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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Transsibirische Eisenbahn

    Transsibirische Eisenbahn

    Im Vogelflug passiert der Zuschauer die geöffneten Newa-Brücken von St. Petersburg, den Dom von Kaliningrad, den Mamai-Hügel in Wolgograd und den Kaukasus bei Sotschi, ehe eine Dampflok durch die verschneiten russischen Weiten in die Hauptstadt Moskau fährt und dort von den Türmen des Kreml, der Christ-Erlöser-Kathedrale und dem ehrwürdigen Bolschoi-Theater empfangen wird. Auf diese Kurzreise zu den wichtigen symbolischen Orten des Gastgeberlandes wurden die Zuschauer der Fußball-WM 2018 vor jeder Übertragung im offiziellen Trailer der FIFA mitgenommen. Neben der legendären Sputnik-Kapsel und einer startenden Weltraum-Rakete, die im Clip ebenfalls kurz in Szene gesetzt werden, wirkt der funkelnde Dampfzug wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Aber jedem Betrachter ist klar: Hier handelt es sich um einen lebendigen russischen Mythos − die Transsibirische Eisenbahn.

    Der offizielle FIFA-Trailer lud den Zuschauer auf eine Kurzreise zu den wichtigsten symbolischen Orten Russlands ein
    Der offizielle FIFA-Trailer lud den Zuschauer auf eine Kurzreise zu den wichtigsten symbolischen Orten Russlands ein

    Der WM-Trailer aus dem Jahr 2018 ist nicht das einzige Indiz, dass die Transsibirische Eisenbahn, die seit mehr als 100 Jahren Europa und Asien mit einem durchgehenden Schienenstrang verbindet, im heutigen Russland wieder als wichtiges Nationalsymbol gefeiert wird. 

    Rückgrat des größten Landes

    Anfang 2018 entschied sich die russische Tourismusagentur in einem Wettbewerb für eine neue Image-Kampagne, deren Logo die Karte Russlands als eine Kollage geometrischer Formen in grellbunten Farben zeigt. Das Konzept, das an ein suprematistisches Gemälde Kasimir Malewitschs erinnert, präsentiert den europäischen Teil Russlands als ein langgestrecktes grünes Rechteck, Sibirien als großen Kreis und das Uralgebirge als schmales, vertikales rotes Band. In der Horizontalen quert eine schmale Linie die Formen-Collage, eine Referenz an die Transsibirische Eisenbahn, die hier einmal mehr als Rückgrat des größten Landes der Erde inszeniert wird.1

    Die Idee, das europäische Russland und den asiatischen Reichsteil mit einer durchgehenden Eisenbahnlinie zu verbinden, stammt bereits aus den 1850er Jahren. Realisiert wurde der Bau jedoch erst ein halbes Jahrhundert später. Erst ab 1903 fuhren die ersten durchgehenden Züge von Moskau nach Wladiwostok, eine Strecke von mehr als 9000 Kilometern. 

    Lange hatte die Zarenregierung gezögert, das teure und aufwändige Infrastrukturprojekt, das von Zeitzeugen als „Milliardengrab“ gegeißelt wurde, in Angriff zu nehmen. Den Bau in die Hände ausländischer Investoren zu legen, lehnte man aus strategischen Gründen ab. An einen ökonomischen Erfolg der Linie glaubte zunächst niemand. 
    In den 1880er Jahren mehrten sich jedoch Stimmen, die vor einer wachsenden Bedrohung der fernöstlichen russischen Besitzungen durch China und England warnten. Für eine militärische Auseinandersetzung in dieser fernen Region war Russland denkbar schlecht vorbereitet. Eine Reise von Moskau nach Irkutsk dauerte in der Mitte des 19. Jahrhundert rund 33 Tage. Wie viel Zeit im Ernstfall die Verlegung von Truppen aus dem Zentrum des Reiches an die Pazifikküste dauern würde, wagte man sich erst gar nicht auszumalen. 
    Schließlich verkündete Zar Alexander III. im Februar 1891, es sei „höchste Zeit“, Sibirien mit einem ehernen Band an das Mutterland anzubinden. Wenig später stießen Bautrupps von Tscheljabinsk nach Osten und von Wladiwostok gen Westen vor.

    Prestigeprojekt mit hohem symbolischem Wert

    In der Hochphase des Baus 1895 bis 1896 arbeiteten rund 80.000 Männer gleichzeitig an dem gewaltigen Infrastrukturprojekt. Unter ihnen waren chinesische Tagelöhner, russische Bauern, ausländische Spezialisten und Strafgefangene. Letztere waren mit dem Versprechen an die Baustellen gelockt worden, durch Mitarbeit an der Transsib die Haftzeit zu verkürzen. Gefeiert wurden später vor allem russische Ingenieure, die gewaltige Stahlbrücken zur Querung der sibirischen Flüsse entworfen hatten. 

     


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    Von Anbeginn betrachtete die Reichsregierung die Bahn als nationales Prestigeprojekt mit hohem symbolischem Wert. Die Transsib sollte aber auch wirtschaftlich dazu beitragen, dem agrarisch geprägten und den westlichen Großmächten wirtschaftlich eindeutig unterlegenem Land industriellen Schwung zu geben. Die neue Bahnlinie sollte nicht nur russische Stahl- und Lokomotiv-Fabriken mit Aufträgen versorgen. Sondern gleichzeitig träumte der größte Verfechter des Projekts, Finanzminister Sergej Witte, davon, die Weiten Sibiriens aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und ökonomisch zu erschließen. Der asiatische Teil des Imperiums galt vielen nur als „Reich der Kälte“ und aufgrund der russischen Verbannungspraxis als „größtes Gefängnis der Welt“. Mit Hilfe der neuen Bahn sollten in großer Zahl bäuerliche Kolonisten in die unerschlossenen Gegenden Sibiriens und des Fernen Ostens gebracht werden.

    Segmente der Brücke über den Fluss Ob erinnern heute an die Gründung von Nowosibirsk im Jahr 1893 / Foto ©  gemeinfrei
    Segmente der Brücke über den Fluss Ob erinnern heute an die Gründung von Nowosibirsk im Jahr 1893 / Foto © gemeinfrei

    Das Ergebnis war eine kleine Völkerwanderung: Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs fanden knapp vier Millionen russischer, belorussischer und ukrainischer Bauern in Sibirien und Russisch-Fernost eine neue Heimat. Wie Pilze schossen Städte an Kreuzungspunkten der neuen Bahnlinie mit den sibirischen Wasserwegen aus dem Boden. So verdankt das heutige Nowosibirsk seine Gründung als Nowonikolajewsk im Jahr 1893 dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Heute erinnert hier ein zum Denkmal umfunktioniertes Segment der ersten Bahnbrücke über den Fluss Ob an die Geburtsstunde der heute drittgrößten Stadt Russlands. 

    Mythos Transsib

    Der Bau der Transsib war nicht nur ein aufwändiges, sondern vor allem ein teures Unterfangen. Für die Finanzierung war der mittelarme russische Staat auf Anleihen am internationalen Geldmarkt angewiesen. Die pompösen Präsentationen des Infrastrukturprojektes auf den Weltausstellungen von Chicago im Jahr 1893 und Paris im Jahr 1900 sind nicht zuletzt als Werbemaßnahme für internationale Kreditgeber zu verstehen. 
    Besucher der Weltausstellung von Paris konnten sich auf eine virtuelle Reise in einem Luxuszug von Moskau nach Peking begeben. Vor den Fenstern des Zuges sahen Besucher ein gewaltiges Panoramen-Gemälde vorbeiziehen, auf dem Maler der Pariser Oper die Weiten Sibiriens gebannt hatten. Die „Fahrt“ dauerte 45 Minuten und war ein großer Publikumserfolg. 
    Schon bald buchten die ersten westlichen Reisenden eine Fahrt auf der längsten Bahnlinie der Welt. Journalisten priesen Sibirien als „Zukunftsland“ und die Bahn als das „erste große Bauwerk des 20. Jahrhunderts“. Der „Mythos Transsib“ war geboren. 

    Plakat der Internationalen Schlafwagengesellschaft CIWL für die Weltausstellung von Paris 1900
    Plakat der Internationalen Schlafwagengesellschaft CIWL für die Weltausstellung von Paris 1900


    In Russland blieben die Reaktionen auf den Bau des „Großen Sibirischen Weges“ dagegen verhalten. Außer bäuerlichen Kolonisten, die sich in Sibirien eine neue Existenz aufbauen wollten, und Soldaten, die während des russisch-japanischen Krieges per Bahn auf die Schlachtfelder der Mandschurei transportiert wurden, kamen nur wenige Untertanen des Zaren in den Genuss einer Fahrt mit der Transsib. 
    Noch heute können viele Russen den Traum westlicher Ausländer nur schwer verstehen, einmal im Zug von Moskau an den Pazifik zu reisen. Das Flugzeug scheint den meisten als das adäquatere Fortbewegungsmittel für diese Distanz.

    Die Transsibirische Eisenbahn sollte die Weiten Sibiriens aus dem Dornröschenschlaf wecken und ökonomisch erschließen / Foto © Artem Svetlov/flickr
    Die Transsibirische Eisenbahn sollte die Weiten Sibiriens aus dem Dornröschenschlaf wecken und ökonomisch erschließen / Foto © Artem Svetlov/flickr

    Dessen ungeachtet erlebt der „Mythos Transsib“ im heutigen Russland eine denkwürdige Renaissance. Nicht nur in Fernsehclips für die Fußball-WM 2018 und in Werbekampagnen der russischen Tourismusagentur spielt die Bahn eine wichtige Rolle. Auch in Entwicklungsszenarien der russischen Wirtschaft wird die Bedeutung der Transsib erneut beschworen. Als Teil der „Neuen Seidenstraße“ sollen in Zukunft Warenströme von China nach Europa über die Schienen der sibirischen Trasse rollen. 
    Den Traum von Russland als „Eurasischer Brücke“ und Transitland des Weltverkehrs haben bereits die Vordenker des „Großen Sibirischen Weges“ im späten 19. Jahrhundert geträumt.


    Zum Weiterlesen:

    De Cars, Jean/Caracalla, Jean-Paul (1987): Die Transsibirische Bahn: Geschichte der längsten Bahn der Welt, Zürich

    Marks, Steven G. (1991): Road to Power: The Trans-Siberian Railway and the Colonization of Asian Russia, 1850–1917, Ithaca

    Schenk, Frithjof Benjamin (2014): Russlands Fahrt in die Moderne: Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter, Stuttgart


    Zum Nachhören:


    1. itsnicethat.com: The rebrand for Russia’s tourist board uses Suprematist geometry laid out as a map ↩︎

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  • Lenins Fahrt in die Revolution

    Lenins Fahrt in die Revolution

    Die Reise Lenins aus dem Schweizer Exil zurück nach Petrograd im April 1917 gehört zu den mythenumwobenen Episoden der Russischen Revolution.
    In seiner Essaysammlung Sternstunden der Menschheit (1927) hat Stefan Zweig Lenins Fahrt im „versiegelten Zug“ ein bleibendes Denkmal gesetzt und selbst zur Sagenbildung beigetragen: „Millionen vernichtender Geschosse sind [im Ersten] Weltkrieg abgefeuert worden, die wuchtigsten, die gewaltigsten und weithintragenden Projektile von den Ingenieuren ersonnen worden. Aber kein Geschoss war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte als dieser Zug, der, geladen mit den gefährlichsten, entschlossensten Revolutionären des Jahrhunderts, in dieser Stunde von der Schweizer Grenze über ganz Deutschland saust, um in Petersburg zu landen und dort die Ordnung der Zeit zu sprengen.“1


    Hier geht es zur Vollbildansicht.

    Bis heute ranken sich zahlreiche Legenden um die Rückreise Lenins aus Zürich in das revolutionäre Petrograd, wo wenige Wochen zuvor die Februarrevolution Kaiser Nikolaus II. vom Thron gefegt hatte.

    So ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt, wie groß die Gruppe jener Revolutionäre war, die sich 1917 vom Exil in der Schweiz in die russische Hauptstadt aufmachte, und wer sich genau unter den Reisenden befand.

    Sicher ist, dass circa 30 Revolutionäre am 9. April 19172 am Hauptbahnhof Zürich kurz nach 15 Uhr den regulären Zug Richtung Schaffhausen bestiegen, um bei Thayngen/Gottmadingen die schweizerisch-deutsche Grenze zu überqueren. Hier wechselten sie in die bereitgestellten Sonderwagen der deutschen Reichsbahn.

    Unter den Reisenden waren neben Lenin und dessen Frau Nadeshda Krupskaja führende Revolutionäre wie Karl Radek, Grigori Sinowjew und Inessa Armand. Außer den Bolschewiki waren auch andere sozialistische Gruppierungen, zum Beispiel der jüdische BUND prominent vertreten.

    Größtmögliches Chaos

    Unter Vermittlung Schweizer Sozialisten hatten die Behörden des Deutschen Reiches dem Transport der Revolutionäre über das eigene Territorium zugestimmt. In Berlin begrüßte man Lenins Ziel, die Provisorische Regierung in Petrograd zu stürzen und auf einen Separatfrieden mit Deutschland im Ersten Weltkrieg hinzuwirken. Die deutschen Behörden hofften, mit Hilfe der politischen Emigranten in Russland ein „größtmögliches Chaos zu schaffen“, wie es der deutsche Gesandte in Kopenhagen, Graf Ulrich von Brockdorff-Rantzau in einer Denkschrift vom 2. April 1917 ausdrückte.3

    Deutschland sah mit Schrecken dem drohenden Kriegseintritt der USA entgegen. Vor diesem Hintergrund war man zu jedem Mittel bereit, um den Kriegsgegner im Osten zu schwächen.
     
    Die Initiative für Lenins Reise im „plombierten Zug“ ging jedoch nicht von den deutschen Behörden, sondern von den russischen Exilanten in der Schweiz aus. In Zürich, Bern und Genf hatten sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg Zentren der politischen Emigration aus dem Zarenreich gebildet. Aktivisten unterschiedlicher, vor allem sozialistischer Gruppierungen suchten in der Schweiz Schutz vor politischer Verfolgung in ihrer Heimat. Nach dem Ausbruch des Krieges kamen weitere russische Flüchtlinge hinzu. Einer von ihnen war Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, der gemeinsam mit Nadeshda Krupskaja zunächst in Bern, später in Zürich wohnte.

    Nachdem sie die Nachricht vom Sturz des Zaren erreicht hatte, gründeten russische Aktivisten auf Vorschlag des Menschewisten L. Martow in Zürich ein Zentralkomitee zur Rückkehr der in der Schweiz weilenden russischen Emigranten. Der Schweizer Sozialist Robert Grimm wurde beauftragt, mit den schweizerischen und deutschen Behörden in Kontakt zu treten, um von letzteren die Erlaubnis des Transits über deutsches Gebiet zu erwirken.

    Da Lenin die Verhandlungen jedoch zu langsam vorangingen und er Grimm verdächtigte, die Sache hinauszuzögern, beschloss er, sich auf eigene Faust mit einer kleinen Gruppe von Vertrauten in einer Sonderaktion auf den Weg zu machen.

    Sein Mittelsmann war der Schweizer Sozialist Fritz Platten, der Lenin politisch näher stand und der die Reisegruppe bis zur schwedisch-russischen Grenze begleiten sollte. Der Anführer der Bolschewiki wollte keine Zeit verlieren und die Gunst der Stunde nutzen, um in Russland die bürgerliche in eine sozialistische Revolution zu überführen.


    Im „plombierten“ Zug

    Auf ihrer Reise durch Deutschland wurden die russischen Revolutionäre von zwei deutschen Offizieren begleitet. Die Presse informierte man nicht über den Transport. Kontakte zwischen den Reisenden und der deutschen Öffentlichkeit sollte es keine geben.

    Dass der Zug „plombiert“ war, ist allerdings ein Mythos. Gesichert ist jedoch, dass die Deutschen die Abteile der Revolutionäre zum „exterritorialen Gebiet“ erklärten und dort weder Personen- noch Gepäckkontrollen durchführten. Ein mit Kreide gezogener Strich auf dem Boden des Wagens markierte die jeweiligen Bereiche.

    Von der schweizerisch-deutschen Grenze nahm der Zug Kurs auf Karlsruhe, um von dort via Offenburg, Mannheim und Frankfurt nach Berlin und von dort weiter nach Sassnitz auf Rügen zu fahren.

    Insgesamt dauerte die Fahrt von Zürich nach Petrograd eine Woche. Die Reisenden vertrieben sich die Zeit mit politischen Debatten, Lektüre oder dem Singen revolutionärer Lieder. Lenin wurde ein eigenes Zugabteil zugewiesen, in dem er arbeiten konnte. Gleichzeitig befasste er sich im Zug mit „organisatorischer Arbeit“, wie wir aus den humoristischen Erinnerungen von Karl Radek wissen:
     
    „Um einen gewissen Ort im Wagen wurde zwischen den Rauchern und Nichtrauchern ein ständiger Kampf geführt. Wir rauchten nicht im Abteil, aus Rücksicht auf den kleinen Robert [eines der beiden mitreisenden Kinder – Anmerkung des Autors] und Iljitsch, der unter dem Geruch litt. Deswegen versuchten die Raucher, einen gewissen Ort, der eigentlich für andere Zwecke vorgesehen war, in einen Rauchsalon zu verwandeln. Vor diesem Ort stand immerzu eine streitende Menge. Iljitsch zerschnitt daraufhin ein Stück Papier und verteilte Eintrittskarten.“4
     
    Am Morgen des 12. April bestiegen die Reisenden ein Schiff nach Trelleborg, wo sie von schwedischen Gesinnungsgenossen begeistert begrüßt wurden. Die nächste Station der Reise war Stockholm, wo ein längerer Zwischenhalt eingelegt wurde. Hier entstanden auch die einzigen Fotografien, die von der Reise existieren. Von der schwedischen Hauptstadt ging es weiter Richtung Norden nach Haparanda an der schwedisch-russischen Grenze, ehe die letzte Etappe der Reise nach Petrograd angetreten wurde. Am 16. April (3. April nach julianischem Kalender) 1917 traf die Reisegruppe gegen 23 Uhr in der russischen Hauptstadt am Finnländischen Bahnhof ein.

    Die Revolutionäre bei einem längeren Zwischenstop in Stockholm – in der Bildmitte mit Schirm – Lenin / Foto © Kommersant Archiv
    Die Revolutionäre bei einem längeren Zwischenstop in Stockholm – in der Bildmitte mit Schirm – Lenin / Foto © Kommersant Archiv

    Lenin in Petrograd

    Der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat und Lenins Parteifreunde bereiteten ihr einen großen Empfang. Eine Musikkapelle spielte die Marseillaise, Arbeiter und Soldaten standen mit roten Fahnen Spalier auf dem Bahnsteig. Bis heute erinnert auf dem Vorplatz des Bahnhofs das älteste Lenin-Denkmal der Stadt an die Rückkehr des Revolutionsführers nach Petrograd.

    In der Sowjetunion war Lenins Rückkehr im Jahr 1917 bald ein Mythos. Die Ankunft des Revolutionsführers markierte in offiziellen Darstellungen den Beginn jener Ereignisse, an deren Ende am 25. Oktober die Machtübernahme durch die Bolschewiki, das heißt die Große Sozialistische Oktoberrevolution stehen sollte.

    In seinem Historienfilm Oktober aus dem Jahr 1927 hat der Regisseur Sergej Eisenstein die Ankunft des Revolutionsführers dramatisch überhöht dargestellt. Stalin sollte später dafür sorgen, dass er auf Historiengemälden beim Verlassen des Zuges an der Seite Lenins dargestellt wurde, obgleich er nachweislich nicht unter den Reisenden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzte man den im Krieg zerstörten Finnländischen Bahnhof durch einen Neubau. Mit seinen 17 Fensteröffnungen in der Fassade erinnert auch er an die denkwürdigen Stunden dieses Ortes am 16. April 1917.

    Dem Zug Lenins von der Schweiz nach Russland sollten in den kommenden Monaten noch weitere Transporte russischer Emigranten folgen. Insgesamt durchquerten auf diese Art im Jahr 1917 über 400 Revolutionäre deutsches Gebiet. Unter ihnen waren führende Köpfe der revolutionären Bewegung wie L. Martow, Anatoli Lunatscharski oder Angelica Balabanowa. Im Mai kehrte auch Leo Trotzki aus dem amerikanischen Exil nach Petrograd zurück.

    Bereits am Tag nach seiner Ankunft proklamierte Lenin vor dem Petrograder Sowjet seine berühmten April-Thesen, in denen er unter anderem den Sturz der Provisorischen Regierung, die Beendigung des Krieges und die Schaffung einer Sowjetrepublik forderte. Damit war die Russische Revolution in eine neue Phase eingetreten.

    Handlanger der deutschen Imperialisten

    Vorwürfe, die Revolutionäre seien „Handlanger der deutschen Imperialisten“ und würden den Interessen des Feindes dienen, trat Lenin bereits drei Tage nach seiner Ankunft in der Prawda entschieden entgegen. 
    Tatsächlich konnten Lenin und seine Mitstreiter die Rückkehr ins revolutionäre Russland nur mit Hilfe der deutschen Reichsregierung realisieren. Der direkte Weg von der neutralen Schweiz ins revolutionäre Russland war ihnen durch die Frontlinien des Ersten Weltkrieges versperrt. Die mit Russland verbündeten Mächte Frankreich und England weigerten sich, den dezidierten Kriegsgegnern den Transit über das eigene Territorium zu gestatten.

    Britische Geheimdienstmitarbeiter versuchten sogar, an der russischen Grenze die Einreise politisch missliebiger Personen zu unterbinden. Deutschland dagegen hatte ein strategisches Interesse daran, die innenpolitische Lage in Russland zu destabilisieren und den russischen Exilanten die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen.

    In den Worten Leo Trotzkis haben sich im Falle der Reise Lenins „zwei entgegengesetzte historische Pläne in einem Punkte“ gekreuzt, und dieser Punkt sei der „‚plombierte‘ Wagen“ gewesen.5
     
    Ein russischer Staatsbürger, der den direkten Kontakt zum deutschen Kriegsgegner suchte, setzte sich jedoch dem Vorwurf des Hochverrats aus. Dies war auch Lenin bewusst. Aus diesem Grund wurde mit dem Sozialisten Fritz Platten ein Bürger der neutralen Schweiz als Mittelsmann eingeschaltet.

    Zudem stellte Lenin den deutschen Behörden klare Bedingungen. So sollte der Transport der russischen Exilanten offiziell im Tausch gegen deutsche und österreichische Kriegsgefangene aus Russland erfolgen.

    Auch die Deklaration des Zuges zum exterritorialen Gebiet, die „Versiegelung des Zuges“ und die Kontaktsperre zwischen den Reisenden und der deutschen Öffentlichkeit während der Fahrt gingen auf Lenins Initiative zurück.

    Großen Wert legten die Reisenden schließlich darauf, die Fahrkarten für den Zug selbst zu bezahlen und kein Geld von dritter Seite anzunehmen (aus diesem Grund reisten die Passagiere dritter Klasse).

    Hoffen auf die Weltrevolution

    Diese protokollarischen Feinheiten spielten in der späteren Deutung der Zugreise jedoch keine entscheidende Rolle. Winston Churchill hielt bereits 1929 fest, die Deutschen seien gegen die Russen mit der „grauenvollsten aller Waffen“ vorgegangen: „[Sie] transportierten Lenin in einem plombierten Wagen wie einen Pest-Bazillus von der Schweiz hinein nach Russland.“6

    Dass Lenin ein „deutscher Spion“ gewesen sei, wie seine politischen Gegner rasch behaupteten, ist jedoch abwegig. Zwar ist bekannt, dass die deutsche Regierung schon in den ersten Kriegsjahren große Summen bereitstellte, um revolutionäre und separatistische Kräfte in Russland (und den anderen Feindstaaten) zu unterstützen. Beträchtliche Summen waren dabei auch für die Bolschewiki bestimmt. Auf die Unterstützung des Deutschen Reiches bei der Rückkehr Lenins nach Petrograd wurde bereits hingewiesen.

    Gleichzeitig aber stand für die Revolutionäre außer Frage, dass die Zusammenarbeit mit den deutschen Imperialisten bei diesem Komplott aus rein pragmatischen Gründen erfolgte.

    Lenin gab sich überzeugt, dass nach der Vollendung der sozialistischen Revolution in Russland das Deutsche Kaiserreich als nächstes fallen und dieses Ereignis die ersehnte Weltrevolution anstoßen werde. Heute wissen wir, dass es sich bei dieser Vision um einen Wunschtraum der Bolschewiki handelte.

    In den Köpfen vieler sowjetischer Kinder war und blieb Lenin ein Eisbrecher: Der erste ging 1917 vom Stapel, der zweite (hier im Bild) 1959 – das war ein Atomeisbrecher, der bis 1989 unterwegs war / Foto © Valentin Kunov/TASS, imago-images

    1. Zweig, Stefan (1981): Der versiegelte Zug: Lenin, 9. April 1917, in: ders.: Sternstunden der Menschheit, Frankfurt, S. 240-252, hier: S. 250 ↩︎
    2. Alle Daten werden nach gregorianischem Kalender angegeben. ↩︎
    3. zit. nach: Hahlweg, Werner (1957): Lenins Reise durch Deutschland im April 1917, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 5/1957, H. 4, S. 307-333, hier: S. 313 ↩︎
    4. Radek, Karl (1972): Im plombierten Waggon, in: Lenin, Wladimir Iljitsch: Abschied von der Schweiz, Zürich, S. 33-46, hier: S. 39f. ↩︎
    5. Trotzki, Leo (1961): Mein Leben: Versuch einer Autobiographie, Berlin,S. 287 ↩︎
    6. Churchill, Winston S. (1929): The World Crisis: The Aftermath, S. 72, zit. nach: Hahlweg, Werner (1957): Lenins Rückkehr nach Russland 1917: Die deutschen Akten, Leiden, S. 4 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Die Februarrevolution

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    Historische Presseschau: Oktober 1917

    „Geknallt hätte es sowieso“ – Teil I

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    Frauen und die Revolution

  • Die Februarrevolution

    Die Februarrevolution

    „Um mich herum sind Verrat, Feigheit und Betrug“1, notierte Zar Nikolaus II. am Abend des 2. März 1917 in sein Tagebuch, nachdem er am Tag zuvor in der alt-russischen Stadt Pskow in einem Eisenbahnwaggon seine Abdankungsurkunde unterzeichnet hatte. Die dramatischen Entwicklungen, die diesem Tag vorausgegangen waren, sind als Februarrevolution in die Geschichte eingegangen. Mit ihr endete die über dreihundert Jahre währende Herrschaft des Hauses Romanow im Russischen Reich. Gleichzeitig läutete sie die Phase der spannungsreichen Doppelherrschaft der Provisorischen Regierung und dem Petrograder Rat (sowjet) der Arbeiter- und Soldatendelegierten ein.

    Demonstranten versammeln sich vor dem Taurischen Palast / Foto © unbekannter Autor/Wikipedia
    Demonstranten versammeln sich vor dem Taurischen Palast / Foto © unbekannter Autor/Wikipedia

    In den Jahren 1916/1917 erlebte Russland seinen dritten, in diesem Jahr besonders kalten Kriegswinter. Die Last des Ersten Weltkrieges, eingefrorene Verkehrswege und streikende Arbeiter führten zu einer dramatischen Versorgungskrise in der Hauptstadt. Die angekündigte Rationierung der Brotvorräte trieb die Menschen in Petrograd auf die Straßen. Es kam zu Brotkrawallen und Protestmärschen. Einer Demonstration von Textilarbeiterinnen und Hausfrauen am Internationalen Frauentag (23. Februar/8. März) schlossen sich in den Außenbezirken eine große Zahl von Arbeitern an.
     
    In den folgenden Tagen spitzte sich die Lage in der Hauptstadt dramatisch zu. Jeden Tag schlossen sich mehr Menschen den Protestmärschen an. Am 24. Februar traten etwa 210.000 Arbeiter in den Ausstand, am folgenden Tag herrschte in Petrograd praktisch Generalstreik. Der Protest nahm zunehmend politischen Charakter an. Die Demonstranten „eroberten“ das Denkmal für Zar Alexander III.  auf dem Snamenskaja-Platz, hissten rote Fahnen und proklamierten „Nieder mit dem Krieg!“ und „Nieder mit der Autokratie!“
     
    Nach Jahren eines entbehrungs- und verlustreichen Krieges war die Autorität der Zarenregierung untergraben. Das Russländische Reich steckte in einer tiefen Systemkrise. Ungeachtet umfassender Agrarreformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war die russische Landfrage nach wie vor ungelöst. Hinzu kamen prekäre Lebensbedingungen der wachsenden Zahl an Industriearbeitern und sich verschärfende Nationalitätenkonflikte an den Rändern des Vielvölkerreiches. Auch liberale Kräfte aus den gebildeten Schichten der Städte wandten sich zunehmend von der herrschenden Dynastie ab. Gerüchte kursierten, die Kaiserin stehe in Kontakt mit der Regierung des Deutschen Reiches und plane, Russland an den Feind zu verraten.

    Spirale der Gewalt

    Die Geschwindigkeit, mit der sich die Lage zuspitzte, ist unter anderem damit zu erklären, dass Nikolaus II. nicht vor Ort, sondern im Hauptquartier der Truppen im weißrussischen Mogiljow weilte. Vom Ernst der Lage in Petrograd machte er sich offenbar keine Vorstellung, Stadtregierung und Militärs informierten ihn nur bruchstückhaft über die sich ausbreitende Anarchie in der Hauptstadt. Der Befehl des Zaren vom 25. Februar, die Demonstranten mit Hilfe des Militärs auseinanderzutreiben, erwies sich als fatal. Gegebenenfalls wäre es möglich gewesen, die Protestwelle durch ausgleichende Maßnahmen und eine Verbesserung der Lebensmittelversorgung einzudämmen. So drehte sich die Spirale der Gewalt immer weiter. Am folgenden (zweiten) Blutsonntag der russischen Geschichte (26. Februar 1917) kamen bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und zarentreuen Truppen bereits unzählige Menschen ums Leben. Einen Wendepunkt markierte die Entscheidung meuternder Soldaten, nicht auf Zivilisten und „unsere Mütter und Schwestern“ zu schießen. Die Unterstützung durch diese bewaffneten Regimenter verlieh der Protestbewegung Stärke und Organisation.
     
    Als am 27. Februar bewaffnete Arbeiter und Soldaten Arsenale, Waffenfabriken, die Telefonzentrale sowie einige Bahnhöfe besetzten und über 8.000 Häftlinge aus den Gefängnissen befreiten, hatte die Zarenregierung die militärische Herrschaft über die Hauptstadt so gut wie verloren. Auf den Straßen herrschten nun anarchische Zustände. Auf der Peter und Pauls Festung wehte am 28. Februar die revolutionäre Rote Fahne.
     
    Der Gewalt fielen nicht nur Denkmale und Symbole der Autokratie zum Opfer. Marodierende Demonstranten plünderten Geschäfte und machten Jagd auf Aristokraten und Menschen in „bürgerlicher Kleidung“. Die Aktionen waren dabei von keiner revolutionären Partei oder Führung gelenkt, sondern eine relativ spontane Reaktion auf die Versorgungskrise und den Missbrauch beziehungsweise den dramatischen Verfall der Ordnungsmacht der Autokratie. In den Februartagen gab es in Petrograd mehr Tote als während der Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917.

    Neue Machtzentren

    Angesichts der chaotischen Zustände in der Hauptstadt formierten sich am 27. Februar in den gegenüberliegenden Flügeln des Taurischen Palastes zwei neue Machtzentren. Im linken Trakt tagte der Petrograder Rat (sowjet) der Arbeiter- und Soldatendelegierten, der sich als Vertretung der demonstrierenden Arbeiter und Soldaten verstand und dessen Exekutivkomitee von sozialistischen Kräften dominiert wurde. Im rechten Flügel formierte sich aus dem Progressiven Block des russischen Parlaments (Duma) eine zwölfköpfige Abgeordnetengruppe, die als Provisorische Regierung für die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in der Hauptstadt sorgen wollte. Nachdem der Ministerrat der Zarenregierung am 27. Februar seinen Rücktritt erklärt hatte, wurde in der Duma der Ruf nach Abdankung des Zaren laut. 
     
    Um in diesen schweren Stunden näher bei seiner Familie zu sein, machte sich Nikolaus II. am 28. Februar im kaiserlichen Zug auf den Weg von Mogiljow in Richtung Petrograd. Da Revolutionäre jedoch bereits einen Teil der Bahnlinie in die Hauptstadt erobert hatten, war ihm der Weg dorthin versperrt. Die Reise endete am 1. März in Pskow. Hier, circa 200 Kilometer südlich der Hauptstadt, wollte Nikolaus die weitere Entwicklung abwarten. Mittlerweile hielt jedoch auch die Armeeführung den von der Duma geforderten Rücktritt des Zaren für unumgänglich. Nachdem ihm alle Frontkommandeure zu diesem Schritt geraten hatten, unterzeichnete Nikolaus am folgenden Tag im Salonwagen seines Zuges schweren Herzens seine Abdankungsurkunde zugunsten seines Bruders Michail. Dieser verzichtete jedoch einen Tag später ebenfalls auf den Thron.

    „Die Sache war erledigt − es gab keinen Kaiser Nikolaus II. mehr“

    Im Anschluss, so erinnert sich sein Adjutant, saß Nikolaus „friedlich und ruhig da. Er hielt die Unterhaltung in Gang, und nur seine Augen, die traurig und nachdenklich waren und in die Ferne starrten, und seine nervösen Bewegungen, wenn er nach einer Zigarette griff, verrieten seine innere Verstörtheit“.2 Wenig später verließ der Zug der Sondergesandten der Duma, die die Abdankungsurkunde entgegengenommen hatten, den Bahnhof von Pskow in Richtung Petrograd. Später erinnerte sich der Hofhistoriograf Dimitri Dubenski an die Szene: „Eine kleine Menschengruppe beobachtete die Abfahrt. Die Sache war erledigt − es gab keinen Kaiser Nikolaus II. mehr.“3
     
    Die Provisorische Regierung hatte zwar die Verantwortung für die politische Führung des Landes übernommen, verfügte de facto jedoch nur über beschränkte Macht. Der Petrograder Sowjet, andererseits, etablierte sich immer deutlicher als wichtiges Zentrum der Macht, weigerte sich jedoch zunächst, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Hinzu kam, dass die Provisorische Regierung grundlegende Entscheidungen über die Neuordnung des Landes einer verfassungsgebenden Versammlung übertragen wollte, deren Wahl sich lange verzögerte. Auch vor einer Beendigung des verhassten Weltkrieges schreckte die neue Regierung, auch auf massiven Druck der verbündeten Mächte Großbritannien und Frankreich, zurück. So entstand eine politische Konstellation, die radikalen Kräften von rechts und links neue Spielräume für politische Agitation und Angriffe auf die neue, labile Ordnung bot.


    1. militera.lib.ru: Nikolaj II Aleksandrovič. Dnevniki ↩︎
    2. Mordvinov, Anatolij A. (1923): Otryvki iz vospominanii, in: Russkaja letopis´ Nr. 5 (1923), Paris, S. 65-177, Zitat: S. 113. Dt. Übers. nach: Figes, Orlando (2001): Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, München, S. 369 ↩︎
    3. Dubenskij, Dmitrij N. (1927): Kak proizošel perevorot v Rossii, in: Ščegolev, P.E. (Hrsg.): Otrečenie Nikolaja II. Vospominanija očevidcev, Leningrad (Repr. Moskau 1990), S. 37-84, Zitat: S. 72 ↩︎




    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Alexander Newski

    Alexander Newski

    Als Fürst von Nowgorod errang Alexander Jaroslawitsch „Newski“ im 13. Jahrhundert wichtige militärische Siege gegen Schweden und den Deutschen Orden. Diese Erfolge begründeten die Verehrung, die ihm bis heute in Russland zuteil wird. Von der Orthodoxen Kirche heiliggesprochen, tilgten die Bolschewiki zunächst die Erinnerung an ihn aus der Geschichte, bis er als nationale Identifikationsfigur unter Stalin in den 1930er Jahren wieder rehabilitiert wurde.

    Alexander Jaroslawitsch „Newski“ (ca. 1221–1263) regierte als Fürst von Nowgorod und Großfürst von Wladimir-Susdal in der sogenannten Zeit der Teilungen (Udelnaja Rus). Der Glanz des Kiewer Reiches war im 13. Jahrhundert bereits verblasst, und Teilfürstentümer stritten um dessen Erbe. Zusätzlich sahen sich die Fürsten von außen bedroht – und das gleich von mehreren Seiten: Mongolen griffen aus dem Osten an, katholische Mächte aus dem Norden und Westen. Im Jahr 1240 jedoch bezwang Alexander Jaroslawitsch an der Spitze eines Nowgoroder Heeres auf dem Gebiet des heutigen St. Petersburg eine Streitmacht des schwedischen Königs – dem Sieg in dieser Schlacht an der Newa verdankt er seinen Beinamen „Newski“. Und sein militärischer Erfolg riss nicht ab: In der Schlacht auf dem Eis besiegte er 1242 ein Heer des Deutschen Ordens auf dem Peipus-See. Auch aufgrund seiner strategischen Geschicklichkeit stieg Alexander 1252 schließlich zum Großfürsten der Rus auf. Als solcher verfolgte er gegenüber den mongolischen Fremdherren eine moderate Ausgleichspolitik. Er starb 1263 auf der Rückreise vom Khan der Goldenen Horde in Gorodez an der Wolga.

    Bereits kurz nach seinem Tod wurde Alexander Newski am Ort seines Grabes in Wladimir als (Lokal-)Heiliger verehrt – die ältesten erhaltenen Ikonen zeigen ihn im Gewand eines orthodoxen Mönches. Mitte des 16. Jahrhunderts, in der Regierungszeit Iwans IV. (des Schrecklichen), wurde Alexander Newski dann von der Russisch-Orthodoxen Kirche offiziell heiliggesprochen. Schließlich stieg er durch die Kirchenpolitik von Zar Peter I. (dem Großen) zu einem der wichtigsten russischen Nationalheiligen auf: Der Reformzar setzte den Heiligen als Schutzpatron der neuen Hauptstadt St. Petersburg ein, gründete dort zu seinen Ehren ein prächtiges Kloster (Alexander-Newski-Lawra) und ließ die Reliquien des Heiligen aus der Stadt Wladimir an die Newa überführen. Seit dieser Zeit durfte Alexander Newski auf Ikonen und in der Historienmalerei nur noch als Fürst (und nicht mehr als Mönch) dargestellt werden. Im 19. Jahrhundert spielte Alexander Newski nicht zuletzt als Namensheiliger von drei Zaren (Alexander I., II. und III.) eine herausragende Rolle, auch wurden ihm in dieser Zeit zahlreiche orthodoxe Kirchen innerhalb und außerhalb Russlands geweiht. Während des Ersten Weltkriegs avancierte Alexander Newski dann zu einer entschieden antideutschen nationalen Identifikationsfigur.

    Eine der ältesten Ikonen
    Eine der ältesten Ikonen

    Nach der Oktoberrevolution versuchten die Bolschewiki das Andenken an Alexander Newski zunächst zu unterdrücken. Zum einen wurden seine Gebeine abermals an einen anderen Ort gebracht – diesmal in das neu gegründete Leningrader Museum für Religion und Atheismus. Zum anderen verschwand sein Name aus den Geschichtsbüchern für den Schulunterricht. Mitte der 1930er Jahre jedoch, vor dem Hintergrund von Stalins Wende zur Ideologie des Sowjetpatriotismus, reaktivierten die Bolschewiki Alexander Newski als historische Identifikationsfigur. Die neuen Machthaber unterstrichen dabei vor allem seine militärischen Verdienste und seine Rolle als politischer Führer. Diese Rolle stellte auch der gleichnamige Historienfilm von Sergej Eisenstein aus dem Jahr 1938 heraus. Newskis Rehabilitierung erreichte im Großen Vaterländischen Krieg ihren Höhepunkt – er avancierte während des Krieges zu einer der wichtigsten historischen Heldenfiguren der UdSSR. Dabei wurde eine Verbindungslinie zwischen den Kämpfen Nowgorods unter Alexander Newski gegen den Deutschen Orden und dem Kampf der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland gezogen.

    Alexander Newski nimmt auch im heutigen Russland einen prominenten Platz im kulturellen Gedächtnis ein. In der TV-Show Imja Rossija (deutsch: „Der Name Russlands“) wurde er 2008 von den Fernsehzuschauern zur wichtigsten Figur der russischen Geschichte gewählt. Seit der Rücküberführung seiner Reliquien im Jahr 1989 ist die Alexander-Newski-Lawra in Sankt Petersburg erneut das Zentrum seiner Heiligenverehrung.

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