergangenen Monaten dutzende politische Gefangene freigelassen.  

    Experten deuten dies als Signale von Alexander Lukaschenko, den Kontakt zur EU und zu den westlichen Demokratien zu suchen. Warum passiert dies gerade jetzt? Ist eine neuerliche Annäherung nach der brutalen Niederschlagung der Proteste 2020 und der Flucht von hunderttausenden Belarussen tatsächlich denkbar? Welches Interesse könnte die EU daran haben? 

    Über diese und andere Fragen haben wir mit dem belarussischen Ex-Diplomaten und Politanalysten Pavel Matsukevich von der Initiative Center for New Ideas gesprochen.

    Alexander Lukaschenko bei einem Treffen mit Wladimir Putin im Mai 2024 in Minsk / Foto © xPavelxBednyakovx/ IMAGO 

    dekoder: Lukaschenko hat in den vergangenen Wochen dutzende politische Gefangene freigelassen. Warum? Der Diktator wird doch wohl nicht altersmilde? 

    Pavel Matsukevich: Noch nicht. Ein klares Anzeichen dafür sind die Repressionen in Belarus, die weiterlaufen. Aber die Freilassungen sind ein deutliches Signal, dass Lukaschenko bereit ist, weicher zu werden. Es könnte ein gewisses Tauwetter geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es in Belarus schon mehr als einmal solche Perioden gegeben hat. Die gesamte Geschichte der 30-jährigen Herrschaft Lukaschenkos ist die Geschichte des Wechsels von Zeiten des Tauwetters und des verstärkten Drucks. Dank dieser Tauwetterperioden konnte sich auch die Zivilgesellschaft entwickeln, die 2020 ihre Bürgerrechte eingefordert hat.  

    Aber zu der Zeit vor 2020 lässt sich kaum zurückkehren, wenn man an das Ausmaß der Repressionen denkt. 

    Kein Tauwetter war wie das andere. Ich glaube also nicht, dass wir in das Jahr 2018 zurückkehren können, einer Zeit der weitreichenderen Liberalisierung. Aber wir könnten zu einer insgesamt besseren Situation im Vergleich zum heutigen Klima kommen, nicht zu einer idealen natürlich, zu einer besseren, indem die Leute endlich aus den Gefängnissen entlassen werden und die brutalen Repressionen aufhören. Die belarussischen Behörden können theoretisch fast allem zustimmen, solange es nicht ihre Macht betrifft. In dieser Hinsicht wird es keine Öffnung oder Kompromisse geben. Darüber muss man sich im Klaren sein. Lukaschenko wird sich nicht zum Demokraten entwickeln. Aber andere Öffnungen sind zumindest denkbar. In der Zeit, als die Existenz unabhängiger Medien geduldet wurde, hat das Regime beispielsweise auch eine gewisse öffentliche Kritik zugelassen.  

    Gleichzeitig wurden Kritiker aber auch weggesperrt und in früheren Zeiten sogar umgebracht. 

    Ja, auch das passierte: Politiker verschwanden, Proteste wurden niedergeschlagen. Aber dann gab es eben wieder Phasen des Tauwetters. Lukaschenkos Regime ist de facto nicht das Regime Stalins, wo es nur Repression und Terror in einem unvorstellbaren Ausmaß gab.  

    Warum sendet Lukaschenko gerade jetzt solche Zeichen? 

    Es gab in den vergangenen drei Jahren immer wieder Anzeichen dafür, dass das Regime den Kontakt zur EU und zum Westen sucht. Zum Beispiel der Brief des damaligen Außenministers Wladimir Makei im Frühjahr 2022, mit dem er sich an seine Kollegen, die Außenminister der EU-Länder, wandte und vorschlug, einen Neuanfang zu versuchen. Seine Begründung: Andernfalls würden die Repressionen weitergehen, die Zivilgesellschaft werde in der Folge vernichtet und Europa würde schließlich vollkommen aus Belarus verschwinden und Belarus selbst in Russland aufgehen. 

    Eine Situation, die wir aktuell fast so vorfinden in Belarus.  

    Und diese schafft ein sehr gefährliches Ungleichgewicht, nicht nur für Lukaschenkos Macht, sondern auch für die Souveränität von Belarus und die belarussische Gesellschaft. Der Wunsch, in einen Dialog einzutreten, hat für das Regime vor allem eine Motivation: die eigene Macht zu stärken. Denn wenn der Westen auf den Vorschlag zum Dialog eingeht, haben die belarussischen Behörden die Möglichkeit, ein Gleichgewicht, eine Balance herzustellen – zwischen Russland und der EU. So konnte Lukaschenko auch in der Vergangenheit seine Macht sichern – durch das Lavieren zwischen Ost und West. Das gilt auch für Belarus aufgrund der geopolitischen Lage des Landes: der Ausgleich zwischen Ost und West ist sozusagen eine Formel für die Wahrung der Unabhängigkeit, der Souveränität.  

    Warum sollte die EU Interesse daran haben, die Macht von Lukaschenko zu stärken? 

    Das ist eine Frage der Abwägung. Und hier geht es nicht um moralische Faktoren. Hier treffen sich die Regime-Interessen einerseits und Interessen, Belarus als souveränes Land zu erhalten, andererseits. Die Isolierung von Belarus steigt stetig. Wir haben heute bereits einen Zaun an der Grenze zur EU. Belarus wird immer abhängiger von Russland, vor allem im Bereich Wirtschaft, der Finanzkredite und so weiter. Die Unabhängigkeit von Belarus ist tatsächlich ernsthaft bedroht. Die EU hat Interessen, die sich über ein souveränes Belarus besser realisieren lassen, wo man zumindest etwas Einfluss geltend machen könnte, als über ein Belarus, das in Russland aufgeht.  

    Welches Interesse hätte die EU daran, in einen Dialog einzutreten? 

    Es gibt gemeinsame Interessensbereiche, in denen Belarus eine bedeutende Rolle spielen kann. Der erste ist die Sicherheit. Die EU hat Interesse daran, das Risiko einer Wiederholung des Jahres 2022 zu verringern, als Russland das Territorium von Belarus nutzte, um in die Ukraine einzumarschieren. Wenn Russland an die EU-Grenze heranrückt, steigt die Unsicherheit für die EU. Der zweite Bereich ist das Thema Migration. Lukaschenko hat die Migrationskrise an den Grenzen zur EU als Reaktion auf den Sanktionsdruck organisiert. Bei einer Dialogaufnahme könnte also die gemeinsame Sicherung der EU-Grenze verhandelt werden. Und die dritte gemeinsame Interessensphäre ist der Warentransit zwischen der EU und China. Der Eisenbahntransit stellt eine gute Alternative zum Seetransport dar, besonders wenn er wie aktuell am Roten Meer bedroht ist.  

    Würde die EU nicht die demokratische Opposition diskreditieren, die sich im Exil befindet und die derart unter den Repressionen leidet, wenn man auf Lukaschenko zugehen würde? 

    Der Dialog zwischen den belarussischen Machthabern und den westlichen Ländern ist im Prinzip unvermeidlich. Es ist nur eine Frage der Zeit, da es, wie gesagt, um drängende regionale und globale Interessen geht. Die demokratischen Kräfte können sich nur die Frage stellen, ob sie diesen Prozess unterstützen oder ob sie bei ihrem Versuch bleiben, ein Regime zu demokratisieren, das sich nicht demokratisieren lässt. Es ist denkbar, dass sich das Regime als Bedingung für einen Dialog zumindest auf die Frage eines perspektivischen Machttransits gegen 2030 einlässt. Lukaschenko weiß, dass er nicht unsterblich ist. Aber nochmal: Eine schnelle Demokratisierung wird dabei nicht herausspringen. Und es besteht auch die Gefahr, dass das Regime, wenn es sich bedroht fühlt, wieder mit Repressionen reagiert. Das ist sogar sehr sicher. Es geht aktuell darum, die Menschen aus den Gefängnissen freizubekommen, und eine weitere Verschlechterung der Lage zu verhindern. 

    Was will denn eigentlich die belarussische Bevölkerung? 

    Soweit man das anhand der Umfragen von Chatham House beurteilen kann, wünschen sich die Menschen die Rückkehr zu einer gewissen Normalität in den Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen. Sie leben ja unter diesen Repressionen und haben deshalb ihre eigenen Interessen. Wir hier draußen denken darüber nach, wie wichtig es ist, Belarus zu demokratisieren, während die Belarussen im Land vielleicht eher darüber nachdenken, wie wichtig es ist, einen Krieg zu vermeiden. So entsteht natürlich eine Diskrepanz der Interessen. 

    Putin wird es nicht gefallen, wenn Lukaschenko auf den Westen zugeht. 

    Das stimmt. Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder Dialog mit den westlichen Ländern in der aktuellen Situation seine Grenzen haben wird. Er muss ja auch nicht öffentlich passieren. Das Regime hängt an der Leine Russlands und die Leine ist sehr kurz. Lukaschenko ist kein Selbstmörder. Er weiß, was passiert, wenn er sich dem Westen zu sehr nähert. Russland würde ihm das nicht durchgehen lassen. Aber aktuell ist Putin mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt, viele Kräfte und Ressourcen sind konzentriert. Wenn es zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kommt, werden die Kräfte neu gemischt. Es wird neue Dynamiken geben, auf die sich Lukaschenko möglicherweise jetzt schon vorbereiten will, um seine Macht zu stärken. Dafür könnte er den Dialog mit dem Westen gut gebrauchen. Und der Westen könnte ihn gut gebrauchen, um Belarus nicht ganz zu verlieren, um dafür zu sorgen, dass Europa auch künftig noch eine Rolle in Belarus spielt.  

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    Drohkulissen und Inszenierungen – Was passiert in Belarus?

    Belarus ist mal wieder in den Nachrichten: Staatsführer Aljaxandr Lukaschenka hat bekanntgegeben, dass fast ein Drittel der belarussischen Armee an die Grenze zur Ukraine verlegt wurde. Laut Geheimdiensten wurden auch russische Söldner der Wagner-Gruppe an der Grenze im Gebiet Homel zusammengezogen. Warum dieses Manöver von Lukaschenkas Seite?  

    Zudem wurden für den 23. Februar 2025 sogenannte Präsidentschaftswahlen angekündigt, die weder frei noch fair werden, weil im Land keine Opposition mehr möglich ist. Diese muss aus dem Exil heraus agieren. Wie tut sie das? Wie hat sich die Opposition insgesamt entwickelt? Und welche Strategien hat sie für die anstehende Wahlinszenierung?  

    Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). 

    dekoder: Anscheinend hat Lukaschenka Truppen an der belarussisch-ukrainischen Grenze aufmarschieren lassen. Warum? 

    Victoria Leukavets: Die Spannungen zwischen Belarus und der Ukraine haben sich nach dem Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk verschärft. Letzte Woche erklärte Lukaschenka, dass Belarus etwa ein Drittel seiner Streitkräfte an die Grenze zur Ukraine verlegt habe. Er warf der Ukraine eine aggressive Politik vor: unter anderem die Verletzung des belarussischen Luftraums bei ihrem Angriff auf die russische Region Kursk und die angebliche Entsendung von mehr als 120.000 ukrainischen Soldaten an die Grenze zu Belarus. Verteidigungsminister Viktor Chrenin erklärte, Belarus sei bereit, Vergeltung zu üben, falls ukrainische Soldaten in das Hoheitsgebiet des Landes eindringen sollten. Die Ukraine hat die belarussischen Anschuldigungen zurückgewiesen und erklärt, sie habe keine 120.000 Soldaten an die Grenze geschickt.  

    Alles nur ein Psychospiel oder besteht tatsächlich die Gefahr, dass Lukaschenka in den Krieg eingreifen könnte?

    Das Vorgehen Lukaschenkas kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Erstens ist ihm bewusst, dass belarussische Freiwillige eine aktive Rolle beim Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk gespielt haben. Das Hauptziel der Freiwilligen ist es, nicht nur die Ukraine, sondern auch Belarus zu befreien. Daher versucht Lukaschenka, ein deutliches Signal zu senden, dass er die Lage an der belarussischen Grenze unter Kontrolle hält, falls die ukrainische Offensive auf belarussisches Gebiet übergreift. Zweitens könnte er durch die zunehmenden Spannungen an der belarussisch-ukrainischen Grenze Russland helfen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von dem Rückschlag abzulenken, den Russland beim Einmarsch in die Region Kursk erlitten hat. Dies erklärt die aktive Präsenz russischer Streitkräfte und russischer Söldner wie Wagner an der ukrainisch-belarussischen Grenze. 
    Insgesamt ist es unwahrscheinlich, dass Belarus eigene Truppen in den Krieg schicken wird, da das Land für Moskau als Ausgangspunkt für militärische Operationen viel wertvoller ist als aktiver Teilnehmer an militärischen Aktionen. Letzteres könnte das Risiko der Instabilität in Minsk erhöhen und eine harte internationale Reaktion auslösen, die der Kreml nicht unbedingt gebrauchen kann.  

    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by
    Aljaxandr Lukaschenka bei einer Militärparade im Juli 2024 in Minsk / Foto © president.gov.by

    Eigentlich war die sogenannte Präsidentschaftswahl für den Sommer 2025 in Belarus angekündigt. Nun wurde bekannt, dass sie am 23. Februar 2025 stattfindet. Hat Lukaschenka Angst, dass der Sommer den Protestwillen der Belarussen beflügeln könnte? 

    Lukaschenka versucht tatsächlich, die Risiken einer Wiederholung des Szenarios von 2020 zu minimieren. Damals wurde Belarus von einer Welle noch nie dagewesener Proteste erfasst. Diese Erfahrung war ein Schock für das politische System, das Lukaschenka seit Mitte der 1990er Jahre aufgebaut hat. Es gelang ihm, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Der Preis dafür allerdings war sehr hoch. Der Westen verhängte umfassende Sanktionen. Auf internationaler Bühne geriet er in die völlige politische Isolation. Rückblickend auf das Jahr 2020 könnte Lukaschenka also denken: Wenn er damals vorsichtiger gewesen wäre, wenn er weniger Risiken eingegangen wäre, hätte er diese Krise vermeiden können. Und deshalb wird er dieses Mal keinerlei Risiken eingehen und alle noch so kleinen Schritte unternehmen, die Situation vollständig unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört auch das Kalkül, dass die Menschen im Winter möglicherweise nicht so protestwillig sind wie im Sommer. 

    Alle oppositionellen Parteien wurden verboten, die Repressionswelle rollt weiterhin. Warum braucht Lukaschenka solche Wahlinszenierungen überhaupt noch? 

    Wahlen in nicht-demokratischen Umgebungen sind Instrumente und Rituale, mit denen sich Diktatoren an der Macht halten. Autokratien mit Wahlen gelten in der Wissenschaft tatsächlich als beständiger als solche ohne Wahlen. Bei Belarus sehe ich drei wesentliche Funktionen, die solche Wahlen haben: Das Regime will damit seine Unbesiegbarkeit signalisieren. Allein durch das Abhalten der Wahl sendet das Regime eine starke Botschaft sowohl an die Bevölkerung als auch an die politische Opposition. Und die besagt: Wir sind stark genug, diesen Stresstest durchzustehen, und wir haben die Lage vollständig unter Kontrolle. 

    Zudem nutzt das System solche Wahlen sicher, um Informationen über die Opposition zu sammeln? 

    Richtig. Das Regime sammelt Informationen zur Loyalität in der Bevölkerung und vor allem unter den eigenen Anhängern. Die Wahlen geben dem Regime die Möglichkeit, die Taktiken der Opposition zu studieren, daraus zu lernen und so die eigenen Taktiken zu testen, anzupassen und infolgedessen insgesamt widerstandsfähiger zu werden. Außerdem helfen solche Wahlen Lukaschenka, sich im In- und Ausland zu legitimieren: Sie stärken die Verbindung zum loyalen Teil seiner Wählerschaft, aber übermitteln auch den internationalen Partnern wie Russland und China die Botschaft, dass das Regime stark ist, dass es die völlige Kontrolle hat und dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit fortgesetzt werden kann. 

    Seit Juli wurden zahlreiche politische Gefangene entlassen. Muss man dies auch in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Wahlereignis sehen? 

    Es gibt Gerüchte, dass es eine dritte Welle von Freilassungen geben wird. Zum Tag der nationalen Einheit am 17. September. Lukaschenka verfolgt damit zwei Hauptziele. Er versucht, die Spannungen in der Gesellschaft ein wenig abzubauen und den Boden für die Wahl zu bereiten. Aber ein wahrscheinlicheres, vielleicht ein realistischeres Ziel ist dieses: Er ist bestrebt, die Kommunikationskanäle mit dem Westen wieder zu öffnen. Es ist seine Art, dem Westen zu signalisieren, dass er zu Verhandlungen bereit ist, um den Sanktionsdruck zu verringern. Dazu gehört auch, dass er sehr genau beobachtet, was auf dem Schlachtfeld zwischen Russland und der Ukraine passiert. Vor dem Hintergrund der mutigen Offensive der Ukrainer in Kursk kalkuliert er seine eigenen Schritte. Wenn Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland unvermeidlich werden, würde dies die geopolitische Konfiguration in der ganzen Region beeinflussen, was sich wiederum auf Lukaschenka auswirken würde. Er sendet deswegen im Voraus Botschaften an den Westen. Als ernsthafte Schritte zur Einleitung eines tiefgreifenden Öffnungsprozesses würde ich diese aber nicht interpretieren. Er will ja keinen politischen Selbstmord begehen. Vielmehr hat er kleinere, pragmatische Ziele im Blick.  

    Bevor wir über die Taktik der Opposition sprechen – wer oder was ist die belarussische Opposition eigentlich? 

    Die Opposition ist kein homogener Körper, sondern besteht aus verschiedenen Strukturen und Organen. Zum einen ist da das Team von Swjatlana Zichanouskaja, der anerkannten nationalen Führungsfigur der Opposition. Dann gibt es ihr Vereinigtes Übergangskabinett, eine Art Exilregierung, deren Mitglieder wie Minister zu unterschiedlichen Fachbereichen agieren. Dazu kommt der Koordinationsrat, der sich quasi zu einem Exilparlament entwickelt, in dem Gruppierungen und Fraktionen mit unterschiedlichen politischen Interessen vertreten sind. Im Mai wurden erstmals Wahlen zu diesem Koordinationsrat abgehalten. Die Wahlbeteiligung war sehr gering, aber nichtsdestotrotz ist dies eine spannende demokratische Übung, die sich weiterentwickeln wird und die den hohen Organisationsgrad der Opposition zeigt. Weitere Gravitationszentren sind das Nationale Anti-Krisen-Management, das sich in Warschau befindet und das von Pawel Latuschka geleitet wird, das Kalinouski-Regiment, das auf Seiten der Ukraine kämpft und das auch im Koordinationsrat vertreten ist, und Sjanon Pasnjak, ein prominenter Vertreter der alten Opposition. Er ist einer der lautesten Kritiker von Zichanouskaja, wird aber von der Mehrheit in der Demokratiebewegung nicht ernst genommen. 

    Wie sieht also die Strategie der Opposition in Bezug auf die Wahlinszenierung aus? 

    Wenn es keine neuen Entwicklungen geben wird und die Situation so bleibt, wie sie ist, wären die Wahlen im Grunde eine One Man-Show. Die Opposition hätte so nur ein sehr begrenztes Instrumentarium, um die Situation vor Ort zu beeinflussen. Eine Strategie, die aktuell diskutiert wird, ist daher die Entwicklung einer effizienten Kommunikationskampagne, die sich an die belarussische Bevölkerung innerhalb des Landes, aber auch an das externe Publikum richtet. Das Hauptziel dieser Kampagne wäre es, Lukaschenka weiter zu delegitimieren, indem man die ganze Welt daran erinnert, wie repressiv dieses Regime ist, wie viele politische Gefangene es immer noch gibt, welche Rolle Lukaschenka beim Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt und so weiter. 

    Wie stark ist eigentlich die Anhängerschaft von Lukaschenka? Es gibt Zahlen, die sie auf 20 bis 30 Prozent bemisst. 

    Wir können keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Belarus wie jedes andere autoritäre Land eine Blackbox ist. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Unterdrückung kann man die Stimmung in der Gesellschaft einfach nicht genau messen, Die Leute haben Angst, ihre Meinung zu sagen. Meinungsumfragen werden nur online durchgeführt. Und das bedeutet bereits, dass sie nicht vollständig repräsentativ sind. Die Zahlen, die Sie nennen, stammten aus Umfragen von 2021, die von Chatham House durchgeführt wurden. Präzise werden dort 27 Prozent auf Seiten der Lukaschenka-Unterstützer genannt. 

    Einige in der Opposition fordern, dass sich auch Swjatlana Zichanouskaja als Oppositionsführerin zur Wahl stellen müsse. Wäre das nicht kontraproduktiv? 

    Es gibt diese Stimmen. Aber viel wichtiger ist, dass am Ende der Konferenz Neues Belarus, die im August in Vilnius stattfand, von den Teilnehmern ein sehr wichtiges Dokument verschiedet wurde, mit dem Zichanouskaja als Anführerin bestätigt wurde. Und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wenn wirklich demokratische Wahlen in Belarus abgehalten werden können oder wenn sie selbst das Amt niederlegt. Die Mehrheit ist also der Ansicht, dass solch eine Wahl unter den derzeitigen Umständen riskant wäre. Sie könnte den inneren Zusammenhalt der demokratischen Bewegung untergraben. 

    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja
    Swjatlana Zichanouskaja bei der Konferenz der belarussischen Opposition im August 2024 in Vilnius / Foto © Pressedienst Swjatlana Zichanouskaja

    In den vergangenen Jahren gab es immer Kritik am Team Zichanouskaja. Was sind die wesentlichen Kritikpunkte? 

    Bei der Kritik geht es um die angeblich intransparente Verwaltung der von westlichen Gebern bereitgestellten Mittel, um die angeblich mangelnde Koordination zwischen all den Institutionen der Opposition, über die wir vorhin gesprochen haben. Zudem wird vor allem die nicht gleichberechtigte Vertretung oppositioneller Stimmen auf internationaler Ebene bemängelt. Der Druck auf das Team von Zichanouskaja ist sehr hoch, die Erwartungen sind groß, die Exilsituation ist für alle sehr schwierig. Ich will die Kritikpunkte nicht abmildern, aber Kritik ist unter diesen Umständen normal, und sie ist ein Zeichen für die Vitalität und Diversität der Opposition. Wenn wir über den Erfolg oder Misserfolg der Opposition sprechen, müssen wir andere Kriterien heranziehen. 

    Und die wären? 

    Kriterium Nummer eins: Die belarussische Oppositionsbewegung wird von einem starken Zusammenhalt getragen und hat eine effektive Koordination entwickelt. Nummer zwei ist die hohe Anerkennung im Ausland und erfolgreiche Lobbyarbeit auf internationaler Ebene. Tatsächlich ist Swjatlana Zichanouskaja ständig unterwegs, wird sogar auf höchster politischer Ebene von politischen Amtsträgern und Vertretern empfangen. Es ist gelungen, stetige Kommunikationskanäle mit Regierungen aufzubauen. Das dritte Kriterium: Die Oppositionsbewegung ist bemüht, regierungsähnliche Strukturen zu schaffen, die auf Grundlage demokratischer Prinzipien funktionieren. Auch hier sehen wir, dass die Oppositionsbewegung mit demokratischen Aushandlungsprozessen und Vertretungsformen experimentiert. Die russische Oppositionsbewegung beispielsweise macht keinen einzigen Schritt in diese Richtung. Und das letzte Kriterium, das wohl fundamentalste und schwierigste: Jede Oppositionsbewegung kann als erfolgreich angesehen werden, wenn sie effektive Mechanismen entwickelt, um die Verbindung zur Bevölkerung im Heimatland aufrechtzuerhalten.

    Kritiker bemängeln, dass die Opposition immer mehr zu einer Interessensvertretung der Exilbelarussen wird und den Kontakt zur Bevölkerung verliert. 

    An dieser Kritik ist natürlich etwas Wahres dran. Aber die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den Menschen im Land und deren Unterstützung hatte immer hohe Priorität. Es werden ständig neue Mechanismen entwickelt und getestet, um neue Kommunikationskanäle zu schaffen. Als die russische Vollinvasion begann, wurden verschiedene Antikriegs-Initiativen unterstützt, einschließlich der Eisenbahn-Partisanen und der Cyber-Partisanen. Diese Aktivitäten wurden in enger Abstimmung mit dem Büro von Zichanouskaja umgesetzt. Zudem werden ständig finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, um politischen Gefangenen und deren Familien zu unterstützen. Es wird auch mit neuen Plattformen und Kanälen experimentiert, um die Menschen im Land mit Informationen abseits von Propaganda zu versorgen. Ich würde also nicht sagen, dass die Kommunikation mit den Menschen im Land ein völlig weißer Fleck ist. Ja, sie hat ihre Grenzen, weil das Regime derart repressiv ist. Aber die Opposition ist bemüht, diese Grenzen zu verschieben und aufzuweichen.  

    Lukaschenka hat in letzter Zeit häufiger gesagt, dass sich die Belarussen an einen neuen Anführer gewöhnen müssten. Er will doch nicht etwa zurücktreten? 

    Diesen Aussagen sollte man nicht ernst nehmen. Er hat in der Vergangenheit ähnliche Aussagen getätigt. Er versteht, dass Belarus eine sehr entscheidende Phase durchläuft. Und dies ist kein guter Zeitpunkt für einen Machtwechsel. Ich würde sagen, dass der Zweck solcher Aussagen im Grunde nur darin besteht, einen sehr ehrgeizigen Teil seiner Eliten in Schach zu halten. Indem er ihnen vermittelt, dass er zwar kein ewiger Anführer ist, dass er aber irgendwann für eine stabile Nachfolge sorgen wird, dass er die Kontrolle hat. Ein Rücktritt oder eine Machtübergabe werden ganz sicher nicht im Rahmen der Wahlen oder in baldiger Zukunft geschehen. Lukaschenka hat Angst, dass, wenn er loslässt, etwas Unvorhergesehenes passieren könnte. 

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  • Editorial: Weihnachten der Wirklichkeit

    Editorial: Weihnachten der Wirklichkeit
    Die Ziege ist im Brauchtum der belarussischen Weihnacht das Symbol der Fruchtbarkeit und Hoffnung / Illustration © Anna I.

    Werte Leserinnen und Leser!

    Die frohe Botschaft – sprachlich schön verpackt, an der man sich wärmen und aufrichten kann – wird es auch am Ende dieses Textes möglicherweise nicht geben. Für frohe Botschaften, wie sie den Kern des Weihnachtsfestes bilden, sind wir als journalistisches Medium nicht zuständig. Ebenso wenig für Wunder, wie sie zu Weihnachten ja durchaus vorkommen sollen. Wir bilden die Realität ab, so gut es eben geht. Bei dekoder tun wir dies aus Überzeugung, mit Hingabe und Leidenschaft. Unsere Hoffnung besteht darin, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, Sachverhalte besser einordnen und damit die Realität besser verstehen zu können. 

    Die Realität sieht seit geraumer Zeit über die Maßen bedrückend und verstörend aus. Nicht nur in Osteuropa natürlich. Aber es sind eben Russland und Belarus, über die wir als Medium schwerpunktmäßig berichten. Der grausame russische Krieg gegen die Ukraine, die nicht enden wollenden Repressionen in Belarus und auch in Russland, Flucht, Vertreibung, Tod, Terror, Exil – es ist düster und finster und ein Licht der Hoffnung, nach dem sich viele sehnen, scheint nicht in Sicht. Unsere Koordinaten – das, was man wohl gemeinhin Normalität nennt – auch unsere Sprache sind erschüttert, Orientierung und Halt: dringend gesucht. 

    Wir sind Profis im Umgang mit schlechten Nachrichten, aber wir sind eben auch Menschen, die das, über das wir berichten, mitnimmt. Wir alle im Team sind auf die unterschiedlichste Art und Weise mit der Ukraine, mit Belarus und Russland verbunden. In solch einem Editorial darf man so etwas sagen, etwas Persönliches, Emotionales – etwas, das die fachliche und sachliche Distanz, die wir uns normalerweise zu wahren bemühen, aufhebt. 

    Wir halten auch in diesen Zeiten Kontakt mit unseren Kollegen und Kolleginnen aus der Ukraine, aus Belarus und aus Russland, mit unseren Partnermedien, die fliehen mussten, die sich im Exil in Georgien, in Litauen, Polen oder in Deutschland ein neues Zuhause aufbauen mussten, die trotz aller Schwierigkeiten dafür kämpfen, dass ihre Medien weiterexistieren können. Es ist ein existentieller Kampf, der allen alles abfordert, der übermenschliche Kräfte braucht, um einerseits das eigene Leben neu zu organisieren, andererseits wertvolle Informationen und Beiträge zu liefern.

    Weil unsere Kolleginnen und Kollegen derart reinhauen, können wir bei dekoder Beiträge übersetzen und veröffentlichen. So können wir verstehen, was sich nicht nur in den neuen Exilgemeinden tut, sondern auch innerhalb von Belarus, Russland, auch in der Ukraine oder in den von Russland besetzten Gebieten. In Belarus arbeiten längst keine internationalen Medien mehr. Die belarussischen und russischen Exilmedien arbeiten weiterhin mit Journalisten zusammen, die sich noch im Land befinden und die tagtäglich Gefahr laufen, festgenommen zu werden und drakonische Haftstrafen zu kassieren. Wir bemühen uns, diesen Medien und Kollegen eine Plattform zu geben, damit ihre Beiträge gelesen werden und eine Realität gesehen wird, die ansonsten in den dichten Nebel der Ahnungslosigkeit entrückt. Wenn das geschieht, wenn die Realität nicht mehr gesehen werden kann, dann ist es wohl ganz vorbei mit der Hoffnung. 

    Bleibt wach und stark! 
    Euch allen ein Fest, das Kräfte schafft und Hoffnung stärkt.

    Euer Ingo
    Belarus-Redakteur bei dekoder

    PS: Wir danken euch, unseren Leserinnen und Lesern, für die immerwährende Unterstützung. Wenn ihr noch ein Weihnachtsgeschenk sucht: dekoder kann man auch verschenken.

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  • „Von einer Zeit, in der ein ganz neues Land entstand“

    „Von einer Zeit, in der ein ganz neues Land entstand“

    Sergej Bruschko (1958–2000) gehörte zu den bekanntesten Fotojournalisten seiner Heimat Belarus. Mit seiner Arbeit dokumentierte er nicht nur die Zeit des großen Umbruchs in der Zeit von Perestroika und Glasnost, er prägte sie mit seinen charaktervollen Fotografien, die Geschichten aus jener Zeit erzählen – Geschichten von Leid, Angst, Unabhängigkeit, Hoffnung und von der Kraft des Aufbruchs. Nikolaj Chalesin, der als Redakteur mit Bruschko zusammenarbeitete und später das Belarus Free Theatre gründete, urteilt: „Jede seiner Arbeiten ist eine komplette Geschichte, jedes Porträt ein Charakter, jedes Foto stellt eine ganze Epoche dar. Ich bin nicht prätentiös – es war unser Schicksal, an einem solchen Wendepunkt zu leben, an dem alles wichtig ist.“ 

    Bruschko prägte aber nicht nur den belarussischen Fotojournalismus, sondern auch den Lebensweg seines Sohnes. Dimitri Bruschko trat schließlich in die Fußstapfen seines Vaters und wurde selbst Fotograf und Bildredakteur. Er hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, die Arbeit seines Vaters nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So hat er aus dem umfangreichen Archiv ein Buch mit Fotos von Sergej Bruschko zusammengestellt, von denen dekoder eine Auswahl zeigt. Zudem haben wir Dimitri Bruschko befragt – über die Arbeit seines Vaters, über den Unabhängigkeitskampf der Belarussen, über Zeiten, die alles verändern können.

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Fischverkäuferin auf dem Bahnhofsvorplatz. Minsk, Januar 1992 / Foto © Sergej Bruschko

     

    dekoder: Warum haben Sie das Buch, das dem fotografischen Werk Ihres Vaters gewidmet ist, Smena (dt. Wechsel) genannt?

    Dimitri Bruschko: Zunächst ist Smena ein Zeichen der Anerkennung für die Redaktion der belarussischsprachigen Zeitung Tschyrwonaja Smena, eine der progressiven und liberalen Redaktionen in Belarus zu Zeiten der Perestroika. Mein Vater hat in jenen Jahren, von denen in dem Buch erzählt wird, dort gearbeitet. Im Alltag wurde die Zeitung zwar Tschyrwonka, die Rote, genannt. Für den Kontext jener Zeit, für eine Erzählung über die Epoche, die Belarus die Unabhängigkeit schenkte, ist jedoch das Wort Smena wichtiger. Denn es bedeutet im Belarussischen wie im Russischen „Wechsel“, „Veränderung“ und bezeichnet den Zustand des Wandels, den es Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre im gerade neu entstandenen Belarus gab. Damals erfolgten Veränderungsprozesse im Aufbau des Staates, ein Generationswechsel in der Verwaltung des Landes wie auch im Wirtschaftssystem; das Land öffnete sich zum ersten Mal dem Westen. Diese Zeit lässt sich als eine Ära des Umbruchs bezeichnen, in der die belarussische Geschichte eine ganz neue Wendung nahm.

    Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?

    Ungefähr 2017 fingen die lukaschenkotreuen Propagandisten in den staatlichen Medien an, davon zu reden, dass das unabhängige Belarus 1994 aus den Ruinen der UdSSR entstanden sei. Aber niemand sprach von den Gründen für den Zusammenbruch des Imperiums und dass das Land die Unabhängigkeit schon 1991 erlangt hatte. Die Propagandisten versuchen bis heute, jede Erinnerung aus der Geschichte zu streichen, die nicht mit der Herrschaft Lukaschenkos verknüpft ist. 

    Ich habe versucht, Bücher und Projekte zu finden, die über die Jahre 1988 bis 1994 berichten könnten, habe aber kein einziges finden können. Ich fand da Ausschnitte aus alten Zeitungen und ein paar Kulturprojekte, aber damit lässt sich der Gesamteindruck nicht wiedergeben. Deshalb beschloss ich, einen Fotoband zu machen, und zwar kein Album aus wohlkomponierten Fotografien in perfektem Licht, sondern ein Buch über eine Zeit, in der ein ganz neues Land entstand und die mein Vater mit seinen Fotos dokumentiert hat. Ich wollte, dass die Sprache des Narrativs dem Zeitungsstil nahekam, weil die Zeitungen damals die Informationsquelle waren, die für die Menschen am leichtesten zugänglich war. Deshalb weist das Buch viele Gestaltungselemente einer Zeitung auf. Anstelle von Texten mit Erläuterungen zur Zeit der Perestroika wollte ich lieber eine Reihe von Interviews und Erinnerungen über die Ereignisse und den Geist jener Zeit. Selbst die Farbe des Papiers sollte an den warmen Ton von Zeitungspapier erinnern.

    Wie wurde Ihr Vater zum Foto-Chronisten einer Zeit, die nicht nur für Belarus so folgenreich war? Hatte das damals mit Glasnost zu tun?

    Mein Vater wollte, nachdem er die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, Geologe werden. Ihm fehlte bei den Zensuren lediglich ein einziger Punkt, um es auf die Universität zu schaffen, deshalb ging er auf eine Fachschule, um Fotograf zu werden. Später kam er zu einer regionalen Zeitung in Soligorsk, wollte aber unbedingt zu einer großen Zeitung und schickte seine Fotografien an überregionale Zeitungen in der Belarussischen SSR

    Man wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm bei der Tschyrwonaja Smena in Minsk eine Stelle an. Minsk war zwar die Hauptstadt, aber auch verschlossen: Man konnte dort nur dann arbeiten, wenn man Bewohner der Stadt war oder eine Genehmigung einer Komsomol-Organisation hatte, die den Neuankömmling dann mit einer Wohnung zu versorgen hatte. Mein Vater erhielt beim Komsomol eine Absage und musste sich mit Hilfe von Schmiergeldern eine Meldebescheinigung in Minsk besorgen. Danach erst konnte er eine Stelle als Fotokorrespondent antreten. 

    Als er seine Arbeit begann, war die Zeit von Perestroika und Glasnost schon angebrochen. Allerdings war es noch zu früh, von Meinungsfreiheit zu sprechen. Alle Zeitungen befanden sich im Besitz des Staates und unterlagen der Zensur. Man konnte nicht einfach mit einer Geschichte über Wohnungsprobleme von Arbeitern oder zu wenig Schuhen in den Geschäften kommen. Solche Berichte mussten mit den Gremien der Kommunistischen Partei abgesprochen werden, was nicht immer gelang. Mitunter konnte man sich selbst bei einem ideologisch abgesicherten Thema eine Rüge der Parteileitung einhandeln. Ich erinnere mich, wie mein Vater zum Gespräch mit den Parteibürokraten vorgeladen wurde. Und zwar wegen eines Fotos von den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai, auf dem ein mit Orden dekorierter Veteran zu sehen war, der Bier trank. Diese Aufnahme passte einfach nicht zum Bild des Siegers in der staatlichen Propaganda.

    Ihr Vater hat auch die menschlichen Folgen von Tschernobyl in den Vordergrund seiner Arbeit gestellt. War es damals womöglich etwas Neues, die Menschen als Individuen zu sehen?

    Mein Vater war ein logisch denkender Mensch und er verstand sehr wohl die Dimensionen der Tragödie, die die Republik ereilt hatte. Für ihn war das keine Katastrophe aus technischem Versagen, sondern ein menschliches Drama. Er hatte einen beträchtlichen Teil seines Lebens auf dem Land gelebt und kannte die Psychologie der Menschen dort recht gut. In Belarus waren [von Tschernobyl] vor allem Dörfer und ihre Bewohner betroffen. Das Schicksal wollte es, dass ihm gerade in dieser Zeit klar wurde, dass die Fotografie seine Berufung ist. Er verstand die Tragödie der Menschen, und er hatte die Möglichkeit, dieses Thema mit seinen Fotos zu bearbeiten, weil er damals einen Ausweis als sowjetischer Fotokorrespondent in der Tasche hatte. Als Anhänger humanistischer Fotografie hat er dieses Thema einfach aufgreifen müssen.

    War Ihr Vater jemand, der die Unabhängigkeit von Belarus unterstützt hat? 

    Natürlich hatte er seine Meinung zu den Ereignissen, die er fotografierte. Er war ein Verfechter der belarussischen Unabhängigkeit und dachte, dass nur die Bürger des eigenen Landes es zu einem prosperierenden Staat aufbauen können. Diese Ansicht mag vielleicht etwas naiv erscheinen, aber bei der Wahl zwischen Romantik und Pragmatismus hat er sich für das Erstere entschieden. Bei der Präsidentschaftswahl 1994 gab er seine Stimme Stanislaw Schuschkewitsch; er dachte, dass nur ein kluger und anständiger Mensch das Land lenken sollte. Die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2001 hat er nicht mehr erlebt, war aber überzeugt, dass Lukaschenko entweder die Wahl verliert oder nach seiner zweiten Amtszeit abtritt. Die Wirklichkeit zeigt, dass es für den Willen zu herrschen keine Grenzen des Anstands gibt.

    Wurden Sie durch Ihren Vater dazu inspiriert, selbst als Fotograf festzuhalten, wie die Belarussen auch unter Lukaschenko für ihre politische Emanzipation gekämpft haben?

    Die Fotografien meines Vaters waren für mich ein Geschichtslehrbuch, in dem es keine Propaganda gab. In den Archiven befindet sich nicht nur eine Auswahl seiner besten Fotografien, sondern auch Arbeiten, durch die man verstehen kann, was während der Perestroika und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit tatsächlich vor sich ging. Im Grunde war sein Archiv eine Art Grundlage für meine Entwicklung, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch. Die Fotografien an sich geben noch keine direkte Antwort darauf, was gut und was schlecht ist. Sie bringen einen aber dazu, Fragen zu stellen und die Antworten in sich selbst zu suchen.

    Was haben Sie sonst von Ihrem Vater für die Arbeit als Fotograf gelernt?

    Ich erinnere mich an zwei Regeln meines Vaters, die ich auch bei meiner Arbeit zu beherzigen versuche. Erstens: Bei der Arbeit muss man einen kühlen Kopf bewahren, aber das Herz sprechen lassen – auf keinen Fall umgekehrt. Das hat mir geholfen, in den schwierigsten Situationen von 2020 zu überleben. Als ich nämlich nicht nur die dramatischen Ereignisse um mich herum fotografieren wollte, sondern auch sehen musste, wie ich mit meiner Ausrüstung heil aus den Demonstrationen in der Stadt herauskomme; die glichen eher Kämpfen, bei denen auch Jagd auf Journalisten und ihre Fotoausrüstungen gemacht wurde. Die zweite Regel lautete: Fotografiere die Gerüche. Damit die Bilder nach Gefühlen riechen, nach Freiheit, Angst oder nach Hoffnung.

     

    links: John Lennon-Mauer – eine öffentliche Gedenkstätte, die von Fans des Musikers errichtet wurde. Sie war Teil des Bauzauns am Palast der Republik. In Minsk, Platz des Oktober, 1990 / rechts: Teenager, 1992 / Fotos © Sergej Bruschko
    Kontaktabzüge von einigen Fotos, ausgewählt von Sergej Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko
    Juri Martynow, Inspektor für Jugendangelegenheiten der Polizeidirektion des Moskauer Bezirks in Minsk bei einem Rundgang durch seinen Bezirk, Februar 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Eine Schlange nach Milchprodukten. Minsk, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Eine Schlange nach Zigaretten an einem Zeitungskiosk. Rogatschow, 1990 / Foto © Sergej Bruschko
    Im Zentrum von Aschmjany, 1989 / Foto © Sergej Bruschko
    Streik von Minsker Fabrikarbeitern auf dem Lenin Platz gegen den starken Preisanstieg, organisiert von Gewerkschaften. Minsk, April 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Kundgebung der Partei BNF vor dem KGB-Gebäude anlässlich des Jahrestages der Hinrichtung belarussischer Schriftsteller im Jahr 1937. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Frauen-Strafkolonie in Gomel, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
    Das erste Treffen eines Häftlings in der Strafkolonie Mogiljow mit seinem Sohn. Mogiljow, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Aufnahmezentrum für jugendliche Straftäter. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten. Militärkommissariat der Oblast Minsk, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Ein Fahrer sammelt in einer Pfütze Wasser, um damit den Kühler seines LKW zu befüllen. Bezirk Slawgorod, 1994 / Foto © Sergej Bruschko
    Der alleinerziehende Vater Alexander Kalitenja und seine fünf Kinder. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Sommerliche Torfbrände in der Nähe von Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
    Umsiedlung von Einwohnern aus dem strahlenverseuchten Dorf Weprin, Bezirk Tscherikow, Oblast Mogiljow, April 1990 / Foto © Sergej Bruschko
    Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
    Kontaktabzüge von der besten Fotos, ausgewählt von Sergei Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko

    Fotos: Sergej Bruschko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Übersetzung: Hartmut Schröder
    Veröffentlicht am: 04.10.2022

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  • Kaljady

    Kaljady

    In Belarus wird das katholische und orthodoxe Weihnachten gefeiert, dazu das aus der Sowjetunion stammende Neujahr und: Kaljady. In dieser kurzen Gnose erklären wir, was es mit diesem archaischen Weihnachtsfest auf sich hat und woher es stammt.

    Als Kaljady (каляды) wird in Belarus und bei anderen slawischen Völkern die Zeit zwischen dem 25. Dezember und 6. Januar (und nach orthodoxem Ritus bis zum 19. Januar) bezeichnet, in der sich heidnische und christliche Rituale und Glaubensvorstellungen zu einer besonderen Art des Weihnachtsfestes vermengt haben. 

    Die Festtage liegen in der Regel zwischen der Geburt Christi (25. Dezember) und der Taufe Christi (6. Januar). Ursprünglich gehen sie auf die Wintersonnenwende zurück, die Tage nach dem 21. Dezember also, wenn die Tage wieder merklich länger werden. In dieser Zeit sollen böse Geister durch fröhliche Lieder vertrieben werden. Dazu verkleiden sich die Menschen: als kasa (Ziege), ein Symbol der Fruchtbarkeit, als baba (Großmutter) oder dsed (Großvater), die für die verstorbenen Vorfahren stehen, als Soldat, ein Symbol für das bösmächtige und geheimnisvolle Fremde, als tschort (Teufel), der übermächtige Kräfte verkörpert, oder als wouk (Wolf), der in archaischen Vorstellungen als Entführer von Mädchen und jungen Frauen gilt. Es werden Symbole von Sonne und Sternen an Stöcken getragen. Man trägt nicht nur Kostüme und Masken, sondern auch traditionelle belarussische Kleidung. 

    Eine Kaljady-Gesellschaft im Gouvernement Mahiljou aus dem Jahre 1903.
    Eine Kaljady-Gesellschaft im Gouvernement Mahiljou aus dem Jahre 1903.

    So gehen die festlichen Gesellschaften in den Dörfern von Haus zu Haus, häufig begleitet von Musikern, die auf traditionellen Instrumenten den Umzug auf das Fest einstimmen. Man singt Lieder zusammen, tanzt und isst zusammen bestimmte Speisen. Darunter vor allem kuzzja (куцця), eine süße Getreidespeise mit Honig, Nüssen, Rosinen oder Mohn, deren Verzehr Glück, Hoffnung und Unsterblichkeit bringen, die auch das familiäre Wohlbefinden stärken soll und die es in unterschiedlichen regionalen Versionen gibt. Da die Speise rund ist, steckt in ihr symbolhaft eine der Erklärungen für die etymologische Herkunft des Wortes kaljady. Als kola wird in ostslawischen Sprachen das Rad oder der Kreis bezeichnet. In diesem Sinne könnte kuzzja ein Symbol für die Sonne sein und kaljady in archaischer Vorstellung damit als ein Fest für das wiederkehrende Leben verstanden worden sein. Aber in Bezug auf die Etymologie gibt es keine eindeutige Erklärung. Einig ist sich die Wissenschaft lediglich darüber, dass das Wort aus vorchristlicher und womöglich sogar aus vorslawischer Zeit stammt, als der Beginn eines neuen Jahres mit den wieder länger werdenden Tagen gefeiert und entsprechend ritualisiert wurde.

    In zahlreichen Regionen von Belarus sind die Kaljady-Rituale bis heute in variierenden Ausformungen lebendig. In dem Dorf Semeshawa beispielsweise stehen die Kaljady-Zaren im Mittelpunkt eines Schauspiels, an dem dutzende Dorfbewohner und Laienschauspieler teilnehmen. Dabei stürmen die Weihnachtssoldaten die Dorfhäuser, führen karnevaleske Tänze und Clownereien auf, was in der Vorstellung der Bewohner Glück, Harmonie und Wohlstand für das kommende Jahr versprechen soll. Das außergewöhnliche Ritual wurde 2009 sogar in die UNESCO-Liste des dringend zu schützenden immateriellen Kulturerbes aufgenommen.

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