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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Sturm auf den Reichstag

    Sturm auf den Reichstag

    Kriegsspiele für die ganze Familie: Im Freizeitpark Patriot bei Moskau stellen Rollenspieler die Schlacht um Berlin nach. Das russische Verteidigungsministerium hat das Event finanziert, laut Veranstalter kamen rund 10.000 Zuschauer.

    Ilja Milschtein zitiert auf Snob.ru zunächst eine begeiserte Reaktion des Massenblatts Komsomolskaja Prawda auf das Event. Und setzt sich dann damit auseinander, weshalb seiner Meinung nach solche Reenactments eher helfen, zu vergessen, statt zu erinnern.

    Foto ©  Dimitri Korotajew/Kommersant
    Foto © Dimitri Korotajew/Kommersant

    Ein Kriegsberichterstatter versorgt uns mit wertvollen Details:

    Das Drehbuch, so der Augenzeuge, zeigt alle Etappen im Kampf um Berlin: die Schlacht um die Seelower Höhen samt Angriffen und Gegenangriffen, Häuserkämpfe, und die Erstürmung des Reichstages … Dann wurde über dem Feld eine Luftschlacht  zwischen Jagdflugzeugen eröffnet: Lawotschkin LA-7 gegen Messerschmitt. Tiger rollten gegen unsere T-34er auf, die Infanteristen stießen im Nahkampf aufeinander … Es gab sogar einen Hitler, der dazu aufrief, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Als unsere Kämpfer die Flagge auf dem Dach des Reichstages hissten, tobten die Zuschauerränge in einem einhelligen „Hurra!“.

    Nun, so war es doch wahrscheinlich im Frühling 1945, oder etwa nicht? Man erstürmte Höhen, führte Straßenkämpfe,  präsentierte den Zuschauern, damit ihnen nicht langweilig wird, anschließend eine Luftschlacht, dann spielten die Kämpfer noch ein bisschen Panzer-Biathlon, während Hitler immerzu nach dem Mikro griff. Und dann, als die Fahne über dem Reichstag gehisst wurde, tobten die Zuschauer auf den Rängen.

    Kurz, die in Kubinka bei Moskau versammelten Helden haben diese amüsante, letzte Schlacht bis ins letzte Detail nachgestellt – und Minister Schoigu, würdiger Nachfolger von Marschall Shukow, war nicht umsonst Ehrengast bei diesem lautstarken Jubel- und Frühlingsfest. Dafür wurde den Junarmisten und den mitziehenden erwachsenen Reenactors im Park Patriot extra ein Reichstagsgebäude errichtet, und das war alsbald eingenommen.

    Fette Party zur Anerziehung patriotischer Gefühle

    So etwas nennt man auch Staffelübergabe der Generationen. Weil aber nicht nur Heerführer, sondern auch Normalbürger die Heldentaten der Väter und Großväter beerben, ist es ausgesprochen wichtig, denen, die den Stab übernehmen, zu zeigen, wie sich das Ganze tatsächlich abgespielt hat. Und zwar anhand von anschaulichen Beispielen – in diesem Sinne war der Sieg über die deutschen Fritze bei Moskau in deren eigener Bastion, dem Berliner Reichstag und Umgebung, eine äußerst sinnvolle Sache. Sowohl als fette Party als auch zur Anerziehung patriotischer Gefühle – die lassen sich bekanntlich am besten unter Panzergeschützdonner, Kampfflugzeuggeheul, Führergeschrei und in Anwesenheit des Verteidigungsministers einimpfen.

    Man könnte sogar meinen, es gäbe heute, angesichts der gegenwärtigen Situation, keine wichtigere Aufgabe, als der Jugend beizubringen, dass der Krieg eine wahnsinnig witzige Sache sei. Ein fabelhaftes Spektakel, das unweigerlich in einen überzeugenden Sieg gipfelt. Vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten. 

    Panzergeschützdonner, Kampfflugzeuggeheul, Führergeschrei

    Etwas Ähnliches passiert gerade im fernen Syrien, und passierte eben noch im ziemlich nahen, heimischen Donbass. Wir erinnern uns: Im Donbass wurden vor drei Jahren gefangengenommene „Faschisten“ genauso durch die Straßen getrieben wie 1944 die Deutschen in Moskau.

    Krieg – das ist wahnsinnig cool. Auch wenn wir uns an den Reenactor Strelkow erinnern, der sich später aus dem Staub gemacht hat: Wie er um Slawjansk kämpfte und davon träumte, mit den Truppen bis nach Kiew vorzudringen, um da auch irgendwas zu hissen. Wäre ihm das gelungen, könnten wir in 70 Jahren Sturm auf Kiew spielen.

    Ein Sieg vor riesigem Publikum und einem Haufen Journalisten

    Überhaupt, das ist echt eine Spitzenidee: ein Sturm auf Berlin im Jahr 2017. In Zeiten von heftigen außenpolitischen Auseinandersetzungen Russlands mit Europa und den USA, die allmählich vom kalten Stadium in ein recht aufgeheiztes übergehen.

    Wo Freunde von gestern, wie Erdogan, uns plötzlich ein Messer in den Rücken rammen und zu Feinden werden, nur um dann wieder Freunde zu werden, allerdings irgendwie nicht mehr ganz so zuverlässig.

    Wo Feinde von gestern, wie die Amerikaner, plötzlich unseren Busenfreund zum Präsidenten wählen, dieser sich aber plötzlich als Feind entpuppt und unseren allertreuesten Freund bombardiert.

    In Zeiten, wo in der Welt alles wackelig und unsicher ist wie eine fünfstöckige Chruschtschowka, sollten die Bewohner der belagerten Festung lieber öfter trainieren: Attrappen europäischer Hauptstädte errichten und sie im Sturm erobern. Das mobilisiert die Stürmer und schweißt zusammen, gleichzeitig dient es dem Feind als mahnende Erinnerung. An unsere vergangenen Siege und an jene, die quasi unausweichlich bevorstehen.

    Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns

    Hauptsache die Feinde erinnern sich und fürchten uns. Wir hingegen, vom Oberbefehlshaber über Minister Schoigu bis hin zum unbedeutendsten Statisten aus den Massenszenen – wir alle können den realen Krieg ruhig komplett vergessen. Vergessen, wie er wirklich sein kann. Zu welchem Preis der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg errungen wurde. Unsere Großväter, die von der Front nicht zurückgekehrt sind – denn das sind sie doch bei den wenigsten.

    Ja, auch den Sturm auf Berlin im Frühling 1945 sollte man ein für alle Mal aus dem Gedächtnis tilgen, um nicht daran denken zu müssen, wie viele sowjetische Soldaten dort in den letzten Tagen, Stunden und Minuten des Krieges gefallen sind.

    Daran darf man sich nicht erinnern, andernfalls kämen einem inmitten dieser Riesengaudi, die wir vorgestern in Kubinka beobachten konnten, die Tränen, und die Veranstalter dieses Spiels würden zu Idioten, wenn nicht gar zu Marodeuren. Und auch Minister Schoigu erschiene uns plötzlich als Marodeur, wenn nicht gar als Idiot. Vom Journalisten jenes Klatschblatts ganz zu schweigen.

    Aber wozu sollen wir uns die Laune verderben und fremde Menschen beleidigen? Besser, wir schließen uns ihnen an und fühlen uns als Sieger. Oben fliegen hübsche Flugzeuge herum, drüben rollen Panzer, während der tollwütig anmutende nationale Führer sich ganz umsonst die Seele aus dem Leib schreit, denn der ganze Spaß geht schon dem Ende zu.

    Die Zuschauer applaudieren und ziehen in freudiger Erwartung neuer Spektakel davon. Noch wurde ja die Schlacht im Kursker Bogen nicht nachgestellt, Stalingrad nicht neu errichtet, die Leningrader Blockade nicht durchbrochen – und das ist nur der Zweite Weltkrieg. Man denke nur an all die anderen Kriege und Schlachten, für jede davon ließe sich ein mitreißendes Szenario erfinden, mit großem Geballer und allem Pipapo. In der belagerten Festung weiß man sich zu amüsieren, und tut es gern, indem man lustig die Zeit totschlägt. Unser Korrespondent deckt sich schonmal ein mit Dienstreiseanträgen, Metaphern und Popcorn.

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  • Mine im Livekanal

    Mine im Livekanal

    Im Petersburger Holiday Inn soll eine Diskussionsveranstaltung beginnen: Michail Chodorkowski, nach Begnadigung und Entlassung aus der Haft inzwischen im Ausland lebend, wird über Video in den Saal geschaltet. Kaum sind die ersten Worte gesprochen, ertönt auch schon ein Alarm und der Saal wird geräumt. Die meisten Besucher sind mit solchen Vorkommnissen bereits vertraut. Der Journalist Ilja Milschtein kommentiert.

    Das Gebäude ist vermint. In dem verminten Gebäude sind Strom und Internetverbindung gekappt. Wieder eine Bombe, wieder eine Evakuierung. Menschen werden aus dem Saal geführt, Menschen leisten Widerstand. Vor den Fenstern heult eine Sirene.

    Die gestrigen Nachrichten aus dem Petersburger Hotel Holiday Inn Moskowskije Worota stifteten als Genre-Chaos ordentlich Verwirrung: War es eine Übung, wie damals in Rjasan, war es eine Geiselnahme, nur dass die Terroristen irgendwie unentschlossen und sonderbar gekleidet waren – in Polizeiuniform? Es gab aber keinen Anlass, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Wie soll man sagen: Die Videoschaltung zwischen russischen Bürgern und Michail Chodorkowski fand nun einmal während einer Art Anti-Terror-Operation statt. War ja nicht das erste Mal, etwas Ähnliches war schon einmal vorgekommen. Mit Stromausfall und unterbrochenem Internet. Man sollte sich wohl einfach daran gewöhnen. Genau das ist jedoch schwierig. Zum einen, weil es schwierig ist, mit jemandem zu sprechen, wenn überall Fremde herumrennen und ihn beim Reden stören: Das spürt man, selbst wenn man nicht im Raum ist. Zum anderen ist unklar, was das alles soll. Wenn die Aufgabe darin bestand, das Treffen von Chodorkowski mit seinen Zuhörern in Russland platzen zu lassen, dann wurde die Aufgabe nicht erfüllt. Wenn man die Absicht hatte, die obersten Chefs als trostlose Deppen zu präsentieren, dann kann man den anonymen Drehbuchautoren gratulieren. Aber war das der Sinn? Es bleibt ein rätselhafter Spuk.

    Eine Erklärung ist, dass der ehemalige politische Gefangene Chodorkowski im Kreml gefürchtet ist. So sehr gefürchtet, dass die Kremlherren schon allein beim Gedanken, dass er frei vor Publikum auftreten könnte, ganz blöde werden, und das mündet dann in ein solch herzzerreißendes Spektakel: Auf der Bühne eines verminten Saals, in dem unbehelligt Polizisten, Journalisten, Abgeordnete und normale Bürger herumspazieren, hängt ein Bildschirm, aus dem Chodorkowski zu hören ist.

    Aber weshalb hat Wladimir Wladimirowitsch Putin Angst vor Michail Borissowitsch Chodorkowski? Laut allen Beliebtheitsumfragen liegen die Werte des nationalen Führers astronomisch hoch, Chodorkowski aber rangiert unter ferner liefen. Die Landsleute interessieren sich zwar nach wie vor für den ehemaligen YUKOS-Chef, mehr aber auch nicht. Und mit seinen bei dem Auftritt kundgetanen strategischen Gedanken zum Wahlkampf wird er es wohl kaum schaffen, die Grundpfeiler des Putin-Regimes ins Wanken zu bringen. Das teilte Chdorkowski dem verminten Publikum im Grunde auch mit, als er äußerte, die Machthaber würden die Wahlen vollständig kontrollieren und unerwünschten Kandidaten den Zugang verwehren.

    Es gibt auch die Erklärung, dass die Machthaber Chodorkowski nicht fürchten, sondern schlicht hassen. Und eine solche Abneigung gegen den Betroffenen hegen, dass ihnen der Appetit vergeht und sie jeden seiner Auftritte vor russischem Publikum als persönliche Beleidigung empfinden. Und wenn Wladimir Wladimirowitsch Putin erfährt, dass Michail Borisowitsch Chodorkowski schon wieder plant, vor russischem Publikum aufzutreten, dann gehen die Mitarbeiter des Innenministeriums automatisch in Alarmbereitschaft und die besten Mineure des Landes, Seite an Seite mit Elektrikern und, wie heißen sie noch, Providern, entschärfen rasch die Bombe, den Strom, das Internet und den Feind.

    Aber man hasst ja im Kreml momentan ausnahmslos alle: von Obama bis zu den kleinsten Banderowzy in der Ukraine. Es ist also vollkommen unverständlich, weshalb ausgerechnet Chodorkowski eine solche Ehre erwiesen wird. Außerdem ist er bei weitem nicht der radikalste Regimegegner, und wenn es um kalte Rache ginge, hätte Putin dann nicht an Chodorkowskis zehn Jahren in fernen Lagern sein Mütchen kühlen können? Wenn Wladimir Wladimirowitsch Michail Borisowitsch tatsächlich so sehr hassen würde, wie man es immer wieder hört, dann hätte kein Genscher dem Gefangenen helfen können und wir würden heute totgelangweilt den zäh verlaufenden dritten YUKOS-Prozess verfolgen.

    Also, worum geht es? Wahrscheinlich könnte man die Situation viel einfacher und mit weitaus schwächeren Emotionen als Angst und Hass beschreiben. Beispielsweise mit dem Bestreben, Chodorkowski und seinen Mitstreitern, die die Führungsriege heftig ärgern, einfach ordentlich in die Suppe zu spucken. Tja, solcher Sadismus zeigt sich nicht nur in den Beziehungen des Kremls zu Chodorkowski. Er zeigt sich auf den unterschiedlichsten Ebenen.

    Nehmen wir die „zivilgesellschaftliche“ Eigeninitiative eines Dimitri Enteo, der Plakate auf Ausstellungen oder Rock-Konzerten zerreißt, oder eines Witali Milonow mit seinen orthodoxen Aktivisten, die überall dort provozieren, wo sie Schwule und Lesben wittern. Es kommt auch vor, dass die Leute des Landesherren, eben jene Policemen, eine Liveschaltung mit Kiew kappen – wobei völlig klar ist, dass die Moskauer Teilnehmer dieser Liveschaltung weder tierische Angst noch bodenlosen Hass bei den Machthabern auslösen. Aber ihnen den Abend zu verderben, die Liveschaltung abstürzen zu lassen, die Zuschauer in einen Polizeitransporter zu sperren, die eigene Allmacht zu genießen und den anderen in die Suppe und auf das Gesetz zu spucken – das ist doch ganz angenehm, geben Sie’s zu. Es ist eine Winzigkeit, aber sie kitzelt sanft die Herzen der Mächtigen im Land, die von den tagtäglichen Sanktionen und heiligen Siegen ganz erschöpft sind.

    Daher kommt der ganze Spuk – vom Wort spucken.

    Kurz, es muss äußerst gute Gründe für solche Aktionen geben, wenn die Machthaber sogar riskieren, wie komplette Idioten dazustehen, und diese Gründe gibt es. Keine großartigen, aber jedem verständliche, der die Regierung über die letzten anderthalb Jahrzehnte beobachtet hat: Eben jenen Wunsch, jeden, der nicht einverstanden ist, mit einer Sirene auszuschalten, jegliches andere Gedankengut niederzutrampeln und jede Ansammlung von Menschen, die einem Dissidenten zuhören wollen, aufzulösen – der Wunsch ist klar und übermächtig. In gewisser Weise sogar rührend, wenn auch ermüdend. Denn Bürger, die nicht einverstanden sind, gibt es immer noch ziemlich viele und auf alle muss man aufpassen, indem man ihnen irgendeine Fiesheit serviert.

    Eine Tretmine unterjubelt, bildhaft gesprochen. Sie zum Verhör bestellt, und dann sollen sie mal, während sie gemütlich russische Bücher lesen, grübeln, was sie vor den Steuerbehörden verheimlicht haben. Das sind kleine Schweinereien, im Grunde unbedeutend im Hinblick auf die Interessen einer Atommacht, aber sie wärmen die Seele. Die kalte, man kann ruhig sagen, eingefrorene Seele des Herrschers und seiner treuen – unverfrorenen – Diener. Wie dem auch sei, es ist ihnen ein Vergnügen und davon haben sie momentan nicht viele.

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