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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Putin und der Weimar-Komplex

    Putin und der Weimar-Komplex

    Die wahren Lehren aus 75 Jahren Kriegsende – unter diesem Titel ist dieser Tage ein umfangreicher Gastbeitrag im National Interest erschienen, einem konservativen US-Fachmagazin für internationale Beziehungen. Der Autor: Wladimir Putin. Ein Artikel, der schon seit längerer Zeit angekündigt war und eigentlich schon zum Tag des Sieges erscheinen sollte.

    Die wohl größte Resonanz erfuhr der Artikel in Russland selbst: Historiker Alexej Miller schätzt in einem Interview auf Colta, dass Putins Text – verfasst in einer „Atmosphäre der Erinnerungskriege“ – eine „Bereitschaft zu einem respektvollen Dialog über komplizierte Fragen der Vergangenheit“ ausdrückt.

    Für Kritik sorgte unter anderem die Darstellung, wonach die „Inkorporation“ der baltischen Staaten in die Sowjetunion 1939 „in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Normen und den Staatsgesetzen jener Zeit“ geschehen sei. Historiker Ivan Kurilla schreibt dazu auf Znak: „[…] das erinnert gleich an die jüngste Geschichte der Krim. […] Es wäre ehrlicher gewesen, gleich zu schreiben, dass die Annexion des Baltikums nicht dem System des Völkerrechts, sondern den nationalen Interessen der UdSSR entsprach.“

    Der Soziologe Grigori Judin sieht in The New Times Parallelen zwischen Putins Blick auf Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und auf Russland nach dem Kalten Krieg.

    In Putins Artikel über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs (wo neben offenkundigem Unsinn und verantwortungslosen Ausfälligkeiten übrigens auch völlig vernünftige Sachen drinstehen) sticht eine Auslassung besonders hervor. Mehrfach werden dort die Schuldigen der Katastrophe benannt: England, Frankreich, Polen, Wlassow, Bandera, Lenin und so weiter und so fort, verklausuliert sogar Stalins UdSSR.

    Doch wer fast nicht genannt ist: Deutschland und der gesamte nazifaschistische Block.

    Putins zwischenkriegsdeutsche Position

    Das ließe sich natürlich so verstehen, dass Deutschlands Schuld offensichtlich ist; zu den Nazis gibt es keine Fragen, zu klären ist, warum man Deutschland derart wüten ließ. Doch das will Putin nicht sagen. Er nimmt von Anfang an eine [zwischenkriegs-]deutsche Position ein, eine Theorie, wonach der Zweite Weltkrieg vorbestimmt war durch die unehrlichen und erniedrigenden Bedingungen des Versailler Friedens nach dem Ersten Weltkrieg. An dieser Theorie ist natürlich beträchtlich viel Wahres. Jedoch ist Putin kein unbeteiligter Historiker, sondern der Präsident eines Landes, in dem Millionen ihr Leben gelassen haben, weil Deutschland sich entschlossen hatte, sich für die Kränkung und Erniedrigung an ganz Europa zu rächen.

    Es ist durchaus verständlich, dass Putin mit den Augen Deutschlands auf die Zwischenkriegszeit schauen möchte: wegen des Weimar-Komplexes, des Empfindens von „Russlands“ „Niederlage“ im Kalten Krieg als Erniedrigung, die Rache fordert. Über die Parallelen zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland ist genug gesagt und geschrieben worden. Nun fügt Putin dem noch eine hinzu: Man hat Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ungerecht erniedrigt, hat sich den Völkerbund untertan gemacht und die Nazis bekommen, „die geschickt mit den Gefühlen der Menschen arbeiteten“ und versprachen, „dem Land die einstige Stärke zurückzubringen“. Und nun hat man Russland nach dem Kalten Krieg erniedrigt, sich die UN untertan gemacht und es ist „bestens bekannt, wie das endete“ beim letzten Mal.

    Putin unterscheidet sich von der gesamten intellektuellen Tradition Europas

    Putin ist natürlich kein Nazi und hat kein Mitgefühl mit Hitler. Dennoch erscheint ihm das Auftauchen der Nationalsozialisten an der Macht und die Faschisierung der deutschen Gesellschaft als natürlich, vorhersehbar und nicht sehr interessant. Die Ursachen des Zweiten Weltkriegs müssen in der Architektur der globalen Politik gesucht werden: „Die deutsche Aggression gegenüber Polen war Ergebnis einer Vielzahl von Tendenzen und Faktoren der Weltpolitik jener Zeit.“

    Und darin unterscheidet sich Putin natürlich radikal von der gesamten intellektuellen Tradition Europas, die sich nach dem Krieg der Frage verschrieb, wie Derartiges mit Deutschland geschehen konnte. Es gibt meterweise Fachliteratur darüber, wie die präsidiale Weimarer Republik mutierte. Doch für Putin ist mit Deutschland überhaupt nichts ungewöhnliches geschehen: Eine Nation wurde erniedrigt, Radikale übernahmen die Macht und entschieden sich zur Rache. Das gab es und wird es noch öfters geben. Die Frage ist, wie die internationalen Beziehungen zu gestalten sind, damit derartige Folgen vermieden werden können.

    Wie immer ist für ihn die Innenpolitik nur eine Projektionsfläche für die Außenpolitik

    Vermutlich wird ihn deswegen in Europa auch niemand hören: All die 75 Jahre waren die Europäer damit beschäftigt, ihre politischen Systeme so zu regulieren, dass sie das Erwachen eines inneren Monsters verhindern (ob erfolgreich oder nicht, ist eine andere Frage), um einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden. Putin interessiert das alles nicht: Wie immer ist für ihn die Innenpolitik nur eine Projektionsfläche für die Außenpolitik: Wenn es auf der Straße Krawalle gibt, muss ausländisches Geld dahinterstecken, wenn Faschisten an die Macht kommen, muss eine Kränkung der Nation dahinterstecken. 
     

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  • Tiefer Riss in Zahlen

    Tiefer Riss in Zahlen

    „Werden Sie bei der Volksabstimmung für oder gegen die Verfassungsänderung stimmen?“, so hatten die Lewada-Soziologen 1624 Personen gefragt. Am 27. März veröffentlichte das unabhängige Meinungsforschungsinstitut die Ergebnisse seiner Umfrage zur geplanten Verfassungsänderung. Diese sieht unter anderem eine Annullierung der bisherigen Amtszeiten Putins vor, so dass dieser bei der nächsten Präsidentschaftswahl wieder kandidieren kann.

    Die Umfrageergebnisse zeigen, wie gespalten die Gesellschaft in dieser Frage ist. Für viele Sozialwissenschaftler und Polittechnologen waren die Zahlen überraschend. Bisher hatte Putin in Umfragen immer noch auf relativ breite Unterstützung zählen können. Während der rasanten Ausbreitung des Coronavirus in Russland werden solche Zahlen zu einem wichtigen Gradmesser: für die Volksabstimmung selbst, die viele eher für eine „kosmetische“ Maßnahme halten, aber auch für die Bewertung des Seuchenmanagements durch den Kreml. 

    Wie hängt die Operation Amtszeitverlängerung mit dem Coronavirus zusammen? Warum kamen die Umfrageergebnisse erst zweieinhalb Wochen, nachdem die Duma einer Annullierung der Amtszeiten zugestimmt hatte? Und was bedeuten die Ergebnisse überhaupt? The New Times teilt einen vieldiskutierten Facebook-Kommentar des Soziologen Grigori Judin. 


    *Befürworten Sie die Entscheidung der Staatsduma, das Gesetz zur Verfassungsänderung zu verabschieden, auch die Änderung bezüglich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten, die es Wladimir Putin erlaubt, nach Ablauf der jetzigen Amtszeit wieder an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen?
    Zweieinhalb Wochen brauchte es, bis wir endlich diese Zahlen über die Reaktion der Bürger auf die unbefristete Präsidentschaft Putins bekommen haben. Und sie bestätigen genau das, was ich gesagt habe: Das Land ist in dieser politischen Schlüsselfrage gespalten. 

    1. In diesen Zahlen steckt noch viel mehr Interessantes. Doch erst einmal nur ein wichtiger Punkt: Es gibt nicht nur eine Spaltung in halb-halb. Es finden sich darin vielmehr alle Voraussetzungen für einen handfesten Gesellschaftskonflikt. Denn die Spaltung erstreckt sich entlang der Grenzen sozialer Gruppen: Die hypothetische „Partei der Veränderungen“ ist jünger, die „Partei der Angst“ ist älter (mit der Unterscheidung zwischen Moskau und Provinz wäre ich nicht allzu voreilig: Diese Effekte lassen sich leicht mit unterschiedlichen Ausschöpfungsquoten erklären). Ich bin fast überzeugt davon, dass diese zwei Parteien sich in der Mediennutzung unterscheiden. Insgesamt bildet sich in Russland gerade eine breite Schicht heraus (knapp die Hälfte der Einwohner), die eine progressive Politik fordert. Sie ist bislang überhaupt nicht repräsentiert.


    *Befürworten Sie die Entscheidung der Staatsduma, das Gesetz zur Verfassungsänderung zu verabschieden, auch die Änderung bezüglich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten, die es Wladimir Putin erlaubt, nach Ablauf der jetzigen Amtszeit wieder an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen? (Anteil nach Altersgruppen)

    2. Die Antworten auf die Schlüsselfrage sind sehr ungewöhnlich verteilt: Eine sehr deutliche Position (kategorisch ablehnend gegenüber einer unbefristeten Präsidentschaft) vertreten bedeutend mehr Befragte als eine „eher ablehnende“ Position. Das heißt, dass sich unter den Gegnern der Wahlmonarchie ein großer Kern gebildet hat, der nicht willens ist, über dieses Thema zu verhandeln. Es bedeutet auch, dass für einen erheblichen Teil der russischen Bürger die Annullierung der Amtszeiten eine wirklich wichtige Frage ist.

    3. Die Kremlmanager verfügen schon seit zweieinhalb Wochen über Zahlen. Sie hatten sogar noch weitaus mehr Daten. Deswegen müssen alle Handlungen der letzten Zeit als Handlungen unter Berücksichtigung dieser Zahlen gewertet werden – die Verschiebung der Abstimmung und die neue Besteuerung inbegriffen. Das, was als Maßnahmen im Kampf gegen das Virus verlautbart wurde, ist in vielerlei Hinsicht ein Versuch, ein sehr viel ernsteres politisches Problem zu lösen.

    4. Dieser Artikel [auf Vedomostidek] enthält sehr wichtige und richtige Kommentare von den Soziologen Lew Gudkow und Dimitri Badowski. Badowski sagt geradeheraus, dass die beiden Hauptmöglichkeiten, das Problem der Spaltung zu lösen, darin bestehen, 1) die Gegner einer lebenslangen Präsidentschaft einfach dazu zu bringen, ihre Position nicht zu äußern, 2) die lebenslange Präsidentschaft hinter anderen Verfassungsänderungen zu verbergen. Mit anderen Worten: Putins Schritt verursacht zu viel Gegenfeuer – er hat zu viele Gegner, und man kann mit ihnen nur fertig werden, wenn man sie nicht zu Wort kommen lässt. 

    Ich stimme Badowski nur in dem einen Punkt nicht zu, dass die Spaltung stark von der Qualität des Seuchenmanagements abhängen wird. Es geht um die viel grundlegendere Frage nach der Konservierung des Landes (Putin ist das Symbol dieser Konservierung) und ob man mit der absoluten, unbegrenzten Macht einverstanden ist.

    5. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass es zweieinhalb Wochen keine Zahlen gab – und zwar gab es sie vor allem gerade deshalb nicht, weil sie die Spaltung zeigen. Gäbe es keine Spaltung, hätten Sie diese Zahlen schon längst gesehen. 
    Der Umfragesektor in Russland ist so beschaffen, dass der Gesellschaft Informationen über wirklich wichtige öffentliche Themen möglicherweise genau in dem Moment nicht zugänglich sind, in dem es darauf ankommt.


    *Welche Gefühle hatten Sie, als die Staatsduma die Verfassungsänderung hinsichtlich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten annahm?

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  • Der Moskauer, den es nicht gibt

    Der Moskauer, den es nicht gibt

    Jemand musste Grigori J. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens nicht-existent. Genauso wie tausende andere Menschen aus der Stadt M.

    Die Parabel des Soziologen Grigori Judin handelt vom Zulassungsprozess zu den Moskauer Regionalwahlen. Um am 8. September als unabhängiger Kandidat antreten zu können, müssen die Anwärter Unterstützer-Unterschriften von mindestens drei Prozent aller Wähler aus ihrem Wahlkreis vorlegen. Laut Moskauer Wahlkommission sollen 13 dieser Anwärter einen zu hohen Anteil nicht-nachvollziehbarer oder gefälschter Unterschriften eingereicht haben. Kommissionschef Valentin Gorbunow erklärte vergangene Woche, dass manche der Unterschriften von Toten Seelen stammten oder von Menschen, die nicht existieren. 

    Zu letzteren gehört Grigori Judin. Bevor es in Moskau zu massiven Protesten gegen die Nichtzulassung von rund 20 Oppositionskandidaten kam, schrieb er auf Facebook einen offenen Brief an den Bürgermeister Sergej Sobjanin. Im Namen der Bewegung „Moskauer Phantome“.

    „Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Nun hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Schtab Nawalnogo w Moskwe/Facebook
    „Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Nun hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.“ – Soziologe Grigori Judin / Foto © Schtab Nawalnogo w Moskwe/Facebook

    Liebe Freunde!

    Mir ist etwas Schlimmes passiert.

    Die Sache ist die: Mich gibt es nicht.

    Ich dachte, das auf diesem Foto wäre ich. Dass ich hier für Elena Russakowa unterschreibe, die Kandidatin für die Moskauer Stadtduma aus dem 37. Wahlkreis. Trage Datum und Unterschrift ein unter dem strengen Blick des Ehrenamtlichen, der kontrolliert, dass ich nicht aus dem Formularkästchen rutsche.

    Jetzt hat sich aber herausgestellt, dass all das nicht passiert ist.

    Die Wahlkommission hat bekanntgegeben, dass auf diesem Foto nicht ich abgebildet bin, sondern irgendein Typ, der eine Straftat begeht, indem er meine Unterschrift fälscht. In den letzten 35 Jahren war ich sicher, dass dieser Mensch ich bin, jetzt stellt sich aber raus, dass es mich nicht gibt. Mehr noch: Vielleicht werden sie sich wundern, aber es gibt keine Möglichkeit, zur Kommission zu gehen und ihr zu beweisen, dass alles in Ordnung ist, und dass diese Unterschrift wirklich von mir stammt. Wenn die Kommission entschieden hat, dass es mich nicht gibt, dann weiß sie das besser als ich. 

    Die Sache ist die: Mich gibt es nicht

    Im Übrigen ist alles noch viel schlimmer. Es wäre schon irgendwie möglich, mich mit meiner Nichtexistenz anzufreunden: Ich hätte mich allmählich daran gewöhnt, dass alle durch mich hindurchsehen und theatralisch durch mich hindurchsteigen, wenn ich meine Hand reiche.
    Allerdings gibt es neben mir auch meine Mutter nicht, hunderte meiner Nachbarn aus dem Wahlkreis sowie zehntausende andere Moskauer. Wir alle sind Phantome. We are the nobodies.

    Also, als ein Moskauer Phantom möchte ich sagen, dass dies alles nur aus einem Grund passieren konnte. Weil irgendjemand von Oben gesagt hat: „Diese Kandidaten wird es bei der Wahl nicht geben. Und es interessiert mich nicht, wie ihr das jetzt löst, lasst mich mit diesem Thema in Ruhe.“ Und wie immer in solchen Fällen wurde dieser Befehl bis auf die Ebene der lokalen Wahlkommissionen hinuntergereicht, die ihn im letzten Moment bekamen und entschieden, es so zu machen, wie es halt kommt. Und da alle Unterschriften nun mal echt waren, mussten sie den lebendigen Leuten erklären, dass es sie nicht gibt.

    We are the nobodies

    In Moskau gibt es nur einen Menschen, der einen solchen Befehl erteilen konnte. Er heißt Sergej Sobjanin. Warum er in den vergangenen Tagen schweigt, das kann ich verstehen: Es ist klar, dass er lieber mit Radwegen und Parks in Verbindung gebracht werden möchte, und nicht mit dem Wahnsinn bei den Wahlen. In Moskau aber gibt es nichts und kann es nichts Wichtigeres geben, als die Leugnung der Existenz tausender Moskauer.

    Im Namen der Bewegung „Moskauer Phantome“ rufe ich Sergej Sobjanin dazu auf, seinen Mut zusammenzunehmen und sich mit uns zu treffen, um uns eine einzige Frage zu beantworten: wie er dazu steht, dass massenweise Moskauer zu Personen erklärt werden, die nicht existieren und was er in dieser Angelegenheit zu tun gedenkt. Wenn er so viel Angst vor uns hat, dann sind wir sogar bereit, uns mit ihm bei Tageslicht zu treffen.

    Ich weiß ganz genau, dass die Antwort bei Sobjanin zu suchen ist. Und wenn Journalisten es wollen, dann werden sie schon eine Antwort erzwingen – sie haben es nicht nur einmal bewiesen.
     

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    Wahlfälschungen in Russland

    Wer geht da demonstrieren?

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Besondere russische Werte?!

    Zitat #6: Protest macht Gouverneure

    „Ein Fehler historischen Ausmaßes“

  • Besondere russische Werte?!

    Besondere russische Werte?!

    „Wir haben eben andere Werte als ihr“: Egal, ob es um LGBT, häusliche Gewalt oder auch politische Konflikte geht, in den letzten Jahren betont Russland in Streitfragen mit dem Westen immer wieder die  „besonderen russischen Werte“. Sie sind auch im Disput zwischen russischer Staatsmacht und Liberalen oft ein Hauptargument. Doch welche konkreten Werte sind damit gemeint? Und worin unterscheiden sie sich von „westlichen Werten“?

    Der Moskauer Soziologe Grigori Judin sprach am Hertie Innovationskolleg in Berlin im Rahmen des Projektes von Dr. Evgeniya Sayko Wertediskurs mit Russland über solche Werte-Debatten, Republic bringt eine Kurzfassung des Vortrags:


    In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

    Der Mythos von den „besonderen russischen Werten“ ist einer der gefährlichsten, den die Staatspropaganda den Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Landesgrenzen eingeimpft hat. In seiner Extremversion lautet er: „Im Gegensatz zum Westen hat Russland Werte.“

    Die Wirksamkeit dieses Mythos lässt sich kaum überbewerten. Einerseits hört man immer häufiger europäische Politiker sagen, man müsse mit Russland einen Dialog über gemeinsame Werte führen. Dieser Dialog endet dann aber jedes Mal in der gleichen Sackgasse: „Was sind eure Werte?“ „Andere als eure.“ „Und welche genau?“ „Besondere.“

    Gleichzeitig sprechen die Russen von Werten in einem Atemzug mit Mentalität und anderen sinnentleerten Begriffen, die sich gut eignen, wenn man sich selbst erklären will, warum etwas unnütz ist und sowieso nicht klappt.

    Werte – ein ziemlich neues rhetorisches Phänomen

    „Werte“ sind in der politischen Rhetorik Russlands vergleichsweise neu. Weder für die Jelzin- noch für die frühe Putin-Zeit waren sie charakteristisch – damals sprach man vielmehr von „Entwicklung“, „Demokratie“ und „Freiheit“.

    Diese Begriffe fügten sich in die Ideologie der Modernisierung: Es gibt für alle Gesellschaften den einen richtigen Entwicklungsweg, der über liberale Demokratie und einen freien Markt führt. Von diesem Weg ist Russland abgekommen und nun hat es die Aufgabe, den Westen, der schon um Längen voraus ist, einzuholen. Über Werte diskutierten damals hauptsächlich Politologen, von denen viele daran glaubten, dass man für Fortschritt, Demokratie und Freiheit erst die richtigen Werte innerhalb der Bevölkerung braucht.

    Vor etwa zehn, zwölf Jahren änderte sich alles. Die Russen waren ermüdet von der Ideologie der nachholenden Modernisierung, derzufolge sie vom Westen lernen sollten: Der Westen kommt und erklärt euch, wie ihr euer Land organisieren müsst, um richtig zu leben. Genau das war (und ist bis heute) die Rhetorik der russischen Liberalen seit Ende der 1980er Jahre. Dumm nur, dass sich Menschen nicht gerne belehren lassen, besonders wenn es zu lange geschieht und sie sich nicht einmal sicher sind, ob sie darum gebeten haben. Es entstand ein Minderwertigkeitskomplex und Russlands Eliten sahen dann im Zuge der arabischen und der Farbrevolutionen plötzlich, dass der Glaube an die Überlegenheit des Westens sie – unter anderem – die Macht kosten könnte. Genau in diesem Moment begannen die Staatsdiener, allen voran der Präsident, die Sprache der „besonderen Werte“ zu sprechen.

    Der Westen kommt und erklärt euch alles

    Die russische Werte-Debatte der letzten zehn Jahre ist sehr einfach gestrickt. Fast alle genannten Werte lassen sich leicht in zwei Schubladen stecken. In der ersten liegen die westlichen Werte, die europäischen, liberalen und allgemein-menschlichen sowie ein Fehlen von Werten. In der zweiten liegen die besonderen, traditionellen, konservativen und russischen Werte, die im Gegensatz zu den anderen stehen, und außerdem das Vorhandensein von moralischen und geistlich-kirchlichen Werten. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Schubladen nicht ohne einander existieren: Ihre Opposition gründet auf dem Prinzip Westen versus Russland. Spricht in Russland jemand von Werten, dann will er mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit entweder sagen: „Wir müssen so sein wie der Westen“, oder er will sagen: „Wir müssen unter uns bleiben“.

    Sehr viel seltener wird über konkrete Werte diskutiert. Wenn Wladimir Putin jene Werte aufzählt, die für ihn und das Land am wichtigsten sind, fällt die Liste symptomatisch inhaltsleer aus: Leben, Liebe, Freiheit, Nächstenliebe, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Güte. So ähnlich antwortet ein Kind, wenn es gefragt wird: „Welche Eigenschaften sind am wichtigsten, wenn man ein braver Junge sein will?“

    Die innere Leere der Werte-Ideologie ist im Übrigen leicht zu erklären. Sie kommt daher, dass Werte-Bekenntnisse nicht darauf abzielen, Werte zu verteidigen. Sie funktionieren nur ex negativo – man braucht sie in Russland nur, um die „uns fremden“ Werte abzulehnen.

    Werte-Bekenntnisse nur ex negativo

    Es ist zwecklos, in den Russen nach irgendwelchen besonderen „konservativen“ Werten zu suchen. Gilt womöglich in Russland eine gemeinnützige Tätigkeit mehr als persönlicher Erfolg? Soziologische Umfragen sind ein nur wenig verlässliches Instrument, denn sie fallen der Propaganda als erstes zum Opfer. Aber selbst die bescheinigen den Russen eher einen stark ausgeprägten Individualismus, keineswegs Konservatismus. Wie die führenden russischen Werte-Forscher Wladimir Magun und Maxim Rudnew zeigen, ist für Russland eine individualistische Orientierung charakteristisch, die mit der Zeit immer stärker wird.

    Sind die Russen womöglich immun gegen das Hauptleiden der Neuzeit – das Schwinden von althergebrachten Beziehungen und Vertrauen? Nein. Wie aus den Erhebungen des World Value Survey hervorgeht, ist Vertrauensmangel und der hohe Grad sozialer Atomisierung nach wie vor ein zentrales Problem: 66 Prozent der Befragten geben an, dass man anderen Menschen nicht vertrauen könne. Von familiären und religiösen Werten braucht man gar nicht erst zu reden: Zum Beispiel sind in Deutschland Kirchengemeinden um ein Vielfaches stärker und aktiver als in Russland, und die Scheidungsrate ist deutlich geringer.

    Die Werte-Rhetorik ist leeres Gerede: Russland hat heute keine „besonderen Werte“, die es sich selbst und der Welt anzubieten hätte. Man sollte aber gleichzeitig genau hinhören, was hinter den hochtrabenden Worten steckt und in den Herzen der Russen tatsächlich Anklang findet. Der Begriff „Werte“ wird in Russland verwendet, um sich selbst vom sogenannten „Westen“ abzugrenzen, um zu zeigen, dass man „nicht so“ ist. Das Wort verspricht Freiheit – die Freiheit von ideologischer und moralischer Abhängigkeit, von der Rolle eines unzulänglichen Erwachsenen, der belehrt werden muss.

    Die Erziehungsmetapher: Ihr habt mir gar nichts zu sagen

    Die Ideologie der Modernisierung mit ihrer Unterteilung in entwickelte und Entwicklungsländer zwingt eine Erziehungsmetapher auf. Russland hatte sich in der Rolle des Heranwachsenden so gut eingerichtet, dass es die offensichtlichen Schwachstellen der Metapher aufdeckte, die ihre Schöpfer nicht bedacht hatten. Nämlich, dass ein Heranwachsender längst nicht immer brav den Belehrungen der Erwachsenen und „Entwickelten“ folgt: Viel häufiger rebelliert er, strebt nach Unabhängigkeit und hat keine Lust, dass jemand über ihn bestimmt. Er weigert sich, etwas zu tun, nur weil es alle tun, und erklärt, er sei eben „nicht so“, und überhaupt, wer seid ihr schon, dass ihr mich belehren wollt? Unter diesen Bedingungen autoritären Druck auszuüben und auf „allgemein-menschliche Werte“ zu verweisen, ist die denkbar schlechteste Strategie.

    Aber vielleicht wird ja ausgerechnet in Russland die Sprache der Werte irgendwie falsch benutzt? Dem ist leider nicht so. Die Werte-Philosophie geht zurück auf die Arbeiten von Hermann Lotze Mitte des 19. Jahrhunderts. Und sie hat schon mehr als einmal ihr aggressives Potential gezeigt. Die Idee, der Mensch würde von höheren, ewigen Werten geleitet, die aus einer anderen Welt sind, führt schnell zu der Überzeugung, dass es zwischen Menschen, die unterschiedliche Werte vertreten, auch sonst keine Verständigung geben kann.

    Mit dem Verweis auf die ‚eigenen Werte‘ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen

    Max Weber bezeichnete in seiner berühmten Rede [Wissenschaft als Beruf, 1917 – dek] den Widerstreit der Werte als einen „Kampf der Götter“, zwischen denen es keinen Kompromiss gibt und geben kann. Jeder Versuch, „universelle Werte“ aufzustellen, führe unweigerlich zum Vorwurf der Anmaßung und zur Beschuldigung, man wolle seine eigenen Interessen als allgemeingültige Werte ausgeben. Im Grunde ist das genau die Position, die Russlands Elite heute erfolgreich auf der internationalen Bühne einnimmt.

    Die Logik von Werten erlaubt es, Unterschiede zwischen den Menschen als radikal, ergo als unüberwindbar zu beschreiben. Zwischen verschiedenen Standpunkten kann es einen Dialog geben, zwischen verschiedenen Wertesystemen aber nicht. Werte sind wie Geschmack (versuchen Sie mal jemanden davon zu überzeugen, dass Käsekuchen besser schmeckt als Apfelstrudel), mit dem einzigen Unterschied, dass Werte unser gesamtes Leben durchdringen, uns abverlangen, dass wir für sie einstehen und die feindlichen Werte bekämpfen. „Die Wertlehre feiert, wie wir sahen, in der Erörterung der Frage des gerechten Krieges ihre eigentlichen Triumphe“1, konstatierte Carl Schmitt 1960 in seiner Streitschrift mit dem sprechenden Titel Die Tyrannei der Werte. Genauso funktioniert die Sprache der Werte heute in Russland: Mit dem Verweis auf die „eigenen Werte“ legitimiert man die ewige Feindschaft mit dem imaginierten Westen.

    Wenn von „besonderen Werten“ die Rede ist, liegt die Betonung immer auf dem ersten, nicht auf dem zweiten Wort. Russland ist in keiner Hinsicht besonders in Bezug auf seine Werte, aber es hat den Komplex einer Kolonie, die sich aus der Fremdherrschaft befreien will. Trotz allem Lamento, „freiheitliche Werte“ seien nichts für die Russen, steckt hinter der fixen Idee, die eigene Einzigartigkeit hervorzuheben, das Streben nach der Emanzipation von einem allwissenden und autoritären Westen. Und auch wenn die Russen bislang kaum eine Vorstellung davon haben, was sie stattdessen wollen, kommt man schwer umhin, in diesem Drang eine echte Freiheitsliebe zu sehen, die Respekt verdient.  


    1.Schmitt, Carl (1967): Die Tyrannei der Werte, Berlin [3. Aufl., 2011]   

     

    Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

     

    Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.

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  • Warum Putin kein Populist ist

    Warum Putin kein Populist ist

    Trump, Orban und wie sie alle heißen: Populisten, so konstatieren viele Politikwissenschaftler, seien auf dem Vormarsch. Immer öfter hört man dabei die These, Russland habe bei dieser Entwicklung eine Art „Vorreiterrolle“ gespielt. Denn Putin verführe die Massen, manipuliere die öffentliche Meinung und spiele sich als Stimme des Volkes auf.

    Putin, der lupenreine Populist? Im Gegenteil, meint Soziologe Grigori Judin. Bei allen Parallelen, ein genauerer Blick lohne sich – seine Analyse auf Republic:

    Brexit, Trump, Orban & Co. – Putin als Vorreiter populistischer Bewegungen? / Foto © TaylorHerring/flickr.com

    Derzeit stehen in Europa und Amerika alle großen Wahlen unter dem Zeichen des Populismus. Zu den populistischen Politikern wird oft auch Wladimir Putin gezählt. Manchmal scheint es sogar, als sei Putin der erste gewesen, der in den liberalen demokratischen Ordnungen eine Lücke gefunden hat: nämlich über breite Unterstützung in der Bevölkerung zu verfügen und gleichzeitig autoritär zu handeln, indem man leere Versprechen macht und den mangelnden politischen Weitblick und die Verantwortungslosigkeit der Massen nutzt.

    Demzufolge versucht die neue Generation der Populisten einfach, Putins Rezept anzuwenden, um die Grundlagen der westlichen Demokratie zu untergraben. Aufgeschreckte Experten sprechen vom Populismus als einem Symbol für die Verwundbarkeit des Westens, von einer Schattenseite der Demokratie, die sie durch die eigenen, einfältigen Bürger zu Fall bringen könnte.

    Populismus als Schimpfwort

    Mittlerweile wird das Wort „Populismus“ unterschiedslos zur Beschreibung aller möglichen gefährlichen politischen Entwicklungen verwendet. Sein negativer Beiklang erzeugt ein trügerisches Gefühl von Klarheit, verhindert, die Gründe für das Geschehen zu verstehen, und lähmt das politische Handeln.

    Soll Populismus aber nicht einfach nur ein Schimpfwort zur Brandmarkung unbequemer Opponenten sein, sondern ein spezieller Typus politischer Mobilisierung, dann braucht es zunächst eine klare Definition.

    Populismus ist die Gegenüberstellung von „uns“ (dem Volk) und „denen“ (der Elite) – eine Rhetorik des Kampfes gegen das Establishment. Dabei werden „das Volk“ und „die Elite“ nicht in Gruppen unterteilt: Sie bilden homogene Gemeinschaften. Zwischentöne gibt es nicht.

    Zwischen „dem Volk“ und „der Elite“ steht die populistische Partei oder eine Führungsfigur, der Leader, Sprachrohr für die Sehnsüchte des Volkes und Schrecken für die korrupten „fetten Tiere“ da oben.

    Der Konflikt zwischen „Volk“ und „Elite“ ist unter Umständen absolut und grenzenlos, weshalb sich Populismus schlecht mit dem System der Checks and Balances verträgt, das die liberalen Demokratien charakterisiert.

    Populismus ist dem Wesen nach ein demokratisches Phänomen, und nicht nur, weil populistische Politiker ein Produkt von Wahldemokratien sind und nicht das von autoritären Regimen. Populismus bringt „das Volk“ auf die Bühne, ohne das die moderne demokratische Politik inhaltlich ausgehöhlt wäre – denn sie basiert ja auf dem Konzept der Volkssouveränität.

    POPULISMUS – SYMPTOM DER KRISE

    Gleichzeitig ist der Populismus ein Symptom der Krise liberaler Demokratie, genauer gesagt: der Krise des Systems politischer Repräsentation. Populisten agieren über Grenzen hinweg, die durch traditionelle politische Identifikations­muster entstanden sind. Ihr Erfolg ist nur deshalb möglich, weil diese Grenzen verwischen und die traditionellen politischen Kräfte die Unterstützung der Bevölkerung verlieren.

    Kennzeichen des Populismus sind demnach ein Angriff auf die Elite, eine Mobilisierung der Massen, Demokratiehaftigkeit und Publicity.

    Das Regime Putin ist genau das Gegenteil davon.

    PUTIN – DAS GEGENTEIL EINES POPULISTEN

    Erstens war Wladimir Putin offizieller Nachfolger von Boris Jelzin und Günstling von Jelzins Eliten. Als Outsider kann man ihn wohl kaum bezeichnen. Selbst zu Beginn seiner Regierungszeit, als Putin die Oligarchen kritisierte, stellte er ihnen nicht das Volk gegenüber, sondern den Staat, den die Oligarchen untergruben und von innen heraus zerstörten.
    Sobald Putin die Loyalität der Eliten erlangt und unzuverlässige durch eigene Leute ersetzt hatte, vergaß er das Problem der Oligarchen sofort – mal abgesehen davon, dass das Verschmelzen von Macht und Reichtum seither nur zugenommen hat.

    Demobilisierung und Entpolitisierung

    Zweitens, und das ist von grundsätzlicher Bedeutung, gründet der Putinismus im Unterschied zum Populismus auf Demobilisierung und Entpolitisierung.
    Was er braucht, ist nicht die aktive Unterstützung der Bevölkerung, sondern ihre Gleichgültigkeit und Nichteinmischung in die Angelegenheiten jener, die oben am Ruder sind.

    Das Putinsche Regime hat nie versucht, Anhänger zu mobilisieren. Es war vielmehr bestrebt, sie zu demobilisieren und die Vorherrschaft des Privatlebens über gesellschaftspolitisches Handeln sicherzustellen.
    Unter Putin verwandelte sich Partizipation am politischen Leben in den Augen der Russen in eine Beschäftigung für Leute, die nicht ganz bei Trost sind: Wie kann denn jemand, der seinen Verstand beisammen hat, noch Wahlen ernstnehmen, wenn dort ganz offensichtliche Clowns nominiert werden? Wenn es jedes Mal auf den Stimmzetteln von Doppelgängern und Namensvettern wimmelt? Wenn die Wahlergebnisse letztendlich so ausfallen, wie es der Regierung passt?

    Die Reaktion der Bevölkerung ist offensichtlich: Den Großteil der Wähler stellen seit langem die vom Staat abhängigen Bevölkerungsgruppen. Die Wahlbeteiligung bei regionalen und landesweiten Wahlen sinkt ein ums andere Mal drastisch. Der Anteil der Teilnehmer an Meinungsumfragen liegt bei weit unter 50 Prozent.

    Angst vor dem Volk

    Drittens ist die gesamte Elite in Russland nicht einfach nur antidemokratisch, sondern sie hat totale Angst vor dem Volk.

    Viele Jahre schon ist eine Revolution, ein Volksaufstand, der schlimmste Albtraum der Eliten – er muss mit allen Mitteln verhindert werden. Die Eliten behandeln das Volk wie ein leicht beeinflussbares Kind, das nicht in der Lage ist, selbständig zu denken und das ständigen Schutz vor gewissen feindlichen Kräfte benötigt.

    Viertens schließlich reicht ein Blick auf das Drehbuch der Inauguration Putins, um zu sehen wie Putins Stil und der Stil populistischer (ja überhaupt demokratischer) Politik auseinanderklaffen: Die Autokolonne mit dem Leader fährt durch die vollkommen leere Stadt zum Kreml, wo ihn inmitten des überbordend feierlichen Prunks des Großen Kremlsaales „des Herrschers Getreue“ empfangen.

    POLITIKER OHNE VOLK

    Kann ein Politiker ohne Volk Populist sein? Kann man einen Politiker, der noch nie in seinem Leben an öffentlichen Debatten teilgenommen hat, als Populisten bezeichnen? Das gilt nicht nur für Putin, sondern für das gesamte Establishment in Russland, das alles daran setzt, selbst mit der Presse nie anders als im Modus eingeübter und inszenierter Fragen zu sprechen.
    Vergleichen wir Putin einmal mit klassischen Populisten wie Chavez, Morales oder Correa: Jeder von ihnen fühlt sich bei der direkten, nicht inszenierten Interaktion mit dem Volk wie ein Fisch im Wasser.

    Selbst 2012 und 2014, als das Regime auf Geschlossenheit gegen den äußeren Feind setzte und eine emotionsgeladene Propaganda startete, war im Instrumentarium des Regimes kein Populismus – keine anti-elitäre Mobilisierung oder Rhetorik – festzustellen.

    Jahr um Jahr wird den Russen Angst eingejagt, dass der Feind nicht schläft, dass man zusammenstehen muss, dass man dabei aber um Gottes Willen keine irgendwie gearteten Aktionen starten darf. Aus Sicht des russischen Regimes hat sich der Bürger – um dem Feind erfolgreich die Stirn zu bieten – in seine eigene Welt zurückzuziehen, beim Fernsehen vor Angst zu zittern und der Armee sowie den Geheimdiensten völlig freie Hand zu lassen – die werden schon wissen, was zu tun ist.

    Das alles hat mit der Logik des Populismus nichts zu tun, im Grunde widerspricht es ihm.

    Putin den Populisten zuzurechnen hieße, einen strategischen Fehler zu begehen. Während Populisten die Masse des Volkes gegen die Eliten mobilisieren, stützt sich Putins Regime auf die Eliten, um die Massen zu demobilisieren.

    Das Volk als Bedrohung, nicht als Stütze

    Das Gespenst der „86 Prozent“, von dem in den letzten Jahren viele in Russland erfasst wurden, versperrt den Blick auf den Schwachpunkt des gegenwärtigen Regimes: Das Volk ist für das Regime nicht die größte Stütze, sondern die größte Bedrohung.
    Mit seiner gigantischen Kluft zwischen Herrschenden und Bevölkerung, der Dominanz der Technokraten in der Regierung und der völligen Enttäuschung der Menschen durch die Politik, ist Russland ein ideales Feld für das Bedürfnis nach Demokratie und das Aufkommen populistischer Bewegungen.

    Das Bedürfnis nach Populismus ist in Russland heute objektive Realität. Und es kann auch gar nicht anders sein in einem Land, in dem die himmelschreiende Ungleichheit tagtäglich auf den Straßen zu beobachten ist, wo die Bürger von der Politik ausgeschlossen sind, und wo man der neuen Generation in den Schulen und Universitäten Angst vor den „Feinden“ einjagt und ihr beibringt, stillzusitzen.

    Populismus ist nicht unbedingt ein Übel: Er kann in den Menschen Energie und Enthusiasmus wecken, ihre Bereitschaft, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und die Geschicke des eigenen Landes mitzubestimmen.
    Das Gefühl, dass deine Stimme und dein Handeln einen Unterschied machen, ist viel wert. Es ist ein Gefühl, das die Russen seit langem entbehren.

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  • „Der Staat hat erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt“

    „Der Staat hat erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt“

    In Russland ist es üblich, von einer „konservativen Mehrheit“ zu sprechen – einer Mehrheit der Gesellschaft, die das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ gutheißt, für mehr Internetkontrolle plädiert und geschlossen hinter dem selbsterklärt-konservativen Präsidenten Putin steht. All das ermitteln Soziologen nämlich in Meinungsumfragen. Was bedeutet es aber für diese Umfragen, wenn die erdrückende Mehrheit sich davor sträubt, an ihnen teilzunehmen? Man sollte sie dann zumindest hinterfragen, meint der Soziologe Grigori Judin im ersten Teil seines Interviews auf Colta.ru. Hinterfragen solle man laut Judin allerdings auch das Attribut dieser angeblichen Mehrheit – ihren Konservatismus. 

    Denn weshalb Konservatismus nicht immer gleich Konservatismus ist, sondern sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, das erklärt er in Teil 2 des Interviews.

    Foto © Sergej Michejew/Kommersant
    Foto © Sergej Michejew/Kommersant

    Gleb Naprejenko: Du hast das soziale Bewusstsein in russischen Kleinstädten untersucht – allerdings nicht mittels Meinungsumfragen. Zu welchen Ergebnissen kommt eure Feldforschung im Hinblick auf Konservativismus – und das Verhältnis der Menschen zu Politik und Geschichte?

    Grigori Judin: Die Fragestellung unserer Untersuchung war zwar eine etwas andere, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Konservativismus kann in sehr unterschiedlichen Formen auftreten. Außerdem sorgt der Begriff eher für Verwirrung als für Klarheit. 

    Beispielsweise erwächst von unten vor allem eine lokale, regionale Agenda – und die ist teilweise konservativ. Offenbar sind es zumeist Heimatkundler, die versuchen diese Agenda umzusetzen. Das sind Menschen, die sich mit der Geschichte ihrer Region befassen, oft Lehrer oder Bibliothekare. Sie treten als Hüter der Erinnerung auf, sehen sich sozusagen als ihre Agenten. 

    In der Regel sind das Menschen fortgeschrittenen Alters oder zumindest Nachfolger von ortsansässigen Heimatkundlern aus der Sowjetzeit. Und weil die Heimatgeschichte mit Beginn des Stalinismus, sprich seit den 1930ern, massiv eingeschränkt wurde, stehen die Heimatkundler der Sowjetzeit sehr skeptisch gegenüber. 
    Zwar ließ Chruschtschow die Heimatgeschichte wieder zu, denn er hoffte damit, einen Lokalpatriotismus zu schaffen, der sich wie eine Matrjoschka in den gesamtsowjetischen Patriotismus einfügen würde. Aber natürlich wurden die Heimatkundler nie völlig loyal. Sie hatten ihr eigenes Programm und nach dem Zerfall der Sowjetunion auch die Möglichkeit es umzusetzen. 

    Jeder von ihnen ist ein Lokalpatriot, dem die lokale Geschichte am Herzen liegt. Das ist eine lokale Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde.

    Die Heimatkundler sind Lokalpatrioten, eine Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde

    Zweifellos ist darin ein an der Gemeinschaft orientiertes konservatives Programm erkennbar, das mit der Wiederherstellung einer lokalen Identität einhergeht. Übrigens sieht die lokale Geschichtsschreibung, auf der diese Identität gründet, nicht selten recht merkwürdig aus: Sie ist bruchstückhaft und verzerrt. Doch dieser Konservativismus unterscheidet sich klar von jenem, mit dem wir es heute in der Staatspropaganda zu tun haben.

    Sehen wir uns zum Beispiel das Geschichtsbild an, das der Staat seit Mitte der 2000er Jahre zu vermitteln versucht: Geschichte meint hier die Geschichte des Staates, kein anderes Subjekt ist denkbar. 

    Es ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage. Eigene, innere Konflikte hat es selbstverständlich nie gegeben – sie sind seit jeher Projektionen von außen. Die inneren Feinde sind Agenten der äußeren. Der Sieg über sie ist ein Sieg über den äußeren Feind. Alle Konflikte, Umwälzungen oder revolutionären Ereignisse, vor denen die russische Geschichte geradezu überquillt, werden geglättet oder ignoriert.

    Das staatliche Geschichtsbild ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage

    Wir beobachten eine seltsame Idee unverbrüchlicher Kontinuität zwischen Iwan dem Schrecklichen, den Romanows, der Sowjetmacht in all ihren Ausprägungen und Wladimir Putin am Höhepunkt dieser Geschichte. Als hätte jeder von ihnen dem nächsten auf die Schulter geklopft und gesagt: „Lass uns nicht hängen, altes Haus!“ 

    Das ist Geschichte ohne Geschichtlichkeit. Denn Geschichtlichkeit und die historische Methode beruhen seit den Anfängen der deutschen Geschichtsphilosophie auf der Idee, dass sich Dinge verändern und dass das, woran wir uns gewöhnt haben, seinen Anfang und sein Ende hat.

    Dass auf dem Gebiet des heutigen Russlands regelmäßig Konflikte darüber aufgeflammt sind, aufflammen und aufflammen werden, wie das Land überhaupt beschaffen sein sollte, wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen.

    Wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen

    Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander „zu versöhnen“, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten, nur eben auf leicht unterschiedliche Art und Weise. Deswegen hätten sie sich ein bisschen gestritten und für drei, vier Jahre diesen kleinen Bürgerkrieg angezettelt. Aber im Prinzip seien das alles gute Leute gewesen, die nur die Stabilisierung des Staates gewollt hätten. 

    Dabei wird bereitwillig ausgeklammert, dass ein bedeutender Teil derer, die an diesen Ereignissen beteiligt war, meinten, dass es überhaupt keinen Staat geben sollte. Andere meinten, dass der neue Staat nichts mit dem Russischen Kaiserreich gemein haben sollte… Das war also ein echter handfester Streit, im Zuge dessen das Subjekt der Geschichte ein völlig anderes geworden ist.

    Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander ‘zu versöhnen’, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten

    Diese staatliche Idee von einem sich über den Lauf der Geschichte erstreckendes Subjekt der Geschichte zeugt von einem konservativen Weltbild. Jedoch einem grundlegend anderen als dem der lokalen Konservativen. 

    Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Zwar steckt in jedem Konservativismus ein Element der Angst, doch im Fall der modernen russischen Elite beobachten wir geradezu blanke Panik vor einer Revolution. Und diese geht in eine Angst vor jeglicher Veränderung über. Man fürchtet jede selbstständige Bewegung von unten und jede Aktivität in der Bevölkerung. Genau daher rührt das Bedürfnis nach der Erfindung jenes Mythos, dass sich in Russland nie etwas verändert habe.

    Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Im Fall der modernen russischen Elite herrscht geradezu blanke Panik vor einer Revolution

    Bemerkenswert ist, dass diesen Mythos auch Leute geschluckt haben, die sich in Russland gemeinhin als liberal bezeichnen. Von ihnen hören wir nämlich exakt dasselbe, nur mit entgegengesetztem Vorzeichen: Es gebe irgendeine besondere russische Mentalität, einen besonderen russischen Archetyp, einen Weg, den Russland einst beschritten habe und nicht verlassen könne.

    Sozialwissenschaftler Grigori Judin. Foto © EUSPb
    Sozialwissenschaftler Grigori Judin. Foto © EUSPb

    Wann das gewesen sein soll und warum, bleibt völlig unklar. Offenbar anno dazumal. Doch man beharrt darauf, dass gerade dieser Sonderweg uns daran hindere, Teil einer sagenumwobenen westlichen Welt zu werden. 

    Wie steht man in diesem lokalen Kontext zu möglichen radikalen politischen Veränderungen?

    Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor potenziellen Veränderungen geschürt. Aber man muss hier zwischen Angst und Vorsicht unterscheiden. 

    Der konstruktive Konservativismus begegnet allem Neuen mit Vorsicht. Er muss dieses Neue zunächst daraufhin befragen, ob es dem entspricht, was wir bereits haben. Sogar, wenn Veränderungen für notwendig erachtet werden, wird geprüft, ob und wie sie sich in die bestehende Ordnung integrieren lassen.

    Es überrascht also nicht, dass diese Konservativen Revolutionen besonders misstrauisch gegenüber stehen, denn über Revolutionen lassen sich keine Vorhersagen machen. Dafür passieren sie viel zu schnell.

    Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt

    Für den verängstigten Konservativismus hingegen ist die Übertragung von Angst typisch. Angst wird zum Schlüssel-Gefühl und ermöglicht damit eine zentralisierte absolute Macht. 

    Willst du deine Macht behalten? Dann jage allen um dich herum Angst ein, dass jeden Moment der Feind einfällt und alle vernichtet. Dann hast du es schon geschafft, denn du bist der Einzige, der sie beschützen kann. 

    Angst geht immer mit fehlendem Vertrauen und und fehlendem Schutz einher. Also mit etwas, das für den normalen, gemäßigten Konservativismus untypisch ist. Dieser wähnt sich nämlich auf festem Boden und weiß die Tradition hinter sich und die gibt ihm Halt. Im Gegensatz dazu fehlt dem verängstigten Konservativismus jeglicher Halt. 

    Aber, meine Herren, wenn ihr solche Angst vor einer Revolution habt, dann glaubt ihr ja wirklich, es gebe hier nichts, was euch vor einer Revolution bewahren könnte, außer dieser einen Person an der Spitze des Staates? Wir haben also einen absoluten Mangel an Verlässlichkeit. So empfinden es für gewöhnlich auch unsere Mitbürger: Wir haben keinerlei Halt, wir können uns auf niemanden außer uns selbst verlassen, wir verspüren Unsicherheit und versuchen, unsere Angst durch Privatleben und persönlichen Erfolg zu kompensieren. Wir leben in dem ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte.

    Wir leben im ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte

    Dabei ist die Angst vor einer Revolution auf keinen Fall etwas, dass eine Revolution verhindert. Eher im Gegenteil: Ein aufgeregter, emotional instabiler Zustand, der Menschen anheizen kann, ist typisch für eine Mobilisierung – auch für eine revolutionäre. 

    Das bedeutet natürlich nicht, dass morgen eine Revolution ausbricht. Doch zu behaupten, es könne keine Revolution geben, weil Meinungsumfragen belegten, dass die Menschen vor ihr Angst hätten, ist ein absoluter logischer Fehlschluss.

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    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Seit der Angliederung der Krim ist Russlands Präsident im Umfrage-Hoch: Seine Beliebtheitswerte liegen bei über 80 Prozent. Doch wie zuverlässig sind solche Zahlen? Nicht sehr, meint Grigori Judin. Der Sozialwissenschaftler forscht an der renommierten Moskauer Higher School of Economics. Ein etablierter Name in der Wissenschaft ist er noch nicht, sein Interview auf Colta.ru aber verspricht frischen Wind für die russische Soziologie – es erfuhr recht große Aufmerksamkeit und wurde auch über Soziale Medien viel geteilt. dekoder bringt es in zwei Teilen

    Im ersten spricht Judin über trügerische Aussagekraft von Meinungsumfragen – selbst wenn sie von so renommierten Instituten wie dem Lewada-Zentrum kommen.

    „Umfragen liefern die Ergebnisse, die der Kreml braucht” Foto © EUSPb
    „Umfragen liefern die Ergebnisse, die der Kreml braucht” Foto © EUSPb

    Gleb Naprejenko: Heutzutage ist in Russland die Vorstellung verbreitet, es gäbe eine konservative Mehrheit, die Putin und seine Politik unterstützt. Diese Vorstellung basiert auf soziologischen Umfragen, die uns, so wird behauptet, eben jene Mehrheit dokumentieren. Was aber zeigen uns diese Umfragen tatsächlich?

    Grigori Judin: Wir haben irgendwie nicht bemerkt, wann soziologische Umfragen in Russland zur zentralen Institution politischer Repräsentation wurden. Das ist eine spezifisch russische Situation, obwohl Umfragen im Prinzip weltweit immer wichtiger werden. Aber speziell in Russland konnte das Modell der Meinungsumfragen das Publikum leicht in seinen Bann ziehen, weil es einen Anspruch auf demokratische Teilhabe verkörpert, darauf, die unverstellte Stimme des Volkes zu sein. 

    Es hypnotisiert das Publikum mit seinen Zahlen. Wäre das Publikum weniger hypnotisiert und würden wir unterscheiden zwischen dem demokratischen Prozess als Selbstbestimmung des Volkes auf der einen und Umfragen als Institution der totalen politischen Repräsentation auf der anderen Seite, dann würden wir schnell ein paar Dinge feststellen, die allen klar sind, die mit Umfragen zu tun haben. 

    Erstens ist Russland ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen –  als würde man über etwas Unanständiges reden. Es ist also kein Wunder, dass nur eine verschwindend geringe Minderheit Fragen beantwortet – erst recht zum Thema Politik. Deshalb entbehrt der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, in der Realität jeder Grundlage.

    Russland ist ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen – als würde man über etwas Unanständiges reden

    In den Umfragen gibt es einen technischen Kennwert – die Ausschöpfungsquote: Sie zeigt an, wie viele der insgesamt Befragten auf die Fragen geantwortet haben, also wie viele überhaupt zu einem Interview bereit waren. Je nach Methode bewegt sich der Anteil zwischen 10 und 30 Prozent.

    Das ist nicht sehr viel, oder?

    Das bedeutet einfach nur, dass wir über die restlichen 70 bis 90 Prozent nichts wissen. Daraus folgt wiederum eine zähe Diskussion, in die uns die Meinungsforschungsinstitute immer wieder zu verstricken versuchen, darüber, dass wir ja keine Beweise hätten, dass sich diese 10 bis 30 Prozent von den anderen 70 bis 90 unterscheiden würden. 

    Natürlich haben wir keine Beweise. Beweise hätten wir nur, wenn es uns gelingen würde, diese 70 bis 90 Prozent zu befragen, von denen wir wissen, dass sie sich nicht an Umfragen beteiligen wollen.

    Der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, entbehrt jeder Grundlage

    Aber unsere allgemeinen Beobachtungen bestätigen die Annahme, dass die Weigerung, an solchen Umfragen teilzunehmen, eine Form des passiven Widerstands ist. Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Das alles geschieht aus denselben Gründen.

    Seit wann ist das so?

    Es gab ein Aufflammen des politischen Enthusiasmus Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, und genau in dieser Zeit, 1987, wurde das erste Meinungsforschungsinstitut gegründet, das WZIOM. Meinungsumfragen waren ein neues Instrument der Repräsentation, das die sowjetische Gesellschaft nicht gekannt hatte. Sie kamen auf mit der Welle der postsowjetischen Demokratie-Begeisterung in den Jahren der Perestroika. 

    Schon Ende der 1990er flachte diese Begeisterung wieder ab, die in den 2000er Jahren in Politikverdrossenheit mündete. Deshalb bekamen wir in den 2000er Jahren diese ganzen Polittechnologien, die bewusst auf Entpolitisierung abzielten, darauf, die Politik als eine Witzveranstaltung darzustellen, wo absurde Clowns gegeneinander antreten, die kein vernünftiger Mensch jemals wählen würde. 

    Das alles schadete auch den Umfragen. 

    Denn Umfragen sind keineswegs nur eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung der öffentlichen Meinung, wie das allgemein angenommen wird, sondern auch eine Institution der politischen Repräsentation. Als solche wurden sie nämlich von George Gallup erdacht, und genau so haben sie immer funktioniert. Deshalb war die Enttäuschung über die politischen Institutionen unter anderem auch eine Enttäuschung über die Meinungsumfragen.

    Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Beides geschieht aus denselben Gründen

    In letzter Zeit kommt außerdem hinzu, dass Umfragen ganz gezielt als Technologie zur Unterdrückung politischer Partizipation eingesetzt werden. Der Staat hat sich die Meinungsforschungs-Branche praktisch angeeignet.

    Obwohl es heute drei Hauptakteure im Bereich der Meinungsumfragen gibt – FOM, WZIOM und das Lewada-Zentrum (und wir wissen, dass das Lewada-Zentrum eine regierungsferne Position einnimmt und ständigen Attacken durch den Kreml ausgesetzt ist) –, so arbeiten diese drei Unternehmen doch alle fast innerhalb ein und desselben Diskurses.

    Nachdem es nun dem Kreml gelungen war, dieses Feld unter seine ideologische Kontrolle zu bringen, wurden auf einmal genau die Ergebnisse produziert, die der Kreml brauchte.

    Von welchem Diskurs redest du?

    Wie funktioniert die Umfrage-Industrie heute? Man bezichtigt die Organisatoren von Umfragen derzeit oft der Fälschung, aber das ist fern der Realität. Die brauchen gar nichts zu erfinden oder zu lügen, sie nehmen einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde. Und weil das komplette Nachrichtenprogramm vom Kreml diktiert wird, begreifen diejenigen, die zu einem Interview bereit sind (und das sind, wie gesagt, die Wenigsten), schnell, was von ihnen erwartet wird.

    Warum bewegt sich sogar das Lewada-Zentrum innerhalb dieser Logik, obwohl es, zumindest scheint es so, oppositionell-liberal eingestellt ist?

    Weil es in genau denselben konservativen Rahmen existiert, mit dem einzigen Unterschied, dass die Staatspropaganda Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg zeichnet und sagt, wie toll das sei. Das Lewada-Zentrum dagegen bezeichnet Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg – und sagt, wie schlimm das sei. Im Hinblick auf die Sprache, mit der sie die Welt beschreiben, unterscheiden sie sich meistens nicht sonderlich voneinander.

    Wird eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen, so antworten die Menschen sofort anders

    Obwohl das Lewada-Zentrum manchmal Umfragen bringt, deren Fragestellungen nicht aus den Nachrichten vom Vortag stammen. In diesem Fällen zeigen sich dann übrigens ziemlich unerwartete Ergebnisse – eben weil man anders mit den Menschen spricht.

    Kannst du ein Beispiel nennen?

    Ein gutes Beispiel dafür war, als der Militäreinsatz zur Unterstützung Assads in Syrien gestartet wurde. Gleich zu Beginn, als die Möglichkeit solch einer Operation erstmals im Raum stand, hat das Lewada-Zentrum die Menschen befragt, ob Russland Assad direkt militärisch unterstützen und Truppen nach Syrien verlegen sollte. Die Reaktion war wenig überraschend: Im Grunde wollte kaum jemand, dass Russland sich in diese kriegerische Auseinandersetzung einmischt. 

    Gerade mal zwei Wochen später, als die Intervention schon im Gange war, hatte die Regierung eine Nachrichtensprache dafür entwickelt, und das Lewada-Zentrum griff genau diese Sprache in seiner Fragestellung auf: „Wie stehen Sie dazu, dass Russland Stellungen des Islamischen Staates (eine in Russland verbotene terroristische Vereinigung – Red.) angreift?“ 

    Hier wurde also, grob gesagt, ohne jegliche Zitatkennzeichnung eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen. Die Menschen reagierten sofort anders. Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung der Menschen zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen.

    Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen

    Wichtig ist außerdem, dass die reale Produktion der Umfragen nicht den Moskauer Instituten obliegt, die sich die Umfragen ausdenken, sondern den konkreten Interviewern und Befragten in ganz Russland. 

    Gerade erst haben wir eine Interviewreihe mit solchen Interviewern durchgeführt, und die sagen für gewöhnlich zwei Dinge. Erstens: Die Menschen wollen nicht über Politik sprechen. Das ist ein großes Problem. Wenn eine Umfrage zum Thema Politik kommt, versuchen [die Interviewer – dek] sie nach Möglichkeit loszuwerden, weil es sehr schwer ist, die Menschen dazu zu bringen, über politische Fragen zu sprechen. 

    Das Zweite hängt mit der Kluft zwischen Stadt und Land und zwischen Jung und Alt zusammen. Junge Leute sprechen besonders ungern über Politik; und was die Städte betrifft – je größer die Stadt, desto weniger wollen die Leute auf Fragen über Politik antworten. 

    Also bleibt uns eine sehr spezifische Bevölkerungsgruppe, die mehr oder weniger bereit ist, nach folgenden Regeln mitzuspielen: Ihr stellt uns Fragen aus den Abendnachrichten von gestern, und wir zeigen euch, dass wir die Nachrichten verinnerlicht haben.

    Man könnte also sagen, dass wir es mit einer allgemeinen Skepsis gegenüber der Politik zu tun haben. Aber gleichzeitig würden Sie nicht von einer konservativen öffentlichen Meinung sprechen, sondern eher davon, dass die Meinungsforschungsinstitute in ihren Methoden selbst konservativ sind?

    Konservativ ist die Sprache, in der sie mit den Menschen zu sprechen versuchen. Die öffentliche Meinung ist etwas, das von Umfragen produziert wird. Umfragen sind performativ. Von Pierre Bourdieu stammt der berühmte Aufsatz Die öffentliche Meinung gibt es nicht, der von vielen leider missverstanden wurde. Bourdieu sagt, dass es zweifelsfrei eine öffentliche Meinung als Produkt der Tätigkeit von Meinungsforschungsinstituten gibt. Wir könnten sogar sehen, dass sie eine immer größere Rolle in den Polittechnologien spielt. Sie existiert nur in dem Sinn nicht, als dass es keine unvoreingenommene, unabhängige Realität gibt, die man mittels Umfragen einfach nur neutral misst und abbildet.

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