Rund ein Drittel der belarussischen Armee – die offiziell rund 65.000 Soldaten umfasst – soll die belarussische Staatsführung an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen haben. Das ukrainische Außenministerium warnte Lukaschenko vor einem „tragischen Fehler" und forderte, die Truppen wieder abzuziehen. Erst im Juli hatte Belarus seine Soldaten von der Grenze zur Ukraine abgezogen. Belarussische Beobachter halten das Manöver für psychologische Kriegsführung. Das Drohszenario, das möglicherweise auf Geheiß des Kreml inszeniert wurde, solle zusätzlichen Druck auf die Ukraine ausüben und Unruhe stiften. Die Frage aber, die sich alle stellen, ist: Ist es vorstellbar, dass Lukaschenko doch noch mit eigenen Truppen in den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingreift?
Igor Lenkewitsch vom belarussischen Online-Medium Reform hat dazu eine klare Meinung.
Eine vollständige Invasion in die Ukraine
Solch ein Szenario wäre Lukaschenkos Selbstmord. Selbst nach konservativen Berechnungen übersteigt die Zahl der ukrainischen Truppen an der Grenze zu Belarus die gesamte belarussische Armee um ein Vielfaches. Überhaupt die ganze Armee, inklusive Verwaltungsangestellter und Militärausbildern. Selbst wenn das belarussische Regime 30.000 Soldaten für einen Angriff zusammenziehen könnte, würde die kampferprobte ukrainische Armee diese in wenigen Tagen aufreiben. Darüber, dass die Grenze massiv befestigt und vermint ist, spreche ich schon gar nicht.
Experten haben wiederholt auf die unterschiedlichen Szenarien hingewiesen, unter denen Lukaschenko gezwungen wäre, aktiv in den Krieg einzutreten. Zum Beispiel könnte Putin im Falle eines katastrophalen Scheiterns der russischen Armee seinen Partner zwingen, sich einzubringen. Andererseits wäre aber auch ein Verrat nicht abwegig: Bei einer Niederlage Russlands wäre Lukaschenko der erste, der seinem „großen Bruder“ einen Dolch in den Rücken stößt.
Tatsächlich aber wäre das einzig plausible Szenario, in dem der belarussische Machthaber persönlich einer Teilnahme am Krieg zustimmen würde, der Einzug in Kyjiw als Triumphator auf den Schultern eines überwältigenden Sieges der russischen Truppen. Sozusagen, um rechtzeitig seinen Teil des Kuchens abzubekommen. Aber diese Fantasien wurden schon in den ersten Tagen des Krieges zerstört. Und nichts spricht dafür, dass sie jemals Realität werden könnten.
Bei den Wahlen zum Koordinationsrat der belarussischen Opposition, die vom 25. bis 27. Mai 2024 stattfanden, erhielt die Liste von Pawel Latuschko und der Bewegung Sa swabodu mit Abstand die meisten Stimmen. Sie wird mit 28 Abgeordneten im neuen Koordinationsrat vertreten sein. Allerdings nahmen nur 6723 Belarussen an der Abstimmung teil.
Welchen Sinn macht eine Wahl, wenn in Belarus selbst massive Repressionen herrschen und Hunderttausende Belarussen im Exil mit den zahlreichen Herausforderungen der neuen Heimat kämpfen? Welche Legitimität kann ein Proto-Parlament haben, wenn es insgesamt zu wenige Belarussen repräsentiert? Ist es aber nicht doch ein erstaunlicher Prozess, wenn eine verfolgte Opposition versucht, unter schwierigen Bedingungen einen demokratischen Prozess voranzutreiben? All diese Fragen werden in den belarussischen Medien und auf digitalen Plattformen diskutiert und erörtert. Wir haben einige Stimmen aus dieser Debatte zusammengestellt.
Der belarussische Journalist Alexander Klaskowski fragt sich, was die belarussische Opposition tun kann, um nicht noch mehr Boden in der belarussischen Gesellschaft zu verlieren.
[bilingbox]Die Frage ist auch, wie die westlichen Demokratien das Ergebnis der Abstimmung bewerten und wie sie dementsprechend mit dem neuen Koordinationsrat umgehen werden.
Die Politiker selbst sollten sich Gedanken machen, wie gut ihre Slogans ziehen und bei den Belarussen ankommen. Was sollten sie an ihren Programmen und Strategien ändern, um nicht endgültig an der harten Realität zu zerbrechen? Eine der spannendsten Fragen ist, wie sich der Koordinationsrat jetzt dem Team von Tichanowskaja gegenüber verhält. Viele Kommentatoren sahen in diesem Wahlkampf den Wunsch einiger politischer Akteure, ihre eigenen Positionen zu stärken, um Tichanowskaja und ihre Leute zu verdrängen und die Rollen auf dem Olymp der Opposition neu zu verteilen.~~~Отдельный вопрос — как оценят итоги голосования и, соответственно, как станут относиться к новому составу КС западные партнеры демократических сил. Самим политикам важно задуматься, насколько их лозунги катят, находят отклик у белорусов. Что стоит изменить в программах и стратегиях, чтобы окончательно не оторваться от суровой реальности. Одна из интриг заключается в том, как поведет себя КС в отношении команды Тихановской. Многие комментаторы видели за этой кампанией желание некоторых политических игроков укрепить свои позиции, чтобы потеснить Тихановскую и ее людей, перераспределить роли на оппозиционном Олимпе.[/bilingbox]
Zerkalo: „Der Sinn der Wahlen konnte nicht vermittelt werden”
Der Politanalyst Artyom Shraibman ist sich sicher, dass es der Opposition nicht gelungen ist, die Bedeutung der Wahlen zu vermitteln.
[bilingbox]Es ist nicht gelungen, den Sinn der Wahlen zum Koordinationsrat deutlich zu machen: nicht nur der Mehrheit der Belarussen, sondern auch bedeutenden Initiativen aus Opposition und Zivilgesellschaft. Es ist bezeichnend, dass bei der Wahl viele nicht angetreten sind, die die für Belarussen wohl die greifbarste und sichtbarste Arbeit machen: Menschenrechts- und humanitäre Organisationen wie BYSOL, die Gruppierung ehemaligerSilowiki BELPOL, die regelmäßig spektakuläre Recherchen zu Fällen von Korruption und der Umgehung von Sanktionen veröffentlicht, oder die Cyberpartisanen, die es immer wieder fertigbringen, erfolgreiche Cyberattacken durchzuführen. All diese Gruppen haben nicht die Zeit gefunden oder den Sinn darin gesehen, sich an der Wahlkampagne zu beteiligen.~~~Смысл выборов в КС не удалось объяснить не только большинству беларусов, но и некоторым значимым оппозиционным и гражданским инициативам. Показательно отсутствие на выборах нескольких структур, которые занимаются, возможно, наиболее осязаемой и заметной для беларусов работой: правозащитных и гуманитарных организаций вроде BYSOL, группы экс-силовиков BELPOL, регулярно публикующей эффектные расследования случаев коррупции и обхода санкций, или «Киберпартизан», которые все еще умудряются проворачивать успешные кибератаки. Все эти группы не нашли времени или смысла участвовать в кампании.[/bilingbox]
Nasha Niva: „Es ist nicht die Zeit für Machtkämpfe”
Unter Bedingungen von Repression und Verfolgung Wahlen durchzuführen, mache wenig Sinn, meint der Journalist Mikola Bugai.
[bilingbox]Diese Wahlen können letztlich eine positive Rolle spielen, wenn sie auch erstmal ernüchtern. Wenn sie sogar denen, die es vorher nicht begriffen haben, zeigen, dass jetzt nicht die Zeit ist, um innerhalb der Opposition Machtkämpfe auszutragen, und nicht nur nicht innerhalb der Opposition: In der gegenwärtigen geopolitischen Lage ist auch ein Machtwechsel in Belarus unmöglich. Wer denkt schon an Minsk, wenn sich der Westen noch nicht mal zur Befreiung von Melitopol entschließen kann. Jetzt ist es nicht an der Zeit, sichtbare Strukturen aufzubauen. Jetzt ist es an der Zeit, alles Stille, Nicht Öffentliche und Nicht Sichtbare zu stärken und zu mehren, das dazu beiträgt, dass Belarus belarussisch und die Belarussen Belarussen bleiben, dass sie leben und arbeiten können. Die Zeiten ändern sich, und die Politik sollte sich mit ihnen verändern.~~~Но эти выборы могут сыграть и позитивную роль, если они отрезвят. Если они покажут даже тем, кто этого раньше не понимал, что сейчас не время бороться за власть внутри оппозиции, да и не только внутри оппозиции: в сложившейся геополитической ситуации и смена власти в Беларуси невозможна. Какой Минск, если Запад не может решиться на освобождение Мелитополя. Сейчас совсем не время строить видимые структуры. Сейчас самое время, чтобы тихо приумножать любые негромкие, непубличные, непофасные дела, которые помогают Беларуси оставаться белорусской, а белорусам — оставаться белорусами, жить и работать. Времена меняются, и политика тоже должна меняться вместе с ними.[/bilingbox]
Reform: „Angst hat die Belarussen von der Wahl abgehalten”
Der Journalist Igor Lenkewitsch führt die geringe Wahlbeteiligung vor allem auf den Terror zurück, mit dem das System Lukaschenko gegen die eigene Bevölkerung vorgeht.
[bilingbox]Man kann sich zu Tode ärgern, wie schrecklich alles ist. Aber das wird kaum etwas an der Lage ändern. Genauso wenig wird auch der Terror nachlassen, mit dem das Regime gegen die Belarussen wütet. Viel wichtiger ist es, zu verstehen, wie man unter den gegebenen Umständen handeln soll. Wenn Massenkampagnen wegen der Angst derzeit nicht möglich sind, sollte man sich auf Bereiche konzentrieren, für die es keine große Teilnahme von Menschen braucht. Die negativen Erfahrungen dieser Wahlen muss man sich genau anschauen. Und es wäre der größte Fehler zu glauben, dass die Angst, die sich in der Gesellschaft eingenistet hat, schnell und einfach überwunden werden kann.~~~Можно убиваться по поводу того, насколько все ужасно. Но от этого положение дел вряд ли изменится. Равно как не ослабнет террор, который режим обрушил на беларусов. Гораздо важнее понять, как действовать в сложившейся обстановке. И если фактор страха не дает возможностей проводить массовые кампании, сфокусировать внимание на тех направлениях, которые не требуют вовлечения в процесс значительного количества людей. Негативный опыт этой кампании необходимо осмыслить. И самой большой ошибкой было бы считать, что поселившийся в обществе страх удастся быстро и легко переломить.[/bilingbox]
Die Cyberpartisanen haben die offizielle Webseite des belarussischen KGBgehackt und konnten dabei Datenbanken erobern, darunter auch rund 40.000 Nachrichten, die von 2014 bis 2023 über die Website an den Geheimdienst gesendet wurden. Belarussische Medien haben diese Nachrichten durchforstet und dabei Denunziationen ausfindig gemacht, in denen Menschen andere beim KGB anschwärzen. Es sind nicht nur Belarussen, die ihre Landsleute denunzieren, sondern auch Russen oder sogar EU-Bürger, die sich mit Vorwürfen, Verdächtigungen und Handlungsaufforderungen an die Geheimdienstler wenden. Der Historiker Aljaxandr Paschkewitsch meint, dass „das Ganze zunächst systematisiert“ werden müsse, um allgemeine Schlussfolgerungen aus den Funden ziehen zu können. Es sei jedoch klar, dass es sich bei der Mehrheit nicht um eindeutige Denunziationen handeln würde, sagt Paschkewitsch. Die Redaktion der Online-Plattform Nasha Niva hat recherchiert, dass es sich beim weitaus großen Teil der Nachrichten um Spam handelt, dazu kommen Meldungen von Menschen, die offensichtlich psychisch krank sind, und zahlreiche Anfragen von Menschen zu Verwandten und Bekannten, die in der Zeit des Großen Terrors verschwunden sind, oder zu Menschen, die nach den Protesten von 2020 festgenommen wurden. „Es ist schwierig, eine konkrete Zahl der tatsächlichen Denunziationen von Belarussen zu nennen, eine manuelle Zählung wäre erforderlich.“ Höchstwahrscheinlich übersteige ihre Zahl, schätzt Nasha Niva, nicht 1000 bis 2000 Nachrichten.
Igor Lenkewitsch vom Online-Medium Reform hat sich eine Auswahl an Denunziationen genauer angeschaut. Darunter viele Hinweise auf Menschen, die während und nach den Ereignissen von 2020 die weiß-rot-weiße Protestsymbolik verwendeten, die mittlerweile verboten ist, aber vor allem auch Nachrichten von Leuten, die Kollegen oder Nachbarn offensichtlich eins auswischen wollten, und sogar ein Angebot von einer Initiative, die sich mit einem absurden Plan dem KGB andienen wollte.
Nachbarn, Kollegen, Mitbewohner
„Ich möchte der Organisation zur Terrorismusbekämpfung mitteilen, dass *** im staatsnahen Einkaufszentrum Korona im Restaurant Amsterdam arbeitet, die die weiß-rot-weiße Bewegung vorbehaltlos unterstützt, ihr Profil auf Facebook heißt ***, solche Menschen sollten nicht in Unternehmen der Republik Belarus arbeiten.“
Diese Anzeige wurde eindeutig von einem oder einer Bekannten erstattet. Oder einem Kollegen, einer Kollegin. Vielleicht sind sie aneinandergeraten, waren sich uneinig über das Speisenangebot oder darüber, wie die Kunden zu bedienen seien? Wir können nur raten. Aber hier ist sie, die Anzeige, und zwar nicht irgendeine, sondern bei der Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Wenn schon, denn schon.
Hier das Schreiben einer Dame aus Baranowitschi: „In unserem Büro arbeiten unter anderem *** und ***, die seit Juli/August 2020 bis heute während der Arbeitszeit Nachrichten aus extremistischen, staatsfeindlichen Quellen besprechen, sich aggressiv gegen den Präsidenten und die Regierung äußern, auf widerliche und zynische Weise die Staatssymbolik beleidigen und gehässig und boshaft die staatlichen Sicherheitsstrukturen und Strafverfolgungsbehörden durch den Dreck ziehen. Im Herbst letzten Jahres brüsteten sie sich unverhohlen mit ihrer Teilnahme an nicht genehmigten Weiß-Rot-Weiß-Demonstrationen.“
Und hier noch die Denunziation einer Staatsbürgerin, die sich nicht als „Petze“ empfindet: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich einen Mann kenne, der die Situation in Lida destabilisieren will. Er ist weiß-rot-weiß gesinnt und vor ein paar Tagen, soweit mir bekannt, aus dem Ausland eingereist. Was er dort macht, weiß ich nicht, aber er hat eine Summe von über 15.000 Euro mitgebracht. Ich weiß, er hat Geldkarten von europäischen Banken. Ich bin mir sicher, so provokativ wie er eingestellt ist, dass dieses Geld den smahary zugute kommen wird. Ich bitte Sie sehr, diesen Mann zu überprüfen, weil das zu Unruhe führt. Ich weiß, dass er zu Demonstrationen geht, in seinem Mobiltelefon werden Sie genügend Informationen finden. Ich habe mich nie für eine, entschuldigen Sie die Wortwahl, Petze gehalten, aber ich mache mir große Sorgen um die Zukunft meines Landes und der Kinder.“ Es folgen die Daten der Person, gegen die sich die Anzeige richtet. Natürlich ausschließlich aus Sorge „um die Zukunft“.
Weiter geht’s. Der Direktor der *** GmbH namens – vollständiger Name – „beschäftigt Anhänger der weiß-rot-weißen Bewegung, die aus dem Belarussischen Metallurgiewerk BMS entlassen wurden. Normale Leute nimmt er nicht. Wir bitten, Maßnahmen zu ergreifen und das zu klären.“ Man kann davon ausgehen, dass diese Anzeige von so einem „Normalen“ stammt, der sich beworben hatte und der, aus welchen Gründen auch immer, abgeblitzt ist. Woraufhin er das einfach so hingeschmiert hat.
Sie führt ein Doppelleben, und ich halte das für Verrat
Auch Nachbarn lassen sich zu Denunziationen hinreißen. Zum Beispiel ein Minsker aus der Prityzki-Straße: „Guten Abend. An der Adresse *** wird eine Wohnung an verdächtige Leute vermietet. Immer wieder hängen sie weiß-rot-weiße Fahnen auf und laden Gäste ein, die laut sind. Ich bitte, diese Wohnung und ihre Mieter zu überwachen. Und den Vermieter zur Rede zu stellen.“ So sind die Methoden im Kampf gegen lärmende Nachbarn.
Und auch das kommt aus Minsk, von wachsamen Nachbarn in der Rafijew-Straße: „Wir melden Ihnen, dass die beiden in der Wohnung Nr. *** wohnenden Frauen, von der die eine *** heißt und die jüngere ihre Tochter *** ist, Verachtung für die vom Präsidenten der RB [Republik Belarus – dek] durchgeführte Politik äußern, andere dazu anstiften, Unzufriedenheit kundzutun und abends zu Protestaktionen im Hof einladen.“
Nein, wir haben natürlich nicht das Jahr 1937. Die Nachbarn denunzieren nicht, um das Zimmer in der Kommunalka zu bekommen, das nach der Verhaftung der Beschuldigten frei wird. Die Wohnung Nr. *** wird ihnen keiner zusprechen, und das wissen sie. Ist ihr Motiv also der gute alte Klassenhass?
Hier geht es um beinah verwandtschaftliche Beziehungen: „Guten Tag! Meine Aufgabe ist, Folgendes mitzuteilen, was Sie mit der Info machen, ist Ihre Sache. Die Schwester meines Mitbewohners *** ist Staatsbürgerin der RB und arbeitet seit zehn Jahren in Belgien. Sie ist Programmiererin. Sie lebt jetzt mit ihrem Chef zusammen. Meinem Mitbewohner zufolge ist es ihr gemeinsamer Job, Informationen zu sammeln und zu verkaufen. Sie kommen immer einmal im Jahr hierher, dieses Jahr zweimal. Wir unterhielten uns, und offenbar ist sie eine glühende Russophobin, Anhängerin der weiß-rot-weißen Sekte und aller faschistischen Führungsmethoden, die in der Ukraine zur Anwendung kommen. Das letzte Mal waren sie ungefähr vom 7. bis 11. Dezember da.“ Diese Bürgerin verdächtigt also die Schwester ihres Mitbewohners, Spionage zu betreiben. Was sie eilig den Behörden meldet.
Und hier eine sehr traurige Geschichte: eine Denunzierung der Ex-Freundin. Die Anzeige ist lang, daher fasse ich sie zusammen und füge Zitate ein. „Guten Tag. Ich halte es für meine Pflicht, Sie über eine gewisse Person zu informieren“, eröffnet der Verfasser sein Opus. Er erzählt von einer Journalistin der staatlichen Medien, die „seit dem 18. August 2020, wie auch ihre Verwandten, an Demonstrationen teilnahm. Aus Gründen lebten wir zusammen, und nach den Wahlen am 9. August, als alles begann, verbat ich ihr, etwas auf die Straße zu gehen. Aber sie hat nicht auf mich gehört.“
„Bald sprach sie nach der Arbeit immer öfter davon, dass alles schlecht sei und man etwas unternehmen müsse. Am 12. Dezember 2020 fing sie sehr schnell und nervös davon an, dass wir dringend nach Piter müssen, weil alles ganz schlimm sei und keiner wisse, wie das weitergehe. Ich beschloss, mit ihr auszureisen. Immerhin war sie meine Freundin. Wir holten ihre Tochter, und am 26. Dezember brachte ich uns alle auf illegalem Weg nach Piter. Im Nachhinein ist mir klar, dass das ein riesiger Fehler war. So lebten wir bis April. Der Umzug nach Piter kostete mich enorm viel Geld, das ich mir geliehen habe und immer noch schulde. Doch im April fingen wir an zu streiten, sie ging zurück nach Belarus, und Ende Juni sah ich sie wieder im Fernsehen. Das fand ich sehr unangebracht, weil sie ja für die Opposition eintritt. Und mir wurde natürlich klar, dass sie mich einfach vorübergehend für ihre Zwecke benutzt hat. Sie führt ein Doppelleben und ich halte das für Verrat.“
Dann fügt der Verfasser hinzu, dass er bereit sei, „als Zeuge auszusagen, wenn nötig, unter Anwendung eines Lügendetektors.“ Er mache das nicht „aus Rache, weil wir getrennt sind, sondern weil ein Mensch für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden und dafür einstehen muss“. „Außerdem habe ich ihretwegen gesundheitlichen und finanziellen Schaden erlitten (hohe Schulden) und meine psychische Stabilität eingebüßt. Ich bitte, in dieser Angelegenheit für Gerechtigkeit zu sorgen. Danke.“
Die Leute, die diese Anzeigen schrieben, gingen wahrscheinlich davon aus, dass die Schriftstücke geheim bleiben würden. Aber dann kam es anders. Die Lustrationen von Seiten der Hacker begannen unerwartet früh. Das ist aber alles nur die Spitze des Eisbergs: Obige Denunziationen wurden allein anhand des Suchbegriffs „weiß-rot-weiß“ in der Datenbank gefunden. Mit anderen Suchbegriffen kann man bestimmt noch viel Aufschlussreiches ausheben. Aber das Grundmotiv ist klar. In diesen konkreten Fällen braucht man nicht anzufangen, über den Grad der ideologischen Spaltung der Gesellschaft nachzudenken – in meinen Augen ist das ganz banale Rache.
Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen
In anderen Fällen darf man ideologische Motive jedoch nicht ausschließen. Manchmal wenden sich idealistische Bürger sogar mit konkreten Anregungen und Empfehlungen an den KGB. So schlägt hier ein Genosse noch härtere Maßnahmen vor: „Wenn im Gefängnis kein Platz mehr ist, bringt sie doch in Militärkasernen und lasst sie die Drecksarbeit machen, Minderjährige eingeschlossen.“
„Die Verletzten sollten am besten einzeln weggesperrt werden, denn gerade für Fotos mit Zusammengeschlagenen gibt es gutes Geld. Außerdem braucht es Höchststrafen für bezahlte Demonstranten und finanzielle Anreize für Leute, die aktiv jede Aktivität der Weiß-Rot-Weiß-Bewegung unterwandern“, raten andere. Wieder andere bieten schlicht ihre Dienste als Spitzel an: „Ich hasse diese smahary, die für irgendeinen Mist kämpfen, mit ihrer weiß-rot-weißen Fascho-Symbolik. Deshalb bin ich bereit, bei Bedarf Informationen weiterzugeben, die Ihnen, den Wächtern des Vaterlands, dabei helfen, das Land vor dem Verfall zu retten, damit es nicht wird wie … in der Ukraine zum Beispiel … Ich stehe für jede Art von Zusammenarbeit zur Verfügung. Bitte geben Sie meine Adresse nicht weiter. Ich befürchte Konspiration. Danke Ihnen für alles! Allein schon dafür, dass ich mich mitteilen konnte.“
Mit Kuhmist gegen Proteste
Eine Bürgerinitiative hat dem KGB sogar einen detaillierten Plan „zur endgültigen Unterbindung bezahlter Demonstrationen“ vorgelegt. Sie nennen das Projekt Operation Pastuschok (dt. kleiner Hirte) und behaupten, es sei „bestens auf die Mentalität unserer Landsleute zugeschnitten, überaus einfach und rentabel“. Diese Initiative verdient eine eingehendere Betrachtung. Für die Umsetzung ihres Vorhabens benötigen die Verfasser 50 Kühe, eine zwanzigköpfige Menschengruppe und Tierfutter. Die Menschen sollen „die Zunge im Zaum halten können und dabei freundlich sein, insbesondere gegenüber Journalisten. So sollen dann eines schönen Morgens in der Nähe des Unabhängigkeitsplatzes 50 Kühe unter Aufsicht von fünf bis acht Menschen auftauchen, „die die Rolle der Landwirte übernehmen". Sobald sich die bezahlten Demonstranten auf dem Platz versammeln, soll sich die Herde in deren Richtung bewegen.
Ein Wort an die Planer: „Die Bauern sollen mit polnischen weiß-rot-weißen Flaggen laufen und höhere Löhne, den Bau eines großen landwirtschaftlichen Betriebs sowie einer Molkerei fordern. In regelmäßigen Abständen sollen vier bis fünf Personen Futter für die Kühe bringen. Die wütenden Bauern sollen die Demonstranten so weit wie möglich einbeziehen, um beim Verteilen von Heu und Füttern der Kühe zu helfen. Danach ist es an der Zeit, die Kühe zu melken, woran sich die Demonstranten ebenfalls beteiligen sollen. Für ihre Mitarbeit bekommen sie kostenlos leckere, noch warme Milch. Nach einer Weile werden die Kühe anfangen, auf den Platz zu scheißen. Wenn die Demonstranten sich nicht daran stören, bleibt der Kuhmist einfach liegen und wenn doch, dann sollen die Bauern den Demonstranten Schneeschaufeln geben und sie der Reihe nach die Fäkalien auf einen Haufen schaufeln lassen. Die Polizei soll davon KEINE Notiz nehmen.
Die wütenden Bauern sollen darauf hinweisen, dass sie keine Zeit zum Putzen haben. Eine der Kühe könnte man im Laufe der Aktion zusammen mit den Demonstranten weiß-rot anmalen und die Demonstranten dazu ermuntern, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Diese Kuh wird so für ein paar Tage zum Symbol der Demonstranten.
Der Überraschungseffekt: Die gemeinsame Arbeit bewirkt einen Schulterschluss der wütenden Bauern mit den Passanten. Zunächst werden die Demonstranten das Geschehen mit Interesse verfolgen, bis sie irgendwann durch Kuhmist laufen müssen in typisch würziger Landluft. Dann ist der Moment gekommen, den Demonstranten seitens der Stadtverwaltung vorzuwerfen, dass sie sich nicht nur wie Schafe benehmen, sondern wie eine ganze Viehherde. Man kann sie zum Beispiel beschuldigen, dass sie die Hauptstadt zuscheißen oder spontan andere Vorwürfe gegenüber den Demonstranten und ihren Organisatoren erfinden. Das Ergebnis: Die bezahlten Demonstranten werden sich weigern, weiterhin für 30 Dollar Honorar durch Scheiße zu laufen und sich die Kleidung dreckig zu machen. Entweder werden sie Geld von den Organisatoren fordern oder weggehen. Oder man könnte mit Hilfe der Kühe ganz aus Versehen die aktivsten Demonstranten von den Plätzen wegdrängen.
Denkbar ist, dass die Organisatoren den Demonstranten dann ein höheres Honorar zahlen oder sie an einen anderen Ort schicken. Die ‚wütenden Bauern‘ sollen dann ebenfalls den Ort wechseln und den bezahlten Demonstranten folgen – und hier kommen nun die anderen Leute aus der Gruppe ins Spiel, die diskret als Informanten fungieren und vorgeben, wohin sie die Herde treiben sollen. Die Kundgebung der Opposition wird mit dem Geruch von Scheiße assoziiert in Erinnerung bleiben. Fazit: Mit Ihrer Erlaubnis wird die Pastuschok-Methode zum ersten Mal in der Geschichte der Farbrevolutionen dazu beitragen, die Pläne der Übeltäter und Landesverräter endgültig unschädlich zu machen.“
Weiterhin bekunden die Autoren des Konzepts ihre Bereitschaft, „zum Wohle unseres Staatsoberhaupts und unseres Belarus persönlich und unentgeltlich an dieser Aktion teilzunehmen.“
Kaum auszudenken, was aus Minsk geworden wäre. Was soll man von diesem Vorschlag halten? Ist das eine ernstgemeinte Initiative „von unten“ oder ein erstklassiger Fake? Mit solchen Verbündeten braucht man jedenfalls keine Feinde. Man muss ihnen nur die Initiative überlassen. Und nein, ich weiß nicht, warum so viele Denunzianten nicht ordentlich schreiben können. Wobei das viel aussagt.
Das Ganze wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre. Dabei ist es nicht einmal so wichtig, ob die Denunziationen aus Liebe zum Regime oder aus persönlichen Rachegelüsten heraus erfolgen. Fest steht, dass sie unter den Bedingungen der anhaltenden Repressionen immer zahlreicher werden. Wahrscheinlich haben die Optimisten recht, und wir befinden uns noch nicht im Jahr 1937. Aber wo dann? Anfang der 1930er?
Im Gegensatz zu russischen Vereinen und der russischen Nationalmannschaft dürfen Vertreter des Fußballs aus Belarus weiterhin an europäischen Wettbewerben teilnehmen. Belarussische Vereine und der Verband wurden im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Verstrickung der belarussischen Staatsführung in die Großinvasion nicht sanktioniert. Während es ein Verein wie BATE Borissow in der Vergangenheit sogar in die Gruppenphase der Champions League schaffte und sich auch andere Vereine für die Gruppenphasen der europäischen Wettbewerbe qualifizieren konnte – mittlerweile befindet sich der belarussische Fußball in einer tiefen Krise. Ein entscheidender Grund dafür ist auch die enge Verstrickung des Fußballs mit dem politischen und staatswirtschaftlichen System von Alexander Lukaschenko. Die Führung über den Fußball übernehmen also keine Experten, sondern vor allem staatliche Funktionäre, die auch die politische Kontrolle sicherstellen sollen. Die organisierten Fanszenen des Landes wurden durch Repressionen und Verfolgung nahezu vollständig zerschlagen, sodass die Spiele der höchsten Klasse des Landes kaum noch Zuschauer anziehen.
Lukaschenko, der sich bekanntlich eher für Eishockey begeistert, zeigte sich bei einem kürzlich einberufenen Treffen mit Sportfunktionären wenig begeistert vom Zustand des Fußballs im Land. In einem Beitrag für das Online-Medium Reform.by erklärt Igor Lenkewitsch nicht nur dem Leser, sondern indirekt eben auch Lukaschenko, warum der Staatschef und sein Machtwahn das eigentliche Problem für den Fußball sind. Ein tiefer Einblick in die Machtspielchen des belarussischen Fußballs.
Kürzlich lenkte Alexander Lukaschenko die Aufmerksamkeit wieder einmal auf „die beliebteste Sportart unserer Bevölkerung“. Die Ergebnisse seien mau, die Spielergehälter unangemessen hoch. Und noch dazu habe der neue Chef des Fußballverbands dem Sportminister irgendeine Information vorenthalten. Dabei ist es ausgerechnet das staatliche System mit seinen Entscheidungen, das den belarussischen Fußball immer tiefer und tiefer in den Abgrund reißt.
Keine der bisherigen Manöverkritiken Lukaschenkos hatten positive Auswirkungen auf den hiesigen Fußball. In Erinnerung geblieben ist eine Konferenz zur Entwicklung des Fußballs im Jahr 2018, an deren Beginn Lukaschenko den damaligen Vorsitzenden des Belarussischen Fußballverbandes Sergej Rumas sowie die anderen anwesenden Funktionäre und Trainer fragte: „Schämt ihr euch nicht für den Zustand des Fußballsports in unserem Land?“ Aus den Fotos dieser Veranstaltung kann man schließen, dass sie sich schämten. Sie sitzen mit gesenkten Köpfen da.
Im belarussischen Fußball stecken zu viel Staat und äußerst wenig Eigenständigkeit
Bei dieser Konferenz wurde beschlossen, eine einheitliche Trainingsmethodik für den Fußballnachwuchs einzuführen. Damit sollte, so die Idee, der Fußball aus seinem Tief geholt werden. Zudem erklärte Lukaschenko damals, der Belarussische Fußballverband müsse reorganisiert werden. „Es müssen kompetente Leute gefunden und ein guter Verband geschaffen werden, der die Trainer unterstützt, kontrolliert und steuert“, sagte er. Ein Jahr später legte Rumas sein Amt nieder. Als Nachfolger kam der ehemalige Militärkommissar der Oblast Brest, der Parlamentsabgeordnete Wladimir Basanow. Die im Land etablierte Tradition, ehemalige Sicherheitskräfte und Militärs an der Spitze von Sportverbänden zu installieren, ist schon zum Gegenstand allgemeinen Spotts geworden. Die jahrelange Praxis zeigt, dass es keinen Effekt hat, auf militärische Ordnung und harte Disziplin zu setzen, um eine bestimmte Sportart voranzubringen. Im Sport genügt es nicht, „Im Laufschritt Marsch“ zu rufen und das Wort „schnell“ zu ergänzen. Da müssen Profis ran. Das heißt auch, dass sie sich an der Arbeit beteiligen, auf Positionen unter dem jeweiligen Militärkommissar. Ab da greift die Theorie der negativen Auslese – diejenigen, die dem Militärkommissar widersprechen, leben sich im System nicht ein. An der Oberfläche schwimmen die, die noch das dümmste Unterfangen unterstützen. Wir ergänzen noch das dünne politische Eis, auf dem sich die vaterländischen Sportler und Funktionäre bewegen und erhalten die zwei Schlüsselprobleme des belarussischen Sports: In ihm steckt zu viel Staat und äußerst wenig Eigenständigkeit.
Bankier – Artillerist – Tierwirt
Der Bankier Rumas wurde gegen den Artilleristen Basanow ausgetauscht – und für den einheimischen Fußball schämte man sich immer mehr und mehr. Es gibt den Ausdruck „Fremdschämen“, bei uns müsste man dafür den Begriff „Fußballscham“ einführen. Die Ergebnisse der Nationalmannschaft und der anderen Ligen wurden immer schlechter. Zu dem Zeitpunkt, als die bereits erwähnte Konferenz stattfand, in der Spielzeit 2018/19, spielte BATE Borissow noch in der Europe League. Seitdem ist kein belarussischer Verein mehr über die Qualifikationsrunde hinausgekommen. Von der Nationalmannschaft ganz zu schweigen – die Anzahl der Spiele ohne Sieg droht als Errungenschaft ins Guinness-Buch der Rekorde einzugehen.
2021 machte Lukaschenko dem neuen Vorsitzenden des Belarussischen Fußballverbands (ABFF) Basanow bereits die Hölle heiß. Und wieder ging es um Scham. „Ich verstehe nicht, warum du die Spieler gestern aufs Feld gelassen hast. […] Es war beschämend, zuzuschauen“, maßregelte er den Verbandschef. „Es ist erbärmlich, was der Fußball heute bietet, das geht gar nicht.“ Auch der Sportminister, Sergej Kowaltschuk, bekam da sein Fett weg. Und was brachte es? Nichts. Sie plauderten und gingen ihrer Wege. Umgehende organisatorische Konsequenzen folgten nicht. Bassanow blieb nur eine Amtszeit in seiner Funktion als Verbandschef. 2023 wurde schon der dritte Fachmann Vorsitzender des ABFF: Nikolaj Scherstnjow, ehemaliger Vorsitzender der Witebsker Gebietsverwaltung, Absolvent der tierwirtschaftlichen Fakultät der Witebsker Staatlichen Akademie für Veterinärmedizin.
Als Kommentar zu diesem Ringelspiel an der Spitze des Belarussischen Fußballverbands stellte ein Bekannter von mir eine interessante Hypothese auf. Zuerst wurde beschlossen, dass es dem Fußball an finanziellen Mitteln mangele, und man ernannte einen Bankier. Dann, dass man lernen müsse, zielgenau zu treffen. Da wurde ein Artillerist engagiert. Und dann begriffen sie, dass Selektion notwendig sei. Also holten sie einen zuchterfahrenen Tierwirt. Lustig? Nun ja. Obwohl es in dem beschriebenen Konstrukt, anders als in der Realität, wenigstens eine gewisse Logik gibt. Von Selektion hatte man ja schon 2018 gesprochen. Sogar ein entsprechendes Programm war ausgearbeitet, bestätigt und eingeführt worden. Und nun, sechs Jahre später, fordert Lukaschenko wieder ein, dass innerhalb von sechs Monaten Ordnung ins System des Fußballtrainings gebracht werden müsse.
Negative Selektion
Nach den Ereignissen von 2020 riefen viele belarussische Fußballer dazu auf, die Gewalt im Land zu stoppen. Wohlbemerkt – sie forderten keinen Machtwechsel oder eine Überprüfung der vom Regime verkündeten Wahlergebnisse. Sie hofften einfach nur, das Land könne in einen gewissen Gesetzesrahmen zurückkehren. Und schon das genügte, um auf „schwarze Listen“ zu gelangen. Die Spieler blieben faktisch arbeitslos zurück – ihnen wurde verboten, für die Klubs zu spielen, bei denen sie unter Vertrag standen.
Die Geschichte zieht sich nun schon längere Zeit hin. Ein gefragter Spieler hat das Land verlassen, um bei ausländischen Meisterschaften für eine zweit- oder drittklassige Mannschaft anzutreten. Ein anderer kehrte dem großen Sport gezwungenermaßen den Rücken. Ein dritter zeigte offen Reue, um sich von der Schuld freizukaufen.
Dem Vernehmen nach rührt aus dieser Gemengelage auch der Konflikt des neuen Verbandschefs Scherstnjow mit dem Sportministerium und dessen Oberhaupt Kowaltschuk, den Lukaschenko in seiner Ansprache erwähnte. Scherstnjow kann man zum Vertreter einer Politik des „eine neue Seite aufschlagen” zählen – er tritt dafür ein, dass alle Spieler, gegenüber denen politische Zweifel bestanden, ohne zusätzliche Auflagen eine Amnestie erhalten. Kowaltschuk wiederum forderte „aktive Buße“, beispielsweise sollen die Spieler eine Begnadigungskommission durchlaufen. Bislang steht es 1:0 für das Sportministerium: Die Rückkehrkommission der Republik Belarus entschied im Januar, sieben Fußballspieler wieder spielen zu lassen. Allerdings stehen auf der „schwarzen Liste“ bedeutend mehr Namen. Es ist anzunehmen, dass die unterschiedlichen Auffassungen dazu die Ursache des Konflikts zwischen Verbandschef und Sportminister sind.
Verlierer dieses verdeckten Machtgerangels ist der Fußball
Wobei es auch in der Vergangenheit Konflikte zwischen Ministerium und Verband gab: Es war ein Kampf um Einflusssphären. Tatsache ist, dass der Fußballverband einen Großteil der finanziellen Mittel für seine Tätigkeit und Projekte von der FIFA und dem Europäischen Fußballverband (UEFA) erhält. Dadurch ist der Verband weniger abhängig vom Staat und vom Sportministerium als andere unserer nationalen Sportverbände. Das ärgerte die Chefetage des Ministeriums. Zu Zeiten des einflussreichen Verbandschefs Sergej Rumas wurde dem Ministerium oft mit klaren Worten eine Abfuhr erteilt. Mit Basanow änderte sich die Situation deutlich, der Belarussische Fußballverband hob nun bei jeglichen Anordnungen des Ministers oder seiner Vertreter die Hand zum Mützenrand. Es ist anzunehmen, dass das Sportministerium jetzt, indem es mit Scherstnjow bricht, die Bewahrung eines für sich selbst günstigen Beziehungsmodells einfordert. Der Verbandsvorsitzende wiederum bemüht sich, nach Möglichkeit der Hyperaufsicht des lästigen Ministeriums zu entkommen. Zumal Scherstnjow größeres Gewicht hat als sein Vorgänger Basanow.
Es spielen nicht die Besten, sondern die politisch Verlässlichen
Verlierer dieses verdeckten Machtgerangels ist der Fußball. Die Spieler, darunter auch starke, gemessen an unserer Nationalliga, sitzen auf der Ersatzbank. Oder sie verlassen das Land. Letztlich sinkt dadurch das Niveau der Landesmeisterschaft. Und darin besteht die negative Selektion – es spielen nicht die Besten, sondern die politisch Verlässlichen. Die Fans ignorieren demonstrativ die Spiele und zeigen damit ihre Einstellung zu alldem. Das Regime sollte sich also zunächst selbst an die These der Trennung von Sport und Politik erinnern, bevor es sie auf internationaler Ebene einfordert.
Als weiteres Problem kommt die Begrenzung der Trainer- und Spielergehälter hinzu, die der Staat ab der Saison 2021 eingeführt hat und bis heute unablässig weiter herabsetzt. Das zieht starke Legionäre aus der Landesliga ab, die oft noch weitere Landsleute mitnehmen. Zudem sind die Möglichkeiten der Klubs zur Sponsorensuche durch die allgemeine wirtschaftliche Situation des Landes eingeschränkt. So verlor Naftan Nowopolozk beispielsweise vor Kurzem das Unternehmen als Sponsor, dessen Namen der Fußballklub trägt. Auch die Beschränkung des Einsatzes von Nachwuchsspielern auf dem Platz ist nicht förderlich, da es dazu zwingt, die Spieler abhängig vom Geburtstag und nicht von Fähigkeiten und Trainingsstand einzusetzen. Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen, die die Entwicklung des einheimischen Fußballs fördern sollten, gereichen ihm also in Wirklichkeit zum Nachteil.
Die Regierung soll den Fußball besser aus ihrem Interessenfeld streichen
Dennoch suggeriert man weiterhin lebhafte Geschäftigkeit. Heute wurde zum wiederholten Mal entschieden, die „Technologie zur Ausbildung des Fußballspielers“ zu ändern. Zum wievielten Mal? Auch der aktuelle Anlauf im Fußball wird also offensichtlich ohne Erfolg bleiben. Häkchen gemacht, geredet, weitergezogen. Mit weiteren Rücktritten, Umbesetzungen und Programmen ist der Sache auch nicht zu helfen. Denn die Praxis zeigt: Je mehr sich der Staat in eine Handlungssphäre einmischt, desto schlimmer wird die Situation in dem Bereich.
Die Regierung soll den Fußball besser endlich vergessen, aus ihrem Interessenfeld streichen, so als würde er überhaupt nicht existieren. Kein Geld geben, aber auch keine Ratschläge. Dann lernt die Fußballwelt entweder, selbständig zu schwimmen, oder sie geht unter. Wohin der Weg eben führt. Ein solch radikaler Ansatz wäre übrigens der Entwicklung des gesamten belarussischen Sports zuträglich, nicht nur im Fußball.
Zehntausende Belarussen wurden nach den Ereignissen im Jahr 2020 Opfer von Repressionen und Verfolgungen, Hunderttausende haben aus Angst und Perspektivlosigkeit das Land verlassen. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine beeinflusst die Stimmung in der belarussischen Gesellschaft. Eine Studie hat genau die untersucht. Sie zeigt, dass die Konfrontation zweier nationaler Ideen kritische Formen annimmt und einen Dialog zwischen Vertretern dieser polarisierten Gruppen praktisch unmöglich macht. Das Online-Medium Reform.by hat sich die Studie angeschaut. Hier die wichtigsten Ergebnisse.
Die Studie Belarussische nationale Identität im Jahr 2023 wurde im November von unabhängigen Soziologen mithilfe der Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt. Die Daten wurden mittels einer Online-Umfrage erhoben, bei der die Fragebögen von den Befragten selbst ausgefüllt wurden (Computer Assisted Web Interviewing – CAWI). An der Umfrage nahmen 1205 Personen aus belarussischen Städten mit über 20.000 Einwohnern teil. Die Stichprobe ist hinsichtlich von Geschlecht, Alter und Bildungsstand repräsentativ.
Die Soziologen stellen fest, dass die politische Krise, die 2020 in Belarus einsetzte, weiterhin die Lage im Land beeinflusst. Hinzu kommen der russisch-ukrainische Krieg und weltpolitische Veränderungen. Die Menschen in Belarus sind durch eine ganze Reihe von Ansichten polarisiert, eine zentrale ist dabei die nationale Identität. Diese wurde für viele zu einem Prisma, durch das die Bewertung des aktuellen Geschehens und der Zukunft des Landes erfolgt.
Zwei nationale Projekte
In Belarus existieren heute zwei konkurrierende nationale Projekte, die von Wissenschaftlern als russisch-sowjetisch bzw. als nationalromantisch beschrieben werden. Das erste greift auf das sowjetische Erbe zurück, ist auf Russland ausgerichtet und stellt den Staat als nationsbildende Institution in den Vordergrund. Das zweite ist eher proeuropäisch, bezieht sich auf die vorsowjetische Geschichte und betrachtet die belarussische Kultur als wesentliches Element der Nation. Der Kampf und die Wechselbeziehungen dieser Projekte wie auch der Einfluss der gegenwärtigen Identität Russlands, des Kosmopolitismus und national indifferenter Haltungen bestimmen die Besonderheiten der nationalen Identität der Belarussen.
An den äußeren Identitätspolen sind zwei Gruppen angesiedelt, die „[National]bewussten“ (13 Prozent) und die „Sowjetischen“ (37 Prozent). Erstere engagieren sich für einen nationalromantischen Entwurf und orientieren sich an der belarussischen Kultur und Sprache sowie an der vorsowjetischen Geschichte des Landes. Für sie sind nationale Symbole und bedeutsame Gedenkdaten wichtig, etwa das Pahonja-Wappen, die weiß-rot-weiße Flagge, volkstümliche und geschichtsbezogene Feiertage wie der Jahrestag der Ausrufung der Belarussischen Volksrepublik.
Die Gruppe der „Sowjetischen“ hängt – wie der Name schon sagt – einer Vorstellung an, die sich auf das russisch-sowjetische Imperium, das Erbe der belarussischen Sowjetrepublik und die Nähe zu Russland bezieht. Angehörige dieser Gruppe vertreten die Vorstellung von der Dreieinigkeit einer [ost]slawischen Nation. Zu ihren Symbolen und Gedenktagen gehören die rot-grüne Flagge, Staatsunternehmen, die Paraden [zum offiziellen Unabhängigkeitstag – dek] am 3. Juni und [zum sowjetischen Tag des Sieges – dek] am 9. Mai.
Zwischen diesen beiden Polen liegen die Gruppen der „sich Entwickelnden“ (19 Prozent), der „Gleichgültigen“ (27 Prozent) und der „Russifizierten“ (4 Prozent). Für die „sich Entwickelnden“ sind die Merkmale beider Nationalideen kennzeichnend, sowie ein beträchtliches Interesse an globaler Identität und Multikulturalität. In diesem Segment gibt es viele junge Leute, oft mit einem guten Bildungsniveau. Die „Gleichgültigen“ hingegen sind praktisch kaum in den nationalen Projekten involviert und ihr Bildungsgrad ist beträchtlich geringer. Die „Russifizierten“ schließlich halten sich schlichtweg für Russen, und nicht für Belarussen.
Linien der Spaltung
Abhängig vom Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen und Gruppen in der belarussischen Gesellschaft haben die Soziologen hier vier Bereiche eines sozialen Konflikts identifiziert. Zwei von ihnen befinden sich an den Polen der politischen Konfrontation: Es sind die „überzeugten Gegner“ der derzeitigen Regierung und deren „überzeugte Anhänger“.
Die „überzeugten Regierungsgegner“ machen 10 Prozent aus. Für sie ist einerseits ein hohes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Gruppierungen kennzeichnend, und andererseits ein Vertrauen zu nichtstaatlichen Strukturen. Die „überzeugten Regierungsanhänger“ belaufen sich auf 23 Prozent. Und hier ist es genau umgekehrt: Sie vertrauen staatlichen Strukturen und misstrauen nichtstaatlichen Akteuren.
Gleichzeitig habe sich – so die Soziologen – im Laufe des letzten Jahres die Anzahl der „überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert, während die der „überzeugten Regierungsanhänger“ gestiegen ist. Zwischen diesen beiden Gruppen liegen zwei gemäßigtere. Das sind einerseits die „gemäßigten Regierungsgegner“ (28 Prozent). Diese ist die am stärksten zentristische Gruppe, die weder den staatlichen noch den nichtstaatlichen Strukturen groß vertraut. Wenngleich sie dazu neigt, eher den letzteren Vertrauen entgegenzubringen. Die Soziologen stellen fest, dass diese Gruppe in wesentlich geringerem Maß mit der Agenda der demokratischen Bewegung in Berührung kommt. Es wird für die Bewegung ein harter Kampf werden, Vertreter dieser Gruppe auf ihre Seite zu ziehen.
Wie sind also die Wechselbeziehungen zwischen den politischen und wertebezogenen Gruppen und die Haltung der Anhänger und Gegner der Regierung zu den beiden Ideen, der nationalromantischen und der russisch-sowjetischen? Wir sehen deutlich, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ hauptsächlich aus „Sowjetischen“ bestehen (69 Prozent), während die „überzeugten Regierungsgegner“ über die Hälfte „[National]bewusste” sind.
Dabei verweisen die Soziologen darauf, dass der Anteil [in Bezug auf die nationale Idee] von „Gleichgültigen“ angestiegen sei, und zwar unter den „gemäßigten Regierungsanhängern“ wie auch bei den „gemäßigten Gegnern“ [der Regierung]. Bei denen, die der aktuellen Regierung vertrauen, betrug der Anstieg 12 Prozentpunkte. Bei jenen, die nichtstaatlichen und oppositionellen Strukturen vertrauen, waren es 14 Prozentpunkte. Was bedeutet, dass die politischen Gruppen und die Identitätsgruppen eng zusammenhängen. Dies ist auch am Grad des Vertrauens in staatliche und nichtstaatliche Strukturen erkennbar.
Doch insgesamt halten die Soziologen fest: 2023 ist das Vertrauen in staatliche Strukturen und Gruppierungen im Vergleich zum Vorjahr weiter gestiegen. Das Vertrauen in sämtliche nichtstaatliche Strukturen hingegen ist deutlich zurückgegangen: Weniger als ein Drittel der Befragten ist geneigt, ihnen zu vertrauen. Gleichzeitig hat sich im Laufe des Jahres der Anteil „der überzeugten Regierungsgegner“ beträchtlich verringert und der „überzeugten Regierungsanhänger“ erhöht.
Hervorzuheben sind auch erhebliche Unterschiede zwischen „überzeugten Regierungsanhängern“ und „gemäßigten Regierungsanhängern“ hinsichtlich des Vertrauens in staatliche Organisationen und Institutionen. Das betrifft das Vertrauen in die staatlichen Medien und in die Beamtenschaft: Die „Gemäßigten“ bringen ihnen in erheblich geringerem Maße Vertrauen entgegen. Zudem äußert über die Hälfte der „gemäßigten Regierungsanhänger“ ein Misstrauen gegenüber nichtstaatlichen Strukturen. Am häufigsten werden dabei nichtstaatliche Medien genannt sowie Menschen, die aus Angst vor Repressionen das Land verlassen haben, und jene, die die Wahlergebnisse von 2020 nicht anerkennen.
Naturgemäß unterscheiden sich die Gruppen der „[National]bewussten” und der „Sowjetischen“ am stärksten voneinander. Im Grunde wiederholt sich hier das gleiche Muster wie bei den „überzeugten Regierungsgegnern“ und „überzeugten Regierungsanhängern“. Die „[National]bewussten” vertrauen in höherem Maße allen nichtstaatlichen Strukturen und vertrauen staatlichen Institutionen seltener. Die „Sowjetischen“ hingegen vertrauen staatlichen Strukturen in sehr hohem Maße und wesentlich seltener nichtstaatlichen oder oppositionellen Stellen. Für die „gemäßigten Regierungsgegner“ wiederum ist ein gleich großes Vertrauen gegenüber beiden Strukturen typisch.
Die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen nämlich beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben
Was ist der Grund für das gewachsene Vertrauen gegenüber staatlichen Institutionen? Einer der Autoren der Studie, der Soziologe Filipp Bikanow, ist der Ansicht, dass hier ein ganzes Bündel von Faktoren bestimmend sei. Zum einen wäre da der Konsens gegen den Krieg: Die Mehrheit ist überzeugt, dass sich die belarussische Armee so weit wie möglich aus dem russisch-ukrainischen Krieg heraushalten sollte. Und die Regierung unterstützt diese Haltung zumindest verbal. Zweitens steigt der Lebensstandard der Belarussen zwar nicht rapide, er sinkt aber auch nicht katastrophal. Und die Menschen spielen gedanklich verschiedene Szenarien durch – denn die Lage könnte wegen des Krieges und der Sanktionen beträchtlich schlechter sein. Das wird auch den Leistungen der Regierung zugeschrieben.
Bikanow nimmt an, dass das Jahr 2020 für viele schon der Vergangenheit angehört. Und alle, die nicht zur Gruppe der „überzeugten Regierungsgegner“ zählen, leben ihr eigenes, gewohntes Leben weiter. Aber auch die erzwungene Emigration sollte nicht außer Acht gelassen werden: Viele, die der Regierung nicht trauten und nicht trauen, haben das Land verlassen, was die Ergebnisse der Studie beeinträchtigt.
Informationskokon
Ein weiterer Faktor, den Bikanow anführt: Die meisten Belarussen befinden sich heute im Informationsraum der staatlichen belarussischen und der russischen Medien. Die Konfliktparteien leben in unterschiedlichen medialen Blasen: Die „überzeugten Regierungsanhänger“ sind hauptsächlich Konsumenten der staatlichen Medien, während die „überzeugten Regierungsgegner“ vorwiegend nichtstaatliche Medien nutzen.
Das ergibt sich aus der Säuberung des Mediensektors: In den vergangenen drei Jahren hat die Regierung der Bevölkerung den Zugang zu unabhängigen Medien aktiv versperrt, besonders zu jenen, die über Politik berichten. Gleichzeitig werden verstärkt die eigenen und die russischen Narrative verbreitet, die – das sehen wir jetzt – höchst destruktive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.
Mangel an Empathie
Ein Aspekt der Studie verdient besondere Aufmerksamkeit. Hier gibt es Grund zur Sorge.Die Studien vergangener Jahre haben gezeigt, dass die „überzeugten Regierungsanhänger“ und die „überzeugten Regierungsgegner“, die höchst unterschiedliche Ansichten zur Weiterentwicklung des belarussischen Staates haben, eine starke gegenseitige Abneigung hegen. Diese geht so weit, dass Kontakt vermieden wird. Dabei blieb diese Frage jedoch unbeantwortet: Wie tief geht diese Abneigung, und betrifft sie nur die politischen Meinungsunterschiede?
Die Forscher wollten überprüfen, wie schwer es Anhängern und Gegnern der Regierung fällt, Empathie und Mitgefühl für politische Opponenten zu bekunden. Empathie wurde in dieser Studie als Verständnis für das Unglück eines anderen Menschen definiert, und als Einfühlungsvermögen aus dem Bedürfnis heraus, die Leiden des Anderen vermindern zu wollen.
Es scheint, dass die Vertreter der beiden politischen Pole in geringerem Maße bereit sind, mit jemandem mitzufühlen, der in eine schwierige Lage geraten ist, wenn dieser der jeweils anderen Gruppe angehört. Das gilt übrigens unabhängig von der Art der schwierigen Situation, sei es eine politisch motivierte Entlassung oder eine Alltagssituation wie eine Erkrankung.
Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen
Die Soziologen konstatieren, dass die gesellschaftspolitische und identitätsbezogene Spaltung auch von einer psychologischen unterfüttert wird. In dieser Hinsicht bilden die Vertreter der „überzeugten Regierungsgegner“ und der „überzeugten Regierungsanhänger“ die Protagonisten dieses heftigen gesellschaftlichen Konflikts. Sie zeigen die geringste Empathie füreinander. Auch wenn sie den eigenen Leuten gegenüber sehr empathisch sind. Wobei die „überzeugten Regierungsgegner“ sowohl gegenüber den Eigenen wie auch gegenüber einer außenstehenden Gruppe etwas empathischer sind als die „überzeugten Regierungsanhänger“.
Die Forscher kommen zu dem Schluss, dass ein Dialog zwischen den beiden Gruppen praktisch unmöglich ist. Die „überzeugten Regierungsanhänger“, die ihre Gegner nicht verstehen, werden wohl dazu neigen, den „Fremdlingen“ sofort mit Aggression zu begegnen. Und die „überzeugten Regierungsgegner“, bei denen die Unterstützung für die eigenen Leute am größten ist, und die zusammenhalten, wenn sie angegangen werden, sehen sich genötigt, bei ihrem Kurs zu bleiben und sich zu verteidigen.
Die gemäßigten Gruppen sind erheblich empathischer gegenüber Menschen mit gegenteiligen Standpunkten. Somit ist ein aktiver gesellschaftlicher Dialog anscheinend nur zwischen den Gemäßigten möglich, weil sie ungefähr in gleichem Maße mit der eigenen und der anderen Gruppe mitfühlen. Gleichzeitig äußern auch die „Sowjetischen“ und “die „[National]bewussten” – ganz wie die „überzeugten Regierungsgegner“ und die „überzeugten Regierungsanhänger“ – gegenüber einer fremden Gruppe weniger Mitgefühl, Verständnis und empathische Regungen.
Die Polarisierung der belarussischen Gesellschaft beunruhigt die Soziologen. Das Vorgehen der Regierung und ihrer Propagandisten, das die Belarussen auseinanderbringen soll, bleibt nicht ohne Wirkung. Dadurch wird die identitätsbezogene Konfrontation der beiden nationalen Ideen zu einem Faktor, der sogar auf der Empathie-Ebene wirkt.
In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden. Für die „sowjetischen“ Anhänger der Regierung würden politische Veränderungen ebenso ein Trauma bedeuten, wie die aktuelle Stagnation und die Repressionen für die „[National]bewussten” und die Verfechter der nationalromantischen Idee ein Trauma darstellen. Diese Eisschollen werden wohl weiter auseinanderdriften. Mit der Zeit wird es immer schwieriger werden, auf einen konstruktiven Dialog zwischen den beiden Polen zu hoffen. Die Lösung dieses Problems wird wohl eine der wichtigsten Aufgaben sein, die die derzeitige Situation im Land für die gesamte Gesellschaft ergibt. Die Frage ist äußerst weitreichend: Schließlich könnte die ideologische Konfrontation der beiden nationalen Ideen sehr wohl blutig enden.
Der neue Präsidialerlass mit der Nummer 278 hat es in sich: Belarussen, die im Ausland leben, erhalten an den diplomatischen Vertretungen ihrer Länder keine Ausweisdokumente mehr, können ihre Pässe nicht mehr verlängern, zudem sind auch Eigentumsgeschäfte von der neuen Regelung betroffen. Für all das müssen sie nun nach Belarus reisen, wovor sich viele Belarussen scheuen. Vor allem die rund 170.000, die nach den Protesten von 2020 ins Ausland geflohen sind.
Andrej Strishak von BYPOLsieht den neuen Präsidialerlass in einer langen Kette von Maßnahmen: „Das belarussische Regime beschneidet seit 2020 konsequent die Möglichkeiten für Diaspora und Emigranten. Zunächst wurde angekündigt, dass man im Ausland nicht mehr an Wahlen teilnehmen kann. Der zweite Schritt besteht darin, Menschen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, weil sie in ,extremistischen Formationen‘ mitwirken oder unter ,extremistischen‘ oder ,terroristischen‘ Paragraphen vorbestraft sind. Und jetzt kommt diese Geschichte mit den Pässen.“ Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja warnt ihre Mitbürger vor einer Rückkehr nach Belarus: „Selbst wenn Ihr Pass abläuft, sollten Sie nicht in Ihr Heimatland zurückkehren, wenn Sie Verfolgung riskieren.“
Das Online-Medium Reform.by hat sich den Präsidialerlass genauer angeschaut und analysiert mögliche Beweggründe der belarussischen Machthaber für diesen Schritt, der die Exilbelarussen aufwühlt.
Einfach ausgedrückt, beim Verkauf von Eigentum werden keine Vollmachten mehr akzeptiert, die von Notaren im Ausland beglaubigt wurden. Ebenso können laut dem neuen Erlass keine Vollmachten in der belarussischen Botschaft des Aufenthaltslandes ausgefertigt werden. Dasselbe gilt für eine Vielzahl anderer Dokumente, die belarussische Staatsbürger bislang in den diplomatischen Vertretungen und Konsulaten im Ausland neu beantragen oder verlängern konnten.
Der Erlass tritt mit dem Zeitpunkt seiner offiziellen Bekanntmachung in Kraft. Aus dem Text des Dokumentes geht hervor, dass Immobiliengeschäfte nur noch persönlich oder auf Grundlage einer Vollmacht getätigt werden können, die auf dem Gebiet von Belarus beglaubigt wurde. Auch eine Reihe weiterer sensibler bürokratischer Anliegen fallen unter diese Beschränkung. Dazu gehören standesamtliche Urkunden und Bescheinigungen, die für die Eheschließung notwendig sind, die Ausstellung von Zeugniskopien, die Beglaubigung offizieller Dokumente und vieles mehr.
Auch die Beantragung eines neuen Passes oder die Verlängerung seiner Gültigkeitsdauer wird nicht mehr ohne einen Besuch in der Heimat möglich sein. Im Erlass heißt es, dass Reisepässe an Staatsbürger, die dauerhaft im Ausland leben und beim zuständigen Konsulat gemeldet sind, nur von den Meldebehörden am Ort der letzten Meldeadresse im Inland ausgestellt werden können. Alle Dokumente, die bis zum Inkrafttreten des Erlasses beantragt wurden, werden noch nach dem bislang geltenden Verfahren bearbeitet. Doch wer das nicht geschafft hat, steht über kurz oder lang vor dem Problem eines abgelaufenen oder, schlimmer noch, verlorenen Passes.
Mehr als nur Rache
Das Ziel, das die Auftraggeber und Verfasser dieses Erlasses verfolgen, ist klar: Den Belarussen, die das Land aus Sicherheitsgründen verlassen haben, soll das Leben so schwer wie möglich gemacht werden. Rache an den Emigranten – eine weitere Form der Repression. Auf die ein oder andere Weise trifft der Erlass alle Staatsbürger unseres Landes, die im Ausland leben. Doch während die neuen Regelungen für diejenigen, die in der Heimat keine Festnahme aus politischen Gründen fürchten müssen, nur einen Verlust an Zeit und Geld für die Fahrt bedeuten, stellen sie die politischen Emigranten vor reale Probleme. Und im Moment ist noch nicht absehbar, wie diese gelöst werden können.
Mit dem Erlass erkennt die Regierung indirekt das Problem und den Umfang der Emigration aus Belarus seit 2020 an. Entsprechende Beschränkungen ausschließlich für öffentliche Vertreter und Aktivisten der Demokratiebewegung einzuführen, hätte keinen besonderen Sinn gemacht. Für diese Gruppe gibt es andere Gesetzesartikel, die unter anderem die Konfiszierung des Eigentums und die Aberkennung der Staatsangehörigkeit vorsehen. Daher sind die im Erlass verankerten Regelungen gegen die Mehrheit der Emigranten gerichtet. Sie entziehen faktisch allen, die in Belarus mit Verfolgung rechnen müssen, die Möglichkeit, in der Heimat befindliches Eigentum zu verkaufen oder zu überschreiben. Zudem erschweren sie die Legalisierung des Aufenthaltes im Zufluchtsland.
Der Beschluss ist ein empfindlicher Schlag für alle Emigranten, die bislang noch unentschlossen waren, ob sie ihr Eigentum in der Heimat verkaufen oder lieber abwarten sollten. Für alle also, die auf eine baldige Rückkehr und eine perspektivische Änderung der Situation hofften. Einerseits hat die Regierung nach den Ereignissen von 2020 den Menschen drei Jahre Zeit gegeben, um Eigentumsangelegenheiten und Dokumente in Ordnung zu bringen. Doch viele Menschen wollten oder konnten aus verschiedenen Gründen nicht alles aufgeben, was ihnen in der Heimat geblieben war. Nun werden solche Rechtsgeschäfte unmöglich, es sei denn, man geht ein Risiko ein, das längst nicht alle auf sich nehmen werden.
Der Erlass wird auch jene beeinflussen, die bislang über eine Emigration nachdenken. In Anbetracht der Probleme, die sich perspektivisch daraus ergeben und der Notwendigkeit, vor der Ausreise alle Brücken abzubrechen, indem man allen Besitz verkauft, könnten einige ihre Emigrationspläne gezwungenermaßen durchaus aufgeben.
Die Verfasser des Erlasses verfolgen vermutlich noch ein weiteres Ziel: Wenigstens diejenigen zur Rückkehr ins Land zu zwingen, die unverzüglich Eigentums- oder Passangelegenheiten erledigen müssen. Wahrscheinlich werden sie möglichst vielen, die ein Risiko eingehen, Strafverfahren anhängen. Da die vom Regime geschaffene Rückkehrerkommission keine Ergebnisse brachte, mussten andere Methoden gefunden werden, um die Emigranten zur Rückkehr zu zwingen.
Natürlich steht es jedem frei, das selbst zu entscheiden. Doch zuvor sollten alle Faktoren sehr genau gegeneinander abgewogen werden. Wenn das Eigentum schon mehrere Jahre ohne seinen Besitzer überstanden hat, kann das vielleicht auch noch eine Weile so bleiben. Nichts währt letztlich ewig. Ist der Verkauf einer Wohnung oder eines Autos das Risiko des Freiheitsverlustes wert? Das entscheidet jeder selbst. Doch die vom Regime eingeführten Beschränkungen der Verfügungsgewalt über Eigentum sind ein Verstoß gegen die Grundrechte und eine Weigerung des Staates, seinen grundlegenden Verpflichtungen gegenüber den Staatsbürgern nachzukommen – und das ist den belarussischen Machthabern offenbar auch vollkommen bewusst. Doch der Wunsch nach Rache und Schwierigkeiten für die verhassten „Geflohenen“ überwiegt.
Ein weiterer Spaltungsversuch
Der unterzeichnete Erlass ist auch ein Versuch, einen Keil in die Diaspora zu treiben. Die Perspektiven auf einen kürzlich vom Vereinten Übergangskabinett präsentierten neuen belarussischen Pass sind bislang nur vage. Das liegt vor allem daran, dass völlig unklar ist, welche Staaten ihn anerkennen werden, wann das passieren wird und ob überhaupt. Swetlana Tichanowskaja versicherte heute, dass ihr Team daran arbeite, dass die Staatsbürger nicht ohne Pässe blieben. Ihr zufolge werden im September Beratungen mit der EU-Kommission stattfinden, ebenso werde das Thema in der UN-Generalversammlung besprochen. Doch in jedem Fall nehmen diese Abstimmungsprozesse einige Zeit in Anspruch, unterdessen werden viele Belarussen bereits mit dem Ablauf der Gültigkeit ihres wichtigsten Personaldokumentes konfrontiert sein. Die daraus entstehenden Probleme wird manch einer wohl auch den Demokratischen Kräften anlasten, die ihre Mitbürger nicht ausreichend schützen. Das kann wiederum zu Konflikten zwischen Vertretern der Diaspora und der Führung der Demokratischen Kräfte führen, worauf es das Regime auch angelegt hat.
Und in der Zwischenzeit?
Vieles wird davon abhängen, wie sich die Regierungen der Staaten positionieren, in denen heute viele Belarussen leben. Sie könnten zum Beispiel beschließen, die Gültigkeitsdauer belarussischer Pässe zu verlängern. Oder bei abgelaufenen Dokumenten einfach „nicht genau hingucken“. Dabei hängt auch viel von den belarussischen Demokratischen Kräften ab, die entsprechende Verhandlungen führen müssen, immer unter Berücksichtigung der schwierigen Situation, in der sich viele Belarussen auf absehbare Zeit befinden werden. Und es gibt Präzedenzfälle. In Polen können belarussische Staatsbürger beispielsweise seit dem 1. Juli in vereinfachtem Verfahren ein sogenanntes polnisches Ersatzreisedokument erhalten, das einen verlorenen oder abgelaufenen Reisepass ersetzt. Es ermöglicht die Aus- und Einreise nach bzw. aus Polen. Bislang gilt diese Regelung temporär bis Ende 2023. Doch in Anbetracht der neuen Situation nach Lukaschenkos Erlass ist es durchaus möglich, dass die polnische Regierung dieses Verfahren fortsetzt. Auch hier wird viel von den Kontakten zur polnischen Seite und den Bemühungen des Vereinten Übergangskabinetts abhängen.
Doch die Diaspora sollte nicht nur auf die Demokratischen Kräfte hoffen. Die Belarussen in der Emigration stehen tatsächlich vor ernstzunehmenden Herausforderungen. Aber ihre Anzahl ist groß genug, um sich gemeinsam an die Regierungen der Aufnahmestaaten zu wenden. Diese Regierungen haben zwar keinen Einfluss auf das Problem der Eigentumsgeschäfte in Belarus, doch sie können den in ihrem Land lebenden Belarussen zuhören und durchaus dabei helfen, die Probleme mit den Dokumenten zu lösen. Das Wichtigste ist also, nicht passiv zu bleiben. So ist es nunmal mittlerweile: Das Regime handelt garstig, die Belarussen suchen einen Ausweg. Und der wird sich finden. Und die Garstigkeiten werden früher oder später ein Ende finden.
Noch im September 2016 wurde für den Dramatiker und Mitbegründer der belarussischen Oper Winzent Dunin-Marzinkewitsch und den Komponisten Stanislaw Monjuschko ein Denkmal im Zentrum von Minsk enthüllt. Damals betonte der stellvertretende Vorsitzende des Exekutivkomitees der Stadt Minsk, Igor Karpenko, in seiner Rede die Bedeutung dieses Ereignisses, das am Tag der Stadt Minsk stattfand: „Am Geburtstag unserer Hauptstadt sind wir stolz darauf, dass es in der Geschichte unseres Landes so große Namen wie Stanislaw Monjuschko und Winzent Dunin-Marzinkewitsch gibt.“ Fast sieben Jahre später gilt Dunin-Marzinkewitsch, nach dem auch zahlreiche Straßen in ganz Belarus benannt sind, als „Extremist“, zwei seiner Gedichte und das Vorwort zur Gesamtausgabe des Schriftstellers wurden im August 2023 von den belarussischen Behörden als „extremistisch“ eingestuft.
Er ist damit der erste belarussische Literaturklassiker, dessen Werke im Zuge der Repressionen nach den Protesten von 2020 de facto verboten wurden, neben dutzenden Medien, Telegramkanälen, Webseiten, Publikationen oder Büchern. Was könnten die Gründe für diese Entscheidung sein? Hat das Verbot möglicherweise mit der generellen Angst der belarussischen Machthaber vor Aufständen gegen das herrschende System zu tun? Schließlich soll Dunin-Marzinkewitsch auch an den Aufständen von 1863–1864 gegen das Zarenreich beteiligt gewesen sein. Mit diesen Fragen und mit den historischen und möglichen aktuellen politischen Hintergründen des Verbots beschäftigt sich das Online-Medium Reform.by.
Die belarussischen Gesetzeshüter graben nun in den Tiefen der Jahrhunderte und befassen sich mit den Klassikern der Nationalliteratur. Wie die Staatsanwaltschaft der Oblast Minsk mitteilte, wurden das Vorwort zur Werkausgabe sowie zwei Gedichte von Winzent Dunin-Marzinkewitsch für extremistisch erklärt. Was haben Generalstaatsanwalt Schwed und seine Mitstreiter damit im Sinn? Und warum riecht dieser Vorgang verdächtig nach dem fragwürdigen russischen Pseudohistoriker Alexander Djukow, der seine Ohren überall hat?
Den „Krawall“ fand die Staatsanwaltschaft in den zwei Texten Es wehen die Winde [Płynuć wietry] und Rede eines alten Mannes[Hutarka staroha dzieda]. Schon zu Lebzeiten war Dunin-Marzinkewitsch dafür vom Zarenregime abgestraft worden. Im März 1862 sandte Generalmajor Kuschaljow, interimistischer Militärgouverneur in Minsk, ein Rundschreiben aus, in dem es hieß: „Es sind mir glaubhafte Hinweise zugegangen, denen zufolge der Gutsbesitzer Marzinkewitsch in der belarussischen Volkssprache ein empörendes Gedicht schrieb, namentlich ‚Rede eines alten Mannes‘, das darauf abzielt, die Bauern der westlichen Gubernien gegen die Regierung aufzuwiegeln … und dass der Herr Marzinkewitsch versucht, sein Werk unter dem einfachen Volk zu verbreiten“.
Dunin-Marzinkewitschs Werk erzürnte die russischen Machthaber in jeder Hinsicht, zum einen die belarussische „Volks“-Sprache, in der der Autor nicht nur schrieb, sondern sogar ein Theaterstück zur Aufführung brachte, das natürlich umgehend verboten wurde. Zum anderen stellten die Gedanken des „alten Mannes“ einen „Krawall“ auf ganzer Linie dar, einen direkten Aufruf an die Bauern, nicht dem russischen Väterchen Zar zu glauben, sondern den in Vorbereitung befindlichen Januaraufstand unter Führung Kastus Kalinouskis zu unterstützen:
Sie sagen, die Moskalen wollen unser Los zum Bess’ren drehen. Oje! Glaubt nicht daran, ihr Leute, nichts davon werden wir sehen. Wenn sie es denn wirklich wollten, wär’s schon lange so geschehen.
Dieses Werk entstand vermutlich Anfang 1861, wurde in der Latinica [Łacinka, auf Belarussisch in lateinischer Schrift – dek] gedruckt und im Vorfeld des Aufstands von 1863–1864 in Form eines Flugblatts unter der Bauernschaft verteilt. Dieselben Zeilen rufen offensichtlich auch heute noch Zorn in der mittlerweile belarussischen Staatsanwaltschaft hervor, die sie zu extremistischem Material erklärt. Der Kreis hat sich geschlossen – anderthalb Jahrhunderte später solidarisieren sich die hiesigen Staatsanwälte wieder mit dem russischen imperialen Regime und unterstellen demselben Schriftsteller wieder Umsturzgedanken. Ein wohl anerkannter Klassiker der belarussischen Literatur ist also ein unbelehrbarer „Extremist“.
Es sagt viel aus, dass auf der heute veröffentlichten Liste der extremistischen Materialien neben Dunin-Marzinkewitsch auch Bücher von Laryssa Henijusch, Natallja Arsennewa, Lidsija Arabei und Uladsimir Njakljajeu stehen. Es ist ganz klar der Versuch, eine Brücke zu schlagen von den „Extremisten“ des 19. Jahrhunderts über die „Extremisten“ des Zweiten Weltkriegs bis in unsere Zeit und über die Epochen hinweg einen „roten Faden des Hasses“ zu spannen – vom Kalinouski-Aufstand bis hin zu den Protesten von 2020.
Wonach suchen sie eigentlich?
Was hat die Staatsanwaltschaft vor? Und warum kommen sie plötzlich auf Dunin-Marzinkewitsch? Vielleicht steckt wirklich die Tatsache dahinter, dass der Schriftsteller eng mit dem Aufstand von 1863–1864 verbunden ist. Nach dessen Niederschlagung wurde der Poet verhaftet und saß mehr als ein Jahr in der zu trauriger Berühmtheit gelangten Pischtschalauski-Burg [dem heutigen Minsker KGB-Untersuchungsgefängnis –dek]. Eine Schuld konnten ihm die Ermittler des Zaren jedoch nicht nachweisen. Der Schriftsteller wurde freigelassen, lebte danach aber noch viele Jahre unter Überwachung der russischen Polizei. Seine Tochter Kamilla verbannten die Zaristen in den Ural, der Vorwurf lautete, in der von ihr gegründeten Schule sei Agitationsarbeit unter Soldaten und Bevölkerung geleistet worden.
Die Angriffe auf Dunin-Marzinkewitschs Werk zeugen also davon, dass das belarussische Regime bereit ist, sich intensiv mit einer Umschreibung der Geschichte des Aufstands von 1863–1864 und seiner Teilnehmer zu beschäftigen. Dunin-Marzinkewitsch des „Extremismus“ zu bezichtigen, ist erst der erste Schritt in diese Richtung.
Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft kann weiterreichende Folgen haben. Heute gibt es zum Beispiel in vielen belarussischen Städten, darunter auch in Minsk, nach dem Schriftsteller benannte Straßen. Doch wie sieht das aus, wenn Straßen nach Autoren „extremistischen Materials“ benannt sind? Ist die Umbenennung der nächste Schritt?
Danach kann man sich daran machen, die Rolle und Bedeutung des Aufstands neu zu bewerten. Da daran durch die Bank weg „Extremisten“ teilgenommen haben, kann man auch die Befreiungsbewegung insgesamt so bezeichnen. Erst die Ereignisse negativ konnotieren, um sie dann vollständig aus dem Gedächtnis der Belarussen zu streichen. Allen Helden ihren Status nehmen, bis zum Schluss auch Kastus Kalinouski an die Reihe kommt.
Damit wird endlich auch ein langjähriger Traum der russischen Imperialisten erfüllt, bei denen allein die Erwähnung des Aufstandes und des Namens Kalinouski abgrundtiefen Hass hervorruft. In wessen Auftrag handelt die belarussische Staatsanwaltschaft also heute?
Imperiale Intrigen und der „Terrorist“ Kalinouski
Den Aufstand von 1863–1864 instrumentalisieren die russischen Imperialisten schon lange und intensiv. 2020 veröffentlichte Alexander Djukow, Direktor der Stiftung Istoritscheskaja pamjat [dt. Historisches Gedächtnis], eine Liste von einfachen Menschen, die auf dem Territorium des heutigen Belarus, Litauen und Lettland von den Aufständischen ermordet wurden. Derselbe Djukow gab auch ein Buch heraus mit dem Titel Neiswestny Kalinowski. Propaganda nenawisti i powstantscheski terror na belarusskich semljach, 1862–1864 gody [dt. Der unbekannte Kalinowski. Hasspropaganda und aufständischer Terror auf dem Gebiet Belarus‘, 1862–1864].
Die Diskreditierung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten, die der russischen Geschichtsversion widersprechen oder nicht genehm sind, ist eine der zentralen Stoßrichtungen der von Djukow geleiteten Stiftung Historisches Gedächtnis. Eine der Hauptaufgaben dieser Organisation ist die „Entwicklung von Vorstellungen, die Russlands Interessen entsprechen und die gemeinsame Geschichte beider Staaten wissenschaftlich korrekt darstellen“. Die gesamte Tätigkeit der Stiftung kann man charakterisieren als „aktive Maßnahmen“, um den russischen Einfluss in unserem Land zu verstärken.
Djukow beschreibt Kastus Kalinouski als einen Menschen, der eine Agenda des Terrors verfolgt habe und in seinen Veröffentlichungen „zielstrebig Hass säte“. Laut Djukow sieht die „Stilisierung dieses Menschen zum Helden, die sich in der Sowjetzeit vollzog und sich jetzt fortsetzt, einigermaßen seltsam aus und sollte überprüft werden“. Djukows Thesen werden sehr gern von russischen, und mittlerweile auch von belarussischen staatlichen Medien übernommen und verbreitet.
Man sollte meinen, dass unwissenschaftliche Thesen zur Geschichte nur von wenigen Menschen auf der Welt vertreten werden? Doch Alexander Djukows Position findet heute Unterstützung in den oberen Etagen des belarussischen Regimes und die belarussische Vereinigung Snanije [dt. Wissen] unterzeichnete einen Kooperationsvertrag mit Djukows Stiftung Historisches Gedächtnis. Eine ebensolche Vereinbarung schloss auch das Forschungspraktische Zentrum zur Stärkung von Recht und Ordnung der belarussischen Generalstaatsanwaltschaft. Wundert man sich da immer noch, dass die Werke von Dunin-Marzinkewitschs als „extremistisches Material“ eingestuft werden?
Djukows Thesen wiederholt auch Igor Sergejenko, der Vorsitzende der Präsidialadministration Lukaschenkos. Der ist nebenbei auch der Vorsitzende des Republikanischen Rates für Geschichtspolitik bei der Präsidialadministration. Bei ihm finden sich „der in der sowjetischen Historiographie geschaffene Mythos von Kalinowski“ und die Beschuldigung des Aufstandsanführers der „grausamen Abrechnung mit der belarussischen orthodoxen Bevölkerung“. Die Krone des Ganzen – der Vergleich Kalinouskis mit Bandera, Schuchewitsch und Romuald „Bury“ Rajs.
Das Regime bereitet den Boden, um den Aufstand und seine Anführer von verschiedenen Seiten anzugreifen. Mithilfe der Djukow‘schen „Forschungsergebnisse“ und mit Hilfe der Diskreditierung der bekannten Aufständischen als „Extremisten“. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, um am Ende den Aufstand selbst für „gesetzeswidrig“ zu erklären und seine Anführer damit post mortem wegen Terrorismus, Extremismus und Genozid an der Zivilbevölkerung anklagen zu können. Bislang gibt es keine Gesetze, die das zulassen, aber wer hindert sie daran, sich neue auszudenken? Ich fürchte, Winzent Dunin-Marzinkewitsch wird zwar der erste, aber nicht der letzte „Extremist“ unter den historischen Persönlichkeiten bleiben. Der Kampf um die belarussische Geschichte hat das nächste Level erreicht.
Kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine protestierten Belarussen trotz der massiven Repressionen in ihrem Land gegen die kriegerische Handlung des Kreml. Manche Belarussen beteiligten sich bei Sabotageakten an den Eisenbahnstrecken, die das russische Militär für den Transport von Technik und Gerät nutzte. In Umfragen schien sich immer wieder zu bestätigen, dass große Teile der belarussischen Gesellschaft gegen den Krieg in der Ukraine sind und vor allem gegen eine direkte Beteiligung von Seiten der belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko, der sich allerdings von Anfang in den Krieg verstrickte.
Wie sehen die Belarussen den Krieg heute? Wie beurteilen sie die angekündigte Stationierung russischer Atomwaffen in ihrem Land und das Verhältnis zum Westen? Solche Fragen sind nicht leicht zu beantworten, da es nur wenige aktuelle soziologische Daten aus Belarus gibt. Unabhängige Umfrage-Institute existieren nur im Exil. Zumindest Anhaltspunkte liefern jedoch die regelmäßigen Online-Interviews des britischen Thinktanks Chatham House unter der Leitung des Soziologen Ryhor Astapenia. In der aktuellen 15. Umfragerunde wurden im März 804 Personen befragt. Die Autoren der Studie weisen auf nicht vollständig korrigierbare Verzerrungen hin: zum einen durch den „Angst-Faktor“ in einem repressiv regierten Land wie Belarus, zum anderen dadurch, dass die Befragung nur online durchgeführt werden konnte.
Igor Lenkewitsch von Reform.by hat sich die Umfrage von Chatham House angeschaut und ausgewertet.
Chatham House hat die Ergebnisse einer Online-Umfrage unter dem Titel Die Werte der Belarussen und ihre Haltung zum Krieg veröffentlicht. Unsere Landsleute wollen weiterhin keinen Krieg führen. Die Versuche des Regimes, aus den Nachbarländern Feindbilder zu schmieden, haben keine nennenswerte Dividende erbracht. Aber auch der über ein Jahr andauernde Krieg, die Gräueltaten der russischen Besatzer und der Beschuss friedlicher ukrainischer Städte hatten keinen Einfluss auf die Haltung der Belarussen zu den Ereignissen rund um unser Land.
Ein Krieg ohne Unterstützung
Die meisten Belarussen (44 Prozent der Befragten) unterstützen nicht das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine. Ein weiteres Viertel tut sich mit einer Antwort schwer. 18 Prozent unterstützen es mit Bestimmtheit und 15 Prozent sagen, sie unterstützen es eher.
Bezeichnend ist auch, wie die Unterstützung für die kriegerischen Handlungen Russlands in der Ukraine davon abhängt, welche Medien die Befragten bevorzugen. Anhand der Grafik wird deutlich, dass es nur beim Publikum staatlicher Medien mehr Unterstützer für das Vorgehen der russischen Streitkräfte gab als Gegner.
Dabei wollen die Belarussen keine unmittelbare Beteiligung an den kriegerischen Handlungen. Auf die Frage „Was sollte Belarus jetzt angesichts der Kriegshandlungen zwischen Russland und der Ukraine unternehmen?“ antworteten 30 Prozent, dass eine vollkommene Neutralität des Landes vonnöten sei, dass sämtliche ausländische Truppen von belarussischem Staatsgebiet abgezogen werden müssen, und dass man sich nicht zugunsten einer der Seiten äußern sollte. Weitere 30 Prozent sind dafür, Russland zwar zu unterstützen, sich aber an dem militärischen Konflikt nicht zu beteiligen. Sechs Prozent sind bereit, die Ukraine ohne einen Kriegsbeitritt von Belarus zu unterstützen. Und der Anteil derjenigen, die einen [aktiven – dek] Kriegseintritt auf einer der beiden Seiten wollen, liegt zusammengenommen bei wenigen Prozentpunkten.
Wer wird siegen?
Es sind allerdings nur relativ wenige, die an einen Sieg der Ukraine glauben, nämlich 15 Prozent. Eine Mehrheit jedoch (46 Prozent) ist der Ansicht, dass Russland siegen wird. Bemerkenswert ist, dass nach einem Jahr Krieg, nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte von Kyjiw und Tschernihiw sowie ihrem Abzug aus Cherson sich die Meinung der Belarussen zu einem möglichen Sieger praktisch nicht verändert hat. Möglicherweise ist das eine Folge langjähriger Stereotype über die Macht und die Dimension Russlands und die Unbesiegbarkeit seiner Armee, die heute von der russischen und belarussischen Propaganda verstärkt verbreitet werden. Gleichzeitig tat sich ein beträchtlicher Teil der Befragten schwer, auf diese Frage zu antworten.
Über die Hälfte der Belarussen treten für eine umgehende Beendigung des Krieges und für Friedensverhandlungen ein. Die meisten Nutzer nichtstaatlicher Medien sind derweil überzeugt, dass der Krieg erst dann beendet werden sollte, wenn die Ukraine ihre Ziele erreicht hat. Beim Publikum der staatlichen Medien ist der Anteil jener, die den Krieg erst dann beendet sehen wollen, wenn Russland seine Ziele erreicht hat, etwas geringer, nämlich 43 Prozent.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass sich die Polarisierung der belarussischen Gesellschaft fortsetzt. Doch auch wenn sich die Haltung zum Krieg bei Anhängern und Gegnern des Regimes unterscheidet, möchte keine der beiden Gruppen eine unmittelbare belarussische Beteiligung am Krieg. Auf welcher Seite die Sympathien der Befragten auch liegen mögen, die Vorstellung, dass Belarus sich unmittelbar am Krieg beteiligen sollte, ist nach wie vor nur marginal verbreitet.
Mit Atomwaffen oder ohne?
Bei den Antworten auf diese Frage hat es keinerlei nennenswerte Veränderungen gegeben. Die überwiegende Mehrheit der Belarussen, nach wie vor 74 Prozent, steht einer Stationierung von Atomwaffen in unserem Land ablehnend gegenüber.
Der Anteil der Befürworter dieser Idee hat sich seit August vergangenen Jahres leicht erhöht – von 19 auf 25 Prozent. Das ist wohl auf den systematischen Einsatz der staatlichen Propaganda zurückzuführen, die die Stimmung mit angeblich vorhandenen Bedrohungen an unseren Grenzen anheizt.
Allerdings ist selbst bei den Anhängern des Regimes (dem Publikum der staatlichen Medien) eine Mehrheit gegen die Stationierung von Atomwaffen in Belarus.
Mit wem werden wir Freunde sein?
Interessant ist auch, dass sich ungeachtet der Anstrengungen der Propaganda die Haltung der Belarussen zu den Nachbarländern praktisch nicht verändert hat.
Die überwiegende Mehrheit der Befragten ist der Ukraine, Polen, Litauen und den Ländern der EU gegenüber nach wie vor positiv oder sehr positiv eingestellt. Am schlechtesten ist das Verhältnis zu den USA, allerdings sind auch hier jene, die diesem Staat ablehnend gegenüberstehen, in der Minderheit.
Was die außenpolitischen Präferenzen der Belarussen angeht, so sind die ebenfalls seit August 2022 praktisch unverändert geblieben. Für ein geopolitisches Bündnis mit der EU treten 14 Prozent der Befragten ein, und für ein Bündnis mit Russland 38 Prozent. 23 Prozent sind überzeugt, dass Belarus sich besser aus allen möglichen geopolitischen Bündnissen heraushalten sollte.
Auf die Frage „Welche Art von Bündnis mit Russland ist für Sie am ehesten akzeptabel?“ sprachen sich 34 Prozent für eine Freihandelszone aus. Im August 2022 hatte ein gleicher Anteil der Befragten diese Antwort gewählt. Anhänger eines Beitritts von Belarus zur Russischen Föderation gibt es nach wie vor wenige, insgesamt vier Prozent. Mehr als ein Drittel der Befragten befürworten einen gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne politische Vereinigung.
Die Studie zeigt insgesamt, dass die Präferenzen in der belarussischen Gesellschaft im vergangenen Jahr unverändert geblieben sind – obwohl die Propaganda mehr Druck macht, das Regime die Ukraine und den Westen als Feindbild darstellt und schon mehrere Monate eine Kriegshysterie geschürt wird. Es ist nicht gelungen, die Haltung der Belarussen zum Krieg oder ihren Nachbarn zu ändern. Und die vom Regime gepredigte Konzeption einer von Feinden belagerten Festung hat in den Herzen der meisten Bürger unseres Landes keine Unterstützung gefunden.
Gleichzeitig haben weder der anhaltende Krieg noch die Verbrechen der russischen Streitkräfte die Haltung der Belarussen zum Geschehen grundlegend verändert – ebenso wenig der Beschuss ukrainischer Städte, das Sterben friedlicher Zivilisten und die militaristische Rhetorik des Regimes. Die überwiegende Mehrheit hofft anscheinend weiter darauf, dass all diese Ereignisse keine ernsten Auswirkungen auf ihr Alltagsleben haben werden. So zu tun, als würde nichts geschehen, ist jedoch nicht die beste Reaktion auf die Veränderungen, die sich derzeit in der Welt vollziehen.
Repressionen, hohe Haftstrafen, Unterdrückung – so versucht Alexander Lukaschenko, die belarussische Gesellschaft einzuschüchtern und damit unter Kontrolle zu halten. Ein Szenario wie 2020 soll sich nach dem Willen der Machthaber möglichst nicht wiederholen. Dafür bringt Lukaschenko sein System zusehends auf den Weg des Totalitarismus. Kann dies aber langfristig funktionieren? Vor 2020 hielt ein Gesellschaftsvertrag das autoritäre System mit der Gesellschaft zusammen. Der Deal: Lukaschenko sorgt für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität und einen bescheidenen Wohlstand, im Gegenzug verzichten die Menschen weitgehend auf demokratische Freiheiten.
Was aber hat der Staat der Bevölkerung nun zu bieten? Und was bedeutet Lukaschenkos häufig zu vernehmende Beschwörungsformel von der Einheit von Silowiki und dem Volk in dieser Hinsicht? Igor Lenkewitsch macht sich für das Online-Medium Reform.by auf die Suche nach Antworten.
„Sehr wichtig ist jetzt die Einheit von Geheimdiensten, dem Block der Miliz und unserem Volk. Dann werden wir es leichter haben“, erklärte Alexander Lukaschenko bei einem Besuch der Gedenkstätte in Chatyn. Wer ist hier „wir”? Und warum wird es leichter? Und folgt aus dem Gesagten, dem Regime ist bewusst, dass es keine Einigkeit zwischen Miliz und Bevölkerung gibt?
„Die Miliz und das Volk“, diese Parole war bei den Protestaktionen in Belarus oft erklungen. Damals hatte die Gesellschaft noch auf die Silowiki, die Sicherheitskräfte gehofft. Sie hatte geglaubt, dass sie nicht auf friedliche Bürger losgehen werden. Die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Die Silowiki haben sich entschieden, das wankende Regime zu unterstützen. Und danach fanden sie sich zusammen mit dem Regime in einem sehr engen Korridor wieder: Zum Machterhalt blieben keine anderen Argumente als Repressionen. Die seit ihrem Beginn schon mehrere Jahre anhalten, wobei menschliche Schicksale gebrochen werden und die Gesellschaft gespalten wird. Die Regierung versucht weiterhin, die Situation mit Gewalt zu ihren Gunsten zurechtzubiegen. Nun kann man zwar mit Repressionen aktive Proteste unterdrücken, doch ist es nicht möglich, die Menschen dadurch unter der Flagge zu vereinen. Wozu dann diese Aufrufe zur Einheit?
„Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko?”
Das Problem der Spaltung wird für die belarussische Gesellschaft immer aktueller. Zu einem Dialog für eine nationale Aussöhnung hatte bereits der Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki in seinem Schlusswort vor Gericht aufgerufen. Von einer notwendigen nationalen Aussöhnung zur Wahrung der Unabhängigkeit von Belarus hatte in einem offenen Brief auch Iossif Sereditsch, der Chefredakteur von Narodnaja Wolja, geschrieben.
Auch Alexander Lukaschenko erinnert oft an die Bedeutung einer Einigung. Allerdings verbergen sich hinter solchen Formulierungen andere Begriffe. Bjaljazki und Sereditsch sagen, dass das Land in eine Sackgasse geraten ist, dass ein gleichberechtigter Dialog zwischen allen politischen Kräften vonnöten ist und eine Amnestie für alle politischen Gefangenen. Und von welcher Einigkeit spricht Lukaschenko? Von einer Einigkeit der Geheimdienste, der Sicherheitskräfte und der Bevölkerung. Da geht es nicht um „Die Miliz und das Volk“. Und der Sinn verkehrt sich hier sofort ins Gegenteil.
Das ist ein ganz grundlegender Unterschied. Während die demokratischen Kräfte von einem Dialog sprechen, meint das Regime Unterwerfung. Eine widerspruchslose Unterwerfung. Einigkeit ist hier eine Art Stockholm-Syndrom, wenn das Opfer anfängt, sich für den Angreifer einzusetzen. Die Bevölkerung soll die Silowiki unterstützen, die eben diese Bevölkerung peinigen.
Die Repressionen im Land werden nicht nur nicht schwächer, sondern es wird im Gegenteil die Schlagzahl erhöht. Experten des Wirtschaftsforschungsinstituts BEROC heben hervor, dass die Zahl der von Menschenrechtlern registrierten politisch motivierten Festnahmen weiter zunimmt. Wenn die Silowiki im Sommer vergangenen Jahres noch im Schnitt 100 bis 120 Personen pro Monat festnahmen, waren es im Herbst dreieinhalb Mal so viel. Auch die Zahl der politisch motivierten Gerichtsverfahren steigt und die Haftstrafen werden härter. Es gibt jetzt die Tendenz zu „Firmenfestnahmen“, bei denen sich die Sicherheitskräfte gleich eine ganze Reihe von Mitarbeitern eines Unternehmens schnappen, und zwar von ganz unterschiedlichem Profil. Die Behörden verfolgen die Verwandten der politischen Gefangenen. Die Repressionen gegen Anwälte und Medien hat ein neues Level erreicht. Das alles lässt sich ohne Übertreibung nur als Massenterror bezeichnen.
„Wir leben in einem waschechten Stalinismus”
Politische Gegner, Experten, Journalisten werden vom Regime zu Gefängnisstrafen von 10, 12, 15 oder mehr Jahren verurteilt. Fehlt nur noch, dass wieder Erschießungen stattfinden. Für Landesverrat wurde schon die Todesstrafe eingeführt. Bislang zwar nur für Staatsdiener, doch wer garantiert uns, dass die Liste derjenigen, die unter dieses Gesetz fallen, nicht länger wird? Schauen wir doch der Wahrheit ins Gesicht: Wir leben in einem waschechten Stalinismus.
Aus Lukaschenkos Erklärung können wir eines schließen: das Regime weiß sehr wohl, dass die Silowiki, auf die es sich stützt, und ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft auf verschiedenen Seiten der Barrikaden stehen. Und die Kluft zwischen ihnen wird immer tiefer. Doch mit den Repressionen aufzuhören, hieße, die Macht zu verlieren.
Und was versteht das Regime eigentlich unter „Einigkeit“? Junge Pioniere, die härteste Strafen für „Verräter“ fordern. Versammlungen der Belegschaften, die glühend für harte Urteile eintreten. Denunziation von „grässlichen Weiß-rot-weiß-lern“. Und Unterstützung für der Repressionen. Das wäre nach Lukaschenkos Verständnis Einigkeit. Und er lügt keineswegs, wenn er sagt, es würde „leichter für uns“. Wenn ein Teil der Gesellschaft aktiv den anderen denunziert, wenn die Saat des Misstrauens und der Angst ausgebracht und aufgegangen ist, einer Angst nicht nur vor den Strafbehörden, sondern auch vor Nachbarn, Kollegen und Freunden, dann ist es für das Regime sehr viel einfacher, an der Macht zu bleiben. „Einigkeit“ ist hier nicht mehr als ein schönes Wort. Es bedeutet, dass man sich den allmächtigen Silowiki beugt. Und die Angst, einen Schritt nach links oder rechts zu machen – weil dann die Wachmannschaften ohne Vorwarnung das Feuer eröffnen.
Keine horizontalen Strukturen, keine Zusammenarbeit. Jeder hat Angst vor jedem. Das ist es, was die Einigkeit mit den Silowiki bedeutet. Also die uralte Maxime „teile und herrsche“, die auf eine weitere Spaltung der Gesellschaft abzielt.
Die belarussische Opposition um Swetlana Tichanowskaja genießt eigentlich internationale Anerkennung: Die Politikerin hat sich im Juli 2021 mit US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus getroffen, auch zahlreiche europäische Politiker haben die Oppositionelle empfangen. Nur die ukrainische Politik ignoriert demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus.
Zwar sind belarussische Truppen bislang nicht direkt am russischen Krieg gegen die Ukraine beteiligt, dennoch leistet das Regime Lukaschenko dem Kreml bedeutende Schützenhilfe: Am 24. Februar 2022 wurde Belarus zu einem Durchgangshof für den russischen Überfall auf die Ukraine. Lukaschenko steht fest an der Seite des Kreml und unterstützt die russische Aggression mit Logistik, Militäraufklärung oder Dienstleistungen für die russische Armee.
Wäre es da für die ukrainische Führung nicht opportun, sich mit Tichanowskaja zu verbünden und gemeinsam mit der demokratischen Opposition das Regime Lukaschenko zu schwächen?
Nicht so einfach, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch – und analysiert auf Reform.by denkbare Motive für die Kyjiwer Funkstille.
Waleri Kowalewski, der Beauftragte für Außenpolitik im belarussischen Vereinigten Übergangskabinett, hat zwar indirekt, aber doch bestätigt: Die Ukraine stelle sich gegen eine Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und Vertretern der belarussischen Öffentlichkeit an internationalen Veranstaltungen. Was für eine Strategie verfolgt die ukrainische Führung mit einer solchen Politik?
Wie Waleri Kowalewski auf dem TV-Sender Belsat sagte, wurde der Ablauf des Festakts anlässlich des 160. Jahrestags des Januaraufstands von Kastus Kalinouski in Warschau tatsächlich verändert: „Während der Vorbereitungen auf diese Veranstaltung erreichte uns die Information, dass es Einwände gegen Swetlana Tichanowskajas Auftritt sowie gegen die belarussische Flagge und den belarussischen Kranz gebe. Ganz offensichtlich wurde der ursprünglich geplante Ablauf verändert“, berichtete Kowalewski. Dabei ging Kowalewski nicht ins Detail, wer genau sich gegen eine vollwertige Teilnahme der belarussischen Demokraten an dieser Jubiläumsfeier ausgesprochen hatte. Will man darauf die Antwort wissen, so genügt es, sich an Selenskys Ansprache zu erinnern, die bei der Zeremonie verlesen wurde. Der ukrainische Präsident sprach von vereinten Völkern im Kampf gegen den russischen Imperialismus. Doch die Belarussen wurden nicht erwähnt. Das ist natürlich kein Zufall, sondern bewusste Politik der ukrainischen Regierung.
Ukraine blockiert konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja und von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft
Die Feierlichkeiten zum 160-jährigen Jubiläum des Januaraufstands und Kowalewskis Kommentar sind nicht die einzige Gelegenheit, sich die belarussisch-ukrainischen Beziehungen vor Augen zu führen. Mehrere nicht namentlich genannte europäische Diplomaten haben Nasha Niva erzählt, die Ukraine blockiere konsequent die Teilnahme von Swetlana Tichanowskaja, aber auch von Vertretern der belarussischen Zivilgesellschaft an gemeinsamen Veranstaltungen mit europäischen Ländern. Es handelt sich also nicht um einen Einzelfall, sondern um eine Strategie der ukrainischen Führung.
Olexander Mereshko, Vorsitzender des Ausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit der Werchowna Rada und Mitglied der Fraktion Sluha narodu, dementiert das: „Ich glaube nicht, dass die Ukraine Tichanowskajas Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen gezielt verhindert. Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls. Für die Teilnahme an diplomatischen Veranstaltungen braucht man einen besonderen Status. Und es ist sehr ungewöhnlich, dass andere Personen als Repräsentanten von Staaten dabei sind“, meint er.
Das ist vielmehr eine Frage des diplomatischen Protokolls
Diese Erklärung überzeugt jedoch nicht. Im Juli 2021 hat das litauische Außenministerium die Demokratische Vertretung Belarus anerkannt und Tichanowskajas in Vilnius tätigem Team einen offiziellen Status verliehen. Das diplomatische Protokoll hindert die belarussischen demokratischen Kräfte nicht an Treffen mit US-Präsident Joe Biden und auch nicht an Terminen mit den höchsten Führungsriegen von Deutschland und Polen. Einzig das offizielle Kyjiw fühlt sich gestört und ignoriert schon lange demonstrativ sowohl Tichanowskaja als auch die anderen Vertreter der demokratischen Kräfte von Belarus.
Im ukrainischen Establishment bestehen heute in Bezug auf unser Land unterschiedliche Strömungen. Manche Politiker und Experten, etwa Alexander [sic!) Arestowytsch, sind der Meinung, Swetlana Tichanowskaja sei „die gesetzlich gewählte Präsidentin von Belarus“, und die in der Ukraine vorherrschende Haltung zur „Belarus-Frage“ füge sich in eine „Reihe sehr schwerer Fehler“. Manche Abgeordnete der Werchowna Rada, wie der bereits erwähnte Olexander Mereshko, finden, das legitime belarussische Organ, mit dem Kyjiw einen Dialog führen könnte, wäre am ehesten das Kalinouski-Regiment, das in die ukrainischen Streitkräfte eingegliedert ist. Tichanowskajas Position zu Russland und Putin sei „zu unklar“.
Die ukrainische Regierung mit Präsident Selensky an der Spitze lehnt den Kontakt zu Tichanowskaja genauso ab wie zu allen anderen Vertretern der belarussischen demokratischen Bewegung, die „Kalinouzy“ [Soldaten des Kalinouski-Regiments – dek] eingeschlossen. Zumindest auf offiziellem Parkett. Gleichzeitig setzt die ukrainische Regierung allem Anschein nach bis zu einem gewissen Grad den Dialog mit dem offiziellen Minsk fort. Das lässt sich aus Alexander Lukaschenkos Äußerung ableiten, die Ukraine habe ihm die Schließung eines Nichtangriffspakts vorgeschlagen. Weder Präsident Selensky noch das ukrainische Außenministerium haben diese Erklärung bestätigt, aber auch nicht dementiert.
Will die ukrainische Regierung vermeiden, Lukaschenko zum Kriegseintritt zu provozieren?
Möglicherweise ist einer der Gründe dafür, Tichanowskaja und das Übergangskabinett zu ignorieren, dass die ukrainische Regierung Lukaschenko nicht zum Kriegseintritt provozieren will. Gleichzeitig gibt es aber das Kalinouski-Regiment, das das offizielle Minsk bestimmt nicht weniger, wenn nicht sogar noch mehr ärgert als alle demokratischen Kräfte zusammen.
Worin kann denn nun die Strategie von Selensky und seinem Team bestehen? Ist die Besänftigung des offiziellen Minsk wirklich das Hauptproblem?
Eine Reihe belarussischer Politologen findet diese Position der ukrainischen Führungsriege kurzsichtig, weil ohne unabhängiges Belarus keine Stabilisierung der Region möglich sei. Die Botschaft ist klar. Allerdings würde das Ende des Kriegs und auch ein Sieg der Ukraine nicht unbedingt bedeuten, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen. Ein definitiver Sieg für die Ukraine wäre eine Befreiung der von Russland okkupierten Gebiete. Weiterzugehen, in die Russische Föderation oder gar in Belarus einzumarschieren, Moskau oder Minsk zu stürmen, steht für die ukrainische Staatsmacht nicht zur Debatte. Und deswegen sollte Kyjiw ein Szenario nicht ausschließen, in dem die Ukraine auch in Zukunft mit Putin und Lukaschenko als Nachbarn wird leben müssen, selbst wenn ihre Systeme vielleicht hinter einem „eisernen Vorhang“ verschwinden. Der übrigens nach Kriegsende womöglich gar nicht mehr so undurchlässig sein wird, einen Teil der wirtschaftlichen Sanktionen könnte der Westen dann durchaus aufheben. Selbst wenn diese Regime genauso repressiv, genauso unmenschlich bleiben – das sind eure Probleme, kann es aus Kyjiw dann heißen, und es ist nicht Sache der Ukrainer, sie zu lösen. Zudem wird das Minsker Regime, sollte durch eine Niederlage Moskaus die Unterstützung aus Russland wegfallen, gezwungen sein, zumindest kosmetische Änderungen vorzunehmen.
Das Kriegsende und auch ein Sieg der Ukraine bedeutet nicht unbedingt, dass Putins und Lukaschenkos Regime fallen
Und weil Kyjiw seine Beziehung zu Lukaschenko also sowieso auf die eine oder andere Art wird pflegen müssen – wozu sollten sie es sich schon heute endgültig mit ihm verscherzen? Zumal er Belarus ja irgendwie doch unter Kontrolle hat. Und nicht auszuschließen ist, dass das auch weiterhin so bleibt.
Wenn die Belarussen und die Ukrainer von der Besatzung ihrer Länder durch Russland sprechen, dann haben sie von dieser Okkupation unterschiedliche Vorstellungen. Für die Belarussen ist Lukaschenkos Regime ein Teil des russischen Okkupationskontingents. In den Augen der Ukrainer ist das belarussische Regime einfach nur in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, weil auf seinem Territorium russische Truppen stationiert sind. Folgt man dieser Logik, so wird Lukaschenko, sobald die Russen weg sind, wieder zum politischen Subjekt, mit dem man verhandeln kann. Die ukrainische Interpretation dieses Sachverhalts ist auch für Lukaschenko selbst äußerst günstig, weil es ihn weitgehend aus der Verantwortung für die Beteiligung an der Aggression zieht. Dasselbe Narrativ promoten auch die Abgesandten des offiziellen Minsk in ihren raren Kontakten zum Westen.
Ukraine will das Problem lösen, wenn die Sieger feststehen und Dispositionen klar sind
Wie es aussieht, beabsichtigt die ukrainische Regierung, die Lösung des Belarus-Problems auf „nach dem Krieg“ zu verschieben, wenn dann die Sieger feststehen und die endgültige Disposition klar ist. Und wenn klar ist, wie und zu wem man seine Beziehungen ausbauen muss. Zumindest solange Belarus nicht in diesen großangelegten Krieg eintritt, hat es Kyjiw offenbar nicht eilig, sich für eine der beiden Seiten im innerbelarussischen Konflikt zu entscheiden. In der Hoffnung, sich nach dem Sieg jenen zuzuwenden, die sich als stärker und einflussreicher erweisen. Im Grunde ist es simpel – wenn Lukaschenkos Regime untergeht, dann wird das Oberhaupt des neuen Belarus, egal ob Tichanowskaja oder jemand anders, selbst daran interessiert sein, ein Vertrauensverhältnis zur siegreichen Ukraine aufzubauen. Wenn Lukaschenko nicht untergeht – tja, dann muss man eben auf ihn oder seinen Nachfolger zugehen. Doch sogar in diesem Fall wird das für die Ukraine, so sie denn siegt und nicht verliert, viel einfacher sein als heute. Ob diese Strategie vertretbar ist, ist eine andere Frage. Auch, welchen Einfluss diese Haltung der ukrainischen Regierung auf die belarussische politische Agenda hat. Doch die demonstrative Zurückweisung der belarussischen demokratischen Kräfte durch die ukrainische Regierung drängt einen dazu, genau diese Fragen durchzuspielen.