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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wann kommt der Wandel?

    Wann kommt der Wandel?

    Die Bilder gingen um die Welt: Plötzlich standen in ganz Russland tausende Menschen Schlange und gaben ihre Unterschrift für die Präsidentschaftskandidatur von Boris Nadeshdin. In einer immer repressiveren Umgebung, in der Protest gegen den Krieg de facto verboten ist, hatten darin viele eine Chance gesehen, um ihrem Unmut auf legalem Wege Ausdruck zu verleihen.

    Doch wie weit ist es von den „Schlangen für Nadeshdin“ bis zu einem echten Wandel in Russland? Wollen die Menschen einen solchen überhaupt? Darüber schreibt der Soziologe Grigori Judin in einem Gastbeitrag für Verstka.

    [Aktualisierung vom 8. Februar 2024: Die Zentrale Wahlkomission hat Boris Nadeshdin nicht zur Wahl zugelassen. Dies wurde offiziell damit begründet, dass angeblich mehr als fünf Prozent der eingerichten Unterschriften ungültig seien.]

    Die Russen witterten eine messbare Chance auf Veränderungen – und sind sofort aktiv geworden. Zwar beträgt diese Chance gerade mal ein paar Millionstel Prozent, aber sie ist konkret. Läge sie etwas höher, würden noch mehr Menschen reagieren. Und wäre sie wirklich groß, dann wäre es ein gesellschaftlicher Durchbruch. Es ist eingetreten, was ich schon lange sage: Kollektives Handeln beginnt nicht da, wo den Menschen die Geduld ausgeht, sondern da, wo die Aussicht besteht, dass ihr gemeinsames Handeln zu einem realen, konkreten und messbaren Ergebnis führen kann. Im Fall Nadeshdin ist das seine Zulassung zu den Präsidentschatfswahlen.

    Kontrollierte Herausforderung

    Wofür braucht der Kreml Nadeshdin? Und wieso darf er ins Fernsehen? Seit seinen kriegsgegnerischen Äußerungen rufen mich immer wieder Journalisten aus dem Ausland an und fragen: „Wie kann das sein? Wir dachten, in Russland herrscht Zensur und keiner erfährt die Wahrheit! Dabei tritt da einer im Fernsehen auf und sagt einfach die ganze Wahrheit! Vielleicht sind die Russen eben allen Ernstes für Putin und seinen Krieg?“

    Das ist die Strategie der Präsidialadministration. Nadeshdin muss seine 1,5 Prozent bekommen und damit genau das zeigen, was wir vom Lewada-Zentrum die ganze Zeit hören: In Russland leben 140 Millionen Vampire und ein paar Zehntausend normale Menschen. Nach dem Motto, gebt endlich Ruhe, das Land steht hinter Putin und dem Krieg. 

    Aber man darf nicht aus dem Blick verlieren, dass dieses Ergebnis für den Kreml nur ein angenehmer Bonus ist und er mit dieser Volksbefragung eigentlich viel wichtigere Aufgaben erfüllt. Er kann es sich nicht leisten, dass für das Sahnehäubchen auf dieser Torte alles aus dem Ruder läuft.

    Deswegen verfügt der Kreml für den Fall, dass sich in den Umfragen ein zu großer Wahlerfolg für Nadeshdin abzeichnet, über ein ganzes Arsenal von Instrumenten, um seine Popularität zu verringern. Wir wissen zum Beispiel, dass Nadeshdin eng mit den Liberalen der Neunziger verbandelt war – es wäre ausreichend, wenn er plötzlich öffentlich Elemente aus ihrer Rhetorik bemühen würde. Das Ergebnis wäre wundervoll: Der allseits beliebte Antikriegs-Kandidat sagt antirussische Sachen, die sich hervorragend dafür eignen, die Kriegsgegner auf ganzer Linie zu diskreditieren.

    Oder man „kauft“ ihn mit dem Versprechen eines hohen Amtes. Schon mehrmals hat Nadeshdin bewiesen, dass er bereit ist zum Pakt mit dem Teufel – mal kandidierte er für Gerechtes Russland, mal nahm er an den Vorwahlen von Einiges Russland teil. Ob er wohl dieses Mal darauf verzichtet? Oder man erklärt ihn vielleicht ein paar Wochen vor der Wahl zum Terroristen und Extremisten und schüchtert damit seine potentiellen Wähler ein. Na, oder ganz schlicht und ergreifend: Wenn etwas nicht „nach Plan 1,5 Prozent“ läuft, dann kann man Nadeshdin einfach zu jedem beliebigen Zeitpunkt stumpf von der Liste kicken.

    In Belarus begann 2020 ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen

    Der innenpolitische Kurator im Kreml, Sergej Kirijenko, hat von dem Aufstand in Belarus nach den Präsidentschaftswahlen 2020 bestimmt etwas gelernt. Dort begann ebenfalls alles mit Schlangen von Menschen, die für Sergej Tichanowski, Viktor Babariko und Waleri Zepkalo unterschrieben. Danach unterlief Lukaschenko ein schwerer Fehler: Er ließ Tichanowskis Frau Swetlana antreten. Was dazu führte, dass Leute, die noch einen Monat zuvor in ihrer Masse kaum an so etwas wie Proteste gedacht hatten, plötzlich an die Möglichkeit eines Wandels durch einen „Erdrutschsieg“ bei den Wahlen und Straßenproteste zu dessen Verteidigung glaubten. Dafür gingen sie buchstäblich in den Tod – tausende Demonstrierende gingen weiterhin auf die Straße, obwohl die Silowiki dort Menschen töteten. Sie trennten sich erst, als die Hoffnung versiegt war, dass die Handlungen jedes Einzelnen zu einem konkreten Ergebnis führen.

    Eine ähnliche Mobilisierung haben wir auch schon in Russland gesehen. Nämlich 2021, als Alexej Nawalny zurückkehrte und sofort verhaftet wurde. In jenem Jahr war unser Land hinsichtlich der Gesamtzahl der Protestierenden unter den weltweit Ersten. Das war eine Massenbewegung, die das ganze Land erfasste. Obwohl die Chance, Nawalny freizukriegen, genauso gering war wie die Chance auf einen Regimewechsel.

    Seit Beginn des Kriegs hatte die russische Gesellschaft nicht die leiseste Hoffnung auf Veränderungen. Auch Jewgeni Prigoshin konnte mit seinen Aktionen und dem Aufstand keine Zuversicht wecken. Ja, er vertrat in Bezug auf die Situation im Land einen Standpunkt, der alternativ zum offiziellen und trotzdem legal war. Er konnte aber keine Menschen mobilisieren, obwohl ich überzeugt bin: Hätte er den Leuten eine Zukunft ausgemalt, die ihnen blüht, wenn sie seine Bewegung unterstützen, dann wären viele schon allein deswegen aufgestanden, weil sie etwas Neues wollen.

    Wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen

    Die Formel für den Beginn kollektiven Handelns ist simpel. Ausschlaggebend ist das Gefühl, dass die eigene persönliche Beteiligung die Situation beeinflussen und zu einem nachweislichen, messbaren und sichtbaren Ergebnis führen kann. Natürlich schätzt man auch noch das Risiko ab, das man eingeht, aber dieser Faktor ist nicht so hoch, wie oft angenommen wird. Klar will niemand ins Gefängnis oder verprügelt werden. Und keiner macht das einfach so ins Blaue. Aber wenn die Leute sehen, dass sie etwas verändern können, dann sind sie bereit, sehr große Risiken einzugehen. 

    Ein legaler Wahlkampf ist natürlich ein minimales Risiko. Man braucht nur zu unterschreiben, und wenn der Kandidat aufgestellt wird, zu agitieren und dann zu wählen. Das ist alles grundsätzlich nicht verboten, daher ist die Hemmschwelle zum Mitmachen gering. Man braucht dafür nicht unbedingt in einen Panzer zu steigen wie in Prigoshins Fall. Super! Aber es ist auch nicht so, dass sich durch Repressionen jedes kollektive Handeln verhindern ließe. Sonst bräuchte man gar keine Politik und es gäbe überhaupt nirgendwo Massenbewegungen. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen für hohe gemeinsame Ziele bereit sind, ihr Leben zu riskieren.      

    Was fehlt: eine positive Zukunftsvision

    In Russland gibt es keine militarisierte Mehrheit, die man durchbrechen muss. Die Mehrheit duldet den Krieg als etwas vermeintlich Unausweichliches, das man lieber verdrängt. Angeführt wird das Ganze von kleinen Gruppen, die demonstrativ verrohen und darauf ihre Karrieren aufbauen. Der Überdruss, den dieser Krieg und die alte Führungsriege in der russischen Gesellschaft erzeugt, ist riesig. Aus dieser Situation heraus ließe sich leicht eine starke Mehrheit von Kriegsgegnern versammeln.  

    Insofern lautet die richtige Antwort auf die Frage, wie lange die Leute noch mitmachen werden: „Beliebig lange.“ Denn sie gehen nicht dann vom Erdulden zum kollektiven Handeln über, wenn sie es nicht mehr aushalten – man kann sich ja immer noch tiefer eingraben, noch stärker anpassen –, sondern wenn sich eine Alternative anbietet. Aber genau die fehlt heute. „Nein zum Krieg!“ ist eine schöne Parole, aber sie sagt nichts darüber aus, wie es danach weitergehen soll. Noch hat niemand eine Zukunftsvision ausformuliert, die Russlands nationale Interessen berücksichtigt, die dem Land einen Platz in der Welt aufzeigt, den die Bürgerinnen und Bürgern als würdig empfinden, und die zugleich ein deutliches Bild davon zeichnet, wie das Leben dort aussehen wird.

    Es gibt einen Putin – zu dem hat keiner mehr eine Frage: Unter seiner Regierung leben wir beschissen, aber wir wissen, woran wir sind – wir kennen die Regeln. Sobald einer kommt und eine knackige Alternative dazu anbietet, vorzugsweise im Rahmen der russischen Gesetzgebung, klafft ein Spalt auf, in den das ganze riesige Protestpotential hineinstürzt, das sich in der Gesellschaft angestaut hat. Anlass dafür kann alles sein – vom banalen Alltagskonflikt bis hin zu einer einzigen unglücklichen Entscheidung der Behörden. Die Beobachter werden es nicht fassen können: Wie gibt’s das, die Leute haben das doch immer geschluckt, wieso auf einmal nicht mehr? Aber an diesem Punkt wird der Wandel schon angefangen haben.    

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  • Debattenschau № 90: Welchen Sinn haben Wahlen in einer Diktatur?

    Debattenschau № 90: Welchen Sinn haben Wahlen in einer Diktatur?

    Am Wochenende wurde in Russland der sogenannte „einheitliche Wahltag” veranstaltet: In 21 Regionen wurde über die Regionsoberhäupter entschieden und die Zusammensetzung von 16 Regionalparlamenten neu bestimmt. Vor der Präsidentschaftswahl 2024 testet der Staat seine Kontrolle über das Land. Und die Opposition testet seine Schwachstellen. Unter Menschen, die dem Kreml gegenüber kritisch eingestellt sind, wird schon lange debattiert, ob die unfairen und manipulierten Wahlen boykottiert werden sollten, oder ob man sich allen Wahlfälschungen zum Trotz beteiligen sollte, um den Betrügern wenigstens so viele Schwierigkeiten zu machen wie möglich. Auch der prominenteste Oppositionspolitiker Alexej Nawalny forderte aus dem Gefängnis heraus seine Unterstützer auf, zur Wahl zu gehen und für die Kandidaten zu stimmen, die der Kreml-Partei Einiges Russland am ehesten Konkurrenz machen.

    In der Debattenschau stellt dekoder die Argumente der politischen Beobachter Alexander Kynew und Grigori Judin und der Moskauer Lokalpolitikerin Julia Galjamina vor. Ihre Beiträge haben sie bereits vor der Wahl für den Think Tank Kollektiwnoje deistwije (dt. kollektives Handeln) verfasst. Darüber, dass die Scheinwahlen, die in den besetzten Gebieten auf ukrainischem Staatsgebiet inszeniert wurden, illegal sind und boykottiert werden sollten, herrschte unter demokratischen Oppositionellen Einigkeit.

    Alexander Kynew: Die Wahlen sind eine Gelegenheit, etwas über die russische Gesellschaft zu erfahren

    [bilingbox]Wahlen sind keine bloße Formsache, sondern eine Gelegenheit, die Stimmung in der Gesellschaft zu messen, eine riesige soziologische Umfrage. Wie soll man etwas über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sich nicht die Wahlen anschaut? Bei allen Problemen mit Wettbewerb und Abhängigkeit von der Staatsmacht zeigen Wahlen, wie repressiv ein System ist. Und sie spiegeln wider, wie homogen oder heterogen eine Gesellschaft ist. Selbst wenn das Messinstrument nicht ideal ist, kann es bei regelmäßiger Benutzung eine Dynamik aufzeigen.

    Wenn wir von den Wahlen sprechen, müssen wir zunächst die föderalen Wahlzyklen verstehen. Ein Zyklus dauert fünf Jahre und beginnt mit den Wahlen in die Staatsduma. Innerhalb dieses übergeordneten föderalen Zyklus finden alljährlich in unterschiedlich vielen Verwaltungseinheiten Regionalwahlen statt. 2021, im ersten Jahr des aktuellen Wahlzyklus, haben 39 Regionen ihre Parlamentswahlen zeitgleich mit den Wahlen in die Staatsduma abgehalten. Das erhöht den Einfluss der landesweiten Propaganda insbesondere in Regionen wie Sankt Petersburg, Perm und Krasnojarsk. Die Wahlen im zweiten Jahr betrafen die wenigsten Regionen und waren am unspektakulärsten: Von sechs Regionen sind vier in fester Hand der Regierungspartei, und die Höhe der Wahlbeteiligung entspricht dem Wahlergebnis für den Sieger.

    Es ist nun das dritte Jahr des Zyklus, in dem die Regionen wählen, die 2018 gewählt haben. Damals war gerade die Rentenreform beschlossen worden und Leute wie Sergej Furgal (Chabarowsk) und Walentin Konowalow (Republik Chakassien) wurden regionale Oberhäupter. Diesmal wurden 16 Parlamente neu gewählt, wenn man die annektierten Regionen in der Ukraine einmal beiseite lässt.

    Was die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und die Oblaste Cherson und Saporischschja angeht, die Russland unrechtmäßig angegliedert hat: Dort gibt es keine klaren Grenzen, es gibt keine Wählerlisten, viele Menschen sind auf der Flucht, niemand weiß, wie viele Wahlberechtigte es dort überhaupt gibt. Wie soll ein Wahlkampf unter den Bedingungen von Kämpfen, Kriegszustand und Ausgangssperre aussehen? Ich bezweifle, dass überhaupt eine Wahl im eigentlichen Sinne stattfindet. Natürlich bekommen wir Protokolle, aber was bei diesen Wahlen wirklich passiert, bleibt ein Geheimnis.

    Was das russische Staatsgebiet betrifft: Nur zwei der 16 teilnehmenden Subjekte wurden fest von der Regierungspartei kontrolliert – die Republik Baschkirien und die Oblast Kemerowo. Auch die Oblast Rostow gehörte bis zuletzt dazu, aber jetzt pendelt sie in Richtung Protest. Dort ist die Situation wegen der Flüchtlingsströme und der wachsenden Kriminalität angespannt, nicht zuletzt hatte Prigoshins Aufstand dort seinen Anfang genommen.

    In den übrigen 13 Regionen gibt es im Zuge der Wahlen durchaus einen gewissen Wettbewerb. Die meisten dieser Regionen liegen in Sibirien oder Fernost, wie die Republiken Chakassien, Burjatien und Jakutien, die Region Transbaikalien und die Oblast Irkutsk. Auch in vielen Gemeinden, etwa in Krasnojarsk oder Abakan, gibt es unter den Kandidaten eine gewisse Konkurrenz.  So auch in der Oblast Archangelsk und dem Autonomen Kreis der Nenzen, wo 2020 die Mehrheit gegen die Verfassungsänderungen stimmte. Weliki Nowgorod und Jekaterinburg sind zwei Regionen, in denen die Fraktion Jabloko vertreten sind.

    In den Regionen, in denen es politischen Wettbewerb gibt, ist im Vergleich zu 2022 eine Belebung des politischen Lebens zu beobachten, wie man an den aktuellen politischen Kampagnen sehen kann. Ich sehe zwei Hauptgründe für diesen Aufschwung: Der erste Grund ist historisch und geografisch bedingt. Einige Regionen – wie der hohe Norden – waren schon immer protest- und wettbewerbsfreudiger, die dortige Bevölkerung ist aktiv. Der zweite Grund ist die Stabilisierung des politischen Systems. Im vergangenen Jahr standen viele Menschen unter Schock und wussten nicht, wie es weitergehen soll. Jetzt sehen sie, dass das Regime stabil ist und nicht einfach so verschwindet. Es wird sich wahrscheinlich von innen heraus verändern, seinen eigenen Gesetzen folgend.

    Unterschiede zwischen den Kandidaten in Bezug auf die „militärische Spezialoperation“ sucht man vergeblich. Die meisten sprechen darüber einfach nicht. Die Trennlinie verläuft zwischen denen, die sie aktiv unterstützen, und denen, die zur Normalität zurückkehren wollen. Niemand kämpft entschlossen für das Ende der Spezialoperation. Die Parteien verhalten sich unterschiedlich: Die einen verbünden sich mit der Regierungspartei, die anderen setzen auf die Unterstützung der Wirtschaft. Aber es gibt keine Partei, die sich für den Frieden einsetzt. 

    Insgesamt hat die außenpolitische Thematik nichts mit den Regionalwahlen zu tun: Die Organe auf dieser Ebene haben keinen Einfluss auf derartige Entscheidungen. Sie kümmern sich um lokale Probleme wie Straßensanierung oder den Bau von Krankenhäusern. 

    Bei den Gouverneurswahlen, bei denen es keinerlei Wettbewerb gibt, ist die Spezialoperation im Wahlkampf kein Thema, höchstens als Schutzreaktion: Viele Gouverneure haben Angst, jemand könnte sie denunzieren oder sich über sie beschweren, also sichern sie sich ab, ziehen Uniformen an, besuchen in Camouflage Krankenhäuser und fahren an die Front.

    Der Rest der Wahlkampagne dreht sich um die soziale Absicherung: Unterstützung für die Familien derer, die eingezogen oder getötet wurden, Ferienprogramme für Kinder aus solchen Familien oder Hilfe für bestimmte soziale Gruppen aus der Ostukraine. Es gibt viele solcher Initiativen, ich würde sie als Teil der Sozialpolitik betrachten. Lokale soziologische Studien zeigen, dass Bedarf an Hilfe für Kriegsgeschädigte besteht und von den Menschen positiv aufgenommen wird. Wenn man die globalen Dinge schon nicht beeinflussen kann, will man wenigstens den Opfern helfen – diese Überzeugung herrscht auf regionaler Ebene.~~~Выборы — это не просто формальность, — это уникальный способ измерения общественных настроений, гигантский соцопрос. Как вы что то можете знать об обществе, если вы не изучаете выборы? При всех проблемах с конкуренцией и зависимостью от власти, выборы показывают степень контроля над обществом, отражают степень однородности или разнообразия общества. Даже если инструмент измерения не идеален, он может показать динамику, если используется постоянно.

    Когда речь идет о предстоящих выборах, важно понимать концепцию федерального электорального цикла. Он длится пять лет и считается от выборов Государственную думу. Внутри этого федерального большого цикла ежегодно неравномерными группами проходят выборы по регионам. В 2021 году, в первый год цикла, 39 регионов провели выборы своего парламента одновременно с Госдумой. Так происходит в последние годы, чтобы использовать преимущества федеральной пропаганды, особенно в таких регионах как Санкт-Петербург, Пермский и Красноярский край. Потом идет второй год цикла, он самый маленький и самый неинтересный: из шести регионов, четыре — это жестко управляемые, где процент явки совпадает с максимальными процентами за победителя.

    Сейчас третий год цикла, завершается срок полномочий в тех регионах, которые голосовали после пенсионной реформы в 2018 году. В этот период были избраны такие фигуры, как Фургал (Хабаровский край) и Коновалов (Республика Хакасия). Выборы пройдут в 16 законодательных собраниях, и если учесть объявленные присоединенными области Украины, их станет 20. Кроме того, будут выборы в городские советы крупных городов.

    Что касается ЛНР, ДНР, Херсонской и Запорожской областей, объявленных присоединенными, тут есть много вопросов. В первую очередь, отсутствие четких границ делает невозможным формирование одномандатных округов. Поэтому выборы будут проводиться только по партийным спискам, как областных советах, так и на городских местных выборах. Еще одной проблемой являются списки избирателей: из-за миграции по линии фронта никто точно не знает, сколько людей находится на территории этих областей. Конкуренции там, вероятно, не будет. Какая может быть агитационная кампания в условиях военных действий, военного положения и комендантского часа? Я сомневаюсь в том, что голосование в привычном понимании этого слова вообще состоится. Конечно, будут оформлены протоколы, но что на самом деле произойдет на этих выборах, остается загадкой.

    Не считая эти территории, из 16 участвующих субъектов только два — Республика Башкортостан и Кемеровская область — строго контролируются властью. Такой была и Ростовская область, но сейчас она колеблется в сторону протестности. Там сложная ситуация из-за миграции, ухудшения криминогенной обстановки, плюс там как раз начинался Пригожинский мятеж.

    Оставшиеся 13 регионов являются конкурентными в плане выборов. Большинство из них находятся в Сибири и на Дальнем Востоке, включая Хакасию, Забайкальский край, Бурятию, Якутию и Иркутскую область. Кроме того, многие муниципалитеты, такие как Красноярска и Абакана, также являются конкурентоспособными. Также конкуренция есть в Архангельской области и Ненецком автономном округе — в 2020 году там голосовали против изменений в Конституции. Великий Новгород и Екатеринбург — два региона, где представлена фракция Яблоко.

    В конкурентных регионах происходит оживление политической жизни по сравнению с прошлым годом, если судить по текущим политическим кампаниям. Я вижу две основные причины этого оживления. Первая причина историко-географическая. Так сложилось, что некоторые регионы, например Крайний Север, всегда были более протестны и конкурентоспособны, там живут активные люди. Вторая причина — это стабилизация политической системы. В прошлом году многие были в шоке и не знали, что делать дальше. Сейчас же стало понятно, что режим устойчив и не собирается никуда исчезать. Он, скорее всего, будет меняться изнутри, следуя своим внутренним законам. Поэтому дискурс меняется в сторону того, как выживать, и какие должны быть ставки в этом выживании.

    Искать различия между кандидатами на основе их отношения к СВО бессмысленно, так как большинство из них об этом просто не говорят. Основное разделение происходит между теми, кто активно поддерживает спецоперацию, и теми, кто за возвращение к нормальной жизни. Радикальных борцов за прекращение СВО нет просто из-за рационального поведения игроков. Партии ведут себя по-разному: одни ассоциируют себя с властью, другие строят кампанию на поддержке бизнеса. Но нет такой партии, которая бы выступала за мир. Есть партии войны, которые конкурируют друг с другом. И есть несколько партий здравого смысла. 

    В целом, внешнеполитическая тематика не имеет никакого отношения к региональным выборам: органы этого уровня не влияют на принятие таких решений. Идти на местные выборы с внешнеполитической повесткой — это вводить избирателей в заблуждение. Региональные органы власти решают локальные задачи, такие как ремонт дорог или строительство больницы.

    Там, где это выборы неконкурентные, губернаторские, СВО в избирательной кампании не для избирателей, а для системы. Это защитная реакция: многие губернаторы боятся, что на них кто-то донесет, пожалуется, поэтому они перестраховываются, надевают камуфляж, посещают госпитали и ездят на фронт.

    В остальном, агитационная история касается социальной защиты. Защита семей тех кто призван или погиб, выделение путевок детям из этих семей или помощь конкретным социальным группам из Восточной Украины. Таких инициатив много, и я бы рассматривал их как часть социальной политики. Судя по локальным социологическим исследованиям, запрос на помощь пострадавшим существует и вызывает одобрение людей. Раз на глобальные вещи повлиять не могут, то надо помогать тем, кто пострадал — такое убеждение присутствует на региональном уровне.[/bilingbox]


     

    Die Verlesung der Wahlergebnisse am 11. September 2023 / Foto © Maksim Blinov/Sputnik Moscow Russia/imago-images

    Grigori Judin: Russland braucht erfahrene Demokraten in Freiheit, nicht im Gefängnis

    [bilingbox]Für die Regierung sind Wahlen unabdingbar, weil die Legitimität in Russland auf demokratischen Prinzipien basiert. Das bedeutet nicht, dass bei uns Demokratie herrscht, aber darauf basiert eben die Legitimität der Regierung. Die Regierung behauptet, allen Entscheidungen würden auf Grundlage des Volkswillens getroffen. Daher müssen regelmäßig Wahlen stattfinden. Der Erste, der ein solches System eingeführt hat, war im 19. Jahrhundert Napoleon III. in Frankreich. Es war dem im heutigen Russland sehr ähnlich. Das gesamte Verwaltungssystem des Landes ist an der Durchführung dieser Wahlen beteiligt, um die demokratische Legitimität der Regierung zu unterstützen.

    Andererseits sehe ich einen Bedarf an echter Demokratie in Russland, der vor allem von unten kommt, nämlich auf der Ebene der regionalen Selbstverwaltung. Das ist weniger die Forderung nach fairen Wahlen als vielmehr der Wunsch, auf regionaler Ebene selbständig entscheiden zu können. Vor dem Hintergrund der Wahlfälschungen bleibt dieses Bedürfnis nach Demokratie leider oft unbemerkt. Aber es ist real und stimmt optimistisch. 

    Ich bewundere das Engagement von Menschen, die sich derzeit aktiv am politischen Leben beteiligen, und glaube daran, dass gerade solche Menschen in der Zukunft etwas verändern können. Derzeit jedoch, unter den aktuellen Bedingungen, wird ihr Tun wohl kaum zu wesentlichen Veränderungen führen. Ich will die Aktivisten nicht kritisieren und sie nicht öffentlich von ihrer Mission abbringen, aber sie gefährden sich selbst: Während sie früher ihren Job riskierten, landen sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach im Gefängnis. Gerade weil ich ja glaube, dass sie die Zukunft in der Hand haben, will ich nicht, dass sie in Haft sitzen. 

    Was den Zusammenhang zwischen den aktuellen Wahlen und dem bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf betrifft, so sind die aktuellen Wahlen für die Verwaltung eine Art Probelauf. Es geht nicht nur um die Darstellung der Ergebnisse, sondern auch um das Funktionieren des Systems. Peskow nannte das eine „kostenintensive Bürokratie“, und ich gebe ihm Recht. Das ist nicht nur Bürokratie, sondern eine Investition ins System. Wenn man das billig machte, würde das System nicht funktionieren – nicht, weil es nicht billiger ginge, sondern weil genau das der Sinn dahinter ist. Jetzt, ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen, ist es an der Zeit, die Funktionsfähigkeit des Systems unter den neuen Bedingungen zu testen, vor allem mit Rücksicht darauf, dass das System unter Stress steht. Doch das nächste große Plebiszit wird unter einem ganz anderen Druck stattfinden. ~~~Для правительства выборы необходимы, потому что в России легитимность строится на демократических принципах. Это не означает, что у нас демократия, но именно так устроена легитимация правительства. Правительство утверждает, что все решения принимаются на основе воли народа. Поэтому требуется регулярное проведение голосований. Такая система была впервые введена Наполеоном III во Франции в 19 веке и очень похожа на то, что происходит в России сейчас. Вся административная система страны работает на проведение этих выборов, чтобы поддерживать демократическую легитимность правительства.

    С другой стороны, я вижу запрос на настоящую демократию в России, который исходит, прежде всего, снизу — с уровня местного самоуправления. Это не столько требование честных выборов, сколько желание иметь возможность самостоятельно принимать решения на местном уровне. Этот демократический запрос, к сожалению, часто остается незамеченным на фоне проблем с фальсификацией выборов. Но он реален и внушает оптимизм.

    Я уважаю усилия тех, кто сейчас активно участвует в политической жизни, и верю, что именно такие люди в будущем смогут что-то изменить. Однако сейчас, в сложившихся условиях, их действия, скорее всего, не приведут к существенным изменениям. Я не критикую и публично не отговариваю активистов, но считаю, что сегодня их деятельность просто опасна для них самих, — если раньше их просто снимали отовсюду, то сейчас, вероятней всего, будут сажать. Именно потому, что я считаю, что за ними будущее, мне не хочется, чтобы их сажали.

    Что касается связи между текущими выборами и предстоящей президентской кампанией, то в административной логике текущие выборы являются своего рода репетицией. Важно не просто рисование результатов, а работающая система. Песков назвал это «дорогостоящей бюрократией», и я согласен с ним. Это не просто бюрократия, это инвестиция в систему. Если делать это дешево, система не будет работать, — не потому, что нельзя сделать дешевле, а потому что именно в этом и смысл. Сейчас, за полгода до президентских выборов, — время для проверки функционирования системы в новых условиях, особенно учитывая, что система находится под стрессом. Но следующий, большой, плебисцит будет проведен с совершенно другим уровнем давления.[/bilingbox]


    Julia Galjamina: Die Teilnahme an Wahlen gibt Aktivisten und Wählern Hoffnung

    [bilingbox]Ich finde es wichtig, an den Wahlen teilzunehmen, weil das eine Möglichkeit ist, gegen den Autoritarismus zu protestieren. Wir können und dürfen die Hoffnung nicht verlieren und müssen jede Gelegenheit nutzen, für unsere Werte einzustehen – für Frieden, Demokratie und politische Teilhabe. In jeder Situation und in jedem Kontext kann und muss man für seine Werte einstehen und entsprechend handeln, statt nur zu warten. 

    Es gibt drei triftige Gründe, an den Wahlen teilzunehmen: die Unterstützung des aktiven Teils des politischen Spektrums in Russland, die Repolitisierung der Gesellschaft und die Einflussnahme in den jeweiligen Städten. Die Wahlkampagne der Jabloko-Kandidaten in Weliki Nowgorod zum Beispiel ist im ganzen Land bekannt und gibt allen ein Fünkchen Hoffnung – den Aktivisten genauso wie den einfachen Wählern. 

    Wie viele Kandidaten überhaupt zu den Kommunalwahlen zugelassen werden, ist regional unterschiedlich. In Krasnojarsk zum Beispiel wurden alle Kandidaten zugelassen, aber ihre Zahl lässt zu wünschen übrig. Einer der Gründe dafür ist, dass es keine politische Kultur und keine Akteure gibt, die systematisch und nicht nur vor den Wahlen an die Öffentlichkeit gehen. In Jekaterinburg im bereits erwähnten Weliki Nowgorod, und im erweiterten Stadtgebiet von Moskau, wo permanent und systematisch gearbeitet wurde, gibt es viele Kandidaten, und die meisten von ihnen wurden auch zugelassen. In Belgorod wurden die wenigen unabhängigen Kandidaten nicht zugelassen, aber dort ist die Situation auch sehr angespannt

    Generell werden derzeit nicht so viele unabhängige Kandidaten aufgestellt und registriert. Aber ich finde nicht, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. In einer konkreten Stadt kann sogar ein einziger Abgeordneter eine große Stütze für die Bevölkerung sein. So hat beispielsweise der einzige unabhängige Abgeordnete in meinem Bezirk geschafft zu verhindern, dass das Parken in den Innenhöfen kostenpflichtig wird. Auch wenn nur wenige handeln, schöpfen viele daraus Hoffnung. Deshalb muss man weiter mit gutem Beispiel vorangehen, in Übung bleiben und die über Jahre gesammelte Erfahrung mit Wahlkampagnen wachhalten.~~~Мне кажется, участие в выборах важно, потому что это один из способов сопротивления авторитаризму. Мы не можем и не должны терять надежду и использовать все возможности для продвижения своих ценностей, таких как мир, демократия и политическое участие. Сегодня с двух сторон нам навязывается двойственное видение мира: страшная тьма и прекрасный свет. Только стороны света и тьмы меняются в зависимости от того, чья это пропаганда. Но нужно противостоять этой большевистской логике. В любой ситуации, в любом контексте можно и нужно продвигать свои ценности и действовать, а не просто ждать.

    Можно выделить три главных смысла участия в выборах: поддержание активной части политического спектра России, реполитизация общества и локальное воздействие в каждом городе. Пример кампании, которую показывают, например, кандидаты от «Яблока» в Великом Новгороде (участники Земского съезда) становятся известными во всей стране и дают луч надежды всем — и активистам, и простым избирателям.

    Ситуация с количеством и регистрацией кандидатов на муниципальных выборах различается по регионам. В Красноярске, например, кандидаты были зарегистрированы, но их количество оставляет желать лучшего. Одна из причин — отсутствие сложившейся культуры политических партий и действующих игроков, которые работали бы системно, не только в период выборов. А вот в Екатеринбурге и упомянутом Великом Новгороде, в Новой Москве, где велась постоянная системная работа, — кандидатов много и большинство из них зарегистрировали. В Самаре и Воронеже, несмотря на системную работу оппозиции, просто мало мест разыгрывается, так как проводятся довыборы, поэтому кандидатов не регистрируют. В Белгороде немногочисленных независимых кандидатов тоже не зарегистрировали, но там ситуация тоже очень напряженная.

    В общем, независимых депутатов сейчас и выдвигается и регистрируется не так много. Но я не согласна, что это капля в море. В конкретном городе даже один депутат может стать большим подспорьем для местных жителей. Например, единственный депутат в моем районе смог остановить введение платных парковок во дворах. Пусть немногие действуют, но многие испытывают надежду. Поэтому важно продолжать показывать пример, сохранять практики, навыки и предвыборный опыт, наработанный годами.[/bilingbox]


    Übersetzung: Ruth Altenhofer und Jennie Seitz

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    Die einen würden am liebsten eine gigantische Mauer um Russland bauen, während andere insgeheim darauf hoffen, dass alles möglichst bald wieder so weiter gehen möge wie vor dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr. Wie kann ein Miteinander in Europa aussehen, wenn nach Putin womöglich der nächste Putin kommt? Wie kann die russische Gesellschaft Angst und Hilflosigkeit überwinden und welche Rolle spielt dabei die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur? Darum geht es im zweiten Teil des großen Meduza-Interviews mit dem Moskauer Soziologen Grigori Judin, der darin auch leise Hoffnungen auf ein „unausweichliches neues Russland“ äußert.

    Hier geht es zum ersten Teil des Interviews.

    Margarita Ljutowa: Wie hat sich im vergangenen Jahr das Bild von Putin und Russland im Westen verändert? Meinen Sie, man hat jetzt das Ausmaß der Bedrohung begriffen, das bis 2022 wohl unterschätzt wurde?

    Grigori Judin: Bisher wurde zugegeben, dass die vormals herrschenden Vorstellungen [über Russland] grundfalsch waren. Was daraus folgt, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen bedenken, dass niemand auf diese Entwicklung vorbereitet war und daher noch immer ein reaktives Verhalten überwiegt. 

    Es gibt eine unübersehbare „Partei des 23. Februar“: Das sind Leute, die die Aggression verurteilen, sich aber wünschen, dass das alles irgendwie vorbeigeht und man dann wieder weitermachen kann wie früher. Das ist in erster Linie das globale Kapital, das nicht versteht, wieso es wegen irgendeiner Ukraine Geld verlieren soll. Ein beachtlicher Teil der westeuropäischen Geschäftswelt macht keinen Hehl daraus, dass das ein optimales Szenario wäre, und erwartet, dass die Ukraine endlich einen Teil ihres Territoriums abgibt. 

    Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen

    Die einen versuchen, die Ukraine offen unter Druck zu setzen (solche Initiativen gibt es, wenn auch nicht vorherrschend, in Deutschland), die anderen warten einfach darauf, dass die Widerstandskraft versiegt. Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen, und er nicht vorhat, mit jemandem zu reden. Wenn für ihn jedoch die Zeit kommt, seine Eroberungen abzusichern, dann wird die Situation eine andere Wendung nehmen – und er weiß von diesen Stimmungen [im Westen – dek], er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann. 

    Putin weiß von diesen Stimmungen, er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann

    Viele Politiker sehen das anders und wissen um die Gefahren eines solchen Szenarios. Um ihm jedoch eine Alternative anzubieten, bräuchte man eine Art Zukunftsvision, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland und den gesamten Kontinent. Und da kommt es zu Schwierigkeiten. Der am stärksten in den Krieg involvierte Teil Europas besteht darauf, dass Russland keine andere Zukunft haben kann – es ist für sie ein „genetisch geschädigtes“ Land, das dazu verdammt ist, eine Gefahr darzustellen. Nach Putin kommt wieder Putin – in dem Punkt stimmen die Vertreter dieser Position mit [dem Sprecher der Staatsduma] Wjatscheslaw Wolodin überein. Die Bilder von der bestialischen Brutalität der russischen Soldaten verstärken solche Sichtweisen. 

    Aber was folgt daraus? Natürlich könnte man rund um Russland eine Mauer bauen und sie mit Maschinengewehren bewachen. Dann wäre es aber in der gesamten Region vorbei mit der Sicherheit, denn das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg, und man kann nicht abschätzen, was davon für alle schlimmer ist. 

    Natürlich könnte man um Russland eine Mauer bauen. Das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg

    Rational denkende Menschen wie [der französische Präsident] Emmanuel Macron verstehen, dass man Sicherheit nicht erzielen kann, ohne Russlands Interessen zu berücksichtigen. Weil aber Macron auch davon überzeugt ist, dass Russland immer einen Putin haben wird, kommt er zu dem logischen, aber absolut aussichtslosen Schluss, dass man mit Putin verhandeln muss. Und tatsächlich, solange niemand Russland von der Landkarte tilgen will und zwischen Russland und Putin ein Gleichheitszeichen steht, wird man Putin entgegenkommen müssen. Jene Menschen, die mit Schaum vorm Mund allen einzureden versuchen, dass Russland zum ewigen Putin verdammt ist, bekommen am Ende konsequenterweise Spitzenpolitiker, die Verhandlungen mit Putin anstreben – obwohl sie allem Anschein nach das genaue Gegenteil erreichen wollen. 

    Diesen Knoten wird man nicht lösen können, solange die Frage nach der Vertretung von Russlands Interessen im Raum steht. Russland hat wie jedes andere Land auch ein Recht auf Sicherheitsgarantien – alles andere führt zu Instabilität. Es ist natürlich sinnlos, dieses Thema mit Putin zu besprechen. Um also zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann, wie es Wolodymyr Selensky nüchtern formuliert.   

    Um zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann

    Das wird übrigens endlich die Voraussetzung dafür schaffen, dass die feigen russischen Eliten aktiv werden. Gerade die müssen sich vergegenwärtigen, dass ihre Zukunft nicht von einem Menschen allein abhängt, dass Russland irgendwann auch ohne Putin weiterbestehen wird. Solange Russland mit seiner jetzigen Regierung gleichgesetzt wird (oder genauer gesagt, nicht einmal mit der Regierung, sondern mit dem einen Menschen, der seinen Sicherheitsrat mit dem Angriff auf die Ukraine in einen totalen Schock versetzt hat), ist kein Ausweg in Sicht. Im Interesse aller muss man das eine vom anderen trennen. Der einzige Mensch, der ein Interesse an dieser Gleichsetzung hat, ist Wladimir Putin. 

    Was kann man machen, um diese Gleichsetzung aufzuheben? Man denkt da sofort an Belarus, das nach den Massenprotesten wohl von niemandem mehr mit Lukaschenko gleichgesetzt wird. Braucht es also Massenproteste? Oder irgendeine Exilregierung, die der Welt den Entwurf eines neuen Russland präsentiert?

    Diese beiden Dinge schließen einander nicht aus. Sicherlich würde eine ernstzunehmende Bewegung wie in Belarus, die endlich den tyrannischen Charakter dieser Regierung aufdeckt, zweifellos helfen. Eine solche Bewegung kann aber auch angeregt werden, indem man ein alternatives Russland skizziert. Zumal die Voraussetzungen dafür, wie mir scheint, gar nicht so schlecht sind: Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland. Russland ist ein ziemlich großes Land, es verfügt über genügend Ressourcen, junge, aktive Schichten, die die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Putin versucht mit aller Kraft, das unausweichliche neue Russland zu verhindern, in dem für ihn kein Platz sein wird. 

    Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland

    Nach zwei Jahrzehnten unter Putin verlieren die Russen natürlich die Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen. Aber das Leben wird dafür sorgen, dass wir unsere Phantasie ein bisschen mehr anstrengen. Unser Land ist in eine Sackgasse geraten, mit der Zeit werden wir nicht umhinkommen, das zu begreifen. Wir haben einfach noch ein paar Meter vor uns, also bewegen wir uns weiter. Aber es ist eine Sackgasse, sie führt nirgendwohin. 

    Als wir vor diesem Interview unsere Gesprächsthemen festlegten, sagten Sie zur Frage des aktuellen Zustands der russischen Gesellschaft, zu ihrer Atomisierung, zur kollektiven Handlungsunfähigkeit, dass das Reden über das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit nur noch verstärken würde, was Sie aber vermeiden wollen. Gibt es Methoden, zu der Gesellschaft zu sprechen, ohne dieses Ohnmachtsgefühl zu nähren?

    Während die primäre Emotion in Russland Kränkung ist, ist der stärkste Affekt, um den sich heute alles dreht, die Angst. Existenzielle Angst – Angst vor dem Zorn eines konkreten Menschen oder Angst vor dem Krieg, und eine abstraktere Angst vor dem Chaos. Angst, multipliziert mit der Gewissheit, dass der Tyrann allmächtig ist und auf jeden Fall bekommt, was er will: Bisher hat er es immer bekommen, also wird es auch weiterhin so sein. Diese mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst, die braucht eine Antwort. 

    Die mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst braucht eine Antwort

    Angst treibt man mit Hoffnung aus. Das ist der gegenteilige Affekt. Man muss den Menschen Hoffnung geben. Insofern sind die nachvollziehbaren, begründeten Vorwürfe [gegen die Menschen in Russland] politisch perspektivlos. Noch mal: Sie sind verständlich, begründet und legitim, aber politisch aussichtslos. Wir haben es mit Menschen zu tun, die von ihrer eigenen Machtlosigkeit überzeugt und verängstigt sind, und Sie wollen ihnen noch zwei Kilogramm Schuld aufladen. Was soll dabei herauskommen?

    Die Frage ist, wie man in dieser Situation Hoffnung gibt. Die Hoffnung besteht gerade darin, zu zeigen, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte. Und die Wahrheit ist: Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören – denn das macht ja Angst, dann müssten sie etwas am Status quo ändern. Und der ist bedrohlich genug, um sich nicht mit ihm anzulegen.

    Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte

    In Russland ist jeder normative Diskurs längst im Keim erstickt: Es ist schon lange so gut wie unmöglich, danach zu fragen, wie man eine Gesellschaft aufbauen sollte, wie das auf gerechte, ehrliche und gute Weise gelingt. Schon vor Jahren haben mir Menschen [bei Umfragen] auf solche Fragen geantwortet: „In Russland? Gar nicht.“ Das zeigt, dass der normative Diskurs unterdrückt ist, aber die Nachfrage danach wird unweigerlich steigen, je mehr den Menschen diese Sackgasse bewusst wird. Dann ist es wichtig, dass sie Hoffnung haben.

    Gibt es in diesem Leben in Angst multipliziert mit Hoffnungslosigkeit einen Point of no Return, einen Moment, nach dem die Hoffnung die Menschen nicht mehr erreicht? Wenn einer, der einen Plan für eine „wundervollen Zukunft“ vorlegt, nicht mehr gehört wird?

    Das weiß ich nicht. Wenn wir von Affekten sprechen – die sind nie für die Ewigkeit. Aber können wir uns vorstellen, dass ein Affekt, wenn er auf die absolute Spitze getrieben wird, das soziale Umfeld dermaßen zerstört, dass man daraus nichts mehr bauen kann?

    Ich glaube daran, dass die russische Kultur Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden

    Ich glaube an Russland. Ich glaube an die russische Kultur im konkreten Sinn – ich glaube daran, dass sie Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden. Darin liegt ihre Stärke. Nicht darin, dass Puschkin ein großer Dichter war. Sondern darin, dass sie eine Fundgrube für Weisheiten und Ratschläge ist, für Antworten auf die Fragen, die uns heute beschäftigen. Ich glaube, dass die russischen Denker, Schriftsteller, die intellektuellen Ressourcen, die wir haben, unsere Traditionen und Gewohnheiten, Antworten auf diese Herausforderung enthalten.

    Sie haben sicher den Diskurs vor Augen, der im Moment in Verbindung mit der russischen Kultur meistens geführt wird: dass sie imperial ist, eine Sklavenmentalität herangezüchtet und genährt hat usw. …

    Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Der Zusammenbruch des Imperiums ist ein guter Moment dafür. Erschöpft sich die russische Kultur darin? Nein, das tut sie nicht. Dasselbe gilt auch für [das Werk eines] konkreten Autors. Kann man bei einem konkreten Autor imperiale Ideen finden? Man kann und man sollte. Aber muss man ihn deswegen im Ganzen verschmähen oder gutheißen? Man muss diese Person ja nicht mit all ihren Fehlern heiraten.

    Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen

    Kultur entwickelt sich weiter, indem sie sich selbst verarbeitet, auch indem sie sich selbst kritisiert. Aber Kritik darf keine Selbstverleugnung sein. Dann weißt du ja schlichtweg nicht mehr, wer du bist und was du kritisierst: Wenn man sich selbst verleugnet, von welchem Standpunkt aus übt man dann Kritik? Eine Kultur kann nicht ausschließlich imperial sein, sonst gäbe es auch keine Imperialismuskritik – es muss ja etwas vorhanden sein, was diese Kritik hervorbringt.

    Die Kultur schafft selbst die Standpunkte für Selbstkritik. Daran ist nichts demütigend, es ist kein Problem, sie [die imperialen Ideen] in der russischen Kultur aufzuspüren, sie herauszustellen und zu analysieren, wie sie mit anderen Elementen zusammenhängen. Nein, sie erschöpft sich nicht darin. Genauso wie sich die deutsche Kultur nicht im deutschen Imperialismus erschöpft oder die britische Kultur im britischen.

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    „Dieser Krieg wird nie aufhören“

    Grigori Judin gehört derzeit zu den gefragtesten Stimmen in unabhängigen russischen Medien und das nicht ohne Grund: Nur wenige Experten im dortigen Diskurs haben den russischen Überfall auf die Ukraine so präzise vorhergesagt wie Judin, der zwei Tage vor Beginn des Großangriffs am 24. Februar 2022 in einem Gastbeitrag für openDemocracy schrieb, Putin sei kurz davor, „den sinnlosesten Krieg unserer Geschichte“ zu beginnen. 

    Ein Jahr später spricht der Moskauer Soziologe mit Margarita Ljutowa von Meduza über seine aktuelle Einschätzung der Lage. Im ersten Teil geht es um das Gefühl der Kränkung in der russischen Gesellschaft als Nährboden für einen „ewigen Krieg“, bei dem es um weit mehr als die Ukraine geht, und warum Putin trotz der Rückschläge glaubt, alles richtig gemacht zu haben.

    Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews.

    „Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen“ – Soziologe Grigori Judin im Interview mit Meduza / Foto Screenshot aus Skashi Gordejewoi/Youtube

    Margarita Ljutowa: Die heutige Politik Russlands wird von vielen so verstanden, dass für Putin der Krieg ein endloses Unternehmen ist. In seiner jüngsten Botschaft an die Föderationsversammlung hat er das wohl wieder bekräftigt: Er verlor kein Wort darüber, wie Russlands Sieg aussehen soll und was danach kommt. Was meinen Sie, ist Putins Plan tatsächlich ein ewiger Krieg?

    Grigori Judin: Ja, natürlich, dieser Krieg wird nie aufhören. Er hat keine Ziele, nach deren Erreichen er beendet werden könnte. Er wird einfach immer weitergehen, weil „sie“ [in Putins Vorstellung] Feinde sind und uns töten wollen – und wir sie. Für Putin ist das eine existenzielle Konfrontation mit einem Gegner, der vorhat, ihn zu vernichten. 

    Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen

    Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen. Er wird sich immer weiter ausdehnen.

    Die russische Armee wird in aller Eile vergrößert, die Wirtschaft auf Kanonen umgestellt, und Bildung wird zum Werkzeug von Propaganda und Wehrerziehung. Das Land wird auf einen großen, schweren Krieg vorbereitet.      

    Und dann ist ein Sieg für Putin von vornherein unmöglich?

    Absolut unmöglich. Den setzt sich auch niemand zum Ziel, es gibt keine Definition, was überhaupt ein Sieg wäre.

    Ist das Kriegsziel also einfach Wladimir Putins Machterhalt?

    Das ist ungefähr dasselbe: Putin stellt sich seine Regentschaft als Dauerkrieg vor. Putin und sein Umfeld erzählen uns seit Jahren, dass gegen uns Krieg geführt wird. Manche haben das lieber ignoriert, aber [Putin und sein Umfeld] glauben wirklich, dass sie schon lange in einen Krieg verwickelt sind. Nur ist dieser Krieg inzwischen in eine so aggressive Phase eingetreten, dass es offenbar keinen Ausweg mehr gibt. In dieser Weltsicht ist Krieg grundsätzlich die Norm. Hören Sie einfach auf, Frieden für den Normalzustand zu halten – dann sehen Sie die Situation mit deren Augen. Wie [Natalja Komarowa,] die Gouverneurin des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen sagte: „Der Krieg ist ein Freund.“ 

    Am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem Einmarsch in der Ukraine, erschien auf der Website von openDemocracy ein Artikel von Ihnen, in dem Sie sowohl den drohenden großen Krieg als auch Putins Gleichgültigkeit gegenüber den Sanktionen beschrieben, mit denen die westlichen Länder auf diesen Krieg reagieren würden. Im zweiten Teil erörterten Sie, dass der Krieg gegen die Ukraine „einer der sinnlosesten Kriege der Geschichte“ werden würde. Was meinen Sie, hat die russische Gesellschaft im vergangenen Jahr begonnen, das zu begreifen?

    Nein, ich glaube nicht. Sehr viele haben das sofort deutlich gesehen, diese Gruppe hat jedoch seitdem keinen Zuwachs bekommen. Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet, und genau hier befindet sich Wladimir Putin ausnahmsweise in Resonanz mit weiten Teilen der Gesellschaft. Zwar teilt keineswegs die ganze Gesellschaft seine wahnhaften Theorien, aber hier trifft er auf Resonanz und produziert darüber hinaus auch noch selbst diese Emotion. Diese Emotion ist Kränkung, eine ungeheure, grenzenlose Kränkung. Eine Kränkung, die durch nichts gelindert werden kann. An eine produktive Gestaltung internationaler Beziehungen lässt sich unter diesen Umständen nicht einmal denken.

    Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet: eine ungeheure, grenzenlose Kränkung

    Wissen Sie, das ist wie bei einem Kleinkind, das beleidigt ist und den anderen Schaden zufügt. Dieser Schaden wird immer größer und größer, und irgendwann fängt das Kind an, anderen Leuten und gleichzeitig sich selbst das Leben zu zerstören. Aber dem Kind ist das nicht bewusst, es kommt nicht auf die Idee, dass es an den Beziehungen arbeiten muss.

    In Russland gibt es ein schönes Sprichwort: „Beleidigte sind gut fürs Wasserschleppen.“ Eines Tages werden wir verstehen, dass sich diese Kränkung gegen uns selbst richtet, dass wir uns selbst damit schaden. Aber noch halten zu viele von uns an ihrer Gekränktheit fest.           

    Von wem fühlen sich denn Putin und die russische Gesellschaft so gekränkt? Von der ganzen Welt? Vom Westen? Den USA?

    Von der Weltordnung insgesamt, die ungerecht erscheint, und folglich von dem, der als Senior-Partner die Verantwortung für diese Welt übernimmt, also von den USA. Das sind Vorwürfe gegen die ganze Welt – in dem Sinn, dass das menschliche Leben einfach schlecht konstruiert ist. 

    Ich muss immer an eine Aussage von Putin Mitte 2021 denken. Er sagte damals völlig ohne Anlass, es gebe im Leben überhaupt kein Glück. Das ist eine starke Aussage für einen politischen Leader, der ja eigentlich von der Idee her das Leben der Menschen verbessern, ihnen irgendwelche Ideale, Anhaltspunkte vermitteln sollte. Und da sagt dieser Mensch [sinngemäß]: „Im Leben gibt es kein Glück. Die Welt ist generell ein schlechter, ungerechter, schwer erträglicher Ort, an dem die einzige Daseinsform darin besteht, permanent zu kämpfen, sich zu prügeln und im Extremfall zu töten.“   

    Dieses Beleidigtsein auf die ganze Welt ist in Russland stark verwurzelt, und es wird auf den projiziert, der vermeintlich für diese Welt verantwortlich ist: die USA. Die Vereinigten Staaten haben tatsächlich ab einem gewissen Punkt die weltweite Verantwortung übernommen – was nicht immer von Erfolg gekrönt war. Und wir sehen, dass das Ressentiment, von dem ich jetzt spreche, wahrlich nicht nur in Russland existiert (wo es katastrophale, schauderhafte Formen annimmt).

    Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, neigen dazu, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen

    In einem großen Teil der Welt gibt es eine durchaus begründete Kritik an der herrschenden Weltordnung, an die Adresse der USA, die die Verantwortung übernommen haben, zum Hegemon wurden und in vielen Aspekten Nutznießer dieser Ordnung sind. Wir sehen, dass jene Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, dazu neigen, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen. Das ist der globale Süden, der seit Jahrzehnten unter einer immer stärkeren Ungleichheit leidet und teilweise auch, zumindest symbolisch, unter den wahnwitzigen außenpolitischen Abenteuern, in die sich die USA gestürzt haben. Dasselbe gilt für Teile der Bevölkerung des globalen Nordens, die sich ebenfalls gekränkt und als Opfer fühlen. Fast überall, wo man diesem Ressentiment begegnet, trifft man auch auf ein größeres Verständnis für Putins Vorgehen.     

    Ich würde nicht sagen, dass dieses Verständnis in Unterstützung umschlägt – Putin hat nämlich nichts anzubieten. Er reproduziert einfach ständig dieselben Fehler, nur in immer schrecklicheren Dimensionen. Einer meiner Kollegen formulierte mal sehr treffend das Grundprinzip der russischen Außenpolitik: „Was die anderen nicht dürfen, können wir auch.“ Es ist ja kaum zu übersehen, dass Putin genau das anstrebt, wofür er die USA kritisiert. Insofern ist es schwierig, ihn [im Ausland] zu unterstützen, aber viele wollen sich ihm in dieser Gekränktheit anschließen.  

    Gab es dieses Ressentiment in der russischen Gesellschaft schon vor Putin, also in den 1990ern? Oder wurde es erst unter Putin gezüchtet?

    In jeder Gesellschaft gibt es immer die unterschiedlichsten Emotionen. Ein Politiker muss immer herausfinden, auf welche er setzt. Einige Gründe für diese Gekränktheit gab es [in der russischen Gesellschaft] natürlich durchaus. Sie haben mit der belehrenden Rolle zu tun, die die Vereinigten Staaten und teilweise auch Westeuropa einnahmen. Ideologisch verpackt wurde das in der Modernisierungstheorie, der zufolge es entwickelte Länder und Entwicklungsländer gibt. Und die entwickelten belehren – durchaus wohlwollend und unterstützend – die Entwicklungsländer: „Leute, macht das mal lieber so und so.“ Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land, das selbst eine imperiale Vergangenheit hat. 

    Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land mit imperialer Vergangenheit

    In Wirklichkeit war die Situation, die sich in den 1990er Jahren entwickelte, viel komplexer. Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland [nach dem Zerfall der UdSSR] zu einer ganzen Reihe führender internationaler Foren eingeladen wurde und Einfluss auf große globale Entscheidungen hatte. Erinnern wir uns an die Kehrtwende des damaligen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow über dem Atlantik, an die von Jelzin angeordnete Entsendung von Truppen nach Jugoslawien – mit einem Wort, auf Russland musste man hören. Es gab jedenfalls diplomatische Ressourcen, die man hätte ausbauen können und müssen. 

    Aber diesen belehrenden Ton [Russland gegenüber], den gab es durchaus. Er war das Ergebnis eines schweren ideologischen Fehlers. Angesichts des gescheiterten sozialistischen Projekts glaubten viele, es gäbe nur den einen geraden Weg: die berühmte Theorie vom „Ende der Geschichte“. Insofern ja, die Voraussetzungen für Ressentiments waren vorhanden, aber es gab auch welche für andere Emotionen.    

    Es gab etliche konkurrierende Narrative über den Zerfall. Eines davon war die Volksrevolution

    Außerdem war die Beschreibung und das Erleben des Zusammenbruchs der UdSSR als katastrophale Niederlage ganz bestimmt nicht vorprogrammiert, es gab etliche konkurrierende Narrative [die die Bedeutung des Zerfalls für die Bevölkerung beschrieben]. Eines davon bestand darin, dass es sich um eine Volksrevolution gehandelt habe, ein ruhmreicher Moment in der Geschichte des russischen und anderer Völker, weil es ihnen gelungen ist, ihr verhasstes, tyrannisches Regime zu stürzen. Dieses Konzept hätte natürlich nicht in die Kränkung geführt.     

    Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden. Er hat dieses Gefühl immer weiter geschürt

    Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden, was wohl teilweise mit seiner Persönlichkeit zu tun hat. Wobei es auch kein Zufall ist, dass ausgerechnet ein Mensch an die Spitze kommt, der eine angeborene Gekränktheit mitbringt. In der Folge hat Putin dieses Gefühl immer weiter geschürt. Und Kränkung ist ansteckend. Es ist eine bequeme Emotion: Erstens fühlst du dich die ganze Zeit im Recht, zweitens unverdient niedergemacht. 

    Sie haben mehrfach geäußert, dass Putin Ihrer Meinung nach in der Ukraine nicht Halt machen wird. Was meinen Sie damit genau? Moldawien, die baltischen Länder oder einen selbstzerstörerischen Krieg gegen die USA?

    Diese Art von Weltbild kennt im Grunde keine Grenzen. „Russland hört nirgendwo auf“ ist praktisch die offizielle Formel. Das ist die Standard-Definition eines Imperiums, denn ein Imperium erkennt keine Grenzen an.

    Die ersten Grenzen in Europa entstanden 1648, mit dem Westfälischen Frieden, der das Ende der Imperien einleitete. Da kam erstmals der Gedanke auf, zwischen den Ländern Grenzen zu ziehen: „Hier sind wir, da seid ihr.“ Ein Imperium erkennt diesen Gedanken nicht an: „Wir sind da, bis wohin wir gekommen sind. Und ihr seid dort, wo wir noch nicht sind. Sobald wir da sind, seid ihr weg.“

    In dieser Logik gibt es prinzipiell keine Grenzen, und es ist kein Zufall, dass wir nie hören, dass Russland irgendwelche Grenzen offiziell anerkennt. Wir bekommen höchstens das unbestimmte Gefühl mit, dass es irgendwo einen Westen gibt, und der ist uns irgendwie fremd. Nicht, dass er so gar nicht zu uns gehören würde, aber doch beginnt dort ein Bereich, den man nur noch sehr schwer einnehmen kann. Der Westen natürlich in dem [ideologischen] Sinn, den er in der Sowjetzeit innehatte.

    Putin sagte ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei

    Ich möchte an das Ultimatum [von Putin gegenüber den USA und der NATO] vom Dezember 2021 erinnern: Damals sagte Wladimir Putin ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei. Wie das formell aussehen wird, mit oder ohne Verlust der formellen Souveränität – was spielt das für eine Rolle? Diese Einflusssphäre umfasst zweifellos auch die ehemalige DDR, einfach weil Wladimir Putin damit persönliche Erinnerungen verbindet. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass er dieses Territorium nicht als seines betrachtet. Putin hat definitiv vor, die Zone des Warschauer Paktes wiederherzustellen – und dann mal schauen, wie es läuft.

    Ich höre oft: „Das ist doch Unfug, wie soll das funktionieren? Das ist irrational, das ist Wahnsinn, dazu hat er gar nicht die Möglichkeiten!“ Ich erinnere daran, dass das Gleiche vor Kurzem noch über die Ukraine gesagt wurde. Oder über Moldau, und jetzt hören wir, dass die moldauische, die ukrainische und die Regierung der USA Moldau als ernsthaft bedroht einschätzen. Wir haben bereits gesehen, dass Moldau in den Plänen der aktuellen Militäroperation immer wieder vorkam, es hat sich nur noch nicht ergeben.

    Wir sollten zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass eine Handlung, die Person X unternimmt, zum Erfolg führt. Etwas anderes ist es, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass Person X diese Handlung unternimmt. Man mag zu Recht der Meinung sein, dass dieses Handeln zum Scheitern verurteilt ist, aber daraus folgt nicht, dass die Person es nicht tut. Nicht, weil die Person irrational wäre, sondern weil sie zum Beispiel der Meinung ist, keine andere Wahl zu haben.

    Die allgemeine [russische] Strategie sieht in etwa so aus: Wir greifen uns ein Stück, das wird für legitim erklärt, und im nächsten Schritt greifen wir uns auf Grundlage dieser Legitimität etwas anderes.

    Mithilfe eines Waffenstillstands können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden

    [In der Logik dieser Strategie] greifen wir uns, grob gesprochen, zuerst die Ostukraine, mithilfe eines wie auch immer gearteten Waffenstillstands. Auf diese Weise können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden. Die globale Wirtschaft hat somit einen guten Grund, nach Russland zurückzukehren (das sie größtenteils gar nicht verlassen hat), während im Gegensatz dazu unter solchen Bedingungen niemand in die Ukraine investieren wird. Das schafft die Voraussetzungen für einen weiteren Vorstoß [Russlands] in der Ukraine.

    Putin ist überzeugt, dass die NATO auseinanderbrechen wird, sobald die Zeit gekommen ist, Artikel 5 auf die Probe zu stellen

    Daraufhin werden in Europa bald Stimmen zu hören sein, die sagen: „Am Ende war es doch ihr Territorium, jetzt haben sie sich geeinigt und gut ist.“ Aber Moment mal, wenn das „ihr“ Territorium ist, russisches Territorium, weil man dort russisch spricht, was ist dann zum Beispiel mit dem Osten Estlands? Man kann antworten: Aber Estland ist in der NATO! Doch wird die NATO um Estland kämpfen? Putin ist überzeugt: Sollte Artikel 5 der NATO zum richtigen Zeitpunkt auf die Probe gestellt werden, dann würde die NATO auseinanderbrechen. Und das aus einem einfachen Grund: Sie wissen im Grunde, dass sie sich etwas genommen haben, das ihnen nicht gehört, und deswegen werden sie kneifen und nicht darum kämpfen, wenn es ernsthaft bedroht wird.

    Wenn niemand in Westeuropa bereit ist, für die Gebiete im Osten zu kämpfen (zur Erinnerung: All das geschieht [in diesem Szenario], nachdem Russlands Annexion ukrainischer Gebiete durch unterschriebene Dokumente legitimiert wurde), dann gibt es da natürlich noch die USA. Aber die USA könnten zu diesem Zeitpunkt bereits einen anderen Präsidenten haben, dem Osteuropa nicht so wichtig ist.

    Putin wird so viel bekommen, wie man ihm lässt

    Lassen Sie mich klarstellen: Ich halte das Gesagte nicht für das wahrscheinlichste Szenario. Es beschreibt Putins Strategie, aber Putin beherrscht nicht die Welt – er wird so viel bekommen, wie man ihm lässt. Aber völlig ausgeschlossen ist das alles nicht. Ich spreche von durchaus realistischen Dingen.

    Man kann sich gut vorstellen, dass Putin und sein engster Kreis am 24. Februar 2022 so gedacht haben. Aber es ist ein Jahr vergangen – und der Westen ist nicht zersplittert, mehr noch, er leistet der Ukraine spürbare Unterstützung. Ist es denkbar, dass dieses Jahr und die Ergebnisse der russischen Militärkampagne sich auf die Weltsicht, die Sie gerade beschrieben haben, ausgewirkt haben?

    Ja, bestimmt. Ich nehme an, Wladimir Putin ist jetzt überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Selbst wenn er Zweifel hatte, dann [weiß er jetzt, dass sie] unberechtigt [waren]. Dieses letzte Jahr hat ihm gezeigt: Wenn der Westen so sehr an der Ukraine hängt, dann ist sie offenbar doch eine Schlüsselregion, von der aus man ihn angreifen wollte. Außerdem ist es [aus Putins Sicht] gut, dass die aktuellen Probleme sich vor dem echten Krieg offenbart haben, den die russische Führung für unausweichlich hält. Viel schlimmer wäre es [in ihrer Logik], mit dieser Armee in diesen [zukünftigen] großen Krieg zu gehen. Das heißt, alles, was geschieht, bestärkt Putin nur in seinen Ansichten.

    Der geplante Blitzkrieg um Kyjiw ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?

    Es gibt so eine Phrase: „Putin hat sich verkalkuliert“. Aber wir sollten endlich aufhören, Wladimir Putin so geringzuschätzen. Sicher, wir haben gesehen, dass ein Blitzkrieg um Kyjiw geplant war, und der ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?

    Dieser Krieg wurde jahrelang vorbereitet. Es wäre merkwürdig, wenn es nur einen Plan gäbe. Bei einem Machthaber, der seit Langem an nichts anderes denkt als an die Vorbereitung auf diesen Krieg, funktioniert das so nicht. [In Putins Logik klingt das so:] „Ja, es ist nicht perfekt gelaufen, aber das macht nichts, wir bleiben dran. Wir sind bereit, so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht. [Die Ukraine] gehört uns, und irgendwann werden sie das einsehen und aufhören, ihre wertvollen Ressourcen zu opfern.“

    In Putins Logik klingt das so: Wir sind bereit so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht

    Ich sage nicht, dass diese Taktik funktionieren wird. Mehr noch, ich denke, dass Putins eigene Logik ihn zur Niederlage verdammt – unbewusst will er verlieren. Die Frage ist, wie viele Menschen sterben werden, bevor es dazu kommt. Aber wenn wir die Situation vorhersehen wollen, müssen wir die Logik verstehen, nach der die Menschen handeln [, die in Russland an der Macht sind].

    Gibt es Ihrer Meinung nach etwas, das Putin zwingen würde, sein Weltbild in Zweifel zu ziehen?

    Nein. Nichts.

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    „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine sofortige „Teilmobilmachung“ verkündet. Seine Rede war zunächst für den Dienstagabend angekündigt gewesen, das russische Staatsfernsehen strahlte sie schließlich am Mittwochmorgen, 21. September, aus.

    Wenige Stunden zuvor hatte die Duma noch Änderungen im Strafgesetzbuch beschlossen, die im Falle von „Kriegszeiten“ und „während einer Mobilmachung“ gelten sollen und verschärfte Strafen vorsehen: Demnach drohen für Fahnenflucht bis zu zehn Jahre, für Kriegsdienstverweigerung bis zu drei Jahre Haft. Beobachter werteten dies als ein weiteres Anzeichen für eine Mobilmachung in Russland. Bislang galt diese in Russland nicht, was an der Front zunehmend für Probleme sorgte: Recherchen der Novaya Gazeta Europe zufolge werden mitunter sogar Strafgefangene rekrutiert.

    Die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive hatte den Kreml massiv unter Druck gesetzt. Schon unmittelbar danach wurde das Wort „Krieg“ deutlich häufiger in Polittalkshows des Staatsfernsehens benutzt. Dies heiße allerdings nicht, dass der Kreml keine Kontrolle mehr über das offizielle Narrativ habe, erläuterte etwa dekoder-Gnosist Jan Matti Dollbaum auf 3sat Kulturzeit. Wohl aber könne das bedeuten, „dass das Narrativ sich ändert – dass es eine breitere Bevölkerungsmobilisierung vorbereiten soll“. 

    Dieses Szenario ist nun in Teilen eingetreten – die Teilmobilisierung betrifft offiziell erstmal Reservisten, dass damit auch Wehrdienstleistende in den Krieg geschickt werden, gilt unter manchen Beobachtern als wahrscheinlich. 

    Zugleich hat Russland am gestrigen Dienstag sogenannte „Referenden“ in den Kriegsgebieten DNR, LNR, Cherson und Saporishshja angekündigt. SWP-Expertin Sabine Fischer sieht darin auf Twitter Russlands Versuch, den Status Quo einzufrieren, weitere ukrainische Militäraktionen in den Gebieten als Angriff auf „russisches Territorium“ zu deklarieren und vor allem den Westen zu testen, wie weit dieser (ggf. auch angesichts weiterer nuklearer Drohungen seitens Russlands) an Waffenlieferungen und Unterstützung für die Ukraine festhält. 

    Ebenfalls auf Twitter hat der Soziologe Grigori Judin vergangene Woche kritische innerrussische Töne eingeordnet und Putins eigentliches Dilemma skizziert: Nämlich die Frage, wie lange er in Russland überhaupt eine Alltagsnormalität aufrechterhalten kann angesichts des Krieges, den Russland in der Ukraine führt. Wie lange der „Spagat“ zwischen einer entpolitisierten Mehrheit und einer mobilisierten radikalen Minderheit noch gelingt – die Antwort auf diese Frage könne entscheidend sein für die Dauer von Putins Regime.

    Der Thread von Grigori Judin ist auf Englisch verfasst. dekoder hat ihn dennoch übersetzt: Mit Grigori Judin spricht eine wichtige Stimme des kremlkritischen russischen Diskurses, der sich aufgrund der Zensur in Russland zunehmend auch in die sozialen Medien verlagert hat. Es spricht zudem ein Wissenschaftler, den dekoder mehrfach aus unabhängigen russischen Medien übersetzt hat. 

    Es gibt in Russland drei unterschiedliche Gruppen:

    1) Die Radikalen (15-25 Prozent) – eine beträchtliche, extrem laute Minderheit, die den Krieg aktiv unterstützt, sich einbringt, die Nachrichten verfolgt und in einigen wenigen Fällen sogar an die Front geht. Sie sind das Publikum von Militärbloggern, diversen Telegram-Kanälen und Vampiren wie Wladimir Solowjow oder Olga Skabejewa.

    2) Die Nicht-Einverstandenen (20-25 Prozent) – eine beträchtliche Minderheit, die den Krieg kategorisch ablehnt. Ihre Sichtweise ist in den in Russland ansässigen Medien verboten und wird generell unterdrückt.

    3) Die Laien (50-65 Prozent) – die passive, völlig entpolitisierte Mehrheit, die mit Politik und dem Krieg nichts zu tun haben will.

    Die Laien

    Die Laien bilden die Masse der Jasager, die sich für den Krieg aussprechen, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation oder sind Sie ein Landesverräter, der mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft gehört?“

    Die Laien schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw

    Sie sind diejenigen, die sorglos ihr Leben genießen, während in der Ukraine Menschen sterben. Das ist natürlich beklagenswert, doch die Kehrseite davon ist, dass sie auch keinesfalls gewillt sind, sich irgendwie selbst aktiv am Krieg zu beteiligen. Sie schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw (viele von ihnen könnten nicht einmal sagen, wo die Stadt eigentlich liegt).
    Die offiziellen Radio- und Fernsehnachrichten schützen sie vor solchen Informationen. Nicht unwichtig: Als das Fernsehen begann, harte Kriegspropaganda zu verbreiten, sanken die Einschaltquoten – die Laien wollten weiter ihre Seifenopern, Ernährungsberatung und Stand-up-Comedy sehen, keine langweilige Frontberichterstattung. 

    Die Radikalen

    Für die Radikalen war die ukrainische Gegenoffensive dagegen ein echter Schlag. Sie überboten sich mit Schuldzuweisungen und machten die Militärführung, einander und selbst Putin für diese Niederlage verantwortlich. Erstmals gibt es hitzige Diskussionen zwischen ihnen. Die Tonlagen reichen von relativem Optimismus („wir sollten uns um Putin scharen und Rache nehmen“) bis zu völligem Fatalismus („der Krieg ist verloren, das ist nicht zu ändern“). Was sie eint: Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft und eine aggressivere Kriegsführung. Sie sind sich einig, dass es für Russland ein Leichtes gewesen wäre, die Ukraine zu erobern, aber aus irgendeinem Grund (Verrat, Unfähigkeit, Großzügigkeit) führt es den Krieg mit gebundenen Händen. 

    Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft

    Diese Diskussion ist bemerkenswert. Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist. Es ist kaum zu überschätzen, wie viel Bedeutung dieser Mythos für Russland hat. Der Glaube, dass Putin sich am Ende sowieso durchsetzt, lähmt jedes eigenständige Handeln. Die Radikalen sind wütend auf die Laien, weil die ihr gewohntes Leben weiterführen, während Soldaten sterben, um das Überleben des von der NATO attackierten Landes zu sichern. Die Laien sind wütend auf die Radikalen, weil die versuchen, ihnen im Alltag Politik aufzudrängen, zum Beispiel durch die Einführung von Kriegspropaganda an den Schulen. 

    Risse im Narrativ?

    Manche haben Boris Nadeshdins Aussagen im russischen Fernsehen [der ehemalige Duma-abgeordnete Nadeshdin sagte auf NTW, Putin sei schlecht beraten worden, Russland könne den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen – dek] als Anzeichen für Risse im vorherrschenden Narrativ gewertet. Das sind sie jedoch nicht. Nadeshdin ist ein alter Liberaler aus den 1990ern, ein Weggefährte von Boris Nemzow. Nemzow entschied sich, eine echte Opposition gegen Putin auf die Beine zu stellen (mit düsterem Resultat). Nadeshdin dagegen beschloss, nach Putins Regeln einer Pseudo-Opposition zu spielen und trat einer seiner Marionetten-Parteien bei. Der Vorteil dieser Strategie ist, dass man regelmäßig als Prügelknabe in die TV-Shitshows eingeladen wird. So verschafft man sich landesweite Bekanntheit (das nützt bei Wahlen!). Nadeshdin war jedoch ganz offen von Anfang an gegen diesen Krieg, und er ist auch klar gegen Putin – das kann man im russischen Fernsehen nur nicht laut sagen. Seine Einstellung hat sich durch die jüngsten militärischen Rückschläge nicht geändert. Auch die mutigen Äußerungen lokaler Abgeordneter, die ein Amtsenthebungsverfahren Putins fordern, sind kein Zeichen für eine Veränderung. Diese Leute gehören zu den Andersdenkenden und haben schon vorher nach Kräften gegen den Krieg protestiert. Ihr Aufruf ist eine Abschiedsgeste – nun endete ihre Amtszeit, viele dürfen nicht einmal erneut kandidieren.

    Eine totale Mobilmachung ist für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nicht mehr tolerierbar

    Trotzdem ist die Lage für Putin prekär. Er braucht die Passivität der Laien, aber auch das Engagement der Radikalen. Deshalb bietet er zwei widersprüchliche Narrative an – eines vom Krieg um Russlands Existenz und ein anderes, wonach alles weiterläuft wie gewohnt. Die Forderung der Radikalen nach einer totalen Mobilmachung ist jedoch für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nach den Niederlagen an der Front nicht mehr tolerierbar. Putin hat darauf bisher mit einer gezielten Mobilmachung reagiert – er rekrutiert unter den Radikalen und lässt die Laien in Ruhe. Diese Strategie lässt sich noch eine Weile fortsetzen, aber durch die militärischen Niederlagen wird sie zunehmend erschwert. Es ist unwahrscheinlich, dass Putin der Forderung nachgibt, jetzt die Generalmobilmachung zu verkünden. Dazu wäre erst eine politische Mobilisierung nötig. Doch dafür ist der Zeitpunkt ungünstig. Selbst die Freiwilligen gehen in die Ukraine, weil sie davon ausgehen, dass sie sich einer siegreichen Armee anschließen und Geld verdienen – und nicht, um sich mit einem starken Gegner zu messen. Unter Wehrdienstleistenden wird die Begeisterung noch geringer sein. 

    Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein

    Kurz: Der Spagat zwischen der Entpolitisierung der Gesellschaft und gleichzeitiger Mobilisierung ihres radikalen Teils wird für Putin angesichts des drohenden großen Rückschlags immer schwieriger. Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein. Die Radikalen werden sie rundheraus als das bezeichnen, was sie ist. Und die Laien werden ihm nicht verzeihen, dass er ihr tägliches Leben in Mitleidenschaft gezogen hat. Die militärische Niederlage in einem Krieg, bei dem er das ganze Land aufs Spiel gesetzt hat, wird Putin nicht überleben.

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  • Olaf Scholz in der Moskauer Metro

    Olaf Scholz in der Moskauer Metro

    Soziologe Grigori Judin hat schon vor dem 24. Februar 2022 vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gewarnt. In zahlreichen Interviews hat er an das Gewissen jedes Einzelnen appelliert, die Situation in Russland mit den Jahren 1938/39 in Deutschland verglichen und auch die Aussagekraft von Umfragen – angesichts massiver Repressionen – immer wieder kritisch hinterfragt.

    In diesem aktuellen Text reflektiert er über Schuld und Verantwortung – auch des Westens. Und sagt: „Hoffnung wird hier erst aufkeimen, wenn die Welt zugibt, dass Wladimir Putin und sein Krieg das unausweichliche Ergebnis der gesamten globalen Entwicklung der letzten zehn Jahre sind.“

    Judins Text entstand im Rahmen des Projektes Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder. Für diese Reihe wurden Autorinnen und Autoren sowie Film- und Medienschaffende in Russland und im Exil eingeladen, den neuen Alltag seit dem 24.2.2022 zu dokumentieren und zu reflektieren. Auf Russisch ist er auch bei Meduza erschienen.

    Grigori Judin über Schuld und Verantwortung – auch des Westens / Foto © Juri Tereschtschenko
    Grigori Judin über Schuld und Verantwortung – auch des Westens / Foto © Juri Tereschtschenko

    Ich stehe in einem modernen Wagen der Moskauer Metro und lese auf meinem Smartphone Prognosen von Militärexperten zum Kriegsverlauf. Da tritt ein junger Mann an mich heran und sagt verlegen „Danke“. Seit Kriegsbeginn passiert mir das regelmäßig.

    Ich bin Wissenschaftler, und mein Alltag spielt sich normalerweise zu Hause am Computer ab. Ich gehe nicht besonders viel raus, in den letzten Monaten noch weniger als sonst. Aber seit dieser Krieg herrscht, kommen ausnahmslos jeden Tag fremde Menschen auf mich zu und bedanken sich. Und zwar egal, wo ich mich aufhalte – ob in Moskau oder Wien, in Jerewan oder Berlin. Wofür sie sich bedanken? Schlicht und ergreifend dafür, dass ich mich gleich zu Beginn öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen habe.

    Da sind viele, die ihren gesunden Menschenverstand, ihr Mitgefühl nicht verloren haben

    Das Ganze fühlt sich seltsam an: Als wäre man Mitglied eines unsichtbaren Ordens, einer riesigen, lautlosen Widerstandsbewegung, die auf ihren Moment wartet. Unerwartet zeigt sich mir, was viele um mich herum nicht ahnen: dass sie nicht allein sind. Dass da viele sind, die ihren gesunden Menschenverstand, ihr Mitgefühl und das Verantwortungsbewusstsein für ihr Heimatland nicht verloren haben. Doch sie kommen einzeln auf mich zu, sagen das Wort „Hoffnung“ und gehen wieder weg, finster und resigniert.

    Ich kenne dieses Leiden nur zu gut – es heißt Atomisierung. Wenn zwischen uns alle Verbindungen gekappt sind, wenn man sich in jeder Runde dumm und ungelenk vorkommt, über „gefährliche Themen“ zu sprechen, wenn das einzige, was man über seine Nachbarn weiß, aus sozialen Umfragen kommt – dann fühlt man sich umgeben von einer feindlichen, abgestumpften und verbitterten Masse. Du kannst darin aufgehen und dich auf ihre Stärke stützen. Oder du kannst dich von ihr distanzieren und dir überlegen und kultiviert vorkommen. Du kannst allen Mut zusammennehmen und dich ihr widersetzen. Aber du kannst unmöglich mit ihr reden, ihr widersprechen. Sie wird dich sowieso unter Druck setzen. Wird heranrollen und dich bedrohen. Sie wirkt wie eine unbezwingbare Macht – obwohl es sie gar nicht gibt.

    Jeden Tag erreichen mich neue Nachrichten von Journalisten aus der ganzen Welt, die alle dasselbe wissen wollen: Wie kann es sein, dass über 80 Prozent der Russen diesen Krieg unterstützen? In ihrer Frage höre ich Erstaunen und Empörung: Sie sehen genau diese beängstigende Masse vor sich, brutale, grausame Russen, eine einzige Horde von Mördern, Dieben und Vergewaltigern. Ich fange an, eine Antwort ins Telefon zu tippen: „Wissen Sie, so funktioniert das nicht. Wenn Wladimir Putin am 24. Februar erklärt hätte, dass er aus wichtigen sicherheitspolitischen Erwägungen die Gebiete der DNR und LNR an die Ukraine zurückgibt, wäre die Zustimmung genauso hoch gewesen …“ Ich drücke dem Fremden die Hand, die er mir entgegenstreckt, und schaue mich im Wagen um, versuche unwillkürlich die aus der Ferne gestellte Frage des Journalisten auf die Passagiere zu projizieren.

    Ich möchte dem Journalisten gerne so antworten, dass er seinen Lesern nicht erklären muss: „Sehen Sie, die Russen sind eben ganz anders als wir.“ Denn das ist nicht wahr. Um zu verstehen, wie die Russen ticken, muss man sich nur anschauen, wie ein Gerhard Schröder, ein François Fillon oder eine Karin Kneissl ticken. 
    Sie sind keine blutrünstigen Mörder, und sie wünschen dem ukrainischen Volk kein Leid. Viele wollen, dass der Krieg so schnell wie möglich vorbei ist und das „normale Leben“ wieder beginnt – ein Leben, in dem sie gut verdienen und angesehen sind.

    Zu unser aller Bedauern haben die Russen nichts besonders Bösartiges an sich, denn dann würde es ausreichen, sie einfach zu isolieren, eine hohe Mauer zu bauen und den Planeten sicher vor ihnen zu schützen. Leider sind nicht die Russen das Problem. Das Problem ist, dass Wladimir Putin allzu gut verstanden hat, wie die moderne Welt funktioniert – er hat die Schwächen und Hebel erkannt, die man bedienen muss, um sie zu lenken. Die Gesellschaftsordnung, die er in Russland aufgebaut hat, ist eine radikale Version des modernen neoliberalen Kapitalismus, in dem die Gier herrscht, in dem das Maß aller Dinge der persönliche Wohlstand ist – und Zynismus, Ironie und Nihilismus das rettende Gefühl von leichter Überlegenheit verleihen.

    Leider sind nicht die Russen das Problem. Das Problem ist, dass Wladimir Putin allzu gut verstanden hat, wie die moderne Welt funktioniert

    Putin ist nicht plötzlich aus den sibirischen Wäldern aufgetaucht – er hat jahrelang die globalen Finanz- und Polit-Eliten korrumpiert. Seine Oligarchen haben so lange auf der ganzen Welt zügellosen Luxus und Schmeicheleien genossen, bis sie allen Grund hatten, sich als die Herren dieser Welt zu fühlen. Putin hat derart erfolgreich die Politiker dutzender Länder pervertiert, indem er sie in seine Aufsichtsräte setzte und offenkundig blutiges Geld mit ihnen teilte, dass er allen Grund hat, sie als Schwächlinge zu betrachten. Putin hat den Russen dasselbe Prinzip angeboten, das die Starken dieser Welt so gut verinnerlicht haben: „Wenn ihr etwas mit Geld nicht erreichen könnt, habt ihr einfach nicht genug geboten.“ 

    Meine Auslandskorrespondenten fragen sich, wie die Russen bloß so „propagandaverblödet“ sein können. Aber ich schaue mich um und sehe ich überhaupt keine Idioten. Stattdessen sehe ich einen Haufen Leute, die die wichtigste Lektion gründlich verinnerlicht haben: Versuch gar nicht erst, Putin zu widersprechen, diese Welt ist sowieso so angelegt, dass er immer gewinnt. Ich sehe jene Menschen, die versucht haben, die derzeitige Katastrophe abzuwenden, die ihr Leben und ihre Freiheit aufs Spiel gesetzt und jedes Mal gesehen haben, dass Putins Geld alles entscheidet. Dass Putin nach jedem niedergeschlagenen Aufstand neue Milliardenverträge abschließt, seine Oligarchen noch reicher werden und seine „europäischen Freunde“ neue Posten in neuen Aufsichtsräten besetzen. Dass die internationalen Technologie-Riesen für ihre Gewinne auf dem russischen Markt zu jeglichen Konzessionen bereit sind – angefangen bei Google, das bereit ist, physische Bedrohungen durch russische Geheimdienste gegen ihr Top-Management zu verschweigen, bis hin zu Nokia, das Putin geholfen hat, ein System zur totalen Überwachung seiner Gegner zu erschaffen. Immer wieder von Neuem haben diese furchtlosen Russen angefangen – sie führen seit langem Krieg gegen Putin, nur ohne Panzerabwehrlenkwaffen und Haubitzen. Und jedes Mal haben sie aufs Neue gehört: „Euch wird sowieso niemand helfen, Putin hat alle gekauft.“ Und mittlerweile glauben das tatsächlich viele.

    Meine Freunde, die in internationalen Konzernen arbeiten, erzählen mir oft, wie ihre Geschäftsführer auf den Krieg reagieren. Nämlich gar nicht – darüber wird kein Wort verloren. Allgemeinen Unmut hingegen rufen die berühmt-berüchtigten Sanktionen hervor, die sie dazu zwingen, durch eigenes Handeln ihre reichen Erträge aus dem russischen Markt zu begrenzen. Und während man diese Unzufriedenheit in amerikanischen und britischen Firmen verbergen muss, um die globale Führungsriege nicht zu verärgern, sagen deutsche und vor allem französische Firmen ziemlich unverblümt, dass sie nicht verstehen, was sie mit dem Krieg in der Ukraine zu tun haben und wieso sie deswegen finanzielle Einbußen hinnehmen sollen. 

    ‚Euch wird sowieso niemand helfen, Putin hat alle gekauft.‘ Mittlerweile glauben das tatsächlich viele

    Im Interview mit dem Spiegel sagt der deutsche Kanzler Olaf Scholz, dass Masha Gessens Buch Future Is History sein Verständnis von Russland beeinflusst habe. Dieses Buch führt auf mehreren hundert Seiten beharrlich einen Gedanken aus: Russland wird sich nie ändern, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind totalitär, und jeder Versuch, dagegen anzukämpfen, ist vergeblich. Wladimir Putin und seine liberalen Kritiker haben sich längst genau darauf geeinigt: Russland wird sich niemals ändern. Scholz macht auf mich den Eindruck eines Menschen, der von dieser Angst vor den Russen eingeschüchtert ist, dieser Angst vor einer wilden Horde, mit der man sowieso nie fertigwerden wird. 

    Noch einmal sehe ich mich in meinem Moskauer Metro-Waggon um. Schwere Blicke, starr auf die Fenster oder den Boden gerichtet: Die Russen lächeln bekanntlich nicht gern. Hoffnung wird hier erst aufkeimen, wenn die Welt zugibt, dass Wladimir Putin und sein Krieg das unausweichliche Ergebnis der gesamten globalen Entwicklung der letzten zehn Jahre sind. Erst wenn die globale Wirtschaft sich für das Leben der Ukrainer verantwortlich fühlt und nicht nur für die Dividenden ihrer Aktionäre. Erst wenn die Welt versteht, dass wir alle in diesem Waggon der Moskauer Metro sitzen. Und erst, wenn Kanzler Scholz daran glaubt, dass ein anderes Russland möglich ist. 

    Dieses Material ist Teil des Projekts Dunkle Zeiten, helle Nächte des Goethe-Instituts in Kooperation mit dekoder

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  • „Für Putin ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung“

    „Für Putin ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung“

    „Die Russen sind die neuen Deutschen.“ Unter liberalen russischen Stimmen kam diese Formel schon wenige Tage nach dem Kriegsbeginn auf. Sie verweist auf historische Parallelen zwischen Russland und Deutschland, vor allem auf Aspekte wie Kollektivschuld und „Banalität des Bösen“.

    Bereits vor rund zwei Jahren schrieb der russische Soziologe Grigori Judin: „Für Putin ist mit Deutschland [unter Hitler – dek] überhaupt nichts Ungewöhnliches geschehen: Eine Nation wurde erniedrigt, Radikale übernahmen die Macht und entschieden sich zur Rache. Das gab es und wird es noch öfter geben.“  

    Wie kommt eine solche Denkweise überhaupt zustande? Im ersten Teil seines jüngsten Interviews mit der Journalistin Katerina Gordejewa im Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) argumentiert Judin, dass man über die tatsächliche Kriegsunterstützung im Land nur wenig sagen kann, dass der „überragende Teil der russischen Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben will.“ Dass sie damit die Augen vor der Wahrheit und vor grundsätzlichen Sinnfragen verschließe, das entbinde sie nicht von der Verantwortung für das, was geschieht, so der Soziologe. Anders sei es bei Putin: Dieser übernehme ganz bewusst die Verantwortung für den Krieg, argumentiert Judin im zweiten Teil des Interviews – und folge dabei einer inneren Logik, wonach der Krieg ein Akt der Selbstverteidigung ist.


    Grigori Judin: Wenn du mich fragst, warum die Entscheidung getroffen wurde, die Ukraine zu zerstören, so sehe ich darin eine gewisse Logik.

    Katerina Gordejewa: Inwiefern?

    Für Wladimir Putin und seine Gefolgschaft ist die Ukraine eine existenzielle Bedrohung, sie bedroht buchstäblich ihr Leben. Und weil [Putin] offenbar irgendwann beschlossen hat, dass ihre Existenz gleichbedeutend ist mit der Existenz des ganzen Landes, schließen sie daraus, dass sie für das ganze Land sprechen können und das ganze Land in Gefahr ist.

    Wie? Ganz einfach. Nehmen wir die Situation in Libyen zur Zeit des späten Gaddafi. Oberst Gaddafi sieht sich nach einer endlosen Herrschaft mit einem inneren Aufstand konfrontiert. Der Aufstand ist mehr oder weniger erfolgreich. Gaddafi weiß, dass seine einzige Chance darin besteht, den Aufstand mit Hilfe der Armee niederzuschlagen. Das tut er auch. Er rückt auf Bengasi vor, bereit, alles dem Erdboden gleichzumachen.

    Wie Gaddafi beseitigt wurde hat bei Putin tiefen Eindruck hinterlassen

    Dann greift die NATO ein und errichtet eine Flugverbotszone, was den Kämpfen eine Wendung gibt. Die ganze Armada, die aus Tripolis in Richtung Bengasi unterwegs ist, kehrt um, Tripolis wird eingenommen und Gaddafi auf die Ihnen bekannte Art und Weise beseitigt.

    Wie wir wissen, hat das bei Wladimir Putin tiefen Eindruck hinterlassen. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass die Entscheidung, Medwedew abzusetzen, in genau dem Moment gefallen ist. Denn Medwedew war damals Präsident und hat sich nicht gegen die Flugverbotszone ausgesprochen.

    Was heißt das für Putin? Das heißt, dass in dem Moment, in dem es in Russland einen Aufstand gibt, und es wird ihn geben, unweigerlich … Übrigens war ich geneigt zu glauben, dass der Moment nicht weit weg ist, weil Belarus, das Russland in seiner politischen Kultur sehr ähnlich ist, es gerade vorgemacht hatte. Folglich war Russland auch nicht weit davon entfernt. Alle vergleichbaren napoleonischen Regime haben eine Lebensdauer von etwas über zwanzig Jahren. Die Widersprüche im Inneren häufen sich, und ihm [Putin – dek] dürfte klar sein, dass ein Aufstand nicht weit entfernt ist.

    Aber für ihn ist ein Aufstand nie Ausdruck einer aus der Bevölkerung erwachsenden Energie – es sind immer die Machenschaften eines äußeren Feindes, etwas anderes kommt gar nicht in Frage. Es gibt überhaupt kein Volk, es gibt nur einen äußeren Feind, der dich eliminieren will. Wenn dir eine solche Gefahr droht, musst du absolut sicher sein, dass dir im Unterschied zu Gaddafi jedes erdenkliche Mittel zur Verfügung steht, um diese Gefahr zu bekämpfen. Jedes. Egal, wie viele Menschen du dafür töten musst, du musst in der Lage sein, es zu tun.

    Wenn es ein benachbartes Land gibt, das Russland kulturell sehr nahe steht – ein riesiges Land, das größte Land Europas –, in dem es ein anderes politisches Leben gibt, das Putin als „Anti-Russland“ bezeichnet, eine radikale Alternative zu Russland, und diese Form der politischen Organisation ist in militärischer Hinsicht, sagen wir, durch die USA garantiert, dann ist das eine nicht hinnehmbare Gefahr. Es bedeutet, dass er mit seinem Volk nicht alles tun kann, was er will. Über ihm hängt ein riesiges [Damokles-Schwert], das sein Schicksal jeden Moment in das von Gaddafi verwandeln kann.

    Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte

    Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass sich die Situation in genau diese Richtung entwickelt, weil die Ukraine, auch wenn sie kein Mitglied der NATO ist, ganz klar zu einem Militärbündnis mit den USA tendiert und das politische Regime in absehbarer Zeit durch die USA garantiert würde. Es war der letzte Moment für Putin, in dem er dieses Problem noch lösen konnte.

    Wenn er also sagt, sie hätten uns angegriffen, hätten wir es nicht getan, dann glaubt er tatsächlich, was er sagt? 

    Ohne jeglichen Zweifel. Mehr noch, in einem verrückten Sinn ist das sogar wahr, denn er hätte jedes Vorgehen gegen ihn als einen Angriff durch die NATO interpretiert, und weil das unweigerlich eingetreten wäre, entspricht das in seiner paranoiden Wahrnehmung der Wahrheit. Deshalb war für mich schon vor zwei Jahren klar, dass es Krieg geben würde. Und als er vor einem halben Jahr diesen Aufsatz veröffentlichte, in dem er der Ukraine die Daseinsberechtigung abspricht, war es dann völlig offensichtlich. In diesem Text steht schwarz auf weiß: Entweder wir unterwerfen sie friedlich und machen sie zu einem Anhängsel, oder wir erobern sie. Das sind die zwei Optionen.

    Natürlich ist jetzt auch die Konjunktur vergleichsweise günstig: Putin denkt, er sei dank modernster Waffen militärisch überlegen, er hat enorme Ressourcen angehäuft (wo die alle hin sind, ist eine andere Frage), dann sind da die Rohstoffpreise, Europas Abhängigkeit von diesen Rohstoffen, Turbulenzen in diversen Ländern … Kurzum, die Entscheidung war in seinen Augen absolut unvermeidlich. 

    Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten – das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen

    Und ja, er und sein Umfeld sprechen jetzt von einem Vabanque-Spiel, bei dem sich Russlands Zukunft entscheiden werde. Sie verstehen also durchaus, worauf sie sich eingelassen haben. Innerhalb dieser Logik müssen sie sich tatsächlich verteidigen. Ich möchte nur die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass das für sie ein Verteidigungskrieg ist. Aus ihrer Sicht ist das Ziel nicht, eine Hegemonie zu errichten oder kulturell zu expandieren. 

    Wenn wir von der „Russischen Welt“ sprechen, meint das nicht, dass es etwas spezifisch Russisches gäbe, das die Ukrainer nicht hätten und das man ihnen bringen müsste. So etwas gibt es nicht. Russland hat der Ukraine kulturell schon lange nichts mehr anzubieten. Nein, das ist nur ein Versuch, sich zu verteidigen. Was natürlich noch gefährlicher ist, weil wir hier von Leuten reden, die glauben, dass man sie umbringt, wenn sie sich nicht verteidigen. Sie müssen sich verteidigen – um jeden Preis.

    Welche Rolle spielt die so populär gewordene Theorie des „Russki Mir“, deren Vertreter mal als die Ideologen des Kreml galten, also Leute wie Dugin?

    Einerseits sehe ich, dass einige von Dugins düsteren Ideen durchaus ihren Einfluss hatten auf die Clique, die in Russland die Entscheidungen trifft, und wahrscheinlich auch indirekt auf den Präsidenten, der sich in letzter Zeit offenbar komplett isoliert hat und die Entscheidungen nahezu im Alleingang zu treffen scheint. Auf der anderen Seite sehe ich auch, dass diese [weltanschauliche – dek] Suppe, die sich da zusammengebraut hat, sogar im Vergleich zu diesen Ideen sehr primitiv wirkt. Man könnte meinen, diese Leute seien intellektuell dafür verantwortlich, was sie ausgebrütet haben, aber das, was am Ende dabei herausgekommen ist – ich bin nicht sicher, ob sie selbst davon so begeistert sind.

    Die ideologische Suppe des ‚Russki Mir‘ wirkt sehr primitiv

    Das große Problem mit diesem ganzen „Russki Mir“ ist, dass es eine leere Idee ist. Ein Imperium muss etwas vermitteln. Die „Russische Welt“ vermittelt nichts. Sie bietet keine Visionen. Keinerlei Perspektiven für eine kulturelle Entwicklung. Da ist rein gar nichts. Jeder, der Interesse an einer Ausweitung des russischen Einflusses hat, versteht, dass man irgendeine Art von Hegemonie braucht, um als Land eine Position zu erlangen. Unter Hegemonie versteht man, dass ein Land etwas anzubieten hat, das für andere attraktiv ist. Dann beginnt man, sich mit dieser Idee zu identifizieren, an sie zu glauben und sie zu verbreiten.

    Dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss – diese Idee ist in Russland aus den Köpfen verschwunden

    In Russland war das an einem gewissen Punkt einfach wie weggeblasen: Der simple Gedanke, dass man die Menschen nicht mit Kanonen erobern, sondern ihnen etwas anbieten muss. Diese Idee ist aus den Köpfen verschwunden. Wahrscheinlich, weil sie sich nicht vereinen lässt mit diesem fundamentalen Beleidigtsein auf die ganze Welt. Oder weil man dafür anfangen müsste, den Leuten zuzuhören. Man müsste versuchen, sie zu verstehen, Gemeinsamkeiten finden, hören, was sie wirklich bewegt, etwas anbieten, das darauf reagiert. Das scheint niemanden mehr zu interessieren, das einzige, was noch übrig ist, ist rohe Gewalt. Aber mit roher Gewalt kann man keine Welt errichten.

    Das sagen selbst die Quellen, auf denen dieses zweifelhafte, widersprüchliche und natürlich auch gefährliche Projekt basiert. Immerhin impliziert es die Errichtung einer gewissen Einflusssphäre. Aber Russland schneidet sich gerade selbst für viele viele Jahre alle Einflussmöglichkeiten ab. Sehen wir uns zum Beispiel das Problem mit dem NATO-Block an, das ich für durchaus glaubhaft halte. Wozu wird das führen? Dazu, dass alle, die bisher nicht beitreten wollten, es jetzt tun. Russland steht nun einem Block gegenüber, der ihm tatsächlich feindlich gesinnt ist. Jetzt wollen alle rein. Finnland und Schweden bereiten schon Abstimmungen vor.

    Alle, die bisher nicht der NATO beitreten wollten, tun es jetzt

    Warum bringt man alle gegen sich auf? Nur, weil man keine andere Möglichkeit sieht, zusammenzuarbeiten, weil man ernsthaft glaubt, dass die einzig mögliche Interaktion Gewalt ist, dass man seine „Partner“ mit Waffengewalt zwingen muss. Das ist ein Fehler, der uns sehr teuer zu stehen kommen wird.

    Was wird aus der Ukraine?

    Angenommen, es endet nicht alles mit einem Atomkrieg …

    Ja, lassen wir das Worst-Case-Szenario mal beiseite.

    Was allerdings nicht ausgeschlossen ist und unter diesen Bedingungen durchaus realistisch. Abgesehen davon hat Russland natürlich überhaupt keine Chance mehr, irgendeine ideologische Kontrolle über die Ukraine auszuüben. Das ist für immer vorbei. Es hätte eine Möglichkeit gegeben, wenn man die Karte der jahrhundertealten gemeinsamen Geschichte ausgespielt und den Ukrainern etwas angeboten hätte, was sie einerseits respektiert und was andererseits attraktiv im Hinblick auf die Integration in eine gemeinsame Sphäre gewesen wäre. Jetzt ist diese Möglichkeit ausgeschlossen, ich schätze, für immer.

    Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten

    Das mit der Ukraine ist eine Sache, aber was ist mit all den anderen slawischen Völkern? Sieh dir doch mal an, was die Leute in den slawischen Ländern sagen. Wir verlieren absolut alle. Die, die gesagt haben, dass von Russland immer eine Gefahr ausgehen wird, haben Recht behalten. Wir werden ihnen jahrzehntelang nichts entgegensetzen können. Sie werden sagen: „Dieses Land muss für immer kleingehalten werden, sonst wird es sich erheben und wieder auf uns losgehen.“ Und wir haben so gut wie keine Argumente dagegen. Wir können sagen, dass wir uns geändert haben, dass das unsere durchgeknallten Vorfahren waren, aber die Antwort wird sein: „Nein, die haben das im Blut. Die werden nie Ruhe geben.“ Und damit werden wir irgendwie umgehen müssen.

    Natürlich betrifft das genauso die Ukraine und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Belarus. Wie das konkret aussehen wird, das ist eine andere Frage, das hängt davon ab, wie die sich anbahnende Niederlage [für Russland – dek] aussehen wird, welchen Preis auch die Ukrainer dafür werden zahlen müssen. Aber es existiert nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, dass Russland die Ukraine für immer besetzt und die Ukrainer irgendwie umformt, nach welchem Vorbild auch immer. Das ist unmöglich. Deshalb ist das eine Wunde, die für immer bleiben wird.

    Und die Ukraine selbst, ihr Geist, die Menschen, der Präsident, der Staat?

    Das hängt stark davon ab, wie weit sich dieser Krieg ausbreitet. Ich denke nicht, dass die Möglichkeit besteht, dass es bei der Ukraine bleiben wird. Es wird davon abhängen, wie weit er sich ausbreiten wird, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird. Das ist noch völlig unklar.

    Es wird davon abhängen, wie die europäische Landkarte nach dem Krieg aussehen wird

    Klar ist jedoch, dass sich für die Ukraine jetzt viele Probleme lösen, die sie vorher gespalten hatten. Ich bin kein Experte für die Ukraine, aber ich schätze, dass sich das Ost-West-Problem für immer erledigt hat. Klar ist auch, dass Selensky jetzt auftritt, wie ein Präsident in Kriegszeiten auftreten muss, er hat unglaubliches rhetorisches Talent. Er ist zu einem der führenden Politiker unserer Zeit geworden. Ein Mann, über den man noch viele Filme drehen wird. Und jetzt ist er natürlich in der Lage, eine Menge für den Wiederaufbau der Ukraine tun zu können, sobald der Krieg vorbei ist. Aber dieser Moment muss erst noch kommen. Bis zu diesem Moment müssen sie noch ausharren, durchhalten, und dann wird sich zeigen, wie das aussehen wird.

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    Vergleiche zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland sind schon seit über zwei Jahrzehnten fester Bestandteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem System Putin. 

    Nach den jeweiligen Niederlagen im Ersten Weltkrieg respektive dem Kalten Krieg kam es in beiden Ländern zu einem Systemzusammenbruch und zu massiven wirtschaftlichen und politischen Krisen. Politiker und Intellektuelle beider Länder sprachen über kollektive Identitätskrisen, Demütigungen durch Feinde, über die Wesensfremdheit der liberalen Demokratie für ihr Volk. Sie warfen ihren Landsleuten Verrat und Kollaboration mit dem Feind vor, diskreditierten Andersdenkende, sprachen anderen Völkern das Daseinsrecht ab. Die Demokratie scheiterte und wurde hier wie dort zum Schimpfwort. Anschließend gab es in beiden Ländern die Phönix aus der Asche-Erzählung, in Russland hat sich dafür die Formel „Erhebung von den Knien“ etabliert. Schließlich haben beide Länder einen Krieg entfacht. Die Massen – so heißt es in dem vorerst letzten Kapitel der Weimar-Vergleiche – jubelten und standen geeint hinter dem Führer respektive Leader.

    Mehr als 80 Prozent der Menschen in Russland befürworten derzeit laut Umfrageergebnissen des Lewada-Zentrums den Krieg in der Ukraine. Denis Wolkow, Direktor dieses unabhängigen Umfrageinstituts, argumentierte kürzlich auf Riddle, dass es derzeit kaum Anhaltspunkte dafür gebe, an dieser Zahl zu zweifeln.

    Der Soziologe Grigori Judin war demgegenüber schon immer skeptisch, ob Meinungsumfragen in autoritären Regimen ein Abbild öffentlicher Meinung liefern können. In einem Interview mit der Journalistin Katerina Gordejewa in ihrem Video-Podcast Skashi Gordejewoi (dt. Sag’s Gordejewa) bringt er seine Argumente vor – und erklärt, welche Parallelen er zum Zwischenkriegs- und Hitlerdeutschland sieht.

    Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews.


    Katerina Gordejewa: Betrachten wir mal die 60 bis 70 Prozent, die – je nach Umfrage – den Krieg gutheißen. Ich weiß, du magst es nicht, wenn man sich auf Umfragen bezieht, aber ich muss die Frage stellen, weil diese Zahlen derzeit überall kursieren. Auch die Propaganda stützt sich darauf. Begreifen diese 60 bis 70 Prozent die Konsequenzen nicht? Verstehen sie die Frage nicht, die man ihnen stellt? Oder was genau unterstützen sie?

    Grigori Judin: Ich rate immer dringend dazu, vorsichtig mit Umfragen zu sein – generell, aber in Russland doppelt, und unter den heutigen Umständen gleich zehnfach. In Russland ist die Beteiligung sowieso immer niedrig. Außerdem gehen die Menschen, die an den Umfragen teilnehmen, meist davon aus, dass sie direkt mit dem Staat sprechen. Und durch die gegenwärtigen Kriegshandlungen ist die Vorsicht natürlich nochmal um ein Vielfaches gestiegen, das belegen alle unabhängigen Studien, die gerade durchgeführt werden: Die Menschen antworten weniger bereitwillig, erzählen von Ängsten oder fragen sogar direkt: „Werde ich verhaftet?“ Wir haben verschiedene Instrumente, die Stimmung der Umfrageteilnehmer zu untersuchen, dadurch sehen wir, dass die Menschen, die eher verschlossen, introvertiert sind, andere Antworten geben. Umfragen belegen im Prinzip immer das, was die russische Regierung belegt haben möchte. Heute erst recht.

    Mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten

    Ich denke, dass die Zahlen am Anfang noch eine gewisse Aussagekraft hatten, aber mittlerweile wäre es vielleicht sogar besser, diese Umfragen komplett zu verbieten. Das liegt natürlich nicht in unserer Macht. Und es könnte alles noch schlimmer machen, aber ich würde diese Umfragen keinesfalls ernstnehmen. 

    Wenn ich in Deutschland gefragt werde: „Wie kommt es zu diesen 71 Prozent?“, erwidere ich: „Wie viel Prozent hattet ihr denn 1939, als die Spezialoperation gegen Polen begann?“ Ich sehe da keinen krassen Unterschied. Man sollte den Menschen keine idiotischen Fragen stellen und die Antworten nicht überbewerten. Aber abgesehen von allem, was ich jetzt gesagt habe, denke ich trotzdem, dass es wohl daran liegt, dass ein überragender Teil unserer Gesellschaft einfach sein privates, ruhiges Leben weiterleben möchte.

    Nach dem Motto: Soll da doch ein Krieg toben, oder eine Flutkatastrophe alles überschwemmen … 

    Ja, in dem Sinne: Ich kann sowieso nichts ausrichten. Was soll ich schon machen? Mich geht das doch nichts an. In Russland kursiert gerade etwas, das ich die „Zwei-bis-drei-Monats-Theorie“ nenne. Überall hört man: Noch zwei, drei Monate, dann renkt sich alles wieder ein. Keine Ahnung, woher dieser Schwachsinn kommt, aber es ist ein Versuch, sich an die eigene Realität zu klammern. Eigentlich ist es ein Versuch, weiterhin alles zu leugnen. So funktioniert die russische Propaganda. 

    Die Propaganda erklärt dir, warum du nichts tun sollst

    Mich würde interessieren, warum die Propaganda die Menschen nicht davon überzeugen konnte, dass es Covid gibt, aber sie so leicht davon überzeugen kann, dass es in der Ukraine Faschismus gibt?

    Aus einem ganz einfachen Grund: Die Aufgabe von Propaganda ist es nicht, dich von etwas zu überzeugen oder dir einen bestimmten Standpunkt aufzudrängen, sondern dir einen Grund zu geben, nichts zu tun. Sie erklärt dir, warum du nichts tun sollst. Als erklärt wurde, dass es Covid gibt und dass man etwas unternehmen muss, da war sie machtlos, weil der Mensch nichts tun will. Jetzt wird erklärt, warum das alles eine kurze Operation ist, dass sie erfolgreich enden wird, dass es eine unmittelbare Bedrohung für Russland gibt, und dass das alles überhaupt keine echten Ukrainer betrifft. Kurzum: Alles ist gut. Alles ist gut, alles ist bald vorbei, die politische Führung hat alles im Griff. Das genügt den Leuten, um ihr normales Leben ruhig weiterzuleben. 

    Der Vorteil bei den Belarussen ist, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts

    Ich denke, das Problem im heutigen Russland ist nicht, dass die Russen massenhaft diese bestialische Aggression gegen die Ukraine gutheißen würden. Das gibt es so nicht. Es gibt einzelne militarisierte Gruppen, aber das ist etwas anderes. Das Problem liegt darin, dass die Menschen versuchen so zu tun, als würde sie das alles nichts angehen, als könnten sie einfach ihr Privatleben weiterleben, an das sie sich gewöhnt haben und das sie sich mit großer Mühe aufgebaut haben. Das dürfen wir nicht vergessen: Viele Russen machen gerade eine sehr schwere Erfahrung. Das Leben, das sie jetzt führen, haben sie sich wirklich lange, mit großem Aufwand und hohen Investitionen aufgebaut. Sie haben viele Jahre alles hineingesteckt, deswegen klammern sie sich jetzt so an diese Welt. 

    Im Großen und Ganzen ist das sogar nachvollziehbar, doch wenn man das konsequent betreibt, läuft man Gefahr, zum Instrument für alles Mögliche zu werden. Das scheint mir das Hauptproblem im gegenwärtigen Russland. Besonders deutlich wird das im Vergleich zu Belarus, denn dieser grauenhafte Krieg, in dem wir uns befinden, ist ein Krieg, in den nicht nur Russland und die Ukraine unmittelbar involviert sind, sondern natürlich auch Belarus. Aber der Vorteil bei den Belarussen ist, wenn man das so sagen kann, dass sie zumindest nicht versuchen so zu tun, als wäre nichts. 

    Woran liegt das? Daran, dass deren Leben schwerer und ärmer war?

    Ich denke, es liegt unter anderem einfach daran, dass es dort 2020 ein Moment der Solidarität gab, über das sehr viel gesprochen wurde, auch wenn es zu keinem entsprechenden politischen Resultat geführt hat. Aber es hat den Belarussen etwas Größeres gegeben. Deswegen verschließen sie in der gegenwärtigen Situation nicht die Augen, ziehen sich nicht in den Käfig des Privaten zurück. Ihnen ist zwar klar, dass sie wenig ausrichten können, aber sie tun nicht so, als seien sie nur Instrument und als ginge sie das alles nichts an. Das stellt, so scheint mir, einen sehr wichtigen Kontrast dar. 

    Russland wird aufs Schrecklichste verlieren

    Das war der erste Teil. Der zweite hängt, wie mir scheint, damit zusammen, richtig zu verstehen, was da gerade passiert. Es ist selbstverständlich kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Allein die Idee ist vollkommen absurd und irrsinnig. 

    Allein schon deswegen, weil Russland aufs Schrecklichste verlieren wird. Unendlich verlieren wird. Es wird in jedem Fall eine katastrophale Niederlage. Es ist kein positives Szenario denkbar. 

    Kannst du das genauer erklären?

    In jeder nur denkbaren Hinsicht wird das für Russland eine Katastrophe. Es tut weh, das zu sagen, aber Russland zerstreitet sich auf diese Art für immer mit den zwei Völkern, die ihm kulturell am nächsten stehen – mit den Ukrainern und den Belarussen. Russland verliert absolut alle engen Verbündeten und Freunde. Mit wem sollen wir denn noch befreundet sein? Wer auf diesem Planeten kommt denn noch infrage? Wir jagen uns in eine völlig sinnlose, ewige Einsamkeit, in die wir eigentlich überhaupt nicht hineingeraten wollen. Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals.

    Wir wollten nie von der ganzen Welt isoliert dasitzen, niemals

    Was macht denn Russland in den letzten zwanzig Jahren? Es rennt der ganzen Welt hinterher und ruft: „Wir brauchen euch nicht! Wir kommen auch alleine klar!“ Das ist ein neurotisches Verhalten, das uns jetzt geradewegs in die Katastrophe führt. Ich glaube, eine Katastrophe wie diese hat es in Russland noch nie gegeben.

    Gehörst du zu den Leuten, die jetzt die Seiten der Geschichte übereinanderlegen und lauter Parallelen zum Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre in Russland sehen?

    Oj, ich sehe sehr viele Parallelen, aber nicht zur russischen Geschichte, sondern zu der deutschen.

    Ach ja?

    Ja. Wir befinden uns in einer Situation, die in vielerlei Hinsicht an die 1920er und 1930er Jahre in Deutschland erinnert. Es gibt im Wesentlichen zwei historische Folien: das Regime von Napoleon III. in Frankreich 1848 bis 1870 und das, was in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg geschah. In beiden Fällen sehen wir eine abrupte Einführung eines Wahlrechts, bei dem den Massen schließlich nur die Option bleibt, einen starken Anführer zu wählen, der faktisch die Befugnisse eines Monarchen besitzt. Sprich eine demokratisch gewählte Monarchie, eine Monarchie mit der Gunst der Massen. Genauso nannte es Napoleon III. Er wurde zum Präsidenten über das ganze Volk gewählt, zum ersten französischen Präsidenten: Ich bin ein Imperator, der regelmäßig Volksabstimmungen durchführt. Und was bekomme ich dafür? Ich bekomme die Garantie, dass … 

    … alle dich lieben.

    Ja, das Volk steht hinter mir, und was mache ich damit? Ich zeige es den Eliten, ich zeige es der Bürokratie, ich zeige es dem Volk, erzähle ihm, wer die wahre Macht hat. Er erhebt sich über das ganze System.

    In Russland sitzt der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief

    Die zweite wichtige Sache ist die historische Niederlage. Daraus resultieren Ressentiment, Revanchismus, Kränkung und Zorn. So war es in Frankreich, die Leute erinnerten sich durchaus an die Napoleonischen Kriege, und sie haben wieder einen Napoleon gewählt. Die Leute wollten einen neuen Napoleon, auch wenn es nicht derselbe [Napoleon Bonapartedek] war. Das gab es natürlich auch in Deutschland mit der verbreiteten Dolchstoßlegende und der [dieser zufolge von inneren Feinden verschuldeten – dek] Niederlage im Ersten Weltkrieg. Und jetzt beobachten wir das in Russland, wo der Schmerz der Niederlage im Kalten Krieg sehr tief sitzt, wie sich jetzt zeigt. All diese Regime hatten irgendwann ein Wirtschaftsmodell für sich gefunden, das relativ erfolgreich war.

    Du meinst, dass Russland … also die UdSSR den Kalten Krieg verloren hat?

    Ich meine das nicht nur, es wäre doch auch merkwürdig nicht zu bemerken, dass dieser Rahmen irgendwann aufgedrängt wurde. Sagen wir, das Ende des Kalten Krieges hatte ein erzieherisches Element. Es gab eine Doktrin der Modernisierung, die implizierte, dass es den einen richtigen Entwicklungsweg gibt und die Länder, die von ihm abgewichen sind, auf die Schulbank müssen, damit ihnen die Lehrer aus dem Westen erklären, wie man es machen muss. Sie wurden also belehrt. Und zwar mit ganz aufrichtigen Absichten, weil man wollte, dass sie es endlich lernen, ihren Kinderschuhen entwachsen und das Gleiche aufbauen wie alle, weil es in Wirklichkeit nur einen richtigen Weg gibt. So etwas führt in jedem Land dazu, dass man sich wie ein Minderjähriger behandelt fühlt. Und erst recht in so einem riesigen, mächtigen Land wie Russland. Das erzeugt gleich ein Gefühl der Erniedrigung.

    Was Putin dann gemacht hat, ist dieses Gefühl endlos weiter anzufachen. Es war nicht ganz unbegründet, dieses Gefühl, aber jetzt ist es eine Emotion, die ganz Russland einfach verbrennt.

    Putin hat das Gefühl der Erniedrigung endlos weiter angefacht

    In dieser Hinsicht gibt es natürlich viele Parallelen zu Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts und Deutschland zwischen den Weltkriegen. Und die plebiszitären Regime, die dort jeweils entstanden, machten jedes Mal das Gleiche: Sie zerstören die Innenpolitik. Das heißt, sie schließen schon die Idee einer Opposition aus. Die Opposition als eine Größe, die im selben Land existiert, aufrichtig das Beste für dieses Land will und sich dabei radikal von den eigenen Überzeugungen unterscheidet. Diese Idee ist ihnen grundsätzlich fern, weil das in ihren Augen die Einheit zerstört. Es kann einfach keine Opposition geben.

    Weil es keine Opposition geben kann, wird jede politische Feindschaft externalisiert, das heißt, sie wird schlichtweg zur Konfrontation von außen erklärt. Es kann keine Opposition geben, also gibt es nur Verräter und innere Feinde. Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form.

    Es kann keine partnerschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern geben, sondern nur Krieg in der einen oder anderen Form

    All diese Regime nahmen das gleiche Ende. Sie überschätzten massiv die Bedrohung von außen. Sie bildeten sich eine Gefahr ein, wo im Grunde keine war. Sie verloren die Fähigkeit, mit anderen Staaten Bündnisse einzugehen. Und sie alle arbeiteten eifrig daran, eine mächtige militärische und wirtschaftliche Allianz gegen sich zu erschaffen. Mit enormem Tempo brachten sie Länder um Länder gegen sich auf, einten Staaten mit eigentlich ganz unterschiedlichen Interessen. Und dann fuhren sie gegen eine Betonmauer, indem sie sich in desaströse Militärkampagnen mit immensen Opfern stürzten.  


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  • Das Massaker von Butscha

    Das Massaker von Butscha

    Straßen voller Leichen, Folterspuren, gefesselte Hände, Schüsse in den Hinterkopf – die Bilder aus der ukrainischen Stadt Butscha lösen weltweit Entsetzen aus: Wie kann so etwas überhaupt sein, im 21. Jahrhundert? 

    Mit der Rückeroberung der Stadt bei Kyjiw bot sich den ukrainischen Soldaten ein Bild des Schreckens: Es gibt erdrückende Hinweise, dass die russische Armee ein grausames Massaker an der Zivilbevölkerung verübt hat. Zahlreiche ukrainische Politiker sprechen von Völkermord, auch einzelne Politiker im Westen sehen dafür handfeste Anzeichen.

    Russland weist jede Verantwortung für das Massaker von sich: Die Bilder, so heißt es aus dem Verteidigungsministerium, seien eine weitere „ukrainische Provokation“. Für viele unabhängige Stimmen aus Russland fügt sich das Blutbad jedoch ins große Bild: Folter, Vergewaltigungen, Morde – all das sei etwa in russischen Gefängnissen schon seit geraumer Zeit alltäglich. Insgesamt, so der Politologe Sergej Medwedew, sei die Kultur der Gewalt und Straflosigkeit eine gesellschaftliche Norm in Russland. Auch für den Soziologen Grigori Judin sind die Gräueltaten in Butscha mehr als Kriegsexzesse. Das erklärt er in einem Twitter-Thread, den dekoder ins Deutsche übersetzt hat.

    Leider bin ich von den Gräueltaten im besetzten Butscha nicht überrascht. Die Menschen unterschätzen das Narrativ, das in Russland aufgebaut worden ist, um den Krieg zu rechtfertigen. Für die meisten Beobachter klingt das so jenseitig, dass sie es allzu leicht abtun. Aber es funktioniert.

    Das Narrativ, das Putin von den ersten Kriegstagen an angelegt hat, dreht sich um die „Entnazifizierung” der Ukraine. Der Nazismus gilt in Russland (wie überall anderswo) als das absolut Böse. Es gilt jedoch als Böses von außen – Russland ist per Definition frei vom Nazismus (wir haben ihn besiegt!).

    Daraus folgt, dass der Nazismus ein externer Feind ist, den es um jeden Preis zu besiegen gilt. Die anfängliche Sichtweise war, dass Nazis in der Ukraine die Macht ergriffen haben, während die Durchschnittsukrainer einfach Russen sind – bloß mit dummen Ideen bezüglich ihrer Identität und einer albernen Sprache.

    Das hieß, dass diese Entnazifizierung durch einen Regimewechsel zu bewerkstelligen wäre und die Ukrainer befreit werden müssten. Offensichtlich ist dieses Konzept gescheitert, als die Ukrainer begannen, mutig Widerstand zu leisten. Eine ganz natürliche Schlussfolgerung ist, dass die Ukrainer offenbar schwer vom Nazismus infiziert sind.

    Also heißt Befreiung Säuberung. Dazu habe ich mich ausführlicher geäußert.

    Und genau in dieser Art haben sich die Äußerungen offizieller Redner in letzter Zeit geändert. So sagt Margarita Simonjan zum Beispiel: Wir haben unterschätzt, wie tief der Nazismus die ukrainische Gesellschaft durchdrungen hat. Nun bedeutet Befreiung Säuberung.

    Das wirkt sich auf die Handlungsweisen der Bodentruppen aus. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein russischer Soldat, der eine ukrainische Stadt besetzt (ich weiß, das ist ein unangenehmes Gedankenexperiment). Welche Einteilungen und Unterscheidungen würden Sie im Umgang mit der lokalen Bevölkerung vornehmen?

    Ihre Grundannahme ist, dass dieses Land von Nazis besetzt ist und dass Sie hier sind, um es zu befreien. Natürlich leisten die Nazis Widerstand; die, die Widerstand leisten, sind Nazis. Ihre primäre Aufgabe ist es, die Nazis von den armen Ukrainern zu separieren und die Stadt vom Nazismus zu säubern.

    Deswegen sehen wir in der Nähe von Mariupol schon Filtrationslager im Einsatz. Der Filtrationsprozess wird laut Berichten an vielen Orten innerhalb Russlands vollzogen. Das wiederum bedeutet, dass das ganze Konzept der Filtration vorgeplant war. Noch einmal: Das Narrativ der Reinheit ist an dieser Stelle zentral.

    Und deswegen habe ich ernsthafte Zweifel, dass diese Gräueltaten einfach nur Kriegsexzesse sind. Jeder Krieg befördert das Schlimmste im Menschen zu Tage, speziell wenn die Befehlshaber skrupellose Übeltäter sind. Die systematischen und konsequenten Handlungen sind jedoch mehr der Art und Weise geschuldet, wie der Krieg gerechtfertigt wird, als dass sie auf Affekte wie Rache zurückzuführen sind.

    Wenn Sie den Eindruck haben, diese Reinheitslogik erinnere Sie an Nazi-Gedankengut, dann ist da meiner Meinung nach viel Wahres dran. Ich werde wahrscheinlich einen weiteren Thread dazu schreiben, warum Russland wahrscheinlich nicht immun ist gegen Nazismus.

    Ich fürchte, das Schlimmste steht noch bevor. Ich hoffe, ich irre mich.

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    Es ist Tag acht im russischen Krieg gegen die Ukraine. Aber ist es nur Wladimir Putins Krieg? Bei aller Ohnmacht müssen alle jetzt herausfinden, wo die eigene Verantwortung liegt – und was nötig ist, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können. Der russische Soziologe Grigori Judin spricht darüber im Interview mit Meduza, das hier in Ausschnitten zu lesen ist – und in dem er auch seine Einschätzung zur Proteststimmung darlegt. Er selbst ist am 24. Februar bei einem Antikriegsprotest in Moskau zusammengeschlagen worden.

    Swetlana Reiter: [Die unterschwellige Unzufriedenheit, die wir sehen,] steigt langsamer als der militärische Konflikt.

    Grigori Judin: Ja, sie steigt nicht schnell genug, aber sie steigt, und es steigt auch die Zahl der öffentlichen Personen, die sich dagegen aussprechen: Abgeordnete, verschiedene Verbände. Prominente versuchen zwar zu schweigen, äußern sich mittlerweile aber immer öfter dagegen als dafür. Das bringt zwar nicht viel, aber immerhin. 
    Sollten diese Äußerungen der subelitären Kreise auf die elitären, näher an der russischen Führung befindlichen übergehen, dann ist klar, was das für Putin heißt. Dann sieht plötzlich alles wie ein irrwitziges Abenteuer mit grauenhaften Folgen aus und einer unausweichlichen Niederlage am Horizont. Deswegen stehen wir jetzt an einem Wendepunkt: Die Welt, in der wir im jetzigen Moment leben, wird es nur sehr kurz geben … 

    Mir ist klar, dass das Land noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert war. Aber können Sie als Soziologe trotzdem eine Prognose versuchen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir nach diesem Wendepunkt, an dem wir derzeit stehen, den erfreulicheren Weg einschlagen oder das Gegenteil?  

    Das ist für die ganze Weltgeschichte eine nie dagewesene Situation – nie hat es etwas Derartiges gegeben. Die ganze Welt steht in diesem Augenblick auf der Kippe zu einer ungeheuren Katastrophe, daher verfügen wir über keinerlei logisches Wissen, auf das wir uns stützen könnten.  
    Schon jetzt wird der Welt bewusst, dass am 24. Februar die lange Nachkriegsepoche zu Ende gegangen ist, eine neue Ära ist angebrochen. Das hat Deutschlands Kanzler Olaf Scholz ganz richtig festgestellt: Unter anderem werden wir in dieser neuen Ära auch ein neues Deutschland sehen, das bereit ist, eine neue Verantwortung zu übernehmen.  

    Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen

    Wir stehen heute am Rand eines riesigen Krieges. Seine potenziellen Teilnehmer verfügen über Atomwaffen, und es gibt jemanden, der sogar schon ganz offen damit droht. Wörter wie „Nazis“ und „Entnazifizierung“ sind alles andere als harmlos – in der heutigen Sprache haben sie das Potenzial einer völligen Entmenschlichung und bilden die Grundlage für eine „Endlösung des Problems“. Es ist nicht auszuschließen, dass da etwas Vergleichbares zurückschallen wird … ​​Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39. Aber damals war die Welt gespalten und am Ende, heute findet sie zusammen. Vielleicht nicht vollständig, aber der Ernst der Lage wird von Tag zu Tag immer klarer erkannt. Deshalb stehen wir, wie mir scheint, an einer auf Jahrzehnte hinaus bestimmenden Wegscheide, an der die ganze Welt und vor allem die drei Völker stehen, die jetzt Geiseln von Leuten sind, die Waffen auf sie gerichtet haben und sie gegeneinander aufhetzen wollen. Das sind Belarus, Russland und die Ukraine.

    Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen und jetzt schlicht zu Kampfhandlungen gegen alle drei Völker übergegangen ist. 

    Fühlen Sie sich in solchen Momenten eher als Mensch oder als Wissenschaftler? Oder ist das eine zu dumme Frage? Lassen Sie es mich anders sagen: Soll man analysieren oder sich in Sicherheit bringen?

    Die Frage ist keineswegs dumm, sie liegt in entscheidenden historischen Momenten auf der Hand. Man muss verstehen, dass das zwei Haltungen sind, die sich in jedem Wissenschaftler finden und die miteinander in Kontakt kommen müssen. Du musst dir bewusst machen, woran du glaubst und zu welchem Zweck du deine Analysen vornimmst: Wenn du einfach nur auf Befehl oder Auftrag hin arbeitest, kannst du eine Elwira Nabiullina [die Chefin der Zentralbank der Russischen Föderation] werden und möglicherweise als Kriegsverbrecher enden.

    Sie halten Elwira Nabiullina für eine Kriegsverbrecherin?

    Albert Speer war ein Kriegsverbrecher.

    Ist sie nicht eine Geisel der Situation?

    War Adolf Eichmann eine Geisel der Situation? Ganz im Ernst: Irgendwann muss man aufhören, sich zum Rädchen zu machen und zu einer inneren moralischen Haltung finden. Und dann seine analytischen Fähigkeiten in den Dienst dieser Haltung stellen. 

    Es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen

    Und hier kommt es darauf an, kritische Distanz zu gewinnen, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Kontrolle über sich selbst nicht zu verlieren. Aber es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen. 

    Wie sehr kann man darauf hoffen, dass jeder Mensch in sich selbst Halt findet? Und was muss getan werden, damit Elwira Nabiullina und, sagen wir, Sergej Schoigu ihr Verhalten ändern?

    Das ist eine Frage ihrer Beziehung zu Gott. Wissen Sie, wir sind jetzt an einem Punkt, der bei allem, was daran einmalig ist, doch an die Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnert. Hannah Arendt hat dazu sehr richtig gesagt, dass es Zeiten gibt, in denen man sich eingestehen muss, dass man die Welt im Ganzen nicht ändern kann. Man muss herausfinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt – was man tun muss, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können.

    Durch kleine Aktionen mit deutlicher Wirkung lässt sich die Angst kurieren – und dann zeigt sich, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird

    Das ist die wichtigste Frage, und jeder Mensch muss diese Frage für sich selbst beantworten – im Bewusstsein, dass die Dinge sich nach dem schlimmsten überhaupt vorstellbaren Szenario entwickeln können und die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch ist. 

    Und wie bekämpft man in diesem Fall die eigene Angst?

    Es gibt da bekannte Methoden, die immer funktionieren: kleine Aktionen, die eine deutlich messbare Wirkung haben. So lässt sich die Angst kurieren, und dann zeigt sich immer wieder, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird. Wenn man eine Grundsatzposition einnimmt, wenn man die moralische Herausforderung annimmt, nicht so tut, als ob nichts wäre und man sowieso nichts machen könne, sondern begreift, dass man vor eine ungeheure moralische Aufgabe gestellt ist, auf die jeder Mensch reagieren muss, dann kann man sich nicht vormachen, dass man einfach nur Zuschauer ist. Man muss überlegen, wie man mit kleinen Aktionen eine messbare Wirkung erzielt. 

    Selbstanklagen, Scham … Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln

    Theodor W. Adorno hat einmal den Dramatiker Christian Dietrich Grabbe zitiert: „Nichts als nur Verzweiflung kann uns retten“. Viele Russen, die unter dem Geschehen leiden, reagieren gerade mit Selbstanklagen, Scham, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsversuchen. Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln. Dies ist letztlich kein Krieg, den das russische Volk gegen die Ukraine führt. Dieser Krieg wird den Russen nichts bringen. Sie werden auf die furchtbarste Weise verlieren. Das wird eine ungeheure Katastrophe für das Land, die uns allgemeinen Hass, eine zerstörte Wirtschaft, eine niedergewalzte Gesellschaft und vermutlich eine besiegte Armee einträgt.

    Wir müssen diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen

    Letztlich verlieren wir die unerschütterliche Grundlage für das Ansehen, das bei den Menschen auf der ganzen Welt immer Respekt hervorgerufen hat: Das Image des Befreiers, des Landes, das im denkbar schrecklichsten Krieg heldenhaft gesiegt hat. Deshalb müssen wir diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen. Nun ist es so gekommen, dass die Ukrainer das auf ihre Art tun und die Belarussen und Russen auf ihre eigene Weise handeln müssen – so, dass wir uns später ruhig in die Augen schauen können.

    Ich weiß, es ist merkwürdig, diese Frage an Sie zu richten, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, wenn wir die Ereignisse vom 27. Februar analysieren?

    Eine solche Möglichkeit besteht. Nach Putins Aussagen zu urteilen, würde ich sie bisher nicht als unmittelbare und unabwendbare Gefahr betrachten. Bislang ist das eine Maßnahme, die zeitgleich mit der Anreise zu den Verhandlungen erfolgte – die natürlich rein dekorativen Charakter haben, es sind keine echten Verhandlungen. Aber diese Aussage (in Bezug auf die Waffen) ist eher eine Erpressungsmaßnahme, um die eigene Verhandlungsposition zu untermauern.

    Doch allein die Tatsache, dass diese Drohung ausgesprochen wurde – und das unter diesen Umständen, als Putin und seine Mannschaft deutlich machten, dass sie bereit sind, alles zu tun, um ihren Willen zu kriegen – macht die Nuklearfrage relevant. Zudem sollten wir die Risiken des Einsatzes taktischer Kernwaffen nicht vergessen.

    Ich habe immer geglaubt, dass der Mensch vor allem vom Selbsterhaltungstrieb geleitet wird. Die Entscheidung, Atomwaffen einzusetzen, wäre, gelinde gesagt, selbstmörderisch. 

    Der Mensch ist ein interessantes Wesen, das viele Denker gerade über seine Fähigkeit definiert haben, Selbstmord zu begehen. Aus irgendeinem Grund ist der Mensch imstande zu sagen: „Ich sage Nein zu meiner physischen Existenz.“ Sei es, weil er seine weitere Existenz als unvereinbar mit dem eigenen Selbst empfindet, sei es der Wunsch nach Prestige, nach Ruhm – solche Dinge haben Menschen in der Geschichte dazu gebracht, Selbstmord zu begehen.

    Allerdings hatten die keinen Atomknopf – aber was ändert das letztlich? Auch die, die nuklearen Selbstmord begehen, sind Menschen und also dazu imstande. 

    Entschuldigung, ich muss mich verabschieden – gerade ruft meine Frau an, die vermutlich bei einer Antikriegsaktion festgenommen worden ist.

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