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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Pawel Durow

    Pawel Durow

    Philologe und Programmierer, Internet-Unternehmer und Verteidiger des Rechts auf Privatsphäre: Pawel Durow forderte mit seinem abhörsicheren Messenger Telegram die russische Politik heraus und zieht daraus symbolischen wie realen Gewinn. Es erinnerte an den Wettlauf zwischen Hase und Igel: Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hatte im April 2018 versucht, den Messengerdienst zu blockieren, mit mäßigem Erfolg und hohen Kollateralschäden. Nun schickt sich Durow, der außer Landes lebende bekennende Weltbürger, mit einer Initiative im Bereich der Kryptowährungen an, die globale digitale Ordnung zu revolutionieren. Und wird damit auch zum role model für die Jugend der Putin-Ära.

    Pawel Durow ist ein weltweit erfolgreicher und angesichts seiner exzentrischen Persönlichkeit umstrittener russischer Internet-Unternehmer, der derzeit außer Landes lebt. Er stammt aus einer Intellektuellen-Familie mit einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Der Vater, ein renommierter Altphilologe, arbeitete zur Zeit der Perestroika an der Universität im italienischen Turin, wo Durow seine Kinderjahre verbrachte. Nach der Rückkehr der Familie nach St. Petersburg und dem Schulabschluss auf einem Elite-Gymnasium absolvierte auch der angehende Programmierer zunächst ein geisteswissenschaftliches Studium, nämlich der Anglistik. Der hochbegabte Student erhielt zahlreiche offizielle Förderungen, darunter auch ein Stipendium der Präsidialadministration. 
    Im Jahr 2006, zur Zeit des ersten Booms der sozialen Netzwerke, gründet Pawel Durow gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaj die Plattform VKontakte (dt. „InKontakt“). Das eingängige Logo in Blau-Weiß will der Jungunternehmer in der ihm typischen Unbescheidenheit in nur wenigen Minuten selbst entworfen haben. 
    VKontakte entwickelt sich exponentiell und überholt in der Gunst der russischsprachigen Nutzer*innen bald den heimischen Konkurrenten Odnoklassniki (dt. „Schulkameraden“) sowie – wichtiger noch – das amerikanische Vorbild Facebook. Grund für den Erfolg ist neben der einfachen Bedienbarkeit eine laxe Copyright-Politik. VKontakte wird neben seiner Funktion als Medium privater und öffentlicher Kommunikation zu einer Tauschbörse für Kinofilme und Videospiele. Entsprechend ist die Erfolgsgeschichte der Plattform von Beginn an durch Kontroversen und gerichtliche Auseinandersetzungen um die Verletzung von Autorenrechten begleitet.1 Kritische Stimmen werfen Durow selbst Diebstahl geistigen Eigentums vor, habe er doch das erfolgreiche Zuckerbergsche Facebook-Modell einfach übernommen und russifiziert. VKontakte ist auch in russischsprachigen, ehemals sowjetischen Republiken wie der Ukraine oder Kasachstan populär.

    Im Zuge der Politisierung des russischsprachigen Internets verschieben sich die Kontroversen vom Copyright zum Datenschutz. Bei den sogenannten Bolotnaja-Protesten 2011/12 spielen die sozialen Netzwerke eine zentrale Rolle, darunter auch VKontakte. Dasselbe gilt ein Jahr später für die ukrainische Euromaidan-Revolution 2014 und den Sturz des kremlnahen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. 
    Durow lehnt die Forderungen des FSB ab, persönliche Daten von Teilnehmern der russischen und ukrainischen Proteste preiszugeben.2 Das in der russischen Verfassung verbürgte Recht auf Schutz der Privatsphäre stehe über den Sicherheitsinteressen des Staats. Zudem fielen die ukrainischen Nutzer nicht unter die russische Gesetzgebung. Seine Position vertritt Durow gewohnt kaltschnäuzig: Er publiziert das Schreiben des FSB auf seinem VKontakte-Account zusammen mit dem Bild eines Hundes im Hoodie, dem typischen Hacker-Fashion-Accessoire. 

    Screenshot ausVKontakte
    Screenshot ausVKontakte

    Parallel zu den Konflikten mit der Staatsmacht spitzen sich Auseinandersetzungen unter den Aktionären von VKontakte zu, darunter auch staatlich dominierten Akteuren des russischen Medienmarkts wie mail.ru. Durow gerät zunehmend unter Druck, zumal gegen ihn auch strafrechtlich ermittelt wird. Der vorgeblich bekennende Fußgänger und Metrofahrer soll einen Polizisten angefahren und danach Fahrerflucht begangen haben.3 
    Im Frühjahr 2014 verkauft Durow seinen Aktienanteil, tritt von seinem Chefposten bei VKontakte zurück und verlässt Russland. Die Bedingungen für digitales Unternehmertum seien nicht mehr gegeben.4 Seine Kritiker sehen den Grund für die ‚Emigration‘ in den wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den Aktionären sowie einer Anklage wegen Beamtenbeleidigung.

    Telegram: Vom privaten Messenger zum digitalen Massenmedium

    Die Fortsetzung des digitalen Siegeszugs des Pawel Durow vollzieht sich also außerhalb Russlands. Der Unternehmer-Nomade und seine Mitstreiter bringen 2013 einen Kurznachrichtendienst namens Telegram auf den Markt. Neben einer Reihe von hübschen Gadgets zeichnet sich dieser durch die Möglichkeit der Verschlüsselung privater Chats aus, im Unterschied zum Produkt Whatsapp des ewig-epischen Gegners Facebook. Der Dienst wird ob dieser Qualität weltweit populär bei Nutzern, für die Privatsphäre und Datenschutz zentral sind, bei Protestgruppen und NGOs etwa. Telegram wird aber auch von terroristischen Gruppierungen aller Couleur genutzt, in Russland (beim Anschlag auf die Petersburger Metro 2015) wie in Deutschland (beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016). Die tatsächliche Effizienz der Verschlüsselung ist dabei nach wie vor umstritten. Von einem privaten Messenger entwickelte sich der Dienst seit 2015 auch zu einem neuen massenmedialen Kommunikationsformat, über dessen öffentliche Kanäle hunderttausende Nutzer gezielt informiert werden können. Auch der Kreml nutzte diese Option gerne, bevor die Auseinandersetzungen mit dem Durowschen, auf Datenschutz setzenden Geschäftsmodell erneut eskalieren. 

    Im Zuge der erwähnten, verstärkt auf Kontrolle setzenden Medienpolitik geraten Verschlüsselungstechnologien zunehmend unter Druck, in Russland wie weltweit. Argument ist der Kampf gegen den Terrorismus. Aktivisten und Regierungsgegner befürchten hingegen eine gesteigerte Überwachung unliebsamer politischer Aktivitäten. Und so entfaltet sich der zweite Akt im Drama Durow gegen den FSB, der ultimativ die Aushändigung der Verschlüsselungscodes verlangt. Der Telegram-Gründer aber bleibt bei seiner kompromisslosen Haltung. Der Messenger wird daraufhin im April 2018 von der russischen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor auf den Index gesetzt und blockiert. Die Blockade zieht eine Reihe von Kollateralschäden nach sich. Im Zuge des Hase- und Igel-Rennens zwischen den Kontrahenten waren populäre Мedienangebote und Cloud-Services, auch von ausländischen Firmen wie Amazon oder Google, in Russland unzugänglich. Im Herbst 2018 ist Telegram in Russland mit Einschränkungen weiter nutzbar.5 

    Aktuell ist der Dollar-Milliardär6 Durow dabei, Telegram zu einer umfassenden, auf Blockchain-Technologie beruhenden Dienstleistungsplattform auszubauen. Diese soll auch eine neue Kryptowährung namens Gram und damit ein verlässliches und bequemes Mittel des digitalen Bezahlverkehrs anbieten. Anfang 2018 akquirierte das Unternehmen für diesen Zweck knapp zwei Milliarden Dollar von Investoren7, ohne dass bereits Genaueres über die angekündigte revolutionäre Technologie bekannt wäre. Der russische Markt, so Experten, ist für Durow und Telegram zu klein geworden, weshalb sich der Unternehmer den Konflikt mit seinem Heimatland und dem Nachrichtendienst FSB leisten kann.8 Ein Vertrauensverlust angesichts der Preisgabe von Nutzerdaten an nationale Sicherheitsdienste würde die Marke Telegram/Durow stärker schädigen als der temporäre Verlust eines regionalen Marktes. Telegram selbst macht im Übrigen bis dato keinen Gewinn und wird von seinem Gründer aus den VKontakte-Aktienverkäufen quersubventioniert.
    Unterstützt wird Durow maßgeblich von seinem Bruder Nikolaj, der als das eigentliche Programmier-Genie an seiner Seite gilt, aber hinter der exzentrischen Persönlichkeit seines Bruders zurücksteht. 

    Weltbürger und Provokateur: Durow, das Mem

    Die Internet-Unternehmer der digitalen Ära sind zu popkulturellen Figuren geworden, deren Biographien teils noch zu Lebzeiten verfilmt werden, wie etwa im Fall des amerikanischen Social-Media-Wunderkinds Mark Zuckerberg (Verfilmung The Social Network, 2011). Dies gilt erst recht für den exzentrischen Dollar-Milliardär Durow. In seinem charakteristischen Outfit in schwarzer Kleidung mit Kapuze scheint er selbst dem antiutopischen Film Matrix um den Hacker Neo entsprungen zu sein, dessen Physiognomie er sogar nachahmt.     
    Durow charakterisiert sich seit seiner Ausreise aus Russland als Weltbürger. Versehen mit einem Pass des Inselstaats St. Kitts und Nevis reist er mit seinem Bruder und seinem Team von Programmierern durch die Welt und lebt immer nur begrenzte Zeit an einem Ort, aktuell in Dubai. Der bekennende Vegetarier ist ebenso bekennender Libertarier und lehnt Nationen ab, ganz im Sinne der grenzenlosen digitalen Welt, innerhalb derer er sich bewegt. Seine asketischen Lebensregeln mit Verzicht auf Alkohol, Kaffee, Fleisch und Fernsehen und vorgeblich auch materiellen Besitz, rufen auch amüsierte Reaktionen hervor. Kritiker seiner exzentrischen Persönlichkeit verweisen auf eine Episode in seinem Leben, die in absolut jeder Darstellung seiner Biographie zwangsläufige Erwähnung findet: 2012 wirft Durow Geldscheine im Wert von einigen Tausend Rubel als Papierflieger aus den Fenstern der Konzernzentrale an der Petersburger Promeniermeile Newski-Prospekt. Und das gerade am Tag des Sieges, an dem die gesamte russische Nation des Großen Vaterländischen Krieges gedenkt.9 Seinen Kritikern gilt dies als Beleg für seine zynisch-abgehobene Entfremdung von den eigenen Landsleuten. 
    Bezeichnenderweise hat der programmierende Philologe diese Episode zu seinen Gunsten gewendet und sogar in sein Markenzeichen verwandelt: Der Papierflieger wurde zum Telegram-Logo, aber auch zum Symbol der Proteste gegen die Blockade des Messengers sowie der restriktiven russischen Medienpolitik im Allgemeinen10

    Screenshot von Durows „Instagram“-Account
    Screenshot von Durows „Instagram“-Account

    Durow versteht sich also nicht nur auf die technische Seite des Programmierens, sondern auch auf die Kunst der Steuerung der Netzöffentlichkeit durch virale Strategien. Putin persönlich challengt er auf seinem Instagram-Account mit Bildern, die ihn in der präsidialen Freizeitpose mit durchtrainiertem freien Oberkörper zeigen: #PutinShirthlessChallenge.11 Und verwandelt sich dabei sukzessive selbst in ein Mem. 
    Gleichzeitig, so Soziologen, entwickelt sich der bei aller Exzentrik prinzipientreue Durow zu einem alternativen role model12 für die Jugend der Putin-Ära.13 Der PR-Stratege Aleksej Firsow sieht in ihm einen neuen Typus des russischen Unternehmers jenseits der etablierten oligarchischen Strukturen. Der erklärte Unwille Durows, sich im direkten Sinne politisch zu betätigen, fördere angesichts der weit verbreiteten Elitenmüdigkeit seine Glaubwürdigkeit und Popularität nur noch.14 


    1. Forbes: «Vedomosti» ušli iz «VKontakte» iz-za konflikta vokrug avtorskich prav ↩︎
    2. vk.com: Post von Pavel Durov vom 16. April 2014 ↩︎
    3. Novaya Gazeta: VKontakte s DPS ↩︎
    4. Moskowski Komsomolez: Osnovatel‘ VKontakte: «Rossija nesovmestima c internet-biznesom» ↩︎
    5. Ria Nowosti: Jurist ozenil vozmožnost‘ sotrudničestva meždu vlastjami i Telegram ↩︎
    6. Forbes: Tektoničeskaja platforma: Forbes priznal Pavla Durova dollarovym milliarderom ↩︎
    7. zeit online: Der Traum von einem neuen Internet ↩︎
    8. Forbes: Bol’šaja igra: Počemu Pavel Durov ne boitsja FSB ↩︎
    9. Neue Zürcher Zeitung: Der Telegram-Gründer nimmt es auch mit dem russischen Geheimdienst auf ↩︎
    10. Instagram: #digitalresistance ↩︎
    11. Instagram: Post von Pavel Durov vom 14. August 2017 ↩︎
    12. Meduza: Blocking Telegram is a blow to Russia’s future ↩︎
    13. Memepedia: Golyj tors i Digital Resistance: Kak Pavel Durov stal simvolom svobodny i geroem pokolenija ↩︎
    14. Forbes: Čelovek c charizmoj: možet li Pavel Durov stat‘ političeskim liderom ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Datscha

    Datscha

    „Ganz Petersburg stand eines Morgens auf und fuhr auf die Datscha“, so die Klage des in der Hauptstadt zurückgebliebenen Helden aus Dostojewskis Erzählung Weiße Nächte.1 Die Datscha, das suburbane Sommerhaus der Russen, steht seit jeher für die kleine Flucht aus Stadt und Alltag. Ursprünglich eine „Landgabe“ des Zaren an den Adel, wird sie über die Jahrhunderte zu einem die Schichten übergreifenden Sehnsuchtsort. Erholung und Gartenbau gehen hier eine erfrischende Symbiose ein. Trotz oder gerade wegen ihrer Randlage steht die Datscha oft im Zentrum der großen Politik: Der sowjetische Diktator Stalin starb auf seiner Staats-Datscha; der von eben diesem Regime verfolgte Nobelpreisträger Boris Pasternak lebte im Moskauer Datschen-Vorort Peredelkino im inneren Exil.

    Die Datscha steht seit jeher für die kleine Flucht aus Stadt und Alltag / Foto © Kommersant Archiv
    Die Datscha steht seit jeher für die kleine Flucht aus Stadt und Alltag / Foto © Kommersant Archiv

    Mit dem anbrechenden Sommer leeren sich die russischen Metropolen – das Stadtvolk verlässt seine Wohnungen und zieht für die nächsten Monate auf die Datscha, wie die typisch russischen Garten- oder Sommerfrische-Häuser heißen. Wer in der staubigen Stadt zurückbleiben muss, ist ein bemitleidenswerter Außenseiter, wie schon Dostojewskis Held bereits im 19. Jahrhundert feststellte.

    Datscha als Modernisierungsprojekt

    Die Datscha, ein Sommerhaus im Umfeld der großen Städte, ist eine ‚Erfindung‘ Peters des Großen. Der Zar-Reformer importierte sie, wie viele andere europäische Moden und Modernisierungsprojekte, aus dem europäischen Westen.

    Der Begriff Datscha geht auf das russische Verb dawat (dt. geben) zurück und bezeichnet ursprünglich eine Landgabe des Zaren an den Adel. Peter der Große hatte bei seinen Reisen durch Europa die prächtigen adeligen Sommersitze sehen und schätzen gelernt. Nach diesem Vorbild wollte er im Umfeld der von ihm 1703 neu gegründeten Hauptstadt St. Petersburg vornehme Villen-Viertel schaffen, um auch während der Ferien des Hofs Zugang zu seinen Beratern zu haben und das Umfeld der aus dem Sumpfboden gestampften Metropole zu urbanisieren. 
    Per Dekret verfügte er um das Jahr 1710 die Vergabe von gleich abgemessenen Grundstücken an den Adel, unter der Maßgabe dort auf eigene Kosten Sommerresidenzen zu errichten. 

    Innerhalb weniger Jahre entstand so entlang der Magistrale, welche die Hauptstadt Petersburg mit der Sommerresidenz des Zaren in Peterhof verband, die erste Datschen-Siedlung der russischen Geschichte, die sogenannte Petershofer Perspektive.2

    Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden viele Datschen im Jugendstil oder in historisierenden Stilen / Foto © Muore ann/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden viele Datschen im Jugendstil oder in historisierenden Stilen / Foto © Muore ann/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Nach diesem politisch-höfischen Gründungsakt erfuhren die Institution und die Bauform der Datscha im 19. Jahrhundert einen ersten Demokratisierungsschub. Neben dem Adel konnten sich nun die entstehenden Bürger- und Beamtenschichten einen Sommer auf der Datsche leisten, oftmals nicht in Eigenbesitz, sondern zur Miete. 

    Der ersehnte Umzug in die Sommerfrische erwies sich dabei als durchaus beschwerlich, wurden die Häuser doch unmöbliert vermietet und musste der gesamte Hausstand per Kutsche oder – in Petersburg – per Schiff aufs Land gebracht werden.3 Erst der Anschluss der Sommerfrische-Vororte an die Eisenbahn brachte Transport-Erleichterung und eine „unglaubliche Vermehrung des Datschavolks“.4

    Ort der geselligen Muße

    Charakteristisch für die „Gattung“ ist diese Nähe zur Stadt, die es den Datschniki früher und heute erlaubt, falls nötig, zwischen Sommerfrische und Arbeit in der Stadt hin- und her zu pendeln. Im Unterschied zur „großen“ Urlaubsreise, beispielsweise in die beliebten Kurorte im Kaukasus oder auf der Krim, bewirkte dieser Halb-Abstand die spezifische Form der lockeren Geselligkeit im Austausch mit Freunden und Bekannten. Gerade als Kontakt-Zone zwischen Stadt und Land wird die Datscha ein Ort der geselligen Muße, des Lebens in der Natur (verbunden auch mit der didaktischen Vorstellung einer physischen Gesundung und moralischen Läuterung), des entstehenden Sports (insbesondere Krocket war beliebt) und der (Laien-)Kultur. 

    Bestimmend für die Datscha ist auch ihre charakteristische Architektur, zumeist als ein- bis zweistöckiges Holzhaus mit geschnitzten Verzierungen, im ausgehenden 19. Jahrhundert oft im Jugendstil oder in historisierenden Stilen, mit verglasten Veranden, auf denen der Tee gereicht wurde, und Pavillons für romantische Rendezvous in den Gärten. Auf eine Heizung wurde hingegen fast immer verzichtet, war die Datscha doch ein auf die Sommerzeit begrenztes Asyl.

    Im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickeln sich auch die bis heute typischen Datschen-Vororte, die sich durch eine charakteristische Infrastruktur mit Bahnhof, Parks mit Tanzflächen, Vergnügungsstätten oder Badestellen auszeichnen. Zahlreiche Wissenschaftler, Künstler und Literaten suchten auf der Datscha nicht nur einen Rückzugs- und Inspirationsort, sondern machten die Datschen-Kolonien auch zu Treffpunkten der künstlerischen Bohème und Intelligenzija.

    Belohnungssystem für politisches Wohlverhalten

    Die Datscha als bereits etablierte Institution der russischen Kultur überlebte, wenn auch in modifizierter Form, den Epocheneinschnitt der Revolution. Vergleichbar mit anderen bürgerlich-zaristischen Einrichtungen des alten Regimes wurde sie an die Ideologie und Erfordernisse der neuen Ordnung angepasst. 

    Per Dekret werden im Jahr 1922 Luxus-Datschen enteignet und als Erholungsheime, Sanatorien, Kinderheime oder angesichts der Wohnungsnot ganz einfach als Wohnhäuser genutzt. In eng definierten Grenzen blieb die Datscha als privater Ort und Privateigentum jedoch bestehen. Im Verlauf der sowjetischen Epoche wird sie aber immer stärker an staatliche Institutionen angebunden, auch als Teil des Belohnungssystems für politisches Wohlverhalten. Gewerkschaften, Fabriken und Kombinate oder Organisationen wie der Schriftstellerverband bauen eigene Datschen-Siedlungen, in denen ihre Mitglieder Häuser unentgeltlich oder zu einem geringen Mietpreis zur Verfügung gestellt bekommen.5

    Die Datscha von Boris Pasternak. Hier lebte der in der Sowjetunion verfolgte Schriftsteller im inneren Exil / Foto © my-sedovo.narod.ru
    Die Datscha von Boris Pasternak. Hier lebte der in der Sowjetunion verfolgte Schriftsteller im inneren Exil / Foto © my-sedovo.narod.ru

    Gleichzeitig wurde das scheinbar private Sommerhaus zu einem bevorzugten Aufenthaltsort der Nomenklatur und politischen Führung. Von Stalin über Chruschtschow bis Gorbatschow lebte und regierte die Polit-Prominenz in ihren Staatsdatschen (kasjonnyje Datschi). Für in Ungnade gefallene Politiker wie Chruschtschow wurde die Datscha zum unfreiwilligen Luxusgefängnis.6 Und Michail Gorbatschow sollte, so die Legende, während des August-Putsches 1991 auf seiner Staatsdatsche auf der Krim kaltgestellt werden.

    Ressource für die Selbstversorgung versus Edel-Sommerfrische

    Auf die politischen Reformen der Perestroika folgt in den 1990er Jahren die ökonomische Krise der Transformationszeit. Die Datscha wird von einem Ort der Erholung zu einer Ressource für die Selbstversorgung mit Lebensmitteln, ein Prozess, der bereits mit den Versorgungsengpässen der späten Breshnew-Zeit eingesetzt hatte.7 

    Diese neue Funktion der Datscha wurde in Datschniki, einem der bekanntesten Lieder Sergej Schnurows, bespöttelt: Der in der Stadt lebende Arbeiter „klotzt bis zum Verrecken“, dann lässt er sich „volllaufen bis zum Erbrechen“ und träumt vom Sommer, wenn er wieder auf seine Datscha fahren und sich dort mit seiner Schaufel austoben kann8.

    Mit dem beginnenden oligarchischen Wohlstand und der Glamour-Kultur der Putin-Jahre setzt in den Datscha-Vororten ein neuer Bau-Boom ein. An die Stelle der bescheidenen, wenn auch oftmals architektonisch liebevoll gestalteten Holzhäuser treten protzige Sommerpaläste aus Stein und Marmor, die sich hinter hohen Zäunen und privaten Wachen verschanzen. Diese postmodernen Prunk- und Glamour-Datschen schließen damit, so die Datscha-Chronistin Mariana Rumjanzewa, auf paradoxe Art an die ersten Luxus-Datschen unter Peter dem Großen an. Vergleichbar der Petershofer Perspektive als Macht-Horizontale formiert sich heuer an der Moskauer Ausfallsstraße Rubljowka eine neue Edel-Sommerfrische (bisweilen ganzjährig).9

    Zwischen Schrebergarten und suburbia

    Die Datscha ist, so ihr Erforscher und Historiker Stephen Lovell, gewissermaßen die russische Antwort auf den Prozess der Urbanisierung, zwischen deutschem Schrebergarten und amerikanischer suburbia

    Über alle Epochen und Stufen ihrer Entwicklung hinweg ist sie dabei eines geblieben – der kleine Sehnsuchts- und Zufluchtsort in Stadtnähe, der informelle Kommunikation erlaubt und dabei anders als die berühmten „Moskauer Küchen“ nicht primär dem politischen Gespräch, sondern der Geselligkeit dient. Als solcher hat das russische Sommerhaus vielfach Eingang in die russische Literatur und Kultur, vom Theater bis zum Kino, gefunden. Marina Rumjanzewa stellt in ihrem Lesebuch zentrale Texte zum Thema vor: von Tschechows Kirschgarten, der einer Datschen-Siedlung Platz machen sollte, bis zu Majakowskis revolutionärem Rendezvous mit der Sonne auf einer Datschen-Veranda. Ideale Sommerlektüre für die in den Metropolen verwaisten Städter.


    1. Dostoevskij, Fedor M.(1969): Weisse Nächte: Ein empfindsamer Roman: Aus den Erinnerungen eines Träumers, Stuttgart ↩︎
    2. Lovell, Stephen (2003): Summerfolk: A History of the Dacha, 1710–2000, Ithaca ↩︎
    3. Rumjanzewa, Marina (Hrsg.) (2009): Auf der Datscha: eine kleine Kulturgeschichte und ein Lesebuch, Zürich ↩︎
    4. Čechov, Anton (1985): Der Kirschgarten, in: Anton Tschechows Stücke, Frankfurt am Main ↩︎
    5. Fitzpatrick, Sheila (1999): Everyday Stalinism: Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, Oxford ↩︎
    6. Komsomolskaja Prawda: Sem’ let‘ dačnogo režima’ dlja Chruščeva ↩︎
    7. Seit den 1960 Jahren verteilten der Staat und Großunternehmen unentgeltlich kleine Landstücke (400 bis 600 Quadratmeter), auf denen Sowjetbürger kleine Sommerhäuschen mit Gemüsegärten bauen konnten. Ende der 2000er Jahre besaßen circa 14 Millionen Familien, die in der Stadt wohnten, eine kleine Datscha. Vgl.: Nefedova, Tatjana (2012): Gorožane i dača ↩︎
    8. im Original chujačit‘: [gnose-3501]vulgär[/gnose] für „hart arbeiten/sich den Arsch aufreißen“ ↩︎
    9. Die Welt: Rubljowka, das Beverly Hills der reichen Russen ↩︎

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  • VKontakte

    VKontakte

    Immer wieder hört man auch im westlichen Internet von einem russischen Projekt namens VKontakte (VK) munkeln. Dort, heißt es, sei alles chaotischer, rauer – aber auch freier. Manche sehen in VK gar eine Fluchtmöglichkeit aus facebook und allgemein aus dem „überregulierten“ europäischen Netz. Tatsächlich ist auf VK im Vergleich zu seinem amerikanischen Konkurrenten viel mehr erlaubt, mit daraus resultierenden Diskussionen um Copyright-Verletzungen, Daten- und Minderheitenschutz.

    VKontakte (sprich: fkontaktje, wörtlich „in Kontakt“) selbst bezeichnet sich schlicht als „Europas größtes soziales Netzwerk mit mehr als 100 Millionen aktiven Nutzern“. Das Unternehmen markiert damit ungeachtet der räumlichen und sprachlichen Verortung in Russland seine Positionierung im globalen Web.1 VK ist auch in Ländern des postsowjetischen Raums mit einem hohen russischsprachigen Bevölkerungsanteil beliebt, etwa in Belarus, der Ukraine oder Kasachstan. Laut Alexa Internet Ranking gehört das Netzwerk, das seinen Hauptsitz in St. Petersburg am traditionsreichen Newski-Prospekt hat, zu den Top Zwanzig der globalen digital player.2

    VKontakte wurde im Jahr 2006, in der Boomzeit der social-media-Anwendungen, von den Brüdern Nikolaj und Pawel Durow gegründet. Zwei Jahre später, mit der Öffnung facebooks für russischsprachige User, stellte sich VK auch der ausländischen Konkurrenz, als deren Analogon oder sogar Klon es gilt.3 

    Ein „russischeres“ Netzwerk

    VK wird von den russischen Usern aufgrund seiner größeren Anarchie und weniger starken Normiertheit geschätzt.4 Das Netzwerk gilt im Vergleich zu facebook als „russischer“, wobei dies nicht mit einer patriotischen Gesinnung gleichzusetzen ist, sondern mit etablierten Kommunikationsnormen. Viele russische Internet-User bedienen sich zudem verschiedener social networks gleichzeitig, halten Profile auf dem „russischeren“ VK und dem „westlicheren“ facebook und stellen damit ein flexibles Identitätsmanagement unter Beweis.

    VK verfügt über rund 80 Spracheinstellungen, darunter auch ins Deutsche, daneben existieren für die russischsprachige Community ein sowjetisches und ein zaristisches Design, Relikte eines Faibles des unkonventionellen Firmengründers Pawel Durow für Aprilscherze. Ersteres enthält beispielsweise die Navigationspunkte „Meine Genossen“ oder „Emigration“.

    Seine besondere Popularität verdankt VK der Möglichkeit, digitale Daten und Content in großem Umfang auszutauschen und zu konsumieren. Daraus ergeben sich zahlreiche Konflikte im Bereich des Copyright. Russische und ausländische Firmen, insbesondere aus dem Musikbereich, klagen regelmäßig gegen die Plattform wegen Verletzung von Urheberrechten.

    VKontakte gilt im Vergleich zu facebook als „russischer“
    VKontakte gilt im Vergleich zu facebook als „russischer“

    Ein kontroverses Thema stellt auch der Datenschutz dar. Dies bezieht sich auf das Hacken von Nutzer-Profilen und die Auswertung der Profile durch staatliche Institutionen sowie durch wirtschaftliche und private Akteure. VK wird zudem oft die Verbreitung von Pornographie, Hassrede und Rassismus vorgeworfen.

    Unlängst berichten insbesondere deutsche Medien über die verstärkte Nutzung des Netzwerks durch deutsche neonazistische Kreise, die aus facebook „auswandern“, da dort hetzerische und verfassungswidrige Beiträge strikter gelöscht werden.5

    Russland ist mit dem Internet-Business nicht mehr vereinbar

    Von früh an begleiten die Entwicklung des Netzwerks Diskussionen um das Verhältnis zum russischen Geheimdienst FSB, der dieses angeblich sogar finanziell unterstützt haben soll.6 Im Zuge der Proteste 2011 bis 2013 bekam Pawel Durow Anfragen von Seiten der Sicherheitsdienste zur Blockierung einzelner User-Accounts und Gruppen.7Durow, der als bekennender Anhänger eines deregulierten Internets gilt, twitterte schließlich eine provokative Absage an weitere Begehrlichkeiten von Seiten staatlicher Institutionen: ein Foto, auf dem ein Hund mit Hoodie den Ermittlern die Zunge herausstreckt.8 Der Konflikt verschärfte sich im Winter/Frühjahr 2013/2014 im Zuge der pro-europäischen Proteste in Kiew.9 Der FSB verlangte die Löschung der Accounts von Maidan-Aktivisten. Durow lehnte dies ab.10

    Bereits Ende des Jahres 2013 verkaufte er seinen Anteil an VK und verließ Russland, das „leider mit dem Internet-Business nicht mehr vereinbar sei“.11 Inwiefern dabei auch ein Prozess gegen Durow wegen eines mutmaßlichen Verkehrsdelikts eine Rolle spielte,12 durch den möglicherweise Druck gegen ihn aufgebaut wurde, blieb im Unklaren. Aktuell ist das Netzwerk im Besitz der russischen Medienholding Mail.Ru Group, deren Haupt-Anteilseigner der kremlnahe Unternehmer Alischer Usmanow ist. Die Änderungen in der Eigner- und Führungsstruktur werden oft als Versuch interpretiert, die digitalen Netzwerke von Seiten des Kreml stärker zu kontrollieren.13

    Verflechtung der Kommunikation und Politik

    VK spiegelt die Charakteristika und Probleme der russischen Netzgesellschaft sowie die intensive Verflechtung von Politik und digitaler Kommunikation in Russland wider.14 Dies betrifft vor allem Fragen der – direkten oder indirekten – staatlichen Kontrolle der Netzkommunikation, des Datenschutzes, des Minderheitenschutzes oder des Schutzes des geistigen Eigentums.

    Besonders symptomatisch ist in diesem Kontext der deklarierte staatliche Schutz von Minderheiten vor Hassrede und Rassismus. Dies vollzieht sich vor dem Hintergrund einer fragwürdigen Definition des Begriffes Extremismus in der russischen Gesetzgebung (Extremismusparagraphen 280 und 282).15 Zunehmend werden Einträge in sozialen Netzwerken als extremistisch qualifiziert und User sogar zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Die Anzahl von Verurteilungen ist im Zeitraum von 2012 bis 2015 um das Dreifache gestiegen. Rund die Hälfte der Verfahren betreffen Posts in VK, da das Unternehmen bereitwilliger mit den russischen Behörden zusammenarbeitet als facebook oder Twitter.16


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    Lenta.ru (von russ. lenta = Band, Streifen, aber auch Newsfeed) ist ein Online-Nachrichtenportal, das seinem Titel entsprechend Newsticker, Themen-Artikel und Meinungsbeiträge kombiniert. Mit über acht Millionen Besuchern monatlich ist die Ressource eine der populärsten ihrer Art im russischen Internet. Die journalistische Website gehört aktuell zum Medienkonzern Afisha-Rambler-SUP, der personalisierte Nachrichtendienste anbietet. Lenta.ru wurde 1999 gegründet, in einer Zeit des journalistischen Internet-Booms, und die wechselhafte Geschichte ihrer Chefredaktionen und Eigentümer steht prototypisch für die Dynamiken der politischen Nutzung und Instrumentalisierung des Internet im Russland der Putin-Ära.

    Dies kommt besonders im Jahr 2014 zum Ausdruck, als große Teile der Redaktion um die Chefredakteurin Galina Timtschenko (geb. 1962) im Protest gegen politische Einflussnahme zurücktreten. Anlass für diese spektakulären Rücktritte war ein Interview im März 2014 mit einem Protagonisten des ukrainischen Euro-Maidan. Der interviewte Andrej Tarasenko gehört der rechtsradikalen Formation Prawy Sektor (Rechter Sektor) an, die in Russland als terroristische Organisation verboten ist. Das Interview enthielt einen von der Aufsichtsbehörde Roskomnadsor inkriminierten Link auf einen Text des ukrainischen Ultranationalisten Dmytro Jarosch, dem damaligen Anführer des Rechten Sektors. „Früher oder später“, erklärte dieser, „werden wir gegen das Moskauer Imperium kämpfen müssen“.1 Anlässlich des im Interview enthaltenen Links erhielt die Redaktion eine Abmahnung von Seiten der russischen Medienaufsicht. Sie warf Lenta.ru die Verbreitung extremistischer Anschauungen und „Anstiftung zu internationalem Unfrieden“ vor.

    Erst kam die Abmahnung, dann die Entlassung

    Der Link wurde von der Redaktion umgehend entfernt. Nach zwei solcher Abmahnungen kann Roskomnadsor eine Publikation schließen lassen. Auf diese Situation reagierte der Mehrheitsaktionär der Medienholding Afisha-Rambler-SUP Alexander Mamut mit der Entlassung Galina Timtschenkos (die seit zehn Jahren Chefredakteurin war) – ohne die Angabe von Gründen. Infolgedessen kam es zur erwähnten Selbstauflösung der gesamten Redaktion.

    Neuer Chefredakteur bei Lenta.ru wurde im Frühjahr 2014 zunächst Alexej Goreslawski (geb. 1977), Medienmanager von Afisha-Rambler-SUP. Er war vorher u. a. bei der kremlnahen Internet-Zeitschrift Wsgljad (russ. = Blick) aktiv gewesen. Sein Stellvertreter wurde Alexander Belоnowski2, bis dato u. a. bei der Nachrichtenagentur Interfax und dem Wirtschafts-Nachrichtenportal RBK tätig, der im Frühjahr 2016 seinerseits den Chefposten übernahm.3

    In einem offenen Brief an ihre LeserInnen schreibt die Redaktion nach ihrem Rücktritt 2014: „Leider ist das nicht einfach eine Umbesetzung innerhalb der Redaktion. Wir sind der Meinung, dass es sich bei dieser Personalie um die Ausübung direkten Drucks auf die Redaktion von ‚Lenta.ru‘ handelt. Die Entlassung eines unabhängigen Chefredakteurs und die Ernennung eines leicht lenkbaren Menschen – und das direkt aus den Kreml-Kabinetten –, das alleine ist schon eine Verletzung des Gesetzes über die Massenmedien, das von der Unzulässigkeit jeglicher Zensur spricht.“4 Auch der Politologe Gleb Pawlowski bezeichnete die Entlassung Timtschenkos als Indiz für verstärkte politische Kontrolle im Mediensektor: „das ist eine Folge der Säuberung der Massenmedien”.5

    Timtschenko und Teile ihres Redaktionsteams gründeten in der Folge die Medienplattform Meduza.

    Die Rochaden innerhalb der Redaktion von Lenta.ru stehen exemplarisch für die verstärkte Einflussnahme der Regierungspolitik im Bereich des Internet und der Neuen Medien,6 die in der Protestbewegung 2011–2013 eine tragende Rolle für die Mobilisierung gespielt hatten.7 Die Politisierung des journalistischen Internet-Segments innerhalb der russischen Medienlandschaft reicht jedoch weiter zurück in die ausgehende Phase der Präsidentschaft von Boris Jelzin.

    Lenta.ru in den wilden 1990ern

    Die Gründung von Lenta.ru unter ihrem ersten Chefredakteur Anton Nossik fiel in die Boom-Zeit journalistischer Internet-Medien. In den wilden 1990er Jahren stehen diese einerseits in der aufklärerischen Tradition der Gorbatschowschen Glasnost (russ. = Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit) und des politischen Selbstverlags (Samisdat). Andererseits sind sie ein Produkt der sich herausbildenden Polittechnologie im Sinne einer strategischen Einwirkung auf die Meinungsbildung durch unterschiedliche politische Gruppierungen. Anton Nossik, der sich selbst als „social media evangelist“ bezeichnet8, ist eine für diese Zeit sinnbildliche Figur: als unermüdlicher Erfinder innovativer Medienformate, als so populärer wie provokativer Blogger, der den beständigen Brückenschlag zwischen ökonomischer und politischer Auftragsarbeit und individueller Artikulationsfreiheit versucht.

    Lenta.ru wurde wie vergleichbare Internet-Medien (etwa Gazeta.ru) von der Stiftung für Effektive Politik (Fond effektiwnoj politiki, FEP) um den bereits zitierten Historiker und Polit-Strategen Gleb Pawlowski sowie den Moskauer Galeristen Marat Gelman gegründet. Die FEP trug um die Jahrtausendwende, die gleichzeitig den Systemwechsel von Jelzin zu Putin markiert, maßgeblich zur Entstehung eines politischen Nachrichten-Segments im russischen Internet bei und wird mit den ersten kompromittierenden Internet-Kampagnen in Verbindung gebracht. Ihr Gründer Pawlowski wurde in der folgenden Dekade als graue Eminenz des Kreml und zentraler Polit-Berater Wladimir Putins gehandelt.9 Seit dem Scheitern der Bürgerproteste gegen manipulierte Wahlen 2011–12 positioniert sich Pawlowski erneut kritisch gegenüber dem System Putin, wie auch das obige Zitat zur Entlassung Timtschenkos zeigt.

    Die Protagonisten um die FEP verkörpern so in prototypischer Weise die Widersprüche der russischen Medienelite: Kulturelle Prägungen etwa durch die spätsowjetische Dissidenz und den bereits erwähnten Samisdat verbinden sich mit den kreativen Techniken der Werbebranche10 und variablen, auch auf ökonomischen Interessen basierenden, politischen Loyalitäten. Insofern können sie auch als Wegbereiter der aktuellen hybriden Informationspolitik des Systems Putin gelten, das weniger auf direkte Zensur als auf Desinformation und die Entwertung journalistischer Glaubwürdigkeit setzt.


    1. Lenta.ru: «Ėto pozor i ******» ↩︎
    2. Tadviser.ru: Lenta.ru ↩︎
    3. The Village: Glavnym redaktorom Lenta.ru naznačen Aleksandr Belonovskij ↩︎
    4. Lenta.ru: Dorogim čitateljam ot dorogoj redakcii ↩︎
    5. Echo Moskwy: Galina Timčenko pokidaet post glavnogo redaktora «Lenty.ru» ↩︎
    6. Timtschenko, Galina / Nosik, Anton / Kolpakow, Iwan (2014): Dorogaya redaktsiya: Podlinnaya istoriya Lenty.ru, rasskazannaya yeye sozdatelyami [Liebe Redaktion: Die wahre Geschichte von Lenta.ru, erzählt von ihren Gründern], Moskau ↩︎
    7. Konradova, Natalja / Schmidt, Henrike (2014): From the Utopia of Autonomy to a Political Battlefield: Towards a History of the ‘Russian Internet’, in: Gorham, Michael / Lunde, Ingunn / Paulsen, Martin (Hrsg.) (2014): Digital Russia: The Language, Culture and Politics of New Media Communication, New York, S. 31-53 ↩︎
    8. FRI Fizionomii russkogo interneta: Nossik Anton Borissovič ↩︎
    9. Brunmeier, Viktoria (2015): Das Internet in Russland: Eine Untersuchung zum span­nungsreichen Verhältnis von Politik und Runet, München ↩︎
    10. Schmidt, Henrike (2011): Das russische Internet: Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda, Bielefeld ↩︎

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