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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Krimkrieg

    Der Krimkrieg

    Der Krimkrieg (1853–1856) war eine militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und einer Koalition aus dem Osmanischen Reich, Frankreich, Großbritannien sowie Piemont-Sardinien, die aus konkurrierenden Territorialansprüchen in Südosteuropa entstand. Russland erlitt eine verlustreiche Niederlage, die der Staatsführung die technologische und soziale Rückständigkeit des Landes vor Augen führte. Gleichwohl werden mit dem Krimkrieg bis heute heroische Motive der aufopfernden Verteidigung der Stadt Sewastopol verknüpft.

    Der Begriff Krimkrieg ist zunächst irreführend. Die Halbinsel Krim war zwar Hauptschauplatz der Kämpfe, aber auch auf dem Balkan, auf der Ostsee und sogar im Nordpazifik wurde der Konflikt ausgetragen. Auch der mitunter im Russischen verwendete Begriff Wostotschnaja Woina (Östlicher Krieg) beschreibt das Ereignis nur widersprüchlich, schließlich fanden die Kämpfe im Süden Europas und aus russischer geographischer Perspektive im Westen, nicht im Osten statt.

    Zur Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte die sich immer deutlicher abzeichnende Krise des Osmanischen Reiches die geopolitische Lage in Europa. Das fragile Großreich – so die Deutung der europäischen Regierungen – würde schon bald Kontroll- und Gebietsverluste nicht mehr verhindern können. Nun galt es, diesen Prozess zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen. Die russische Regierung hoffte darauf, sich die Kontrolle über die türkischen Meerengen sichern zu können, denn diese hätten der russischen Schwarzmeerflotte eine Verbindung zum Mittelmeer eröffnet. Auch der Balkan – durch Panslawismus und die christliche Orthodoxie ohnehin bereits Schutzobjekt russländischer Politik – würde so über kurz oder lang unter russischen Einfluss fallen. Die politischen Ansprüche Russlands korrespondierten mehr oder minder verdeckt mit seinen religiös motivierten Forderungen nach Zugang zu den Heiligen Stätten in Jerusalem und dem Schutz orthodoxer Christen auf dem Balkan.1 Vor allem Großbritannien wollte eine Verschiebung der Machtverhältnisse in Europa zugunsten Russlands verhindern und trat zunehmend entschlossener als Schutzmacht des Osmanischen Reiches auf.

    Die wachsenden Spannungen mündeten 1853 in einen Krieg zwischen Russischem und Osmanischem Reich, den die russländische Armee zunächst auf dem Balkan dominierte. Das Russische Reich stand aber von Beginn an auf verlorenem Posten: 1854 traten Frankreich und Großbritannien erwartungsgemäß auf osmanischer Seite in den Krieg ein, und da Österreich als eigentliche Schutzmacht des Balkans neutral blieb – der Krimkrieg markiert auch den endgültigen Bruch der Heiligen Allianz aus Russland, Österreich und Preußen2 –, entwickelte sich der Konflikt nun rasch zu Russlands Ungunsten. Der russische Vorstoß kam südlich der Donau zum Erliegen, ein Gegenstoß der türkischen Armee und die Landung alliierter Truppen beendeten die Kampfhandlungen auf dem Balkan.3 Im September 1854 landeten alliierte Truppen auf der Krim, wo Russland in verlustreichen Schlachten zunehmend ins Hintertreffen geriet.4 Die Belagerung der Hafenstadt Sewastopol wurde zum kriegsentscheidenden Moment, ihr Fall an die Truppen der Koalition nahm den Ausgang des Krieges vorweg. Im Pariser Frieden wurde der Krieg 1856 beendet und die territoriale Integrität des Osmanischen Reiches garantiert. Auch Russlands Ansprüche auf den Balkan und das Schwarze Meer wurden zurückgewiesen.

    Das geschlagene Russland richtete seinen Blick nach innen. Seine Armee, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch Erfolgsgarant russländischer Großmachtpolitik, war besiegt und ihre technischen und organisatorischen Defizite deutlich gemacht worden. Die Ursachen reichten aber noch tiefer: Russland hatte – so zeigte sich nun im Duell vor allem mit den Briten – wichtige technische Neuerungen vom Anbeginn der industriellen Revolution versäumt. Der Krimkrieg war als erster „moderner“, auf technologischer Fortschrittlichkeit basierender Krieg geführt worden. Neue Waffensysteme, ein effizienter Einsatz von Eisenbahn und Telegraphie und ein modernes Lazarettsystem hatten der Koalition zum Sieg verholfen und Russland seine Grenzen aufgezeigt. Dort fand nun ein Umdenken statt: Russland würde sein Sozial-, Wirtschafts-, Militär- und Bildungswesen von Grund auf nach europäischen Maßstäben erneuern müssen, um im gesamteuropäischen Vergleich nicht vollends den Anschluss an die modernen Industrienationen zu verlieren.

    Heute ist der Krimkrieg durch zahlreiche Motive ein wichtiger Bezugspunkt russischer Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.5 Vor allem Sewastopol ist zu einem wichtigen Erinnerungsort geworden. Lew Tolstoi gelangte durch seine Sewastopoler Erzählungen (Sewastopolskie rasskasy) zu erstem Ansehen als Schriftsteller und verankerte die Stadt und ihre Geschichte fest im russischen Gedächtnis. Im Zweiten Weltkrieg war die Stadt erneut Schauplatz einer furchtbaren Belagerung, 1945 wurde sie zur Heldenstadt erklärt. Seit dem Krim-Konflikt von 2014 steht Sewastopol erneut im Mittelpunkt einer Kontinuitätslinie, die die Abwehr äußerer Feinde als Motiv russischer geschichtlicher Selbstwahrnehmung ausgibt. Nicht von ungefähr besuchte der russische Präsident Wladimir Putin zum Tag des Sieges 2014 ausgerechnet Sewastopol.6


    1. Figes, Orlando (2011): Krimkrieg: Der Letzte Kreuzzug, Berlin, S. 31-40 ↩︎
    2. Stökl, Günther (1990): Russische Geschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart, S. 504 f. ↩︎
    3. ebd., S. 505 ↩︎
    4. Figes, Orlando (2011): Krimkrieg: Der Letzte Kreuzzug, Berlin, S. 301 f. ↩︎
    5. eine interessante Dokumentation von Leonid Parfjonow gibt es auf youtube.com: Vojna v Krymu: Častʼ 1 ↩︎
    6. kremlin.ru: Prazdnovanie Dnja Pobedy i 70-e letija osvoboždenija Sewastopolja ↩︎

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    Alexander III.

  • Alexander III.

    Alexander III.

    Zar Alexander III. (1845–1894) regierte Russland als vorletzter Kaiser (1881–1894). Seine Regierungszeit prägten eine repressive Innen- und eine auf Ausgleich bedachte Außenpolitik. Am Ende des 19. Jahrhunderts fühlte er sich zunehmend vor Herausforderungen der Moderne gestellt, sei es in Gestalt politischer Ideen wie des Liberalismus oder durch technische Innovationen wie dem Projekt der Transsibirischen Eisenbahn.

    Der spätere Zar Alexander III. wurde 1845 als Alexander Alexandrowitsch Romanow geboren. Nach dem Tod seines Großvaters Zar Nikolaus (Nikolaj) I. 1855 und seines älteren Bruders Nikolaus 1865 wurde Alexander unverhofft zum Zarewitsch, dem nominellen Nachfolger auf dem Zarenthron. Als sein Vater Alexander II. 1881 verstarb, wurde er im selben Jahr russischer Kaiser.

    Repressive Innenpolitik

    Für Alexander III. stand innenpolitisch die Frage im Mittelpunkt, ob sich Russland auf die repressiven Wurzeln seines politischen und sozialen Systems berufen oder sich an den Idealen des europäischen Liberalismus orientieren sollte, denen sich sein Vorgänger Alexander II. bereits durch seine Großen Reformen in den 1860er und 1870er Jahren angenähert hatte. Das liberale Reformpaket war im zeitgenössischen Russland aber heftig umstritten und bald zeigte sich, dass Alexander III. sich nicht nur aufgrund seiner kräftigen Statur und seines einfachen, phlegmatischen Gemüts von seinem Vater unterschied. Mehr und mehr drängte er die Großen Reformen durch Gegengesetze zurück, außerdem betrieb Alexander III. eine Russifizierung vor allem der baltischen und polnischen Gebiete Russlands und erließ Gesetze zur systematischen Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung.1 Auch der Ausbau der staatlichen Sicherheitsarchitektur, etwa die Schaffung des Geheimdienstes Ochranka, fällt in seine Amtszeit. Ein Grund hierfür lag sicherlich auch im Schicksal seines Vaters, der einem Bombenattentat der terroristischen Gruppe Narodnaja Wolja (Volkswille und zugleich Volksfreiheit) zum Opfer gefallen war.

    Foto © De Jongh Freres Neully Paris/gemeinfrei
    Foto © De Jongh Freres Neully Paris/gemeinfrei

    Während sich Alexander III. also kritisch gegenüber den politischen Ideen der Moderne positionierte, zeigte er eine große Begeisterung für technologische Innovationen. Zum prestigeträchtigsten Projekt seiner Regentschaft wurde die Grundsteinlegung der Transsibirischen Eisenbahn. Ironischerweise wurde er aber im Oktober 1888 selbst bei einem Eisenbahnunfall schwer verletzt.

    Im Gegensatz zur Innen- gestaltete Alexander III. die russländische Außenpolitik ungleich vorsichtiger. Vor allem war er vor dem Hintergrund des verlorenen Krimkriegs darauf bedacht, militärische Konflikte mit den anderen europäischen Großmächten zu vermeiden. Alexander III. erwarb sich den Ruf als „Friedens-Zar“ (russ.: Zar-Mirotworez)2, er erneuerte das Bündnis mit Frankreich und unterhielt zunächst noch gute Beziehungen mit dem Deutschen Reich. Das Verhältnis zu Großbritannien blieb auch vor dem Hintergrund geopolitischer Konfliktlinien ambivalent.

    Bruch mit Deutschland

    In den 1890ern verschlechterte sich das Verhältnis zu Deutschland rapide. Otto von Bismarck sah sein Land in Europa vor dem Hintergrund der russisch-französischen Annäherung zunehmend isoliert, die Nicht-Verlängerung des Rückversicherungsvertrages (russisch-deutsches Neutralitätsabkommen von 1887) verlieh dieser Entwicklung weitere Dynamik. Der Bruch mit Deutschland und die Annäherung an Frankreich unter Alexander III. zeichnete so bereits die Grundzüge der Fraktionsbildung im Ersten Weltkrieg vor.


    1. Kappeler, Andreas (2001): Rußland als Vielvölkerreich, München, S. 209 ff./221 ff. ↩︎
    2. Tolmatschev, Evgenij (2007): Aleksander III. i ego vremja, Moskau, S. 653 ↩︎

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  • Die Reformen Alexanders II.

    Die Reformen Alexanders II.

    Als Reformen Alexanders II. (auch: die Großen Reformen) wird ein Bündel von Gesetzesänderungen bezeichnet, von denen die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 als die wichtigste gilt. Durch weitreichende Strukturreformen sollte das Russische Reich auf die neuen Herausforderungen der Industrialisierung vorbereitet und weiter an europäische Normen herangeführt werden.

    Russlands Niederlage im Krimkrieg (1853–56) führte den Zeitgenossen die strukturellen Defizite des Landes vor Augen, denn im ersten mit industrieller Technologie geführten Krieg war Russland seinen Kontrahenten klar unterlegen gewesen. Zudem zeichnete sich ab, dass Russland durch die zunehmende Industrialisierung der europäischen Wirtschaft gegenüber den anderen Großmächten weiter zurückzufallen drohte. Dieses Szenario verlieh einer grundlegenden Frage der russischen Geschichte neue Dynamik: Sollte Russland sich an das (west)europäische Normen- und Wertesystem anlehnen oder einen eigenen, slawisch-russischen Weg definieren und beschreiten? Dieses Dilemma prägte seit den Reformen Peters I. im frühen 18. Jahrhundert die russländische Agenda und den Umgang mit der zunehmenden Verflechtung Russlands mit dem europäischen Staaten- und Wirtschaftssystem.

    Das System der Leibeigenschaft galt dabei zunehmend als das wichtigste Merkmal. Neben naheliegenden ökonomischen Motiven und durchaus moralisch begründeten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit von Besitz von Menschen sprachen auch militärische Gründe für eine Reform, denn das neue Ideal einer modernen und flexibel einsetzbaren Armee war mit dem starren System der Leibeigenschaft nicht mehr vereinbar.1 Die Angst vor wachsenden sozialen Unruhen und Aufständen formulierte auch eine gewisse Dringlichkeit zur Klärung dieser Frage. Unmittelbar nach dem Krimkrieg begann so eine entsprechende Reform an Kontur zu gewinnen, bis Alexander II. am 19. Februar 1861 ein Gesetz zur Aufhebung der Leibeigenschaft unterzeichnete.

    Das Gesetz entzog dem bisherigen russländischen Sozial- und Wirtschaftssystem die Grundlage, ohne adäquaten Ersatz zu schaffen. Der russische Adel sah seinen Wohlstand bedroht, denn seine Vertreter waren weder willens noch dazu ausgebildet, ihre riesigen Ländereien selbst zu bewirtschaften. Die ehemals leibeigenen Bauern wurden durch das Gesetz zwar aus juristischer Perspektive „frei“ und erhielten (meist zu wenig) Land zur Bewirtschaftung, waren aber durch ein kompliziertes Abgabensystem langfristig immer noch an die mir – die russische Dorfgemeinschaft – gebunden und von dieser abhängig.2 Eines der wichtigsten Kriterien persönlicher Freiheit, das der individuellen Mobilität, blieb somit weiterhin unerfüllt. Dem Gesetz zur Aufhebung der Leibeigenschaft folgten weitere Reformen, gemeinsam werden sie meist als die Großen Reformen (welikie reformy) beschrieben. Die Schaffung der gewählten Lokalverwaltungen (semstwa) 1864 sollte einige der strukturellen Defizite des Gesetzes von 1861 ausgleichen und die Bauernschaft stärker in die lokale Mitbestimmung einbinden. Es folgten außerdem Reformen zum Finanz- (1863) und Bildungswesen (1863 und 1871), zum Justizsystem (1864) und zur städtischen Selbstverwaltung (1870), mit der Heeresreform (1874) wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt.

    Die Reformen Alexanders II. sollten das russische Sozial- und Wirtschaftssystem auf die neuen Herausforderungen der Industrialisierung einstellen, gleichzeitig aber die politische Ordnung weitestgehend unangetastet lassen. Ein Spagat, der sich in retrospektiver Deutung als zu schwierig erwies, was eine abschließende Beurteilung schwierig macht. Einerseits wurden in den 1860ern/1870ern grundlegende soziale Standards moderner Staatlichkeit eingeführt. Andererseits schuf die inkonsequente Einbindung der nicht mehr leibeignen Bauernschaft in das reformierte Sozialsystem die Basis für die revolutionären Unruhen in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts. Auch im damaligen Russland war der Reformkurs nicht unumstritten und bereits der nächste Zar, Alexander III., hob durch ein Gegenreformprogramm einige der Änderungen wieder auf.


    1. Hildermeier, Manfred (2013): Geschichte Russlands, München, S. 881 ff. ↩︎
    2. Kappeler, Andreas (1997): Russische Geschichte, München, S. 29 ↩︎

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