дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Warum das System Lukaschenko abermals die Todesstrafe verschärft

    Warum das System Lukaschenko abermals die Todesstrafe verschärft

    Das Repräsentantenhaus des belarussischen Parlaments verabschiedete vergangene Woche in erster Lesung Änderungen zu Artikel 356 (2) des Strafgesetzbuches, „um eine abschreckende Wirkung auf destruktive Elemente zu erzielen und um einen entschlossenen Kampf gegen den Verrat am Staat zu demonstrieren“. Demnach können nun Staatsbedienstete und Militärangehörige, die wegen Landesverrats vor Gericht kommen, zum Tode verurteilt werden. Belarus ist das einzige europäische Land, das noch die Todesstrafe vollstreckt. 

    Bereits im Mai dieses Jahres war die gesetzliche Grundlage für die Anwendung der Todesstrafe ausgeweitet worden, und zwar für die Planung eines Anschlags oder den „Versuch eines terroristischen Akts“. Warum nun die neuerliche Verschärfung? Darüber wird in den belarussischen Medien debattiert. Wir bringen eine Auswahl an vier Experten- und Medienstimmen. 

    Der Menschenrechsanwalt Andrei Poluda sagte Gazeta.by, dass die neuerliche Verschärfung der Todesstrafe im Zusammenhang mit komplexen Stimmungsveränderungen in der Gesellschaft zu sehen sei. Die Machthaber würden diese einzuhegen versuchen:

    „… Damals betrafen sie [die Änderungen im Strafgesetzbuch zur Todesstrafe] breitere Bevölkerungsteile und waren unter anderem eine Reaktion auf Antikriegsaktionen von belarussischen Bürgern, insbesondere der Schienenpartisanen. Jetzt können wir die Tendenz beobachten, dass es um des Herrschers Leute geht, wie sich die Vertreter der Bürokratie und die Militärs in Belarus selbst gern nennen.


    Die Regierung meint nach wie vor, dass eine Verschärfung der Gesetze als abschreckendes Mittel wirksam sein kann, als Prophylaxe gegen bestimmte Handlungen der Bürger. Diese gravierenden Gesetzesänderungen sind ein deutliches Zeichen dafür, wie tiefgreifend und weit verbreitet die Prozesse sind, die in unserer Gesellschaft vor sich gehen. Es ist offensichtlich, dass diese Prozesse dem derzeitigen Regime in Belarus ganz und gar nicht gefallen.


    Jetzt, da es keine Möglichkeit gibt, in Belarus wissenschaftlich fundierte Umfragen zu machen, sind Informationen für uns vielfach nicht zugänglich und nicht sichtbar, und wir können die Prozesse nicht bis ins Letzte verstehen …
    Über viele Jahre hinweg aber haben Menschenrechtler Alarm geschlagen, dass die Existenz der Todesstrafe und ihre Anwendung nicht nur jene betrifft, die wegen Mordes verurteilt wurden.“

    Der Telegram-Kanal Reflexija i reakzija (dt. Reflexionen und Reaktionen) – der politische Prozesse in Belarus anonym analysiert und begleitet – betont in einem Beitrag ein grundsätzliches Problem bei autoritären Systemen: die fehlende Transparenz bei Entscheidungsprozessen. Dies mache Einschätzungen – wie aktuell in Bezug auf die Todesstrafe – schwierig. Auf Grundlage der historischen Erfahrung vom Ende der UdSSR läge aber die Vermutung nahe, dass sich das System Lukaschenko auf noch stärkere Verwerfungen in der belarussischen Gesellschaft vorbereite:

    „… Während alle damit beschäftigt sind, Details aus dem Büro von Tichanowskaja zu diskutieren, selbst die kleinsten, oder aber Äußerungen westlicher Stakeholder zu den Aussichten auf einen Waffenstillstand, ist völlig unklar, was innerhalb der Regime Russlands und Belarus’ vor sich geht.

    Es gibt viele vereinzelte Leaks, doch mit großer Genauigkeit ein Gesamtbild zu zeichnen, ist problematisch. Die wichtigsten Entscheidungszentren sind nicht öffentlich und hermetisch abgeschottet; all der Dreck, der unter den Teppich gekehrt werden kann, bleibt dort.

    Psychologisch wird die Situation wie folgt wahrgenommen: „Bei uns wird alles immer schlimmer – und die waren ein Monolith und sind es immer noch“. Obwohl das natürlich nicht sein kann, weil die Dynamik der sozialen Systeme derart strukturiert ist, dass alle Akteure sich auf die eine oder andere Art in diese oder jene Richtung entwickeln. Wenn eine solche Transformation nicht sichtbar ist, bedeutet das nicht, dass sie nicht geschieht.

    Mit der UdSSR ging es zu Ende, als sie schlicht und einfach kein Geld mehr auf dem Konto hatte, um die ganze Maschine am Laufen zu halten. Man konnte zwar vorhersagen, wohin der Wind uns trägt, aber das genaue Datum und die Ereignisse vorherzusagen, ohne über Insiderinformationen zu verfügen, ohne das gesamte Bild zu sehen, war und ist unmöglich. 

    Dass aber das Regime in Belarus (das in Russland bislang noch nicht) sich auf die schlimmsten Szenarien vorbereitet, lässt Gedanken heranwehen, wie denn der verdeckte Teil des Bildes tatsächlich aussieht.“

    Der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch sieht in seinem Kommentar für das Online-Medium Reform.by die Angst der belarussischen Machthaber nicht nur vor neuen Protesten als Treiber für die Verschärfungen der Todesstrafe, sondern auch die Angst des Systems vor dem System selbst. Indem sich beispielsweise die Unzufriedenheit der eigenen Leute im Staatsapparat und Militär an einem bestimmten Punkt gegen die Machtzentrale richten könnte:

    „… Auf den ersten Blick könnten sich die Änderungen im Strafgesetzbuch gegen politische Gegner des Regimes richten. Allerdings wird laut Informationen des Ermittlungskomitees, dem die Untersuchungen in den Strafverfahren gegen Swetlana Tichanowskaja, Pawel Latuschko, Olga Kowalkowa, Sergej Dylewski und Marija Moros oblag, von diesen fünf nur Tichanowskaja Landesverrat vorgeworfen. Auch wenn sie niemals Staatsämter innehatte …

    Es werden auch Grundlagen für die Zukunft gelegt. Wenn es zu Geschehnissen wie 2020 kommt, dürften Staatsbeamte und Silowiki sich hundertmal überlegen, ob sie die Seite wechseln. Denn die Strafe bei einer Niederlage könnte grausam sein. Das Regime verfolgt eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Gestern noch war es um eine ‚wegweisende Möhre‘ für Militärangehörige gegangen, etwa in Form einer Privatisierung von Mietwohnungen nach 25 Dienstjahren. Doch es scheint, als reiche Zuckerbrot allein nicht mehr aus, um Loyalität zu sicherzustellen. Die Änderungen im Strafgesetzbuch holen die Peitsche hervor, als Strafe für Verrat …

    Das Regime versucht, alle einzuschüchtern, sowohl Opponenten als auch Unterstützer. Um den Gedanken, man könnte das Staatsschiff möglicherweise verlassen, bereits im Keim zu ersticken. Das bedeutet, dass das Regime selbst jenen nicht mehr vertraut, die sich innerhalb des Systems bewegen. Und um die zu ‚überzeugen‘, braucht es jetzt auch die Peitsche. Vielleicht auch, weil das Zuckerbrot immer knapper wird.“

    Der ehemalige belarussische Diplomat und Politanalyst Pawel Sljunkin sieht in der Verschärfung der Todesstrafe im Gespräch mit dem russischen Medium The Insider eine Verbindung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine

    „Als Verrat würde hier gewertet werden, wenn jemand auf die Seite der Ukraine wechselt oder sich in Gefangenschaft begibt, oder sich vielleicht weigert zu kämpfen. Diese Gesetzesänderung wird sowohl Militärs wie auch Zivilpersonen betreffen. Dass es diese Änderung gibt, ist ein Anzeichen, dass das staatliche System auf etwas vorbereitet wird. Für die Staatsbeamten wird sie eingeführt, damit die nicht die Seiten wechseln und keine Spaltung innerhalb des staatlichen Systems provozieren.

    90 Prozent der Belarussen wollen nicht, dass ihre Armee sich an dem Krieg beteiligt, und Lukaschenko ist bewusst, welche Risiken ein solcher Schritt mit sich bringen würde: Selbst in den loyalsten Bevölkerungsteilen könnte es dann Leute geben, die damit nicht einverstanden sind. Wie also mit denen umgehen? Sie müssen eingeschüchtert werden. Und genau hierzu wurde die Aussicht auf die Todesstrafe geschaffen.

    Mit der Armee ist es das Gleiche: Sie wollen nicht kämpfen, sie haben nicht das Gefühl, dass das ihr Krieg ist, und sie rennen nicht, wie viele russische Mobilisierte, zu den Rekrutierungsstellen. Sie wissen, was sie dort erwartet. Niemand will für die imperialen Kriegsambitionen Russlands sterben, und für Lukaschenko will auch niemand sterben. Lukaschenko ist das sehr wohl bewusst, und er versorgt sie mit einer Alternative, und zwar nicht mit ein paar Jahren Gefängnis, sondern mit der Todesstrafe. Das ist ein Zeichen, dass sämtliche staatlichen Institutionen darauf vorbereitet werden, dass ein solcher Moment kommen könnte. Es bedeutet nicht, dass der Entschluss feststeht, die Armee loszuschicken. Sie wissen aber genau, dass so etwas möglich ist. Und bereiten sich darauf vor.“

    Weitere Themen

    Mit System gegen das System

    „Der Krieg mit uns selbst“

    Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

    „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    „Die Verlegung von Truppen ist kein Angriff“

  • Nächster Halt: BSSR 2.0

    Nächster Halt: BSSR 2.0

    Seitdem die belarussischen Machthaber im Sommer 2020 begannen, zunächst die Proteste auf den Straßen mit Gewalt niederzuschlagen und schließlich mit aller Schärfe gegen Protestierende und Andersdenkende vorzugehen, wird in Gesellschaft und Medien diskutiert, inwiefern sich das politische System von Alexander Lukaschenko verstärkt sowjetischen und totalitären Methoden und Strukturen annähert. 

    Für einen Beitrag des Online-Mediums Reform.by analysiert der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch anhand der Kategorien „Freiheiten“, „Politisches System“, „Marktwirtschaft“ und „Ideologie“, inwieweit eine zunehmende Sowjetisierung tatsächlich festgestellt werden kann.

    Freiheiten

    Die Meinungsfreiheit ist in Belarus abgeschafft. Da gibt es nichts zu diskutieren, man braucht nur zu wissen, dass aktuell 32 belarussische Journalisten im Gefängnis sitzen. Unabhängige Medien werden „extremistischen Vereinigungen“ gleichgestellt und blockiert. Wer ihre Inhalte verbreitet, riskiert eine Ordnungshaft oder Schlimmeres. In Sachen Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit herrschen in Belarus längst wieder sowjetische Zeiten. Und zwar bei Weitem nicht die „vegetarischsten“.

    Die Repressionsmaschine läuft in Belarus sogar besser als in der UdSSR. Allein schon, weil es viel mehr Möglichkeiten gibt, Opponenten aufzuspüren. Die Digitalisierung hat nicht nur neue Instrumente für den Kampf gegen repressive Regime gebracht, sondern auch neue Instrumente zur Verfolgung von Andersdenkenden. Für die Sicherheitsdienste ist es heute viel einfacher als früher, große Menschenmengen zu kontrollieren. Und das tun sie, indem sie die Bevölkerung seit über zwei Jahren unermüdlich und flächendeckend einschüchtern. Die Pläne der Machthaber geben klar zu verstehen, dass die Repressionen nur noch zunehmen werden.

    Noch sind die Grenzen nicht geschlossen. Im Gegenteil, das Regime versucht, möglichst viele Unzufriedene aus dem Land zu drängen. So haben das schon die Bolschewiki nach dem Oktoberumsturz 1917 gemacht: In den ersten Jahren nach der Machtergreifung hinderten sie ihre politischen Gegner nicht daran, das Land zu verlassen, oder verbannten sie sogar. Erst später gingen sie dazu über, Andersdenkende physisch zu vernichten.

    Noch werden politische Gegner nicht erschossen. Auch wenn gewisse Schritte in diese Richtung schon unternommen wurden – in unserem Land steht auf die „Vorbereitung eines terroristischen Akts“ die Todesstrafe. Wobei die großzügige Auslegung des Begriffs „Terrorakt“ nahelegt, dass diese Maßnahme auch gegen Regimekritiker eingesetzt werden kann.

    Belarus steht der UdSSR in Sachen Unterdrückung von Andersdenkenden also kaum nach. Sucht man in der sowjetischen Geschichte nach Analogien, so könnte man die heutigen Ereignisse vorbehaltlich einiger Einschränkungen mit dem Ende der Belarussifizierung in den 1930er Jahren und der Zeit nach dem Anschluss von West-Belarus an die BSSR vergleichen. Es findet eine sukzessive Säuberung der Gesellschaft statt. Ihr werden die Spielregeln eines totalitären Staates aufgezwungen.

    Das politische System

    Das heutige Belarus hat ein anderes politisches System und andere Institutionen als die Belarussische Sowjetrepublik (BSSR). Um nur ein Beispiel zu nennen: Artikel 6 der sowjetischen Verfassung von 1977 proklamierte die Rolle der Kommunistischen Partei als „führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft, den Kern ihres politischen Systems, des Staates und der öffentlichen Organisationen“. Die Verfassung der BSSR führte unter derselben Ziffer einen analogen Artikel. Die heutige belarussische Verfassung sieht demgegenüber ein Mehrparteiensystem vor und stellt klar: „Die Ideologie politischer Parteien, religiöser oder anderer öffentlicher Vereinigungen oder gesellschaftlicher Gruppen darf den Bürgern nicht vorgeschrieben werden.“

    Allerdings enthielt auch die Verfassung der UdSSR viele demokratische Leitsätze. Zum Beispiel garantierte Artikel 47 den Bürgern der Sowjetunion „die Freiheit des wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Schaffens“. Das hinderte die Zensurbehörde jedoch nicht daran, Bücher, Filme, Theaterstücke und andere künstlerische Werke zu verbieten, die der Partei aus irgendwelchen Gründen missfielen.

    Zwischen einer Deklaration und der realen Sachlage liegt manchmal ein unüberwindbarer Graben. Sowohl dem Grundgesetz der BSSR als auch der heutigen belarussischen Verfassung zufolge gehört die Macht dem Volk. Auch in der BSSR fanden Wahlen statt, nur ohne Wahlmöglichkeiten. In Belarus sind die Wahlmöglichkeiten zwar formal vorhanden, aber jeder Versuch, sie in die Tat umzusetzen, endet so, wie wir es 2010 und 2020 gesehen haben. Auch wenn die Aussage „Es kommt nicht darauf an, wie gewählt wurde, es kommt darauf an, wie ausgezählt wird“ nicht von Josef Stalin stammt, sondern von Napoleon III., ändert das nichts an ihrem Sinn. Eine reale Demokratie gab es weder in der BSSR, noch gibt es sie im heutigen Belarus.

    Unübersehbar ist auch der Versuch der belarussischen Regierung, die Staatsverwaltung nach dem Vorbild der Parteitage der KPdSU zu gestalten, indem sie ähnliche Funktionen und Befugnisse auf die Allbelarussische Volksversammlung überträgt.

    Der Rhetorik der Entscheidungsträger nach zu urteilen, versteht man da oben selbst noch nicht, wie dieses durch die jüngsten Verfassungsänderungen geschaffene Organ genau funktionieren soll. Aber Alexander Lukaschenko vergleicht die Volksversammlung ohne Umschweife mit den Zusammenkünften der KPdSU: „Diese Dokumente sind in ihrer Bedeutung vergleichbar mit den Entscheidungen des Parteitags der Kommunistischen Partei“, erklärt Lukaschenko. Wo ist da der Unterschied zur „führenden und lenkenden Kraft“? Der Vorschlag, Parteien zu liquidieren, die vom Kurs der Volksversammlung abweichen, verwandelt zudem die politischen Akteure trotz ihrer formalen Existenz in unbedeutendes Beiwerk.

    Auch wenn sich das politische System in Belarus nach wie vor von dem der BSSR unterscheidet, wurde mit der Allbelarussischen Volksversammlung ein großer Schritt zurück in die Vergangenheit gemacht.

    Marktwirtschaft

    Die freie Marktwirtschaft ist eine der letzten Bastionen im Widerstand gegen eine Rückkehr in die Sowjetrepublik. Noch hält sie den zahlreichen Angriffen stand, etwa dem kürzlich von Lukaschenko verhängten Moratorium auf Preiserhöhungen und dem daran anschließenden Dekret über die staatliche Preisregulierung. Der Versuch, das Problem auf administrativem Weg zu lösen, steht im Widerspruch zur freien Marktwirtschaft. Nicht, dass es uns komplett in die Zeit des staatlichen Preiskomitees beim Ministerrat der UdSSR zurückversetzen würde, das für die Preisgestaltung und die Disziplinierung dieses Bereichs verantwortlich war. Aber es ist (durchaus) ein Schlag gegen die Marktwirtschaft, die Unternehmen, die auf dem belarussischen Markt tätig sind, und gegen die Verbraucher, die den Rückgang des Warenangebots in den Geschäften bereits zu spüren bekommen.

    Das Entscheidende ist aber, dass man ein Gleichheitszeichen zwischen der Marktwirtschaft und dem Privateigentum setzen kann, vor dem die belarussischen Behörden ohnehin keinen Respekt haben. „Niemand soll sich einbilden, dass Privateigentum heilig wäre“ – so formulierte jüngst Alexander Lukaschenko seine diesbezügliche Haltung. Die Regierung ist stolz darauf, dass es in Belarus keine umfassende Privatisierung gab oder geben wird. Sie ist überzeugt von den Vorzügen des Staatseigentums und beschlagnahmt Konzerne von Privateigentümern, wie es bei Motovelo oder dem Metallwalzwerk in Miory der Fall war. Sie kämpft unermüdlich gegen Zwischenhändler und „dickwanstige“ Geschäftsleute und beweist damit ihr Unverständnis und ihre Ablehnung marktwirtschaftlicher Dynamiken.

    Noch wurde die freie Marktwirtschaft in Belarus nicht abgeschafft. Aber das Regime macht ihretwegen nicht viel Federlesen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Druck auf die Unternehmer noch zunehmen wird, sollte sich die wirtschaftliche Situation weiter zuspitzen. Auf ihrem Weg zurück in die BSSR wird die Macht das opfern, was ihrer Meinung nach am wertlosesten ist.

    Ideologie

    Eine klare Ideologie hat die heutige Regierung im Gegensatz zur Kommunistischen Partei in der BSSR bisher nicht. Aber wir hörten bereits von Alexander Lukaschenko, dass noch keine bessere Ideologie als die marxistisch-leninistische erfunden worden sei. Die Ideen, die man heute den Menschen anbiete, fänden „weder in ihren Seelen noch in ihren Herzen Anklang“

    Während unsere russischen Nachbarn bei der Formulierung der „Werte, Faktoren und Strukturen, die Russland zugrunde liegen“ zwischen X und Y schwanken, tasten auch die belarussischen Ideologen nach den Grundfesten. Darunter finden sich die bereits erwähnte „Wiedervereinigung von West-Belarus mit der BSSR", der Sieg im Zweiten Weltkrieg, der Genozid am belarussischen Volk und die gesellschaftliche Bedeutung des Oktoberumsturzes der Bolschewiki. Das wäre wohl alles, was bisher deutlich zu hören war.

    Es ist bezeichnend, dass diese Konzepte nicht über die Geschichte der BSSR hinausreichen. Die Sowjetzeit spielt die zentrale Rolle. Auch das ist ein Grund, von einer Rückkehr in die BSSR zu sprechen, deren Geschichte unlösbar mit der sowjetischen und russischen verwoben war. Alle anderen Epochen werden im Schnelldurchlauf durchgenommen und eingedampft auf die „jahrhundertelange Sklaverei des belarussischen Volkes und seinen Wunsch nach Befreiung aus dem polnisch-litauischen Joch“. Der zentrale Dreh- und Angelpunkt der aktuell entstehenden Ideologie ist die BSSR.

    Die totalitären Praktiken innerhalb der Gesellschaft nehmen erst Fahrt auf. Noch unterschreiben Arbeitskollektive keine Appelle an die Behörden, „Volksfeinde“ aufs Schärfste zu verurteilen. Und doch gibt es bestimmte Verschiebungen in diese Richtung. Es finden Versammlungen statt, bei denen Regierungsvertreter die aktuelle Politik erklären und die Bedrohungen erörtern, denen Belarus von allen Seiten ausgeliefert sei. Der Staat beginnt bereits, eine Beteiligung der Öffentlichkeit einzufordern. Bisher genügte es, bei solchen Versammlungen still die Zeit abzusitzen – was an sich schon an die späte BSSR erinnert. Aufrufe von Arbeitskollektiven und Verbänden, zu „bestrafen“ und „nicht davonkommen zu lassen“, wären lediglich der nächste Schritt in den Totalitarismus.

    Die Rückkehr in die BSSR ist nicht einfach nur eine hübsche Redewendung. Der Ruck in diese Richtung lässt sich in vielen Bereichen beobachten. In einigen von ihnen – zum Beispiel bei der Beschränkung ziviler und politischer Rechte – ist der Prozess bereits sehr weit fortgeschritten. Bei der Umgestaltung des politischen Systems und in der Wirtschaft macht sich der Rückschritt noch nicht so deutlich bemerkbar, aber bestimmte Tendenzen weisen darauf hin, dass die Machthaber für die Entwicklung des Landes einen Kurs eingeschlagen haben, der in vielem in die nahe Vergangenheit weist.

    Die Fallgeschwindigkeit ist gleich 

    Es ist freilich nicht die Rede davon, dass die Regierung einfach alle Institutionen und Praktiken des Sowok kopieren würde. In ihrem Streben zurück in die UdSSR träumt die russische genauso wie die belarussische Führung von einer Sowjetunion 2.0, mit Raketen und Waschpulver. Mit geistigen Klammern und einem relativ akzeptablen annehmbaren Lebensstandard. Im Detail gibt es kleine Unterschiede in dem, was in den Köpfen der Initiatoren vorgeht. Deswegen gibt es in Russland noch etwas mehr wirtschaftliche Freiheit. Aber alles in allem ist das Ziel eine UdSSR, die den Kalten Krieg gewinnen kann. Ausgehend von dieser Prämisse wird klar, dass die politischen Freiheiten als Erstes weichen müssen. Und genau das beobachten wir in der Praxis. In der Politik ist die Rückkehr in die Vergangenheit eine vollendete Tatsache.

    Wirtschaftliche Freiheiten wird es geben dürfen, solange sie den Staatsinteressen nicht im Wege stehen. Der Druck auf sie ist ebenfalls unvermeidlich, aber in ihrem Bestreben, die Bevölkerung mit Waschmittel zu versorgen, werden ihn die Regierenden sparsam dosieren und die Erschütterungen möglichst gering halten. Die Stärke des Drucks wird von der Kompetenz derjenigen abhängen, die Entscheidungen treffen. Wobei der Totalitarismus unausweichlich in alle gesellschaftlichen Bereiche vordringen wird. Wie schnell das gehen wird, ist wiederum abhängig von den wirtschaftlichen Erfolgen oder Misserfolgen der Machthaber.

    Weitere Themen

    Harter Kurs voraus

    „Als Staatsbürger fühlt man sich in Belarus schutzlos“

    „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    Diktatur ohne allmächtigen Diktator

  • „Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei”

    „Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei”

    Bei der Konferenz Neues Belarus, die kürzlich vom Büro Swetlana Tichanowskaja in Vilnius organisiert wurde, ging es zuweilen hoch her, was sicher auch Ausdruck einer vitalen demokratischen Kultur ist, die von der neuen belarussischen Diaspora gelebt wird. Seit geraumer Zeit steht die belarussische Oppositionsführerin in der Kritik, die aus den eigenen Reihen kommt. Auch um den Kritikern entgegenzukommen und verschiedene oppositionelle Initiativen und Gruppen besser zu repräsentieren, wurde ein fünfköpfiges Exilkabinett beschlossen, dem neben Pawel Latuschko vom Nationalen Anti-Krisenmanagement unter anderem auch Alexander Asarow, Chef der Initiative BYPOL angehören. Ob dieses Kabinett ein effektiveres Instrument ist, um Einfluss auf politische Entwicklungen in Belarus selbst zu nehmen, wird von Experten wie Alexander Klaskowski mitunter bezweifelt. Größere Einflussmöglichkeiten hat die Opposition indes in der Außenpolitik. „Faktisch ist Tichanowskajas Büro“, so urteilt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch, „zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.“

    Die große Politik für Alexander Lukaschenko sei indes vorbei, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch. Dem belarussischen Machthaber bleiben vor allem Treffen mit Wladimir Putin, mit dem ihn eine fatale Abhängigkeit verbindet. Vor dem Hintergrund des Besuches von Denis Puschilin, dem Anführer der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR), in Belarus analysiert Lenkewitsch im belarussischen Online-Medium Reform.by, dass sich Lukaschenko außenpolitisch in eine ausweglose Position gebracht habe, die auch die Unabhängigkeit des Landes bedrohe.

    Der Präsident der selbsternannten Donezker Voklksrepublik (DNR) Denis Puschilin war nach Brest gereist. Dort besuchte er gemeinsam mit dem Generalsekretär der Partei Einiges Russland, Andrej Turtschak, dem Botschafter der Russischen Föderation in Belarus, Boris Gryslow, und anderen Delegationsmitgliedern aus der Pseudorepublik die Gedenkstätte Brester Festung. Am Ewigen Feuer legte man Blumen nieder.

    In seiner Erklärung nannte Puschilin Brest eine Stadt, die zum „Vorbild für Mut und Widerstand des russischen Soldaten“ geworden sei. Hier stellt sich die Frage: Warum nur „des russischen“? Die Brester Festung wurde schließlich von Soldaten verschiedener Nationalitäten der UdSSR verteidigt. Und an 1939 wagt man ja kaum zu erinnern. Dennoch setzte Puschilin den Akzent ausschließlich auf den „russischen Soldaten“. Zufall? Oder steht der „russische Soldat“ für das russländische Imperium? Hält Puschilin damit auch Brest, das Vorbild des russischen Heldenmutes, für russisch? Bedeutet das, dass Russlands ambitionierte Pläne territorial so weit reichen? Wie angemessen sind solche Äußerungen überhaupt in einem fremden Land?

    Bis zu diesem Besuch hatte die belarussische Regierung von offiziellen Gesprächen mit Vertretern von DNR und LNR abgesehen, mit Ausnahme eines Austauschs in der Trilateralen Kontaktgruppe. Den Donbass hatte der Parlamentsabgeordnete Oleg Gaidukewitsch gemeinsam mit einer Delegation seiner Partei LDPB besucht. Der in Minsk nach der erzwungenen Landung des Ryanair-Fluges festgenommene Blogger Roman Protassewitsch gab an, in Minsk von Ermittlern aus der sogenannten LNR befragt worden zu sein. Dazu äußerte sich im August 2021 auch Lukaschenko. Das war alles. Sollte es weitere Kontakte gegeben haben, so wurde es vorgezogen, sie nicht an die große Öffentlichkeit zu tragen. 

    Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr

    In einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP sagte Lukaschenko, er sehe keine Notwendigkeit und keinen Sinn in der Anerkennung der besetzten ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk als unabhängige Staaten, ebenso verhalte es sich mit der von Russland besetzten Krim. „Sollten die Krim, Lugansk und Donezk Lebensmittel, Ziegel, Zement oder Unterstützung beim Wiederaufbau benötigen, werden wir sie unterstützen. Wenn es notwendig ist, werden wir sie anerkennen. Wenn das irgendeinen Sinn ergeben sollte. Doch welchen Sinn hat es heute, ob ich sie öffentlich anerkenne oder nicht?“, erläuterte Lukaschenko seine Position. 

    Hat sich die Situation seitdem geändert? Gibt es mittlerweile diesen Sinn? Eine Wahrscheinlichkeit besteht. Der Kreml könnte Druck auf Lukaschenko ausüben und die Erfüllung der Unionsverpflichtungen einfordern. Möglich ist auch, dass Moskau die ewigen Ausflüchte des offiziellen Minsk leid ist und nun entschieden hat, dass die Zeit für die Anerkennung gekommen ist. Aus praktischen Gesichtspunkten gibt es für Russland keinen besonderen Sinn, außer dass es Lukaschenko noch mehr die Hände binden würde. Die Anerkennung der Separatistenregionen auf ukrainischem Gebiet als eigenständige Staaten würde die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine sowie deren Verbündeten nur noch zusätzlich belasten. Minsk zu nötigen, Puschilin zu empfangen, ist außerdem eine gute Option für Moskau, den Verbündeten auf seinen Platz zu verweisen. 

    Letztlich ist auch eine andere Variante denkbar: Es wird keine offizielle Anerkennung von DNR und LNR geben, da der Kreml „Referenden“ vorbereitet, die über den Beitritt der Separatistengebiete zur Russischen Föderation befinden sollen. Eine Anerkennung wäre dann gar nicht nötig. Es wird einfach mitgeteilt, dass die Vertreter der DNR angereist sind, um im Kontext des Hilfsangebotes der belarussischen Seite ihren Bedarf an Zement und Lebensmitteln zu formulieren. 

    Damit würde jedoch das Problem nur aufgeschoben. Denn es ergibt sich unvermeidlich die Frage nach der Anerkennung der Moskauer „Referenden“. Hier wird der Kreml seinem Verbündeten in jedem Fall die Daumenschrauben anlegen. Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr. Es bleibt lediglich die Hoffnung auf Erfolge der ukrainischen Armee, die solche „Referenden“ verhindern würde.

    Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei

    Oder einfach abwinken und tun, was Moskau will? Den vom Kreml zugewiesenen Platz einnehmen? Denn die bloße Tatsache des Besuchs der DNR-Delegation stellt Belarus letztlich in eine Reihe mit dieser Pseudorepublik. Man kann sich ohne Ende hinter „de jure“ und „de facto“ verstecken und der Welt weismachen, dass man niemanden anerkannt hat, sondern nur den Bedürftigen hilft – das alles sind Argumente zugunsten der Armen. Die niemand glaubt. Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei. Kamen früher noch die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident oder der US-Außenminister nach Minsk, ist es heute nur Puschilin. Und gerade dieser Besuch definiert Belarus‘ aktuelle Position in der politischen Konstellation des Kreml.

    So tummelt sich also die DNR in Brest, und Puschilin macht zweideutige Bemerkungen. Belarus ist gezwungen, einen Menschen zu empfangen, dem nicht nur die ukrainische, sondern auch die belarussische Unabhängigkeit keine Kopeke wert sind. Für den Brest höchstwahrscheinlich – wie auch Poltawa und Odessa – eine „russische Stadt“ ist. Den Moskau als Sturmbock für die Eroberung von Gebieten eines Nachbarstaates einsetzt, für die „Befreiung“ von Städten, „von russischen Menschen gegründet“. Die Glocke läutet, und dieses Läuten ist sehr besorgniserregend. 

    Weitere Themen

    Ein spätes Geschenk für Putin

    Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

    Brief an die Ukraine

    „Der Krieg mit uns selbst“

    Einigkeit der Uneinigen

    Der Flug des schwarzen Schwans

  • „Jeder, der der Ukraine irgendwie helfen kann, sollte es tun“

    „Jeder, der der Ukraine irgendwie helfen kann, sollte es tun“

    Seit Wochen befürchtet die ukrainische Führung, Alexander Lukaschenko könnte eigene Truppen in den Krieg entsenden und zusammen mit Russland eine zweite Front eröffnen. Am 3. Juli, dem Tag der Unabhängigkeit, erklärte der belarussische Machthaber in einer Rede zum Feiertag in deutlich aggressiver Rhetorik: „Wir sind das einzige Land, das die Russen in diesem Kampf unterstützt. Diejenigen, die uns Vorwürfe machen: Wussten Sie nicht, dass wir ein enges Bündnis mit der Russischen Föderation haben? Dass wir praktisch schon eine gemeinsame Armee haben …? Wir waren und werden mit dem brüderlichen Russland zusammen sein. Unsere Teilnahme an der Spezialoperation wurde von mir vor langer Zeit beschlossen.“

    Belarussische Medien berichten aktuell von Einberufungsbescheiden, die verstärkt in Belarus verschickt würden. Am vergangenen Wochenende begann das ukrainische Militär, die Grenzregion zur Ukraine zu verminen. Entsprechend hitzig wird in Medien und sozialen Medien über die Rolle von Lukaschenko und der belarussischen Gesellschaft im Angriffskrieg des Kreml gegen die Ukraine debattiert. Das ukrainische Online-Portal Ewropeiskaja Prawda kritisiert in einem Leitartikel die zweideutige Politik der ukrainischen Führung, die bis heute nicht die Beziehungen zu Lukaschenko abgebrochen, lange auf den intensiven Handel zwischen beiden Ländern gesetzt habe und immer noch zögerlich sei, einen intensiveren Dialog mit der belarussischen Opposition zu führen. So heißt es in dem Text: „Ja, Tichanowskaja ist nach wie vor eine unerfahrene Politikerin, aber sie ist für den Rest der Welt zu einem Symbol der belarussischen Opposition geworden, und Kiew ignoriert sie demonstrativ.“ Abseits der offiziellen politischen Beziehungen organisieren Belarussen in vielen Ländern Hilfs- und Solidaritätsaktionen für die Ukraine, Freiwillige kämpfen auf Seiten der Ukraine im Krieg, schon die Maidan-Proteste wurden von vielen Belarussen vor Ort unterstützt, sie zogen damals auch in den Krieg in der Ostukraine.

    Für das belarussische Online-Medium Reform.by beschäftigt sich auch der Journalist Igor Lenkewitsch mit den ukrainisch-belarussischen Beziehungen. Er plädiert dafür, mit kühlem Kopf auf die gegenwärtigen Herausforderungen zu reagieren und den Schwerpunkt der Beziehungen auf eine untere Ebene, nämlich auf die der Gesellschaften beider Länder, zu verlegen.

    Die Beziehungen zwischen den Staatsführungen von Belarus und der Ukraine sind verworren. Kiew erkennt Alexander Lukaschenko offiziell nicht als rechtmäßig gewählten Präsidenten an; und von Swetlana Tichanowskaja wurde in der Ukraine eine Vertretung eröffnet. Zugleich hat sich der ukrainische Regierungschef Wolodymyr Selensky mit Tichanowskaja noch nicht getroffen, während der Kontakt zu Lukaschenko anscheinend weiterhin besteht – wenn auch „sehr begrenzt“. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba berichtet, die Kommunikation zwischen Kiew und Minsk sei „amtlich-nüchtern“, der Kontakt bleibe aber eingeschränkt. Doch immerhin bestehen diese Kontakte. Und ungeachtet des Vorwurfs, dass Belarus sich an der russischen Aggression beteiligt, halten Belarus und die Ukraine ihre diplomatischen Beziehungen aufrecht. 

    Wolodymyr Selensky zufolge hat Lukaschenko mit gewissen Signalen zu verstehen gegeben, dass er keine Kontrolle über die Aktionen der russischen Truppen habe. Lukaschenko selbst aber gab zur feierlichen Zusammenkunft am Vorabend des Tags der Unabhängigkeit bekannt, dass ukrainisches Getreide künftig über Belarus transportiert werden soll. Die Belarussische Eisenbahn hat für diesen Gütertransport bereits eine Vorauszahlung erhalten, was ohne Kontakte auf höchster Ebene unmöglich gewesen wäre. Parallel dazu besteht ein Kontakt zu den belarussischen demokratischen Kräften. Tichanowskajas Vertretung in Kiew ist aktiv, sie soll Beziehungen zur ukrainischen Regierung aufbauen und die Interessen der Belarussen in der Ukraine schützen. Noch vor dem Krieg, im Sommer 2021, hatte Swetlana Tichanowskaja gesagt, sie und ihre Mitarbeiter seien „mit den Vertretern der ukrainischen Regierung im Gespräch“. „Mit Herrn Kuleba habe ich ein Mal online gesprochen, und vorgestern sind Herr Selensky und ich uns bei einer Veranstaltung in Litauen begegnet [gemeint war die Internationale Konferenz zu Reformen in der Ukraine, die am 7. Juli 2021 in Vilnius stattfand – Anm. von Reform.by]. „Offizielle Treffen gab es noch nicht“, erklärte Swetlana Tichanowskaja damals. Bis heute fand allerdings noch kein offizielles Treffen zwischen Swetlana Tichanowskaja und Wolodymyr Selensky statt. Man könnte meinen, die ukrainische Regierung bemüht sich, die demokratisch gewählte Regierungschefin von Belarus zu ignorieren.

    Lukaschenko hat wahrscheinlich keinerlei Kontrolle über die russischen Streitkräfte auf seinem Territorium

    Die ukrainische Führung kann man da verstehen. Vertritt man in der Ukraine gegenwärtig auch die Ansicht, die belarussische Armee sei ineffizient und im Falle einer Einmischung bloß Kanonenfutter, so gibt es dennoch wenig Interesse an einer zusätzlichen Frontlinie an der belarussischen Grenze. Denn das würde einen schweren Schlag für die Ukraine bedeuten, die gezwungen ist, den konzentrierten Vorstoß russischer Truppen im Osten abzuwehren.

    Bislang sieht es so aus, als könne auch Lukaschenko keine zweite Front gebrauchen. Er hat genug eigene Probleme mit seiner Legitimität, hat wahrscheinlich keinerlei Kontrolle über die russischen Streitkräfte auf seinem Territorium. Außerdem ist die Mehrheit der Belarussen jüngsten Umfragen zufolge gegen eine direkte Beteiligung unseres Landes am russisch-ukrainischen Krieg.

    Aber das heißt nicht, dass die Ukraine vom Norden her in vollkommener Sicherheit ist. Lukaschenko könnte der belarussischen Armee gut und gerne den Angriffsbefehl erteilen, sollte sich beispielsweise eine Niederlage der Ukraine abzeichnen. Dessen ist man sich auch in Kiew bewusst und hält sich in Bezug auf die belarussische Armee an eine vorsichtige Formulierung: „stellt derzeit keine Bedrohung dar“. In dieser Form sind die belarussisch-ukrainischen Beziehungen seit Kriegsbeginn erstarrt. Das offizielle Minsk gibt weiterhin „Signale“, und Selensky erkennt Tichanowskaja weiterhin nicht an. Denn bei einer Anerkennung wäre Kiew nolens-volens gezwungen, den zustande gekommenen Status quo dieser Beziehungen zu ändern. 

    Es ist nicht auszuschließen, dass zwischen Kiew und dem Minsker Regime geheime Absprachen bestehen. Allein schon, um unnötige Provokationen zu vermeiden. Aber auch wirtschaftliche Interessen sollte man nicht außer Acht lassen. Vor dem Krieg war Belarus ein wichtiger Handelspartner für die Ukraine. Zudem sind einige hochrangige Vertreter des ukrainischen Establishments eng mit mit unserem Land verbunden gewesen: Ukrainische Medien berichteten, David Arachamija, der Fraktionschef von Sluha Narodu und spätere Vertreter der ukrainischen Delegation bei den Verhandlungen mit der Russischen Föderation, stünde mit einigen Unternehmen in Verbindung, welche wiederum in Stromlieferungen aus Belarus in die Ukraine involviert seien. Davon ist nichts bestätigt, aber in Zeiten von Krieg und Sanktionen tauchen nicht wenige bequeme und lukrative „Grauzonen“ für alle Beteiligten auf. 

    Im Netz schlagen indes immer wieder Hasswellen hoch. Nur um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Der ukrainische Journalist Wachtang Kipiani fordert von Belarus Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen für die Beteiligung am Krieg. Ein anderer verlangt von den Belarussen eine öffentliche Verurteilung des Krieges, Massenproteste und Sabotageakte im Landesinneren (angeblich gebe es diese bislang nicht, behauptet diese Person). Es geht sogar so weit, dass einige Kommentatoren von den Belarussen erwarten, die Panzer mit bloßen Händen aufzuhalten und sich an deren Ketten zu Hackfleisch verarbeiten zu lassen. Die himmelschreiende Dummheit dieser Forderungen irritiert die Verfasser dabei nicht – aber die objektive Wirklichkeit war in der „schwarzen“ PR noch nie gefragt. Die Initiatoren solcher Endlosvorwürfe kaprizieren sich darauf, mit allen Mitteln zu beweisen, es gäbe keinen Unterschied zwischen Lukaschenko und dem Rest der Belarussen. Systematisch ziehen sie in Zweifel, dass sich Belarussen und ihre Vertreterin Swetlana Tichanowskaja gegen den Krieg aussprechen. Auch anonyme Kommentatoren versuchen mit beneidenswerter Beharrlichkeit nachzuweisen, dass es diesen Unterschied zwischen Lukaschenko und den Belarussen nicht gebe.

    Dem Hass muss man ruhig begegnen. Und rational

    All diese Hasswellen erinnern an gut geplante PR-Aktionen. Vielleicht lädt die gegenwärtige Situation in den politischen Beziehungen manche Leute dazu ein, einen Keil zwischen die Ukrainer und die Belarussen zu treiben. Aber eigentlich ist es nicht wichtig, wer dahintersteckt – Moskau oder bestimmte Kräfte in Kiew oder Minsk. Wichtig ist nur unsere Reaktion. Dem Hass muss man ruhig begegnen. Und rational. Es ist besser, die heutigen belarussisch-ukrainischen Beziehungen, mindestens mal an der Basis, ohne einen Überschuss an Emotion zu betrachten – und ohne gegenseitige Vorwürfe, man sei nicht radikal oder empathisch genug in Anbetracht der Tragödie des jeweils anderen. Jeder, der der Ukraine irgendwie helfen kann, sollte es tun, ohne Dankbarkeit oder Anerkennung zu erwarten. 

    Was Tichanowskajas Vertretung angeht, so sollten sich sie und ihr Team der Koalition gegen Putin anschließen und mit allen Mitteln zum Sieg der Ukraine beitragen. Die belarussisch-ukrainischen Beziehung wird man sowieso von neuem aufbauen müssen. Aber erst nach dem Sieg.

    Weitere Themen

    Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

    Lukaschenkos Rollenspiele

    „Der Krieg mit uns selbst“

    Einigkeit der Uneinigen