дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Der Staat hat erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt“

    „Der Staat hat erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt“

    In Russland ist es üblich, von einer „konservativen Mehrheit“ zu sprechen – einer Mehrheit der Gesellschaft, die das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ gutheißt, für mehr Internetkontrolle plädiert und geschlossen hinter dem selbsterklärt-konservativen Präsidenten Putin steht. All das ermitteln Soziologen nämlich in Meinungsumfragen. Was bedeutet es aber für diese Umfragen, wenn die erdrückende Mehrheit sich davor sträubt, an ihnen teilzunehmen? Man sollte sie dann zumindest hinterfragen, meint der Soziologe Grigori Judin im ersten Teil seines Interviews auf Colta.ru. Hinterfragen solle man laut Judin allerdings auch das Attribut dieser angeblichen Mehrheit – ihren Konservatismus. 

    Denn weshalb Konservatismus nicht immer gleich Konservatismus ist, sondern sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, das erklärt er in Teil 2 des Interviews.

    Foto © Sergej Michejew/Kommersant
    Foto © Sergej Michejew/Kommersant

    Gleb Naprejenko: Du hast das soziale Bewusstsein in russischen Kleinstädten untersucht – allerdings nicht mittels Meinungsumfragen. Zu welchen Ergebnissen kommt eure Feldforschung im Hinblick auf Konservativismus – und das Verhältnis der Menschen zu Politik und Geschichte?

    Grigori Judin: Die Fragestellung unserer Untersuchung war zwar eine etwas andere, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Konservativismus kann in sehr unterschiedlichen Formen auftreten. Außerdem sorgt der Begriff eher für Verwirrung als für Klarheit. 

    Beispielsweise erwächst von unten vor allem eine lokale, regionale Agenda – und die ist teilweise konservativ. Offenbar sind es zumeist Heimatkundler, die versuchen diese Agenda umzusetzen. Das sind Menschen, die sich mit der Geschichte ihrer Region befassen, oft Lehrer oder Bibliothekare. Sie treten als Hüter der Erinnerung auf, sehen sich sozusagen als ihre Agenten. 

    In der Regel sind das Menschen fortgeschrittenen Alters oder zumindest Nachfolger von ortsansässigen Heimatkundlern aus der Sowjetzeit. Und weil die Heimatgeschichte mit Beginn des Stalinismus, sprich seit den 1930ern, massiv eingeschränkt wurde, stehen die Heimatkundler der Sowjetzeit sehr skeptisch gegenüber. 
    Zwar ließ Chruschtschow die Heimatgeschichte wieder zu, denn er hoffte damit, einen Lokalpatriotismus zu schaffen, der sich wie eine Matrjoschka in den gesamtsowjetischen Patriotismus einfügen würde. Aber natürlich wurden die Heimatkundler nie völlig loyal. Sie hatten ihr eigenes Programm und nach dem Zerfall der Sowjetunion auch die Möglichkeit es umzusetzen. 

    Jeder von ihnen ist ein Lokalpatriot, dem die lokale Geschichte am Herzen liegt. Das ist eine lokale Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde.

    Die Heimatkundler sind Lokalpatrioten, eine Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde

    Zweifellos ist darin ein an der Gemeinschaft orientiertes konservatives Programm erkennbar, das mit der Wiederherstellung einer lokalen Identität einhergeht. Übrigens sieht die lokale Geschichtsschreibung, auf der diese Identität gründet, nicht selten recht merkwürdig aus: Sie ist bruchstückhaft und verzerrt. Doch dieser Konservativismus unterscheidet sich klar von jenem, mit dem wir es heute in der Staatspropaganda zu tun haben.

    Sehen wir uns zum Beispiel das Geschichtsbild an, das der Staat seit Mitte der 2000er Jahre zu vermitteln versucht: Geschichte meint hier die Geschichte des Staates, kein anderes Subjekt ist denkbar. 

    Es ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage. Eigene, innere Konflikte hat es selbstverständlich nie gegeben – sie sind seit jeher Projektionen von außen. Die inneren Feinde sind Agenten der äußeren. Der Sieg über sie ist ein Sieg über den äußeren Feind. Alle Konflikte, Umwälzungen oder revolutionären Ereignisse, vor denen die russische Geschichte geradezu überquillt, werden geglättet oder ignoriert.

    Das staatliche Geschichtsbild ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage

    Wir beobachten eine seltsame Idee unverbrüchlicher Kontinuität zwischen Iwan dem Schrecklichen, den Romanows, der Sowjetmacht in all ihren Ausprägungen und Wladimir Putin am Höhepunkt dieser Geschichte. Als hätte jeder von ihnen dem nächsten auf die Schulter geklopft und gesagt: „Lass uns nicht hängen, altes Haus!“ 

    Das ist Geschichte ohne Geschichtlichkeit. Denn Geschichtlichkeit und die historische Methode beruhen seit den Anfängen der deutschen Geschichtsphilosophie auf der Idee, dass sich Dinge verändern und dass das, woran wir uns gewöhnt haben, seinen Anfang und sein Ende hat.

    Dass auf dem Gebiet des heutigen Russlands regelmäßig Konflikte darüber aufgeflammt sind, aufflammen und aufflammen werden, wie das Land überhaupt beschaffen sein sollte, wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen.

    Wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen

    Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander „zu versöhnen“, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten, nur eben auf leicht unterschiedliche Art und Weise. Deswegen hätten sie sich ein bisschen gestritten und für drei, vier Jahre diesen kleinen Bürgerkrieg angezettelt. Aber im Prinzip seien das alles gute Leute gewesen, die nur die Stabilisierung des Staates gewollt hätten. 

    Dabei wird bereitwillig ausgeklammert, dass ein bedeutender Teil derer, die an diesen Ereignissen beteiligt war, meinten, dass es überhaupt keinen Staat geben sollte. Andere meinten, dass der neue Staat nichts mit dem Russischen Kaiserreich gemein haben sollte… Das war also ein echter handfester Streit, im Zuge dessen das Subjekt der Geschichte ein völlig anderes geworden ist.

    Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander ‘zu versöhnen’, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten

    Diese staatliche Idee von einem sich über den Lauf der Geschichte erstreckendes Subjekt der Geschichte zeugt von einem konservativen Weltbild. Jedoch einem grundlegend anderen als dem der lokalen Konservativen. 

    Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Zwar steckt in jedem Konservativismus ein Element der Angst, doch im Fall der modernen russischen Elite beobachten wir geradezu blanke Panik vor einer Revolution. Und diese geht in eine Angst vor jeglicher Veränderung über. Man fürchtet jede selbstständige Bewegung von unten und jede Aktivität in der Bevölkerung. Genau daher rührt das Bedürfnis nach der Erfindung jenes Mythos, dass sich in Russland nie etwas verändert habe.

    Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Im Fall der modernen russischen Elite herrscht geradezu blanke Panik vor einer Revolution

    Bemerkenswert ist, dass diesen Mythos auch Leute geschluckt haben, die sich in Russland gemeinhin als liberal bezeichnen. Von ihnen hören wir nämlich exakt dasselbe, nur mit entgegengesetztem Vorzeichen: Es gebe irgendeine besondere russische Mentalität, einen besonderen russischen Archetyp, einen Weg, den Russland einst beschritten habe und nicht verlassen könne.

    Sozialwissenschaftler Grigori Judin. Foto © EUSPb
    Sozialwissenschaftler Grigori Judin. Foto © EUSPb

    Wann das gewesen sein soll und warum, bleibt völlig unklar. Offenbar anno dazumal. Doch man beharrt darauf, dass gerade dieser Sonderweg uns daran hindere, Teil einer sagenumwobenen westlichen Welt zu werden. 

    Wie steht man in diesem lokalen Kontext zu möglichen radikalen politischen Veränderungen?

    Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor potenziellen Veränderungen geschürt. Aber man muss hier zwischen Angst und Vorsicht unterscheiden. 

    Der konstruktive Konservativismus begegnet allem Neuen mit Vorsicht. Er muss dieses Neue zunächst daraufhin befragen, ob es dem entspricht, was wir bereits haben. Sogar, wenn Veränderungen für notwendig erachtet werden, wird geprüft, ob und wie sie sich in die bestehende Ordnung integrieren lassen.

    Es überrascht also nicht, dass diese Konservativen Revolutionen besonders misstrauisch gegenüber stehen, denn über Revolutionen lassen sich keine Vorhersagen machen. Dafür passieren sie viel zu schnell.

    Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt

    Für den verängstigten Konservativismus hingegen ist die Übertragung von Angst typisch. Angst wird zum Schlüssel-Gefühl und ermöglicht damit eine zentralisierte absolute Macht. 

    Willst du deine Macht behalten? Dann jage allen um dich herum Angst ein, dass jeden Moment der Feind einfällt und alle vernichtet. Dann hast du es schon geschafft, denn du bist der Einzige, der sie beschützen kann. 

    Angst geht immer mit fehlendem Vertrauen und und fehlendem Schutz einher. Also mit etwas, das für den normalen, gemäßigten Konservativismus untypisch ist. Dieser wähnt sich nämlich auf festem Boden und weiß die Tradition hinter sich und die gibt ihm Halt. Im Gegensatz dazu fehlt dem verängstigten Konservativismus jeglicher Halt. 

    Aber, meine Herren, wenn ihr solche Angst vor einer Revolution habt, dann glaubt ihr ja wirklich, es gebe hier nichts, was euch vor einer Revolution bewahren könnte, außer dieser einen Person an der Spitze des Staates? Wir haben also einen absoluten Mangel an Verlässlichkeit. So empfinden es für gewöhnlich auch unsere Mitbürger: Wir haben keinerlei Halt, wir können uns auf niemanden außer uns selbst verlassen, wir verspüren Unsicherheit und versuchen, unsere Angst durch Privatleben und persönlichen Erfolg zu kompensieren. Wir leben in dem ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte.

    Wir leben im ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte

    Dabei ist die Angst vor einer Revolution auf keinen Fall etwas, dass eine Revolution verhindert. Eher im Gegenteil: Ein aufgeregter, emotional instabiler Zustand, der Menschen anheizen kann, ist typisch für eine Mobilisierung – auch für eine revolutionäre. 

    Das bedeutet natürlich nicht, dass morgen eine Revolution ausbricht. Doch zu behaupten, es könne keine Revolution geben, weil Meinungsumfragen belegten, dass die Menschen vor ihr Angst hätten, ist ein absoluter logischer Fehlschluss.

    Weitere Themen

    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Das Umfrageinstitut WZIOM

    Krasser Cocktail

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

    Seit der Angliederung der Krim ist Russlands Präsident im Umfrage-Hoch: Seine Beliebtheitswerte liegen bei über 80 Prozent. Doch wie zuverlässig sind solche Zahlen? Nicht sehr, meint Grigori Judin. Der Sozialwissenschaftler forscht an der renommierten Moskauer Higher School of Economics. Ein etablierter Name in der Wissenschaft ist er noch nicht, sein Interview auf Colta.ru aber verspricht frischen Wind für die russische Soziologie – es erfuhr recht große Aufmerksamkeit und wurde auch über Soziale Medien viel geteilt. dekoder bringt es in zwei Teilen

    Im ersten spricht Judin über trügerische Aussagekraft von Meinungsumfragen – selbst wenn sie von so renommierten Instituten wie dem Lewada-Zentrum kommen.

    „Umfragen liefern die Ergebnisse, die der Kreml braucht” Foto © EUSPb
    „Umfragen liefern die Ergebnisse, die der Kreml braucht” Foto © EUSPb

    Gleb Naprejenko: Heutzutage ist in Russland die Vorstellung verbreitet, es gäbe eine konservative Mehrheit, die Putin und seine Politik unterstützt. Diese Vorstellung basiert auf soziologischen Umfragen, die uns, so wird behauptet, eben jene Mehrheit dokumentieren. Was aber zeigen uns diese Umfragen tatsächlich?

    Grigori Judin: Wir haben irgendwie nicht bemerkt, wann soziologische Umfragen in Russland zur zentralen Institution politischer Repräsentation wurden. Das ist eine spezifisch russische Situation, obwohl Umfragen im Prinzip weltweit immer wichtiger werden. Aber speziell in Russland konnte das Modell der Meinungsumfragen das Publikum leicht in seinen Bann ziehen, weil es einen Anspruch auf demokratische Teilhabe verkörpert, darauf, die unverstellte Stimme des Volkes zu sein. 

    Es hypnotisiert das Publikum mit seinen Zahlen. Wäre das Publikum weniger hypnotisiert und würden wir unterscheiden zwischen dem demokratischen Prozess als Selbstbestimmung des Volkes auf der einen und Umfragen als Institution der totalen politischen Repräsentation auf der anderen Seite, dann würden wir schnell ein paar Dinge feststellen, die allen klar sind, die mit Umfragen zu tun haben. 

    Erstens ist Russland ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen –  als würde man über etwas Unanständiges reden. Es ist also kein Wunder, dass nur eine verschwindend geringe Minderheit Fragen beantwortet – erst recht zum Thema Politik. Deshalb entbehrt der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, in der Realität jeder Grundlage.

    Russland ist ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen – als würde man über etwas Unanständiges reden

    In den Umfragen gibt es einen technischen Kennwert – die Ausschöpfungsquote: Sie zeigt an, wie viele der insgesamt Befragten auf die Fragen geantwortet haben, also wie viele überhaupt zu einem Interview bereit waren. Je nach Methode bewegt sich der Anteil zwischen 10 und 30 Prozent.

    Das ist nicht sehr viel, oder?

    Das bedeutet einfach nur, dass wir über die restlichen 70 bis 90 Prozent nichts wissen. Daraus folgt wiederum eine zähe Diskussion, in die uns die Meinungsforschungsinstitute immer wieder zu verstricken versuchen, darüber, dass wir ja keine Beweise hätten, dass sich diese 10 bis 30 Prozent von den anderen 70 bis 90 unterscheiden würden. 

    Natürlich haben wir keine Beweise. Beweise hätten wir nur, wenn es uns gelingen würde, diese 70 bis 90 Prozent zu befragen, von denen wir wissen, dass sie sich nicht an Umfragen beteiligen wollen.

    Der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, entbehrt jeder Grundlage

    Aber unsere allgemeinen Beobachtungen bestätigen die Annahme, dass die Weigerung, an solchen Umfragen teilzunehmen, eine Form des passiven Widerstands ist. Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Das alles geschieht aus denselben Gründen.

    Seit wann ist das so?

    Es gab ein Aufflammen des politischen Enthusiasmus Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, und genau in dieser Zeit, 1987, wurde das erste Meinungsforschungsinstitut gegründet, das WZIOM. Meinungsumfragen waren ein neues Instrument der Repräsentation, das die sowjetische Gesellschaft nicht gekannt hatte. Sie kamen auf mit der Welle der postsowjetischen Demokratie-Begeisterung in den Jahren der Perestroika. 

    Schon Ende der 1990er flachte diese Begeisterung wieder ab, die in den 2000er Jahren in Politikverdrossenheit mündete. Deshalb bekamen wir in den 2000er Jahren diese ganzen Polittechnologien, die bewusst auf Entpolitisierung abzielten, darauf, die Politik als eine Witzveranstaltung darzustellen, wo absurde Clowns gegeneinander antreten, die kein vernünftiger Mensch jemals wählen würde. 

    Das alles schadete auch den Umfragen. 

    Denn Umfragen sind keineswegs nur eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung der öffentlichen Meinung, wie das allgemein angenommen wird, sondern auch eine Institution der politischen Repräsentation. Als solche wurden sie nämlich von George Gallup erdacht, und genau so haben sie immer funktioniert. Deshalb war die Enttäuschung über die politischen Institutionen unter anderem auch eine Enttäuschung über die Meinungsumfragen.

    Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Beides geschieht aus denselben Gründen

    In letzter Zeit kommt außerdem hinzu, dass Umfragen ganz gezielt als Technologie zur Unterdrückung politischer Partizipation eingesetzt werden. Der Staat hat sich die Meinungsforschungs-Branche praktisch angeeignet.

    Obwohl es heute drei Hauptakteure im Bereich der Meinungsumfragen gibt – FOM, WZIOM und das Lewada-Zentrum (und wir wissen, dass das Lewada-Zentrum eine regierungsferne Position einnimmt und ständigen Attacken durch den Kreml ausgesetzt ist) –, so arbeiten diese drei Unternehmen doch alle fast innerhalb ein und desselben Diskurses.

    Nachdem es nun dem Kreml gelungen war, dieses Feld unter seine ideologische Kontrolle zu bringen, wurden auf einmal genau die Ergebnisse produziert, die der Kreml brauchte.

    Von welchem Diskurs redest du?

    Wie funktioniert die Umfrage-Industrie heute? Man bezichtigt die Organisatoren von Umfragen derzeit oft der Fälschung, aber das ist fern der Realität. Die brauchen gar nichts zu erfinden oder zu lügen, sie nehmen einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde. Und weil das komplette Nachrichtenprogramm vom Kreml diktiert wird, begreifen diejenigen, die zu einem Interview bereit sind (und das sind, wie gesagt, die Wenigsten), schnell, was von ihnen erwartet wird.

    Warum bewegt sich sogar das Lewada-Zentrum innerhalb dieser Logik, obwohl es, zumindest scheint es so, oppositionell-liberal eingestellt ist?

    Weil es in genau denselben konservativen Rahmen existiert, mit dem einzigen Unterschied, dass die Staatspropaganda Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg zeichnet und sagt, wie toll das sei. Das Lewada-Zentrum dagegen bezeichnet Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg – und sagt, wie schlimm das sei. Im Hinblick auf die Sprache, mit der sie die Welt beschreiben, unterscheiden sie sich meistens nicht sonderlich voneinander.

    Wird eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen, so antworten die Menschen sofort anders

    Obwohl das Lewada-Zentrum manchmal Umfragen bringt, deren Fragestellungen nicht aus den Nachrichten vom Vortag stammen. In diesem Fällen zeigen sich dann übrigens ziemlich unerwartete Ergebnisse – eben weil man anders mit den Menschen spricht.

    Kannst du ein Beispiel nennen?

    Ein gutes Beispiel dafür war, als der Militäreinsatz zur Unterstützung Assads in Syrien gestartet wurde. Gleich zu Beginn, als die Möglichkeit solch einer Operation erstmals im Raum stand, hat das Lewada-Zentrum die Menschen befragt, ob Russland Assad direkt militärisch unterstützen und Truppen nach Syrien verlegen sollte. Die Reaktion war wenig überraschend: Im Grunde wollte kaum jemand, dass Russland sich in diese kriegerische Auseinandersetzung einmischt. 

    Gerade mal zwei Wochen später, als die Intervention schon im Gange war, hatte die Regierung eine Nachrichtensprache dafür entwickelt, und das Lewada-Zentrum griff genau diese Sprache in seiner Fragestellung auf: „Wie stehen Sie dazu, dass Russland Stellungen des Islamischen Staates (eine in Russland verbotene terroristische Vereinigung – Red.) angreift?“ 

    Hier wurde also, grob gesagt, ohne jegliche Zitatkennzeichnung eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen. Die Menschen reagierten sofort anders. Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung der Menschen zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen.

    Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen

    Wichtig ist außerdem, dass die reale Produktion der Umfragen nicht den Moskauer Instituten obliegt, die sich die Umfragen ausdenken, sondern den konkreten Interviewern und Befragten in ganz Russland. 

    Gerade erst haben wir eine Interviewreihe mit solchen Interviewern durchgeführt, und die sagen für gewöhnlich zwei Dinge. Erstens: Die Menschen wollen nicht über Politik sprechen. Das ist ein großes Problem. Wenn eine Umfrage zum Thema Politik kommt, versuchen [die Interviewer – dek] sie nach Möglichkeit loszuwerden, weil es sehr schwer ist, die Menschen dazu zu bringen, über politische Fragen zu sprechen. 

    Das Zweite hängt mit der Kluft zwischen Stadt und Land und zwischen Jung und Alt zusammen. Junge Leute sprechen besonders ungern über Politik; und was die Städte betrifft – je größer die Stadt, desto weniger wollen die Leute auf Fragen über Politik antworten. 

    Also bleibt uns eine sehr spezifische Bevölkerungsgruppe, die mehr oder weniger bereit ist, nach folgenden Regeln mitzuspielen: Ihr stellt uns Fragen aus den Abendnachrichten von gestern, und wir zeigen euch, dass wir die Nachrichten verinnerlicht haben.

    Man könnte also sagen, dass wir es mit einer allgemeinen Skepsis gegenüber der Politik zu tun haben. Aber gleichzeitig würden Sie nicht von einer konservativen öffentlichen Meinung sprechen, sondern eher davon, dass die Meinungsforschungsinstitute in ihren Methoden selbst konservativ sind?

    Konservativ ist die Sprache, in der sie mit den Menschen zu sprechen versuchen. Die öffentliche Meinung ist etwas, das von Umfragen produziert wird. Umfragen sind performativ. Von Pierre Bourdieu stammt der berühmte Aufsatz Die öffentliche Meinung gibt es nicht, der von vielen leider missverstanden wurde. Bourdieu sagt, dass es zweifelsfrei eine öffentliche Meinung als Produkt der Tätigkeit von Meinungsforschungsinstituten gibt. Wir könnten sogar sehen, dass sie eine immer größere Rolle in den Polittechnologien spielt. Sie existiert nur in dem Sinn nicht, als dass es keine unvoreingenommene, unabhängige Realität gibt, die man mittels Umfragen einfach nur neutral misst und abbildet.

    Weitere Themen

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    „Die Post-Putin-Ära läuft schon“

    Alexei Yurchak

    Außerhalb von Schwarz und Weiß

    Der imaginäre Putin

    Lewada-Zentrum

    Sprache und das Trauma der Befreiung