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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Viktor Zoi

    Viktor Zoi

    Als am 6. August 2020, kurz vor der Präsidentschaftswahl in Belarus, hunderte Einwohner von Minsk – Familien, Alte und Jugendliche – zu dem Platz kamen, auf dem ein staatlich organisiertes Familienfest stattfand, geschah plötzlich etwas Außergewöhnliches: Ein bekanntes, unverwechselbares Gitarrenriff dröhnte aus den Boxen, viele Menschen streckten die Fäuste gen Himmel und spätestens beim Refrain stimmten fast alle auf dem Platz mit ein: „Peremen, my shdjom peremen“ („Wandel, wir warten auf den Wandel!“). Die Besucher der Veranstaltung waren hauptsächlich Anhänger der Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die sonst keinen Platz für eine geplante Kundgebung erhalten haben: All die wenigen Plätze, die in Minsk für politische Aktionen vorgesehen sind, wurden von ähnlichen staatlich organisierten Veranstaltungen besetzt. Die beiden DJs des Familienfestes drückten ihre Solidarität mit den Anhängern Tichanowskajas aus, indem sie dieses Lied auflegten: Chotschu peremen (dt. Ich will den Wandel) von Kino stammt aus dem Jahr 1986 und gilt vielfach als Hymne der Perestroika. Und Viktor Zoi, Sänger der Kultband, galt schon damals als Idol der sowjetischen Jugend. Nachdem er am 15. August 1990 durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, nahmen sich Dutzende Jugendliche das Leben. Sein früher Tod leistete der Legendenbildung Vorschub: Bis heute hält sich um den Sänger ein Erinnerungskult, der von Jugendgeneration zu Jugendgeneration weitergegeben wird. Und seine Lieder sind mehr als nur ein Denkmal ihrer Zeit. Sie sind zum Symbol politischer Veränderungen im postsowjetischen Raum geworden. Die beiden DJs, die das Lied in Minsk im Vorfeld der Präsidentschaftswahl abspielten, wurden jeweils zu zehn Tagen Haft verurteilt.

    Heute lassen sich die Lieder Zois als akustisches Symbol für eine Zeit hören, in der Veränderungen möglich schienen. Das gilt vor allem für sein Lied Chotschu peremen, das 1986 im Leningrader Rock-Klubmit seiner Wut wie eine Bombe“ (Olga Caspers) einschlug. Zwar gibt es vereinzelte Stimmen, die die Bedeutung Zois eher in seiner Beschreibung des Kriegs „als dem natürlichen Zustand der Menschheit“ (Iwan Martynenko) sehen. Dazu passt, dass Zoi als Jugendlicher Bruce Lee bewunderte und asiatischen Kampfsport betrieb. Doch nichtsdestoweniger gilt auch für Popmusik die Feststellung, dass ihre Bedeutung vor allem darin liegt, wie sie vom Publikum wahrgenommen wird – und nicht so sehr darin, was sie vielleicht aussagen wollte. Daher nimmt das Lied Chotschu peremen im überschaubaren, gut 100 Lieder umfassenden Schaffen von Zoi eine Sonderstellung ein. Im übrigen gibt es einige andere Lieder, die aus diesem Themenbecken schöpfen.  

    Generation der Straßenfeger und Wächter

    Viktor Zoi wurde am 21. Juni 1962 in Leningrad als Sohn eines koreanischstämmigen Ingenieurs und einer russischen Sportlehrerin geboren. Künstlerisch inspirierten ihn englische Bands wie die Beatles und die Rolling Stones, aber auch sowjetische Sänger und Schauspieler wie Michail Bojarski und Wladimir Wyssozki. Bereits als Jugendlicher spielte Zoi in einer Schülerband, etwas später auch in einer der ersten sowjetischen Punk-Bands mit. Seine Schullaufbahn verlief entsprechend den Bedingungen im Sowjetstaat: Aufgrund eines Konflikts mit einem Lehrer über die Geschichte der Kommunistischen Partei musste Zoi die Schule verlassen und den Beruf eines Holzschnitzers erlernen. Später übte Zoi lange Jahre den Beruf eines Heizers aus, selbst als er bereits ein Star in der Sowjetunion war. Wie viele andere Rockmusiker der „Generation der Straßenfeger und Wächter“, wie sie Grebenschtschikow in einem Lied nannte, konnte er unter den Bedingungen des Kommunismus von seiner Kunst nicht leben. 

    Das erste Konzert mit einer neugegründeten Band spielte Viktor Zoi im Sommer 1981 auf der Krim. Im Winter 1981/82 erhielt seine neue Gruppe den Namen Kino, den sie bis zu Zois Tod und der darauf folgenden Auflösung der Gruppe behielt. Kino wurde Teil des legendären Leningrader Rock-Klubs, in dem die Gruppe 1982 ihr erstes Konzert gab. Bei diesem spielte unter anderem Boris Grebenschtschikow mit, der mit seiner Gruppe Aquarium vermutlich wichtigste Protagonist der alternativen Pop- und Rockmusik

    Ausdruck der sowjetischen Jugend

    In dieser Zeit nahm Zoi mit Kino sein erstes Kassettenalbum auf. Es erhielt den Titel 45, weil es genau 45 Minuten lang war. Grebenschtschikow und Musiker von Aquarium beteiligten sich an diesem Album. In den Liedern von 45 drückte Zoi ganz unmittelbar und neuartig das Empfinden sowjetischer Jugendlicher aus. Das Stück Elektritschka lässt sich zum Beispiel als Metapher auf den Sowjetkommunismus lesen und ironisiert dabei die eng mit dem Glauben an den technischen Fortschritt verknüpften ideologischen Schablonen des Sowjetkommunismus: „Die Elektritschka bringt dich dorthin, wo du gar nicht hin möchtest.“  

    Aber auch alltägliche, die Langeweile und zeitweilige Trostlosigkeit der Jugend widerspiegelnde Situationen werden auf dem Album beschrieben: 

    [bilingbox]Du gehst allein die Straße entlang.  
    Du gehst zu irgendeinem von deinen Freunden.  
    Ohne Grund besuchst du jemanden  
    und fragst nach Neuigkeiten.
    Du willst einfach nur wissen, wo und was gerade so los ist. ~~~Идешь по улице один.
    Идешь к кому-то из друзей.
    Заходишь в гости без причин
    И просишь свежих новостей.[/bilingbox]

    Langeweile und Ziellosigkeit – das waren Kategorien, die im hergebrachten sowjetischen Unterhaltungsgenre Estrada bis dahin keinen Platz hatten.

    Auch wenn die musikalische Qualität des mit einfachen Mitteln aufgenommenen Albums etwas zu wünschen übrig lässt: Die Einfachheit der Aufnahme macht ihren Charme und ihre Unmittelbarkeit aus. 45 ist eines der ersten sowjetischen Alben, auf dem ein Drum-Computer eingesetzt wurde, und zwar aus reiner Not: für die Aufnahmen fehlte ein Schlagzeuger. In der Folge wurde die Nutzung des Drum-Computers stilbildend für die Gruppe und machte den besonderen Klang der Band aus, der zwischen Punk, New Wave, Rock’n’Roll und Synthie-Pop schwankt. Prägend für die Songs von Kino war zudem der ganz eigene Charakter des Gesangs von Viktor Zoi, der zugleich melancholisch und klar war.   

    Auf dem Höhepunkt der Popularität 

    Die Lieder der Gruppe wurden in der Mitte der 1980er Jahre immer politischer: Beim zweiten Leningrader Rock-Festival 1984 spielte die Gruppe das Antikriegslied Ja objawljaju swoi dom mit der Textzeile „Ich erkläre mein Haus zur atomfreien Zone“. Damit gewann Kino den Preis des Rock-Klubs. 

    Die Perestroika-Politik der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ermöglichte Zoi, sein Schaffen nun auch einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren: An seinem Album Natschalnik Kamtschatki (dt. Der Kommandeur von Kamtschatka) wirkte erneut Boris Grebenschtschikow mit. Die Lieder wurden politischer, die Texte aber auch komplexer. Die Lieder besangen das einsame Individuum – eine neue Note im sowjetischen Zusammenhang. Rasch erschienen weitere Alben mit Hits wie Mama – anarchija (dt. Mama ist die Anarchie). 

    Viktor Zoi, Sänger der Band Kino, galt schon vor seinem frühen Tod als Symbol der sowjetischen Jugend / Foto © Galina Kmit / Sputnik
    Viktor Zoi, Sänger der Band Kino, galt schon vor seinem frühen Tod als Symbol der sowjetischen Jugend / Foto © Galina Kmit / Sputnik

    Zoi beschränkte sich nicht auf die Musik. Als Schauspieler wirkte er 1988 unter anderem an den Filmen Assa von Sergei Solowjow und Igla (dt. Die Nadel) von Raschid Nugmanow mit. Teil des Soundtracks von Assa war das Lied Chotschu peremen. Der Film Igla und das ebenfalls 1988 erschienene Album Gruppa krowi (dt. Blutgruppe), das auch im Ausland auf den Markt kam, erzeugten in der Sowjetunion eine regelrechte Kinomanie. Die Band trat nun auch in Ländern des Westens auf, in Dänemark, Frankreich und Italien. 

    Die Auftritte der Gruppe wurden immer größer – Viktor Zoi war zum Star geworden. Am 24. Juni 1990 gaben Kino im Moskauer Stadion Lushniki vor 62.000 Zuschauern ihr bis dahin größtes und zugleich letztes Konzert. Im Anschluss an diesen Triumph machte sich Zoi mit dem Gitarristen Juri Kasparjan auf einer Datscha bei Jurmala (Lettland) an die Arbeit an einem neuen Album. 

    Früher Tod und Legendenbildung

    Am 15. August 1990 kam Viktor Zoi bei einem Autounfall in der Nähe des lettischen Tukums mit nur 28 Jahren ums Leben. Der Unfall bildete unter anderem auch den Anlass für Verschwörungstheorien: Noch heute gibt es Gerüchte, Zoi sei nicht verunglückt, sondern ermordet worden – eine angesichts anderer Operationen östlicher Geheimdienste nicht unwahrscheinlich anmutende Version des Todes. Zur Legende gehört auch die Erzählung, das Band mit der Aufnahme des Gesangs von Zoi habe den Unfall unversehrt überstanden, obgleich das Auto ansonsten völlig zerstört gewesen sei. Der Gitarrist Juri Kasparjan korrigierte diesen Mythos jedoch bereits 2002 in einem Interview.3 Postum erschien das Tschorny Albom (dt. Schwarzes Album), dessen Gesangsspur Zoi bereits eingesungen hatte. 

    Vielleicht stimmt die Auffassung, gerade der frühe Tod Zois habe bewirkt, dass der Sänger nachhaltig zur Legende wurde – Viktor Zoi also gleichsam als russischer James Dean. Andrej Tropillo, der als Toningenieur unter anderem das erste Album von Kino aufgenommen hatte, meinte im Nachhinein, Zoi sei gerade „rechtzeitig“ gestorben: Der Zenit seines Schaffens sei bereits überschritten gewesen, die letzten Alben seien künstlerisch bereits schwächer geraten als die ersten.4 Ganz gleich, ob diese etwas zynisch anmutende Sicht der Wirklichkeit nahekommt, in einem Punkt hat Tropillo zweifellos recht: Die Legendenbildung um Zoi hat der frühe Tod des Sängers erst ermöglicht. 

    Erinnerungskult

    Noch heute wird Zoi in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion nahezu kultisch verehrt. Symbolhaft steht er für die Zeit der Perestroika, in der Veränderungen nicht nur wünschenswert, sondern auch – anders als vielleicht heute – möglich schienen. Das Gedenken trägt besondere Züge, und es hält bis heute an: Der Regisseur Kirill Serebrennikow verarbeitete das Leben Zois 2018 in dem biographischen Spielfilm Leto (dt. Sommer), der mit einem Europäischen Filmpreis gewürdigt wurde. Die Preisübergabe in Cannes konnte allerdings nicht stattfinden, weil sich Serebrennikow damals in Moskau in Hausarrest befand. 

    Auf dem Moskauer Arbat etwa gibt es eine inoffizielle Zoi-Gedenkmauer mit Graffitis, die an den Sänger erinnern. Auch in anderen Städten der früheren Sowjetunion sind ähnliche Mauern zu finden. Den Status eines Naturdenkmals erhielt im Februar 2020 eine Zoi-Trauerweide in Kiew. Am Unfallort selbst, aber auch an anderen Plätzen in den Ländern der früheren Sowjetunion, erinnern Denkmale an Viktor Zoi, den sein Tod gleichsam unsterblich machte.


    1. Zvezda po imeni Viktor Zoj: Interv’ju s Juriem Kasparjanom, in: Tinejdžer, № 54, 21. bis 27. Juni 2002 ↩︎
    2. topdialog.ru: «Vovremja ujti — eto pravil’no. Russkij narod očen‘ ljubit mertwecov»: Andrej Tropillo o Viktore Coe ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Alla Pugatschowa

    Alla Pugatschowa

    „In der Enzyklopädie des dritten Jahrtausends wird zu lesen sein: Breshnew, Leonid – unwichtiger Politiker der Epoche von Alla Pugatschowa.“1 Treffend bringt dieser russische Witz die Bedeutung der Sängerin für den sowjetischen Schlager auf den Punkt. Unbestritten ist Alla Pugatschowa bis heute der größte Star der russischen Popmusik. Die New York Times nannte die Sängerin einmal „the Goddess of Russian Pop“.2 In der ehemaligen Sowjetunion ist die heutige Patronin der Estrada eine Symbolfigur der 1970er und frühen 1980er Jahre. Pugatschowa verkörpert hier den Typus der neuen sowjetischen Frau, die nach Freiheit, Eigenständigkeit und Glück strebt.

    Ihre seit 1976 veröffentlichten Solo-Alben sollen sich über 250 Millionen Mal verkauft haben – damit spielt die sowjetische Sängerin in einer Liga mit der US-Amerikanerin Madonna. In einer Umfrage der Zeitung Kommersant nach den beliebtesten Russen landete sie 2006 auf dem zweiten Platz hinter Präsident Putin. Dem deutschen Musikfreund ist Alla Pugatschowa vermutlich in erster Linie ein Begriff, weil sie während der Perestroika gemeinsam mit Udo Lindenberg auftrat. Vielleicht ist auch ihre recht erfolglose Teilnahme am Eurovision Song Contest 1997 dem einen oder anderen in Erinnerung.

    Eine Sängerin, die auf der Bühne weint

    Alla Pugatschowa wurde am 15. April 1949 als Kind musikbegeisterter Eltern in Moskau geboren. Bereits ihre Anfänge machen deutlich, dass sie eine ungewöhnliche und keineswegs stromlinienförmige Künstlerin ist. Ihren ersten Auftritt als Sängerin hatte sie mit dem Lied Robot (dt. „Roboter“) in der Radiosendung Guten Morgen – zu diesem Zeitpunkt ging die Sechzehnjährige noch zur Schule. Bei den Hörern kam die Sängerin dem Vernehmen nach gut an. Weniger gut gefiel Pugatschowa den kommunistischen Funktionären: Eine Sängerin, die auf der Bühne weinte, entsprach keineswegs dem sowjetischen Ideal, das eine zurückhaltende, korrekte Haltung von Schlagersängern verlangte.

    Für den Fernsehfilm Ironie des Schicksals von Eldar Rjasanow sang Alla Pugatschowa Lieder des Komponisten Mikael Tariwerdijew: Der Film wird bis heute jedes Jahr von Millionen Menschen vor allem zu Neujahr gesehen. Tatsächlich ist es seine musikalische Stimmung mit Vertonungen von Werken berühmter Dichter, die den Zuschauer in einen karnevalesken Illusionsraum versetzt, in dem das Werden der Liebe eines Moskauers zu einer Leningraderin erzählt wird. Zweifelsohne zählen die von Pugatschowa für Ironie des Schicksals gesungenen Lieder zum kulturellen Gedächtnis in den Nachfolgestaaten der UdSSR.

     
    Pugatschowa füllte das Lied „Arlekino“ mit unterschiedlichsten Emotionen, mit Schmerz und Trauer, aber auch mit Spott und Ironie an

    Von Estrada-Sängerin zu Primadonna

    Den entscheidenden Schritt zum Ruhm tat sie mit einem Auftritt bei dem internationalen Wettbewerb Goldener Orpheus 1975, bei dem sie das von Pawel Slobodkin für sie arrangierte Lied Arlekino (dt. „Harlekin“) sang. Das Stück begann mit der Melodie eines alten Zirkusmarsches, Pugatschowa füllte es mit unterschiedlichsten Emotionen, mit Schmerz und Trauer, aber auch mit Spott und Ironie an. Gerade in dieser Zweideutigkeit wuchs ihre Interpretation über die Eindeutigkeit verlangende Welt des sowjetischen Schlagers hinaus. Publikum und Jury werteten Pugatschowas Darbietung als Sensation. Ihr Auftritt veränderte, wie eine sowjetische Zeitung vielleicht etwas übertrieben meinte, „die ungeschriebenen Regeln dessen, was man auf einer Bühne tun kann“. Eine sowjetische Autorin meint, sie habe die Rolle der Frau in der Gesellschaft neu besetzt: Während andere ihrer Funktion als „sowjetische Frau“ nachkamen, habe Pugatschowa einfach „gelebt“.3

    Von einer „Pugatschowa-Explosion“ sprach bereits am 14. Juli 1975 eine sowjetische Zeitung.4 Die „maska“ des Clowns setzte sie erneut für das Festival in Sopot 1978 auf. Dort gewann sie mit Wsjo mogut Koroli (dt. „Könige vermögen alles“) den ersten Preis – ein Erfolg, der ihren Status als neuer sowjetischer Star bestätigte. Auch dieses Lied interpretierte sie mit der ihr eigenen Freiheitlichkeit.

    In Sopot machte sich bereits der Einfluss des Filmregisseurs Alexander Stefanowitsch bemerkbar, den sie 1976 kennengelernt und noch im selben Jahr geheiratet hatte. Diese Zeit wird nicht zu Unrecht von der Kritik als ihr „Goldenes Zeitalter“ gewertet. Der medienerfahrene Stefanowitsch betätigte sich als Image-Maker für seine Frau. Er stellte angeblich fünf Regeln auf, um Pugatschowa von einer einfachen Estrada-Sängerin in eine „Primadonna“ zu verwandeln: „Beicht“-Charakter der Lieder, Bild der einsamen Frau, keine Nachahmung westlicher Künstler, theatralisierte Auftritte und Skandalhaftigkeit, eine Qualität, ohne die das Show-Business vermutlich nicht funktioniert.5

     

    Dem deutschen Musikfreund ist Alla Pugatschowa vermutlich in erster Linie ein Begriff, weil sie während der Perestroika gemeinsam mit Udo Lindenberg auftrat

    Pugatschowa-Manie

    Im Einzelnen lässt sich über diese Punkte durchaus streiten. Zweifelsohne aber bot Pugatschowa dem Publikum etwas an, das es begierig aufnahm – vor allem waren es Frauen, die in der Sängerin nicht unbedingt ein Vorbild, aber doch ein Muster für das Abschweifen in Illusionswelten sahen. Der hohe Anteil alleinstehender Frauen in der sowjetischen Gesellschaft begünstigte wohl ihre Karriere. 

    Im 1979 veröffentlichten Film Shenschtschina, kotoraja pojot (dt. „Die Frau, die singt“) sang sie Lieder, die sie unter dem Pseudonym Boris Gorbonos selbst komponiert hatte. Dazu erklärte sie, sie wolle Lieder über sich selbst singen – das werde die Menschen mehr interessieren als ein für viele abstraktes Thema. Bei diesem von Alexander Stefanowitsch gesteuerten Schachzug ging es weniger um die Präsentation der musikalisch nicht sonderlich originellen Lieder, sondern vielmehr darum, Pugatschowa als Autorin und Repräsentantin ihres eigenen Ichs zu inszenieren. Die Reklame zum Film behauptete wider besseres Wissen, er basiere zum Teil auf Episoden aus dem Leben der Sängerin: Das Publikum strömte in Scharen in die Lichtspielhäuser. Auch wenn die Kritik den Film, der vor dem Hintergrund des anscheinend grauen sowjetischen Alltags das Leben einer Sängerin als Star entfaltet, verriss: Er markiert den Beginn einer Pugatschowa-Manie.

    Ein neues Frauenbild

    Ohne Zweifel entwickelte sich Pugatschowa Ende der 1970er Jahre zu einer polarisierenden Figur: Die einen sahen in ihr eine vulgäre, die Leidenschaft nach außen tragende Unperson, die anderen (Verehrerinnen) organisierten sich in Klubs und verfolgten sie mit ihrer Zuneigung. Sowjetische Zeitschriften und Zeitungen erhielten viele tausend Zuschriften zu Pugatschowa. Viele glaubten, der Star könne ihnen auch Hilfe in persönlichen Fragen geben. Ihre Fans identifizierten offenkundig tatsächlich die Heldinnen ihrer Lieder mit der Sängerin und fanden ihre eigenen Schicksale darin wieder.

    Alla Pugatschowa baute gleichsam eine Brücke zwischen der traditionellen Estrada und dem sowjetischen Underground. Ihr Erfolg beruht zum einen auf ihrem außergewöhnlichen Talent einer schauspielerischen Umsetzung von Liedinhalten. Zum anderen und vor allem aber war Pugatschowa anders. Auf der Bühne transportierte sie einen Begriff von Privatheit und „Freiheit“. Sie nahm vollends Abschied vom steifen, „korrekten“ Betragen eines Sowjetsängers. Wo in den 1960er Jahren Interpreten noch mit angedeuteten Tanzbewegungen für Aufsehen sorgten, fegte Alla wie ein Irrwisch über die Bühne. Ihre Werke vermitteln das Bild einer Frau, die ihr Leben nicht dem Dienst an der Gemeinschaft widmet. Die Heldinnen in Pugatschowas Liedern verfolgen ihre Ziele, neigen dabei zu Zweifeln und bemühen sich, ihren Lebenstraum zu verwirklichen. Gerüchte wie die von einem Selbstmord der Sängerin fügen sich in das System, mit Hilfe von Skandalen Aufmerksamkeit zu erzielen – eine Methode, die Pugatschowa bis heute nicht verworfen zu haben scheint. Progressiv war sie auch noch in den 1980er Jahren, als sie ganzheitliche Showprogramme auf die Bühne brachte.

     
    Ihre Werke vermitteln das Bild einer Frau, die ihr Leben nicht dem Dienst an der Gemeinschaft widmet

    Alla Borissowna

    Die Grande Dame der russischen Estrada, die in letzter Zeit auch mit ihrem Vatersnamen als Alla Borissowna bezeichnet wird, bekam unzählige Auszeichnungen sowohl in Russland als auch in anderen Ländern. Sie trägt die Ehrentitel Volkskünstlerin der UdSSR, Volkskünstlerin der RSFSR sowie Volkskünstlerin Russlands und ist Trägerin des Staatspreises der Russischen Föderation. Goldene Schallplatten erhielt sie in Schweden und Finnland, in der Bundesrepublik wurde sie mit dem Goldenen Mikrophon ausgezeichnet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde sie auch als Unternehmerin zur bestimmenden Figur der Estrada. Sie gab eine Zeitschrift (Alla) heraus, rief eigene Rundfunksender ins Leben und inszenierte gemeinsam mit ihrem (damaligen) Mann Filipp Kirkorow ein Musical. Als Expertin nimmt sie regelmäßig an vielen Musikshows im russischen Fernsehen teil. Ihr privates Leben und vor allem die Beziehung mit ihrem dritten Ehemann, dem Komiker Maxim Galkin, fesselt immer noch die Aufmerksamkeit der TV-Zuschauer und Leser der Boulevardzeitungen. Als Galkin wegen seiner Kritik am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine im September 2022 zu einem sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt wurde, löste Pugatschowa mit ihrem Solidaritäts-Post auf Instagram ein kleines Erdbeben aus: „Er ist ein ehrlicher, ordentlicher und aufrichtiger Mensch, ein wahrer und unbestechlicher Patriot Russlands, der seiner Heimat ein Aufblühen und ein friedliches Leben wünscht, Meinungsfreiheit und ein Ende des Sterbens unserer Jungs für illusorische Ziele, die unser Land zu einem Geächteten machen und das Leben der Bürger erschweren.“

    Aktualisiert am 19.09.2022


    1. Čeredničenko, Tat‘jana Vasil‘evna (1994): Tipologija sovetskoj massovoj kul‘tury: Meždu „Brežnevym“ i „Pugačevoj“, Moskva, S. 8 ↩︎
    2. The New York Times: A Superstar Evokes a Superpower; In Diva’s Voice, Adoring Fans Hear Echoes of Soviet Days ↩︎
    3. Serebrennikova, B. (1976): Pesennyj mir Ally Pugačevoj, in: Sovetskaja ėstrada i cirk, 1976/11, S. 20-21, S. 21 ↩︎
    4. Beljakov, Aleksej (1997): Alka, Alločka, Alla Borisovna: Roman-biografija ili kniga o žizni, ljubvi i pesnjach Ally Borisovny Pugačevoj, Moskva, S. 142 ↩︎
    5. Biografija Aleksandra Stefanoviča ↩︎

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    Russische Rockmusik

    „Ein fremder Baum, der in unsere Erde gepflanzt wird, kann keine Früchte tragen“1 , so bewertete die Zeitung Komsomolskaja Prawda im Jahr 1982 die Rockband Maschina Wremeni. Dieses Zitat  spiegelt sinnfällig das jahrzehntelange Misstrauen wieder, das das sowjetische Regime gegenüber einheimischen Künstlern empfand, die musikalische Formen oder Ideen aus dem Westen auf russische Bühnen brachten.

    Die Rockmusik in der Sowjetunion orientierte sich stark an Vorbildern aus England oder den USA. Allerdings handelte es sich beim russischen Rock, der sich seit den späten 1960er Jahren entwickelte, nicht um eine bloße Nachahmung des Westens. Die politischen Rahmenbedingungen in der Sowjetunion bewirkten, dass Rockmusik von Anfang an einen oppositionellen Charakter hatte.

    Künstler und Fans maßen den Texten eine ausgesprochen große Bedeutung bei, in denen sich häufig verschlüsselte kritische Aussagen über die sowjetische Gesellschaft verbargen. Auch in Kleidung und Verhalten bildeten die Rockmusiker einen Gegenentwurf zu dem, was die offizielle sowjetische Musikkultur ausmachte.

    Lieferte den Soundtrack einer neuen Zeit – die Gruppe Aquarium / Foto © Dmitriy Konradt
    Lieferte den Soundtrack einer neuen Zeit – die Gruppe Aquarium / Foto © Dmitriy Konradt

    Staat und Partei in der Sowjetunion betrachteten schon seit dem Oktoberumsturz 1917 alles, was an musikalischen Neuerungen aus dem Westen kam, mit ausgeprägtem Misstrauen. Als „Grunzen eines metallenen Schweines“ und „Balzgequake eines riesigen Frosches“ verunglimpfte der Schriftsteller Maxim Gorki etwa den Jazz. Dennoch gelangte – selbst unter Stalin – unablässig westliche Musik in die Sowjetunion. Als Mittler fungierten westliche Radiosender, aber auch sowjetische Diplomaten, die Schallplatten für ihre Kinder aus Westeuropa oder Amerika mitbrachten.

    Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs

    Das Jahr 1964 bedeutete nicht nur für Europa eine Zeitenwende. The Beatles dominierten – nach ihrem Durchbruch in Großbritannien und Westeuropa – die amerikanische Hitparade. Ihre auf Schallplatte oder Tonband ins Land geschmuggelte Musik verursachte auch in der Sowjetunion nachhaltige Erweckungserlebnisse. Das „Yeah, yeah, yeah“ aus dem frühen Beatles-Hit She Loves You ertönte als die kommunistischen Funktionäre verschreckender Ruf einer Generation, der auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs zu hören war. Da die englischen Top-Gruppen in der Sowjetunion nicht auftreten durften, heimsten Bands große Erfolge ein, die Musik und Auftreten der Briten nachahmten.2

    Die Politik der bedingten Duldung ermöglichte in den 1970er Jahren die Existenz von vielen frühen Rockgruppen wie zunächst Maschina Wremeni (dt. „Zeitmaschine“) und später auch der von Boris Grebenschtschikow gegründeten Band Aquarium. Seit den 1970er Jahren verstanden sich viele Rockmusiker als Akteure der Gegenkultur. Während einige Künstler wie Alexander Gradski zumindest im Fernsehen und auf Schallplatte auch Lieder von „offiziellen“ Komponisten sangen, lehnten viele andere die staatlich geförderte Unterhaltungsmusik der sogenannten Estrada ab.

    Generation der Hausmeister und Wächter

    Die Machthaber missbilligten die Rockmusik nicht allein wegen ihrer musikalischen Form. Besonderen Argwohn erfuhren die Texte, die sich oft kritisch mit den sowjetischen Gegebenheiten auseinandersetzten. Sie würden angeblich „fremde Ideale und Auffassungen“ propagieren, wie es in einer Verordnung des Kulturministeriums hieß. Ohne die Möglichkeit, offizielle Konzerte zu geben oder Schallplatten zu veröffentlichen, mussten sich die Musiker der sogenannten „Generation der Hausmeister und Wächter“ ihren Lebensunterhalt in einfachsten Brotberufen verdienen. Häufig fanden Konzerte – die sogenannten kwartirniki (von kwartira, dt. „Wohnung“) – in heimischen Wohnzimmern statt. Die Alben erschienen als Kassetten im Samisdat und wurden von Gerät zu Gerät weiter überspielt, bis statt der Musik nur noch ein Rauschen zu hören war.

    Soundtrack der neuen Zeit

    Das äußere Erscheinungsbild der Rockmusiker mit ihren langen Haaren, westlichen Designerjeans und Basketballschuhen erregte das weitere Missfallen der Funktionäre. Die Rockmusik erschien den Jugendlichen im Gegensatz zur offiziellen Musikkultur mit ihren allgegenwärtigen Baritonen authentisch: Sie eröffnete ihnen glaubwürdige emotionale Gegenwelten zum offiziellen sowjetischen Raum. Rockmusik wirkte in der Zeit von Perestroika und Glasnost durchaus systemverändernd: Die Musik von Gruppen wie Aquarium, Kino oder DDT bildete gleichsam den Soundtrack der neuen Zeit. Seit Anfang der 1980er Jahre gab es mit dem Leningrader Rock-Klub sogar eine offizielle – wenngleich streng vom Geheimdienst KGB beobachtete – Institution, die Musikern Auftrittsmöglichkeiten verschaffte.

    Für die russische Rockmusik sind die Texte von besonderer Bedeutung. Viele Lieder wie Poworot (dt. „Wendung“) von Maschina Wremeni oder Chotschu peremen! (dt. „Ich will Veränderungen!“) von Kino waren offen gesellschaftskritisch. Die Texte anderer Lieder erschienen melancholisch und unverständlich oder hatten einfache und alltägliche Inhalte. Sie vermittelten den Zuhörern, auch wenn sie nicht prononciert systemkritisch waren, ein Gefühl von Freiheit und begleiteten damit den gesellschaftlichen Umbruch der 1990er Jahre.

    Den gegenkulturellen Nimbus hat die Rockmusik heute in Russland wie im Westen längst verloren, auch wenn die seit den 1970er Jahren tätigen Musiker immer noch aktiv sind und junge Musiker, die ein nonkonformistisches Image pflegen, ebenfalls ihr Publikum finden. Längst bedienen sich aber auch Rechts- oder Linksextremisten der musikalischen Ästhetik des Rock. Den Machthabern jagt die Rockmusik keine Angst mehr ein, wenngleich ihre Protagonisten – wie Juri Schewtschuk (DDT) – immer wieder regierungskritisch Stellung beziehen und dafür auch – wie Andrej Makarewitsch (Maschina Wremeni) – bedrohliche Medienkampagnen in Kauf nehmen müssen.


    -> Mehr zu russischem Rock in diesem Artikel auf dekoder.


    1. Komsomolskaja Prawda: Ragu iz sinej pticy ↩︎
    2. Besonders erfolgreich waren die Pojuščie gitary aus Leningrad, die in den späten 1960er Jahren Stadien füllten. Ihre Musik konnte dabei so gut wie niemand hören, weil die technischen Anlagen nicht annähernd ausreichten, um Stadien zu bespielen. Wichtiger war dem Publikum offenkundig ohnehin das Gefühl, Teil eines Konzerterlebnisses zu sein, das sie für ein oder anderthalb Stunden in eine andere Welt entführte. Zwar kamen die Pojuščie gitary in den offiziellen Medien kaum vor, ihre Musik war aber immerhin nicht verboten, und vereinzelt konnten auch Schallplatten mit Beatmusik erscheinen. ↩︎

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