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Editorial: Weihnachten der Wirklichkeit
Die Ziege ist im Brauchtum der belarussischen Weihnacht das Symbol der Fruchtbarkeit und Hoffnung / Illustration © Anna I.
Werte Leserinnen und Leser!
Die frohe Botschaft – sprachlich schön verpackt, an der man sich wärmen und aufrichten kann – wird es auch am Ende dieses Textes möglicherweise nicht geben. Für frohe Botschaften, wie sie den Kern des Weihnachtsfestes bilden, sind wir als journalistisches Medium nicht zuständig. Ebenso wenig für Wunder, wie sie zu Weihnachten ja durchaus vorkommen sollen. Wir bilden die Realität ab, so gut es eben geht. Bei dekoder tun wir dies aus Überzeugung, mit Hingabe und Leidenschaft. Unsere Hoffnung besteht darin, dass unsere Arbeit dazu beiträgt, Sachverhalte besser einordnen und damit die Realität besser verstehen zu können.
Die Realität sieht seit geraumer Zeit über die Maßen bedrückend und verstörend aus. Nicht nur in Osteuropa natürlich. Aber es sind eben Russland und Belarus, über die wir als Medium schwerpunktmäßig berichten. Der grausame russische Krieg gegen die Ukraine, die nicht enden wollenden Repressionen in Belarus und auch in Russland, Flucht, Vertreibung, Tod, Terror, Exil – es ist düster und finster und ein Licht der Hoffnung, nach dem sich viele sehnen, scheint nicht in Sicht. Unsere Koordinaten – das, was man wohl gemeinhin Normalität nennt – auch unsere Sprache sind erschüttert, Orientierung und Halt: dringend gesucht.
Wir sind Profis im Umgang mit schlechten Nachrichten, aber wir sind eben auch Menschen, die das, über das wir berichten, mitnimmt. Wir alle im Team sind auf die unterschiedlichste Art und Weise mit der Ukraine, mit Belarus und Russland verbunden. In solch einem Editorial darf man so etwas sagen, etwas Persönliches, Emotionales – etwas, das die fachliche und sachliche Distanz, die wir uns normalerweise zu wahren bemühen, aufhebt.
Wir halten auch in diesen Zeiten Kontakt mit unseren Kollegen und Kolleginnen aus der Ukraine, aus Belarus und aus Russland, mit unseren Partnermedien, die fliehen mussten, die sich im Exil in Georgien, in Litauen, Polen oder in Deutschland ein neues Zuhause aufbauen mussten, die trotz aller Schwierigkeiten dafür kämpfen, dass ihre Medien weiterexistieren können. Es ist ein existentieller Kampf, der allen alles abfordert, der übermenschliche Kräfte braucht, um einerseits das eigene Leben neu zu organisieren, andererseits wertvolle Informationen und Beiträge zu liefern.
Weil unsere Kolleginnen und Kollegen derart reinhauen, können wir bei dekoder Beiträge übersetzen und veröffentlichen. So können wir verstehen, was sich nicht nur in den neuen Exilgemeinden tut, sondern auch innerhalb von Belarus, Russland, auch in der Ukraine oder in den von Russland besetzten Gebieten. In Belarus arbeiten längst keine internationalen Medien mehr. Die belarussischen und russischen Exilmedien arbeiten weiterhin mit Journalisten zusammen, die sich noch im Land befinden und die tagtäglich Gefahr laufen, festgenommen zu werden und drakonische Haftstrafen zu kassieren. Wir bemühen uns, diesen Medien und Kollegen eine Plattform zu geben, damit ihre Beiträge gelesen werden und eine Realität gesehen wird, die ansonsten in den dichten Nebel der Ahnungslosigkeit entrückt. Wenn das geschieht, wenn die Realität nicht mehr gesehen werden kann, dann ist es wohl ganz vorbei mit der Hoffnung.
Bleibt wach und stark!
Euch allen ein Fest, das Kräfte schafft und Hoffnung stärkt.Euer Ingo
Belarus-Redakteur bei dekoderPS: Wir danken euch, unseren Leserinnen und Lesern, für die immerwährende Unterstützung. Wenn ihr noch ein Weihnachtsgeschenk sucht: dekoder kann man auch verschenken.
Weitere Themen
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Land unter weißen Flügeln – das Belarus-Quiz
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„Von einer Zeit, in der ein ganz neues Land entstand“
Sergej Bruschko (1958–2000) gehörte zu den bekanntesten Fotojournalisten seiner Heimat Belarus. Mit seiner Arbeit dokumentierte er nicht nur die Zeit des großen Umbruchs in der Zeit von Perestroika und Glasnost, er prägte sie mit seinen charaktervollen Fotografien, die Geschichten aus jener Zeit erzählen – Geschichten von Leid, Angst, Unabhängigkeit, Hoffnung und von der Kraft des Aufbruchs. Nikolaj Chalesin, der als Redakteur mit Bruschko zusammenarbeitete und später das Belarus Free Theatre gründete, urteilt: „Jede seiner Arbeiten ist eine komplette Geschichte, jedes Porträt ein Charakter, jedes Foto stellt eine ganze Epoche dar. Ich bin nicht prätentiös – es war unser Schicksal, an einem solchen Wendepunkt zu leben, an dem alles wichtig ist.“
Bruschko prägte aber nicht nur den belarussischen Fotojournalismus, sondern auch den Lebensweg seines Sohnes. Dimitri Bruschko trat schließlich in die Fußstapfen seines Vaters und wurde selbst Fotograf und Bildredakteur. Er hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, die Arbeit seines Vaters nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So hat er aus dem umfangreichen Archiv ein Buch mit Fotos von Sergej Bruschko zusammengestellt, von denen dekoder eine Auswahl zeigt. Zudem haben wir Dimitri Bruschko befragt – über die Arbeit seines Vaters, über den Unabhängigkeitskampf der Belarussen, über Zeiten, die alles verändern können.
Fischverkäuferin auf dem Bahnhofsvorplatz. Minsk, Januar 1992 / Foto © Sergej Bruschko
dekoder: Warum haben Sie das Buch, das dem fotografischen Werk Ihres Vaters gewidmet ist, Smena (dt. Wechsel) genannt?
Dimitri Bruschko: Zunächst ist Smena ein Zeichen der Anerkennung für die Redaktion der belarussischsprachigen Zeitung Tschyrwonaja Smena, eine der progressiven und liberalen Redaktionen in Belarus zu Zeiten der Perestroika. Mein Vater hat in jenen Jahren, von denen in dem Buch erzählt wird, dort gearbeitet. Im Alltag wurde die Zeitung zwar Tschyrwonka, die Rote, genannt. Für den Kontext jener Zeit, für eine Erzählung über die Epoche, die Belarus die Unabhängigkeit schenkte, ist jedoch das Wort Smena wichtiger. Denn es bedeutet im Belarussischen wie im Russischen „Wechsel“, „Veränderung“ und bezeichnet den Zustand des Wandels, den es Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre im gerade neu entstandenen Belarus gab. Damals erfolgten Veränderungsprozesse im Aufbau des Staates, ein Generationswechsel in der Verwaltung des Landes wie auch im Wirtschaftssystem; das Land öffnete sich zum ersten Mal dem Westen. Diese Zeit lässt sich als eine Ära des Umbruchs bezeichnen, in der die belarussische Geschichte eine ganz neue Wendung nahm.
Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?
Ungefähr 2017 fingen die lukaschenkotreuen Propagandisten in den staatlichen Medien an, davon zu reden, dass das unabhängige Belarus 1994 aus den Ruinen der UdSSR entstanden sei. Aber niemand sprach von den Gründen für den Zusammenbruch des Imperiums und dass das Land die Unabhängigkeit schon 1991 erlangt hatte. Die Propagandisten versuchen bis heute, jede Erinnerung aus der Geschichte zu streichen, die nicht mit der Herrschaft Lukaschenkos verknüpft ist.
Ich habe versucht, Bücher und Projekte zu finden, die über die Jahre 1988 bis 1994 berichten könnten, habe aber kein einziges finden können. Ich fand da Ausschnitte aus alten Zeitungen und ein paar Kulturprojekte, aber damit lässt sich der Gesamteindruck nicht wiedergeben. Deshalb beschloss ich, einen Fotoband zu machen, und zwar kein Album aus wohlkomponierten Fotografien in perfektem Licht, sondern ein Buch über eine Zeit, in der ein ganz neues Land entstand und die mein Vater mit seinen Fotos dokumentiert hat. Ich wollte, dass die Sprache des Narrativs dem Zeitungsstil nahekam, weil die Zeitungen damals die Informationsquelle waren, die für die Menschen am leichtesten zugänglich war. Deshalb weist das Buch viele Gestaltungselemente einer Zeitung auf. Anstelle von Texten mit Erläuterungen zur Zeit der Perestroika wollte ich lieber eine Reihe von Interviews und Erinnerungen über die Ereignisse und den Geist jener Zeit. Selbst die Farbe des Papiers sollte an den warmen Ton von Zeitungspapier erinnern.
Wie wurde Ihr Vater zum Foto-Chronisten einer Zeit, die nicht nur für Belarus so folgenreich war? Hatte das damals mit Glasnost zu tun?
Mein Vater wollte, nachdem er die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, Geologe werden. Ihm fehlte bei den Zensuren lediglich ein einziger Punkt, um es auf die Universität zu schaffen, deshalb ging er auf eine Fachschule, um Fotograf zu werden. Später kam er zu einer regionalen Zeitung in Soligorsk, wollte aber unbedingt zu einer großen Zeitung und schickte seine Fotografien an überregionale Zeitungen in der Belarussischen SSR.
Man wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm bei der Tschyrwonaja Smena in Minsk eine Stelle an. Minsk war zwar die Hauptstadt, aber auch verschlossen: Man konnte dort nur dann arbeiten, wenn man Bewohner der Stadt war oder eine Genehmigung einer Komsomol-Organisation hatte, die den Neuankömmling dann mit einer Wohnung zu versorgen hatte. Mein Vater erhielt beim Komsomol eine Absage und musste sich mit Hilfe von Schmiergeldern eine Meldebescheinigung in Minsk besorgen. Danach erst konnte er eine Stelle als Fotokorrespondent antreten.
Als er seine Arbeit begann, war die Zeit von Perestroika und Glasnost schon angebrochen. Allerdings war es noch zu früh, von Meinungsfreiheit zu sprechen. Alle Zeitungen befanden sich im Besitz des Staates und unterlagen der Zensur. Man konnte nicht einfach mit einer Geschichte über Wohnungsprobleme von Arbeitern oder zu wenig Schuhen in den Geschäften kommen. Solche Berichte mussten mit den Gremien der Kommunistischen Partei abgesprochen werden, was nicht immer gelang. Mitunter konnte man sich selbst bei einem ideologisch abgesicherten Thema eine Rüge der Parteileitung einhandeln. Ich erinnere mich, wie mein Vater zum Gespräch mit den Parteibürokraten vorgeladen wurde. Und zwar wegen eines Fotos von den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai, auf dem ein mit Orden dekorierter Veteran zu sehen war, der Bier trank. Diese Aufnahme passte einfach nicht zum Bild des Siegers in der staatlichen Propaganda.
Ihr Vater hat auch die menschlichen Folgen von Tschernobyl in den Vordergrund seiner Arbeit gestellt. War es damals womöglich etwas Neues, die Menschen als Individuen zu sehen?
Mein Vater war ein logisch denkender Mensch und er verstand sehr wohl die Dimensionen der Tragödie, die die Republik ereilt hatte. Für ihn war das keine Katastrophe aus technischem Versagen, sondern ein menschliches Drama. Er hatte einen beträchtlichen Teil seines Lebens auf dem Land gelebt und kannte die Psychologie der Menschen dort recht gut. In Belarus waren [von Tschernobyl] vor allem Dörfer und ihre Bewohner betroffen. Das Schicksal wollte es, dass ihm gerade in dieser Zeit klar wurde, dass die Fotografie seine Berufung ist. Er verstand die Tragödie der Menschen, und er hatte die Möglichkeit, dieses Thema mit seinen Fotos zu bearbeiten, weil er damals einen Ausweis als sowjetischer Fotokorrespondent in der Tasche hatte. Als Anhänger humanistischer Fotografie hat er dieses Thema einfach aufgreifen müssen.
War Ihr Vater jemand, der die Unabhängigkeit von Belarus unterstützt hat?
Natürlich hatte er seine Meinung zu den Ereignissen, die er fotografierte. Er war ein Verfechter der belarussischen Unabhängigkeit und dachte, dass nur die Bürger des eigenen Landes es zu einem prosperierenden Staat aufbauen können. Diese Ansicht mag vielleicht etwas naiv erscheinen, aber bei der Wahl zwischen Romantik und Pragmatismus hat er sich für das Erstere entschieden. Bei der Präsidentschaftswahl 1994 gab er seine Stimme Stanislaw Schuschkewitsch; er dachte, dass nur ein kluger und anständiger Mensch das Land lenken sollte. Die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2001 hat er nicht mehr erlebt, war aber überzeugt, dass Lukaschenko entweder die Wahl verliert oder nach seiner zweiten Amtszeit abtritt. Die Wirklichkeit zeigt, dass es für den Willen zu herrschen keine Grenzen des Anstands gibt.
Wurden Sie durch Ihren Vater dazu inspiriert, selbst als Fotograf festzuhalten, wie die Belarussen auch unter Lukaschenko für ihre politische Emanzipation gekämpft haben?
Die Fotografien meines Vaters waren für mich ein Geschichtslehrbuch, in dem es keine Propaganda gab. In den Archiven befindet sich nicht nur eine Auswahl seiner besten Fotografien, sondern auch Arbeiten, durch die man verstehen kann, was während der Perestroika und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit tatsächlich vor sich ging. Im Grunde war sein Archiv eine Art Grundlage für meine Entwicklung, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch. Die Fotografien an sich geben noch keine direkte Antwort darauf, was gut und was schlecht ist. Sie bringen einen aber dazu, Fragen zu stellen und die Antworten in sich selbst zu suchen.
Was haben Sie sonst von Ihrem Vater für die Arbeit als Fotograf gelernt?
Ich erinnere mich an zwei Regeln meines Vaters, die ich auch bei meiner Arbeit zu beherzigen versuche. Erstens: Bei der Arbeit muss man einen kühlen Kopf bewahren, aber das Herz sprechen lassen – auf keinen Fall umgekehrt. Das hat mir geholfen, in den schwierigsten Situationen von 2020 zu überleben. Als ich nämlich nicht nur die dramatischen Ereignisse um mich herum fotografieren wollte, sondern auch sehen musste, wie ich mit meiner Ausrüstung heil aus den Demonstrationen in der Stadt herauskomme; die glichen eher Kämpfen, bei denen auch Jagd auf Journalisten und ihre Fotoausrüstungen gemacht wurde. Die zweite Regel lautete: Fotografiere die Gerüche. Damit die Bilder nach Gefühlen riechen, nach Freiheit, Angst oder nach Hoffnung.
links: John Lennon-Mauer – eine öffentliche Gedenkstätte, die von Fans des Musikers errichtet wurde. Sie war Teil des Bauzauns am Palast der Republik. In Minsk, Platz des Oktober, 1990 / rechts: Teenager, 1992 / Fotos © Sergej Bruschko
Kontaktabzüge von einigen Fotos, ausgewählt von Sergej Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko
Juri Martynow, Inspektor für Jugendangelegenheiten der Polizeidirektion des Moskauer Bezirks in Minsk bei einem Rundgang durch seinen Bezirk, Februar 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Eine Schlange nach Milchprodukten. Minsk, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
Eine Schlange nach Zigaretten an einem Zeitungskiosk. Rogatschow, 1990 / Foto © Sergej Bruschko
Im Zentrum von Aschmjany, 1989 / Foto © Sergej Bruschko
Streik von Minsker Fabrikarbeitern auf dem Lenin Platz gegen den starken Preisanstieg, organisiert von Gewerkschaften. Minsk, April 1991 / Foto © Sergej Bruschko
Kundgebung der Partei BNF vor dem KGB-Gebäude anlässlich des Jahrestages der Hinrichtung belarussischer Schriftsteller im Jahr 1937. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Frauen-Strafkolonie in Gomel, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
Das erste Treffen eines Häftlings in der Strafkolonie Mogiljow mit seinem Sohn. Mogiljow, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
Aufnahmezentrum für jugendliche Straftäter. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Einberufung und Musterung neuer Rekruten. Militärkommissariat der Oblast Minsk, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
Ein Fahrer sammelt in einer Pfütze Wasser, um damit den Kühler seines LKW zu befüllen. Bezirk Slawgorod, 1994 / Foto © Sergej Bruschko
Der alleinerziehende Vater Alexander Kalitenja und seine fünf Kinder. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Sommerliche Torfbrände in der Nähe von Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Umsiedlung von Einwohnern aus dem strahlenverseuchten Dorf Weprin, Bezirk Tscherikow, Oblast Mogiljow, April 1990 / Foto © Sergej Bruschko
Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
Kontaktabzüge von der besten Fotos, ausgewählt von Sergei Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko
Fotos: Sergej Bruschko
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Ingo Petz
Übersetzung: Hartmut Schröder
Veröffentlicht am: 04.10.2022Weitere Themen
Bystro #24: Wie wird der Tag des Sieges in Belarus gefeiert?
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Kaljady
In Belarus wird das katholische und orthodoxe Weihnachten gefeiert, dazu das aus der Sowjetunion stammende Neujahr und: Kaljady. In dieser kurzen Gnose erklären wir, was es mit diesem archaischen Weihnachtsfest auf sich hat und woher es stammt.
Als Kaljady (каляды) wird in Belarus und bei anderen slawischen Völkern die Zeit zwischen dem 25. Dezember und 6. Januar (und nach orthodoxem Ritus bis zum 19. Januar) bezeichnet, in der sich heidnische und christliche Rituale und Glaubensvorstellungen zu einer besonderen Art des Weihnachtsfestes vermengt haben.
Die Festtage liegen in der Regel zwischen der Geburt Christi (25. Dezember) und der Taufe Christi (6. Januar). Ursprünglich gehen sie auf die Wintersonnenwende zurück, die Tage nach dem 21. Dezember also, wenn die Tage wieder merklich länger werden. In dieser Zeit sollen böse Geister durch fröhliche Lieder vertrieben werden. Dazu verkleiden sich die Menschen: als kasa (Ziege), ein Symbol der Fruchtbarkeit, als baba (Großmutter) oder dsed (Großvater), die für die verstorbenen Vorfahren stehen, als Soldat, ein Symbol für das bösmächtige und geheimnisvolle Fremde, als tschort (Teufel), der übermächtige Kräfte verkörpert, oder als wouk (Wolf), der in archaischen Vorstellungen als Entführer von Mädchen und jungen Frauen gilt. Es werden Symbole von Sonne und Sternen an Stöcken getragen. Man trägt nicht nur Kostüme und Masken, sondern auch traditionelle belarussische Kleidung.
So gehen die festlichen Gesellschaften in den Dörfern von Haus zu Haus, häufig begleitet von Musikern, die auf traditionellen Instrumenten den Umzug auf das Fest einstimmen. Man singt Lieder zusammen, tanzt und isst zusammen bestimmte Speisen. Darunter vor allem kuzzja (куцця), eine süße Getreidespeise mit Honig, Nüssen, Rosinen oder Mohn, deren Verzehr Glück, Hoffnung und Unsterblichkeit bringen, die auch das familiäre Wohlbefinden stärken soll und die es in unterschiedlichen regionalen Versionen gibt. Da die Speise rund ist, steckt in ihr symbolhaft eine der Erklärungen für die etymologische Herkunft des Wortes kaljady. Als kola wird in ostslawischen Sprachen das Rad oder der Kreis bezeichnet. In diesem Sinne könnte kuzzja ein Symbol für die Sonne sein und kaljady in archaischer Vorstellung damit als ein Fest für das wiederkehrende Leben verstanden worden sein. Aber in Bezug auf die Etymologie gibt es keine eindeutige Erklärung. Einig ist sich die Wissenschaft lediglich darüber, dass das Wort aus vorchristlicher und womöglich sogar aus vorslawischer Zeit stammt, als der Beginn eines neuen Jahres mit den wieder länger werdenden Tagen gefeiert und entsprechend ritualisiert wurde.
In zahlreichen Regionen von Belarus sind die Kaljady-Rituale bis heute in variierenden Ausformungen lebendig. In dem Dorf Semeshawa beispielsweise stehen die Kaljady-Zaren im Mittelpunkt eines Schauspiels, an dem dutzende Dorfbewohner und Laienschauspieler teilnehmen. Dabei stürmen die Weihnachtssoldaten die Dorfhäuser, führen karnevaleske Tänze und Clownereien auf, was in der Vorstellung der Bewohner Glück, Harmonie und Wohlstand für das kommende Jahr versprechen soll. Das außergewöhnliche Ritual wurde 2009 sogar in die UNESCO-Liste des dringend zu schützenden immateriellen Kulturerbes aufgenommen.
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Von Sumpfgeistern und Waldwesen
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Editorial: dekoder entschlüsselt Belarus! Dafür brauchen wir Euch!
200 Tage Protest: Seit dem 9. August 2020 protestieren die Belarussen für Neuwahlen und ihre Grundrechte. Derzeit vor allem in Mini-flashmobs, bei Abendspaziergängen in kleinen Gruppen … Die großen Straßenproteste sind mittlerweile verschwunden, was vor allem an den massiven Repressionen liegen dürfte, mit denen der Machtapparat Lukaschenkos gegen jeglichen Widerstand vorgeht. Sei es gegen Journalistinnen wie beispielsweise Kazjaryna Andrejewa und Darja Tschulzowa, die kürzlich zu zwei Jahren Haft verurteilt wurden. (Sie hatten ein Live-Streaming eingerichtet von einer Gedenkveranstaltung für Roman Bondarenko, der am 11. November 2020 von maskierten Männern in einem Minsker Hinterhof zusammengeschlagen worden war und schließlich seinen Verletzungen erlag.) Sei es gegen Oppositionspolitiker wie Viktor Babariko, der bei der Präsidentschaftswahl gegen Lukaschenko antreten wollte, aktuell vor Gericht steht und dem 15 Jahre Haft drohen. Sei es gegen Musiker wie denen von der Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies), die für ein Privatkonzert 15 Tage Haft aufgebrummt bekamen. Sei es gegen jegliche Graffiti oder Symbolik des Protests. Die 75-jährige Iraida Misko beispielsweise erhielt eine Geldstrafe von 175 Euro, weil sie an einer „nicht genehmigten Kundgebung“ teilgenommen haben soll. Als Beweis präsentierten die Justizbehörden ein Foto von Iraida Misko, auf dem sie ein weiß-rot-weißes Lokum, eine Süßigkeit, in der Hand hält.
Menschenrechtsorganisationen wie Libereco haben ermittelt, dass seit Beginn der Proteste über 33.000 Menschen inhaftiert wurden. 266 werden aktuell als politische Gefangene geführt. 2020 wurden 477 Journalisten festgenommen. Es wurden über 1000 Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert. Der Politologe Waleri Karbalewitsch analysiert, dass sich Belarus aktuell in einer tiefen politischen Krise befindet, für deren Lösung das Regime nur eine Antwort hat: Gewalt und Repressionen. Er schreibt: „Der Kult der rohen Gewalt charakterisiert sehr gut das Unvermögen des herrschenden Regimes, sich an die neue Realität anzupassen. Das Regime hat kein Narrativ für die Zukunft, außer der Erhaltung des Status quo, der auf Angst und Gewalt beruht.“ Wie es weitergeht, ist aktuell schwer zu sagen.
Aus Anlass des 200. Protesttages lassen wir die Vielfalt und Höhepunkte der Protestkultur in einem visuellen Rückblick Revue passieren. Es sind zweifelsohne Ausformungen eines historischen Selbstermächtigungsprozesses, mit dem die Belarussen nicht nur sich selbst, sondern auch die internationale Staatenwelt überrascht haben. Sie zeigen, dass die Sehnsucht der Belarussen nach Wandel nicht nur lange unterschätzt wurde, sondern auch, dass wir mehr auf dieses Land schauen müssen, dass wir Wissen brauchen, um entsprechende kulturelle und gesellschaftspolitische Codes und Entwicklungen entziffern und verstehen zu können.
Deswegen haben wir im November 2020 mit unserem Projekt begonnen: Belarus zu entschlüsseln, mit originären Texten, die wir dem deutschen Leser zugänglich machen. Dabei geht es nicht nur um die aktuelle Politik, sondern wir unternehmen auch Ausflüge in die Literaturgeschichte – wie bei der Gnose über Janka Kupala – oder in die belarussische Staatswirtschaft.
Wir haben viele Glückwünsche und Lobesbekundigungen zum Start des Projekts erhalten. Sonja Zekri hat uns in der Süddeutschen Zeitung wärmstens empfohlen, das Medienmagazin des Bayerischen Rundfunks berichtete ebenfalls. Seit Anfang Januar hat sich neben der S. Fischer Stiftung und der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. auch ein neuer Förderer zu uns hinzugesellt, worüber wir uns außerordentlich freuen: Das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) wird in Kooperation mit dekoder die wissenschaftliche Begleitung und Fundierung des Projektes unterstützen. So können wir beispielsweise unser Gnosen-Programm zu Belarus entsprechend ausbauen und vertiefen – mit Jakob Reuster als Gnosenredakteur auf unserer Seite.Wir leisten Pionierarbeit. Damit wir das Projekt „Belarus entschlüsseln“ aber insgesamt auf solide Beine stellen können, die eine Langfristigkeit garantieren, brauchen wir vor allem Eure und Ihre geschätzte Unterstützung. Im Belarussischen nennt man solch eine kollektive Untersützungsleistung talaka. Früher kam sie zum Tragen, wenn etwa die Scheune eines Bauern abgebrannt war und die Dorfbewohner halfen, sie zu reparieren oder neu zu errichten. Bei uns ist glücklicherweise nichts abgebrannt, wir wollen etwas aufbauen. Deswegen werden wir in den kommenden Wochen über die sozialen Medien mit einer speziellen Spenden- und Unterstützungskampagne auf den Belarus-dekoder aufmerksam machen. Helft uns dabei! Reicht uns weiter, schreibt und erzählt von uns, und verschenkt eine Klub-Mitgliedschaft, oder gerne auch zwei.
Die ersten 15 eingehenden Spenden, die uns aufgrund – sagen wir – ihrer durchschlagenden Überzeugungskraft fröhlich und freudig stimmen, erhalten als kleines Dankeschön die CD The Red Book of Belarusian Music. Dabei handelt es sich um die erste Compilation belarussischer Musik, die im deutschsprachigen Raum erschienen ist. Und zwar im Jahr 2006, als die Machthaber in Belarus gegen Musiker und Band vorgegangen sind: ein wirklich historisches Kulturstück also, das eigentlich längst nicht mehr erhältlich ist.
Für eure Unterstützung und Hilfe sagen wir jetzt schon: Danke und dzjakuj!
Euer Ingo
Belarus-RedakteurWeitere Themen
Editorial: Unser erstes jubilej – wir sind jetzt 5!
Editorial: Was hat der Hieronymus-Tag in diesem Jahr mit Belarus zu tun?
Die Vielheit – ein Editorial zum 3. Oktober
Editorial: Warum wir nun auch Belarus entschlüsseln
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Bystro #21: Volksversammlung in Belarus – Demokratie oder Maskerade?
Minsk ist aktuell in ein rot-grünes Farben- und Flaggenmeer getaucht. Am morgigen Donnerstag, 11. Februar, beginnt in der belarussischen Hauptstadt die Allbelarussische Volksversammlung (russ. Wsebelorusskoje narodnoje sobranije). Alexander Lukaschenko hat ein solches Forum schon Mitte August in Aussicht gestellt, als die Protestwelle nach dem 9. August 2020 ihren Höhepunkt erreichte. An zwei Tagen werden 2700 Delegierte über Fragen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik debattieren. Angeblich sollen auch Vorschläge zur Verfassungsreform vorgestellt werden. Wie legitim ist diese Versammlung? Wer genau nimmt daran teil? Was hält die Opposition von der Veranstaltung? Ein Bystro von Ingo Petz in fünf Fragen und Antworten.
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1. Was genau ist die Allbelarussische Volksversammlung?
Die Allbelarussische Volksversammlung wurde 1996 von Alexander Lukaschenko per Präsidialerlass ins Leben gerufen. Sie findet seitdem alle fünf Jahre statt. Die Delegierten, die aus allen Landesteilen stammen, sowie aus Verwaltung, Politik, Wirtschaft, Bildungswesen oder Kirche, haben in der Vergangenheit vor allem wirtschaftliche Entwicklungsfragen debattiert. Dabei wurden auch Kernziele für die jeweils nächsten fünf Jahre festgelegt, was an die Fünfjahrespläne der Sowjetunion erinnert, wie auch die ganze Aufmachung und Ästhetik an Parteitage der KPdSU erinnert. Entsprechend bezichtigen Kritiker die Veranstaltung als „Theater“ oder „Show von Lukaschenko“. Vertreter des Machtapparats halten die Versammlung dagegen für ein „demokratisches Forum“. Man kann sagen, dass es für Lukaschenko in seiner Vorstellung als „Landesvater“ ein wichtiges Legitimationsinstrument seiner Macht ist.
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2. Wie läuft die Auswahl der Delegierten?
Der Präsidialerlass (ukas) Nummer 492, mit dem Lukaschenko am 28. Dezember 2020 die Organisation der Versammlung veranlasst hat, gibt vor, dass die Abgeordneten von den Bezirks- und Stadträten in den sechs Oblasts des Landes nominiert werden. Dabei sollen sie ein möglichst breites Spektrum unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche abdecken. Jeder Oblast entsendet 310 Personen. Aus Minsk sollen nicht mehr als 370 Personen teilnehmen. Nach welchen Kriterien ausgewählt wird, ist allerdings völlig unklar. Der Prozess an sich ist höchst intransparent. Er wird zudem von der Präsidialverwaltung geleitet, also dem Kontrollinstrument der Machtvertikalen. Auf Grund der Erfahrung in der Vergangenheit kann man sagen, dass die Versammlung fast ausschließlich mit Pro-Lukaschenko-Leuten besetzt wird. Bei vergangenen Versammlungen gab es immer wieder Versuche von Oppositionellen, eine Teilnahme durchzusetzen. So 2006: Als der Präsidentschaftskandidat Alexander Kosulin Einlass begehrte, wurde er am Ort der Versammlung von der Miliz brutal zusammengeschlagen.
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3. Wie verbindlich sind die Entscheidungen der Volksversammlung?
Die Beschlüsse der Versammlung werden in Form von Resolutionen, also von Empfehlungen verfasst. Bedeutet: Es obliegt dem Ermessen von Lukaschenko, diese Empfehlungen an bestimmte Ausschüsse im Parlament oder an andere Gremien und Verwaltungsorgane weiterzugeben. Juristen wie Michail Kiriljuk halten die Versammlung grundsätzlich sogar für verfassungswidrig, weil sie als Organ oder Gremium in der Verfassung nicht erwähnt und eben nur über den Präsidialerlass geregelt sei. Auch deswegen sind Zweifel und Skepsis angebracht, ob die angekündigten Vorschläge zur Verfassungsreform – die eine Einschränkung der Vollmachten des Präsidenten und die Stärkung von Parlament und Regierung vorsehen sollen – je umgesetzt werden. Man kann aber auch annehmen, dass sie wohl kaum große Überraschungen liefern werden, in dem Sinne, dass man möglicherweise versucht, die Macht Lukaschenkos tatsächlich einzuhegen.
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4. Welchen Sinn hat die aktuelle Versammlung in Anbetracht der politischen Krise im Land?
Gute Frage, über die man nur spekulieren kann. Die Versammlung findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich das Land offensichtlich in einer tiefen Krise befindet. Allerdings kann man sagen, dass Lukaschenko wohl davon ausgeht, dass er die Proteste besiegt hat. Demzufolge dürfte die Versammlung eine Art Versuch sein, die aktuellen Machthaber – die allein durch ihr brutales Vorgehen eigentlich jegliche Legitimation verloren haben – weiter zu legitimieren und ihnen mit Hilfe einer Propagandashow den Rücken zu stärken. Was durchaus Sinn macht in der Logik Lukaschenkos, der sich für den einzigen potenten Garanten der belarussischen Souveränität hält. Auf der Versammlung werden wohl auch deshalb Leute wie Wadim Gigin sprechen. Er ist Dekan der Fakultät für Philosophie und soziale Wissenschaften der Belarussischen staatlichen Universität. Ein rhetorisch versierter Redner und Vertreter des Systems Lukaschenko, der aber zumindest für Teile der Öffentlichkeit eine Art Scharnierfunktion einnimmt und nicht unbedingt als Hardliner gesehen wird.
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5. Was sagt die belarussische Opposition zu der Versammlung?
Die Demokratiebewegung lehnt die Versammlung weitgehend ab. Franak Wetschorka, Berater der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, beispielsweise hält das Gremium für einen „Festtag für Beamte und Komplizen des Regimes“, wo alle Probleme schon gelöst seien. Pawel Latuschko, der wie viele andere Mitglieder des oppositionellen Koordinationsrates ins Ausland fliehen musste, hat angekündigt, alle Namen der „Marionettendelegierten“ identifizieren zu wollen, um sich bei der EU dafür einzusetzen, sie auf die aktuelle Sanktionsliste zu setzen. Ob es zu größeren Protesten während der Versammlung in Minsk kommt, darf allerdings bezweifelt werden, da die Hauptstadt aktuell einer von OMON und Miliz bewachten Festung gleicht.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Ingo Petz
Stand: 10. Februar 2021Weitere Themen
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Bystro #19: Wie frei sind die Medien in Belarus?
Journalisten in Belarus leben gefährlich. Vor allem seit dem Beginn der Proteste am 9. August 2020 sind sie fast täglich staatlichen Repressionen ausgesetzt. Auch Festnahmen gehören zum Alltag.
Wie aber sieht die belarussische Medienlandschaft aus? Wie frei können Medien berichten? Woher beziehen die Menschen ihre Informationen? Und sprechen belarussische Medien immer nur po-russki? Ein Bystro von Ingo Petz in neun Fragen und Antworten – einfach durchklicken.
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1. Wie sieht die belarussische Medienlandschaft generell aus?
Die ist zumindest auf dem Papier recht breit gefächert. Das Fernsehen spielt dabei immer noch eine wichtige Rolle, wird aber immer mehr von Internetmedien und seit vergangenem Jahr zunehmend von Messenger-Diensten abgelöst. Die Rolle von Radio und gedruckten Medien nimmt – wie in den meisten Ländern – deutlich ab. Die wichtige Unterscheidung für Belarus liegt darin, ob die Medien unabhängig oder staatlich sind. Dabei bedeutet staatlich nicht öffentlich-rechtlich. Das heißt: Gerade die wichtigsten TV-Sender oder -Unternehmen wie ONT, BT oder CTV gehören direkt dem Staat oder Holdings, an denen Ministerien oder andere staatliche Strukturen beteiligt sind. Diese Medien werden aus dem Staatshaushalt finanziert. Die Präsidialverwaltung oder das Informationsministerium haben mitunter direkten Einfluss auf die Zusammensetzung der Redaktionen und vor allem auf die politische Berichterstattung, die in erster Linie für Propagandazwecke genutzt wird.
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2. Gibt es überhaupt unabhängige Medien?
Was heißt „unabhängig“? Natürlich gibt es privatwirtschaftlich finanzierte Medien – als Fernsehen, Radio, Zeitung oder Zeitschrift, und vor allem im Internet; nicht alle, aber viele davon sind auch inhaltlich unabhängig. Eine echte Unabhängigkeit ist in autoritären Staaten eh nur schwer umzusetzen, wenn bei heiklen Themen Gefängnis oder Geldstrafen drohen. Stichwort: Selbstzensur. Zudem arbeiten sogenannte oppositionelle Medien nicht unbedingt nach journalistischen Standards, sondern betreiben nicht selten eine Art Gegenpropaganda. Dennoch ist die kritische journalistische Berichterstattung in den vergangene Jahren deutlich professioneller geworden. Und das, obwohl die Medien einer restriktiven Registrierungsregelung unterliegen. Damit Medien arbeiten können, müssen sie sich nämlich beim Informationsministerium anmelden. Diese Registrierungspflicht ist ein mächtiger Kontrollmechanismus für die autoritäre Staatsführung. Unter den sogenannten (finanziell) unabhängigen Medien befinden sich aber vor allem TV-Unterhaltungsprogramme, kommerzielle Radiosender, Tierzeitschriften, Tourismusportale oder sonstige unverfängliche Formate.
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3. Aus welchen Medien holen sich die Belarussen ihre Informationen?
Vor allem aus dem Fernsehen und aus dem Internet. Die ältere Generation guckt laut Umfragen immer noch sehr viel Fernsehen. Dabei sind die populärsten Informationskanäle ONT, RTR Belarus, Belarus 1, NTV Belarus, Belarus 2 oder CTV staatlich und somit Teil der offiziellen Propaganda. 60 bis 74 Prozent der Belarussen informieren sich Umfragen zufolge auch im Netz. Online haben die unabhängigen Medien eine wesentlich stärkere Präsenz als offline. Unter den Top Ten der wichtigsten Online-Informationsportale finden sich mit tut.by, Naviny, Belsat, CityDog und The Village Belarus vor allem kritische, journalistische Formate, zu deren Nutzern hauptsächlich jüngere und mittelalte Menschen gehören. Je jünger die Menschen also sind, desto weniger nutzen sie die klassischen Medien wie Fernsehen oder Zeitungen, und: Je jünger sie sind, desto weniger vertrauen sie laut Meinungsumfragen staatsnahen Medien und Informationsportalen.
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4. Welche Bedeutung haben die russischen Staatsmedien in Belarus?
Zentrale Programme des russischen Staatsfernsehens sind in Belarus Teil des landesweit empfangbaren Fernsehens. Teilweise werden die Inhalte eins zu eins übernommen, teilweise für das belarussische Publikum anders zusammengestellt, wie bei den Sendern NTW und RTR Belarus. Der Sender ONT ist eine Art belarussisch-russisches Joint Venture, das Inhalte der russischen Sender Perwy Kanal oder Wremja nutzt. ONT und RTR Belarus gehören zu den reichweitenstärksten Kanälen des Landes: Damit finden die Sichtweisen des Kreml in Belarus eine weite Verbreitung. Die belarussischen Ableger der Zeitungen Komsomolskaja Prawda und Argumenty i Fakty gehören zudem zu den meistgelesenen Zeitungen. Und Sputnik.by – Teil der gleichnamigen staatlichen russischen Nachrichtenagentur – ist eines der populärsten Internetmedien in Belarus. Hinzu kommt die Kreml-Finanzierung von deutlich prorussischen Portalen im Internet. Russland hat also grundsätzlich einen großen Einfluss auf die Meinungsbildung in Belarus.
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5. Wie frei können unabhängige journalistische Medien arbeiten?
Als Alexander Lukaschenko 1994 an die Macht gekommen ist, hat er sofort damit begonnen, die unabhängige Presse an die Kandare zu nehmen. Zunächst wurden Zeitungen und Zeitschriften über findige Rechtswege verboten, Journalisten festgenommen und mit Geld- oder Gefängnisstrafen belegt. Die Zensur war indirekt: über fingierte Vorwürfe und Anklagen wegen angeblicher Steuerhinterziehung. Die Methode wird auch aktuell angewandt: Wie beispielsweise bei der Initiative Press Club Belarus, deren führende Koordinatoren im Dezember 2020 aufgrund angeblicher Steuerhinterziehung festgenommen wurden.
Zudem gibt es mittlerweile sehr viele Gesetze, die nur den Sinn haben, die Arbeit von Journalisten und Medien zu behindern. Während der aktuellen Proteste sind Journalisten direktes Ziel von OMON und Spezialeinheiten: Seit August 2020 gab es fast 400 Festnahmen von Journalisten. Internetseiten werden blockiert und gestört, bei investigativen Beiträgen spricht das Informationsministerium Warnungen gegen Medien aus, was zur Schließung führen kann. Reporter ohne Grenzen führt Belarus auf Platz 153 im aktuellen Index für Pressefreiheit. -
6. In welcher Sprache senden und veröffentlichen die Medien in Belarus?
Überwiegend auf Russisch. Es gibt Medien, die beide Sprachen – also Russisch und Belarussisch – nutzen. Wie beispielsweise die unabhängige Zeitung Narodnaja Wolja (dt. Volkswille), die älteste, noch als klassisches Druckerzeugnis erscheinende sogenannte Oppositionszeitung. Aber auch Internetmedien für ein jüngeres Publikum wie 34Mag, CityDog oder The Village Belarus nutzen dieses sprachliche Zwitterformat. Selbst die älteste belarussische Zeitung Nasha Niva, die allerdings nicht mehr als gedruckte Zeitung erscheint, veröffentlicht ausgewählte Beiträge seit ein paar Jahren auch in einer russischen Übersetzung. Nur der in Prag ansässige Sender Radio Svaboda, der von Geldern der US-Regierung finanziert wird, oder das Internetmedium Novy Chas publizieren auschließlich auf Belarussisch. Die Internetseite des in Warschau ansässigen Senders Belsat, den vor allem der polnische Steuerzahler finanziert, gibt es auf Russisch und auf Belarussisch. Im Fernsehen von Belsat sprechen zumindest Moderatoren nur Belarussisch; im belarussischen Staatsfernsehen wird fast durchgehend Russisch gesprochen, und im staatlichen Radio teilweise auch Belarussisch.
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7. Welche Rolle spielen die jungen Nischenmedien im Internet?
Unabhängige Medien wie 34Mag, CityDog oder Kyky haben in den vergangenen 15 Jahren sowohl zur Diversifizierung und Professionalisierung des belarussischen Journalismus beigetragen als auch zu einer Professionalisierung des Medienmanagements. Das zeigt, dass man mit Nischenmedien auch unter schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen eine nachhaltige Entwicklung erreichen kann. Allein das Stadtmagazin CityDog hat pro Monat laut eigenen Angaben über 650.000 Nutzer. Hinsichtlich gesellschaftspolitisch relevanter Informationsaufbereitung darf man diese Medien nicht über-, aber auch nicht unterschätzen: Schließlich liefern sie den Echo- und Reflexionsraum für die Selbstentfaltungs- und Freiheitssehnsucht junger Menschen, die autoritären Systemen grundsätzlich ein Dorn im Auge ist. Zudem zeigen diese Medien einen generellen Trend: Gerade im Internet sind in den vergangenen Jahren auch zahlreiche neue, auch lokale Medien entstanden, wie beispielsweise das Portal Hrodna.Life. Diese jungen Medien setzen auf eine enge regionale Bindung zu ihrem Publikum.
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8. Haben die aktuellen Proteste die belarussische Medienlandschaft und die Mediennutzung verändert?
Infolge der Proteste, aber auch infolge der Coronakrise, die der belarussische Staat miserabel managt, lassen sich ein paar Trends ausmachen: Die staatlichen Medien haben Umfragen und Analysen zufolge grundsätzlich einen massiven Vertrauensverlust erlitten. Die Leute machen sich auf die Suche nach alternativen Informationsmöglichkeiten, vor allem im Internet, was den unabhängigen Informationsmedien und journalistischen Kanälen zugute kommt. Die deutlich gestiegene Politisierung in der Gesellschaft führt unter anderem dazu, dass auch Sport- oder Lifestyle-Medien nun gesellschaftspolitische Beiträge liefern. Trotz der gezielten Attacken und Repressionen leisten Journalisten und Medien weiterhin eine Arbeit auf hohem journalistischen Niveau. Zudem scheint die in autoritären Systemen bei unabhängigen Journalisten stark verankerte Selbstzensur im Moment kaum noch eine große Rolle zu spielen.
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9. Kann man in Bezug auf die Proteste von einer Telegram-Revolution sprechen?
Der Messenger-Dienst Telegram spielt aufgrund seiner Verschlüsselungstechnik sicherlich eine sehr große Rolle bei den Ereignissen in Belarus, vergleichbar zu den sozialen Medien während des Arabischen Frühlings. Journalistische Medien betreiben längst alle ihre eigenen Telegram-Kanäle. Zudem findet man dort Kanäle von Initiativen, Organisationen oder Fachexperten, die der Informationsverbreitung und Meinungsbildung dienen. Vor allem für die visuelle Abbildung der Proteste und der Verbreitung von Videos hat der von Exil-Belarussen aus Polen betriebene Kanal Nexta eine gewaltige Bedeutung. Da ausländische Korrespondenten so gut wie gar nicht vor Ort sind, der Staat belarussischen Korrespondenten ausländischer Medien die Akkreditierung entzogen hat und die Arbeit vor Ort grundsätzlich schwierig ist, fehlen häufig visuelle Eindrücke. Vor allem diese Funktion übernimmt Nexta. Der Kanal hat über 1,7 Millionen Abonnenten. Insgesamt kann man sagen: Ohne Telegram wüssten die Belarussen und auch die Menschen in Westeuropa sicherlich wesentlich weniger über die Vorgänge in Belarus.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Ingo Petz
Stand: 12. Januar 2021Weitere Themen
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Editorial: Warum wir nun auch Belarus entschlüsseln
Foto © Vola Kuzmich/«Support Belarus» Art-action
Seien wir ehrlich: Wir wissen kaum etwas über Belarus. Ich selbst bin 1995 als Student der Osteuropäischen Geschichte und Slawistik zum ersten Mal nach Belarus gereist. Ein Land, von dem ich keinen blassen Schimmer hatte. Überhaupt gab es nur wenige Informationen, die über die üblichen Formeln wie beispielsweise „Freilichtmuseum des Sozialismus“ oder später „die letzte Diktatur Europas“ hinausgingen. Exemplarische Geschichten und Tiefenwissen, die die komplexen kulturhistorischen Verwerfungen dieses faszinierenden Kulturraums sichtbar machen, erzählen, seine quicklebendige zeitgenössische Musik-, Literatur- und Kunstszene erklären, oder eben das über Jahrhunderte eingeübte Ertragen von autoritären Herrschern. Wer von uns hat in der Schule schon gelernt, dass das Magdeburger Stadtrecht auch im belarussischen Kulturraum galt oder dass sich die Geschichte vieler berühmter Juden, die als Warner Bros. oder als israelische Präsidenten Karriere machten, dorthin zurückverfolgen lässt? Und wer hat schon davon gehört, dass es im Belarussischen solche wunderbaren Wörter wie schtschymliwa (шчымліва) gibt, die einen schönen Herzschmerz beschreiben?
Das Land zwischen Warschau und Moskau bietet viele solcher Überraschungen. Über die Jahre der Beschäftigung mit diesem Land ist in mir die Überzeugung gereift, dass Europa nur zusammenwachsen kann, wenn wir uns öffnen und wenn wir nicht nur übereinander lernen wollen, sondern vor allem voneinander. Das hilft nicht nur gegen ermüdende Stereotype und gefährliche Propaganda. Gut recherchierte und aufbereitete Informationen sind die Basis unseres demokratischen Zusammenlebens.
Seit über drei Monaten protestieren die Belarussen gegen den Machthaber, der das Land seit 1994 mit harter Hand regiert. Nicht nur den autoritären Strukturen scheint entgangen zu sein, dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert hat und nun einen politischen Wandel einfordert. Von diesem schleichenden Wandlungsprozess haben auch in der EU und in Deutschland wohl nur die wenigsten etwas geahnt. Dass er sich in diesem Jahr auf eine derartig überwältigende, friedliche und kreative Art und Weise seinen Weg bahnen würde, hat wohl überhaupt niemand geahnt. Die Belarussen, die als duldsam und unpolitisch gelten, haben die Welt überrascht – und sich selbst. Noch 2010 sagte mir der Schriftsteller Viktor Martinowitsch: „Es ist nicht so, dass die Belarussen gar keine Veränderung wollten. Sie haben nur einfach Angst davor, die Quelle der Veränderung zu sein. Denn viele kennen all die Geschichten von denen, die politische Wechsel initiiert haben und vom Staat grausam bestraft wurden. Aber wenn wir wirkliche Bürger werden wollen, müssen wir das endlich lernen.“
Offensichtlich sind die Belarussen nun bereit, wirkliche Bürger zu werden. Ein Wandel ist im Gange, dessen politischer Ausgang noch in den Sternen steht. Dennoch dürfte klar sein, dass es sich um einen tiefgreifenden Wandel handelt, der das Land schon heute verändert.
dekoder begleitet die Ereignisse in Belarus bereits seit August mit eigenen Übersetzungen. Aber wir haben beschlossen, das Dossier Werym, Mosham, Peramosham: Proteste in Belarus auch strukturell zu verankern und künftig auszubauen. Die Interviews, Essays, Reportagen oder Erklärstücke, die wir übersetzen und nach dekoder-Art journalistisch und wissenschaftlich kontextualisieren, stammen aus unabhängigen belarussischen Medien, die in den vergangenen Jahren ein hohes Niveau an Professionalität und thematischer Diversität erreicht haben. Diesem Pluralismus wollen wir eine Stimme geben. Zudem werden bekannte Wissenschaftler und Fachexperten im Textformat der Gnose landestypische Phänomene und Entwicklungen erklären – und es geht auch darum, die Ereignisse aus einer wissenschaftlichen Metaperspektive einzuordnen und zu begleiten.
Seit dem 1. November verantworte ich bei dekoder alles, was mit Belarus zu tun hat. Wir freuen uns, dass wir mit dem German Marshall Fund of the United States, der Alfred Toepfer Stiftung und der S. Fischer Stiftung Partner gefunden haben, die diesen Neustart fördern. Und wir haben noch viel vor:
dekoder Belarus soll, das ist unser Ziel, zu einer zentralen und lebendigen Wissens- und Informationsplattform werden, die neugierig macht und die den Wandel in Belarus auf lange Sicht begleitet. Wir sind uns sicher, dass unsere wissbegierigen Leserinnen und Leser diesen Schritt mitgehen werden. Es ist Zeit, dass wir Belarus besser kennenlernen. Auch damit wir uns in Europa besser kennenlernen. Darauf will ich, wollen wir dekoderщiki, mit Euch anstoßen, wie es die Belarussen tun: Будзьма! Budsma!
Euer Ingo
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