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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die deutsche Erinnerung an den Holocaust in der Sowjetunion und im Baltikum

    Die deutsche Erinnerung an den Holocaust in der Sowjetunion und im Baltikum

    Die deutsche Erinnerung an den Holocaust ist von dem Topos Auschwitz geprägt. Die Gleisanlagen des Vernichtungslagers stehen für die Ermordung des europäischen Judentums. Unter den Millionen von Besucher:innen, die jährlich die Gedenkstätte und das Museum Auschwitz-Birkenau besuchen, sind auch zahlreiche Personen und Gruppen aus Deutschland. Dieses Interesse steht im krassen Kontrast zum Erinnern an die Vernichtungsorte auf baltischem oder ehemals sowjetischem Boden. Jene unzähligen Schluchten und Wälder, heute vor allem in Litauen, der Ukraine, Belarus und im Westen Russlands gelegen – sie sind in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geraten. Doch warum ist das so?

    РУССКАЯ ВЕРСИЯ

    Im Vergleich zu der Ermordung vorwiegend polnischer sowie west- und südosteuropäischer Jüdinnen und Juden in deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern ist die Auslöschung der sowjetischen und baltischen Jüdinnen und Juden in der deutschen Erinnerung weniger präsent. Doch auch der Erinnerungsort Auschwitz und die Erinnerung an den Holocaust insgesamt haben ihre Geschichte.1

    Erinnerung an den Holocaust nach dem Zweiten Weltkrieg

    Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust war in Deutschland nach dem Krieg keineswegs sofort Teil der politischen Kultur. Vielmehr konnten viele Nationalsozialisten ihre Karrieren im Nachkriegsdeutschland fortsetzen und auch gesellschaftlich fand lange keine Ächtung der deutschen Verbrechen statt. In der DDR wurde zwar eine erhebliche Zahl deutscher Verbrechen auf sowjetischem Boden vor Gericht geahndet, in ihrem Selbstverständnis als antifaschistischer Staat sah sich die DDR aber nicht als Nachfolgerin des NS-Regimes. Obwohl auch auf Grund ihrer biographischen Prägung politische Eliten in der DDR eher bereit waren, den verbrecherischen Charakter des deutschen Kriegs im Osten anzuerkennen, so ließen die offiziellen Geschichtsnarrative nach dem Krieg kaum Raum für die Schoah. In der Bundesrepublik war es erst die beginnende juristische Aufarbeitung der NS-Zeit in den späten 1950er und 1960er Jahren, die eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema forcierte. Zu den wichtigsten Verfahren zählten dabei der aufsehenerregende Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem (1961) sowie die Frankfurter Auschwitzprozesse in den folgenden Jahren.

    Das öffentliche Interesse ebbte allerdings in den 1970er Jahre wieder ab. Erst durch die Ausstrahlung der US-amerikanischen TV-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss am Ende des Jahrzehnts gelangte das Thema wieder in das öffentliche Bewusstsein. Weitere entscheidende Weichen für den heutigen deutschen Umgang mit dem Holocaust wurden in den 1980er Jahren gestellt. So bezeichnete Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede zum 8. Mai 1985 das Kriegsende erstmals als Befreiung statt als Niederlage und gedachte unterschiedlicher Opfergruppen. Und im sogenannten Historikerstreit, der 1986 und 1987 im deutschen Feuilleton ausgetragen wurde, setzten sich diejenigen durch, die den Holocaust als Fundament des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses begriffen. 

    Die Politik zog in gewisser Weise nach: Seit 1996 ist der 27. Januar der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. An diesem Tag befreite die Rote Armee im Jahr 1945 das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, insofern ist auch die Wahl dieses Tages ein Zeichen dafür, dass der Bezug zu dem Ort Auschwitz den Fluchtpunkt der deutschen Erinnerung bildet. Dies manifestiert sich auch in der erinnnerungspolitischen Formel „Nie wieder Auschwitz“.

    Dass Auschwitz selbst nicht in Vergessenheit geriet, war zuerst dem Einsatz ehemaliger polnischer Häftlinge zu verdanken. 1947 entstand auf ihre Initiative hin ein Museum. Auch wenn es zunächst im Einklang mit der kommunistischen Ideologie vor allem als Ort des polnischen Widerstands konzeptualisiert war, wurde es in den 1960er Jahren durch eine Reihe von „nationalen Ausstellungen“ – kuratiert von den Ländern, aus denen die Opfer stammten – internationalisiert. Für die Gestaltung der deutschen Ausstellung, die bis heute zu besichtigen ist, war die DDR verantwortlich. 1968 konnte schließlich eine erste Ausstellung gezeigt werden, die die Ermordung der Jüdinnen und Juden in den Mittelpunkt stellte.

    Keine Orte

    Ein mit dem Topos „Auschwitz“ vergleichbares Symbol für die Vernichtung der sowjetischen Jüdinnen und Juden fehlt bis heute. Am bekanntesten2 ist noch das Massaker von Babyn Jar, das Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD gemeinsam mit der Wehrmacht, deutschen Polizisten und ihren ukrainischen Helfern am 29. und 30. September 1941 in der Nähe der gerade eingenommenen Stadt Kiew durchführten. Sie erschossen innerhalb von zwei Tagen mehr als 33.000 Jüdinnen und Juden. Es war das größte Einzelmassaker während der Schoah und steht nicht zuletzt für die zentrale Rolle der Wehrmacht bei den deutschen Verbrechen auf sowjetischem Boden. 

    Zahlreiche ähnliche Orte, etwa Drobizki Jar oder das IX Fortas, sind in Deutschland kaum bekannt, und dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen wurden die Opfer des Holocaust auf dem Gebiet der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten oftmals nicht in Gaskammern geschickt, sondern direkt nach der Einnahme einer Stadt oder eines Dorfes von den Deutschen und ihren Helfer:innen erschossen. Lager wie Maly Trostenez in Belarus gab es zwar auch, aber nicht in dem Ausmaß wie im besetzten Polen. Unzählige dieser häufig an den Rändern von (Klein-)Städten gelegenen Tatorte sind zu einem nicht unerheblichen Teil tatsächlich physisch verschwunden, überwuchert von Wäldern und Gräsern. Zudem erhielt schon Anfang 1942 der SS-Standartenführer Paul Blobel den Befehl, vor allem in Polen und in der Ukraine die Spuren der deutschen Verbrechen zu beseitigen.

    Zwar gelang dies in vielen Fällen nicht. Aber die Erinnerung an das, was dort während des Zweiten Weltkriegs geschehen war, wurde an diesen Orten nach 1945 – anders als in Auschwitz – vom sowjetischen Staat kaum am Leben erhalten. Zwar entstanden in der Sowjetunion monumentale Denkmäler, die an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg erinnerten und den Heldenmut der sowjetischen Bevölkerung feierten, aber diese Form der Erinnerung ließ wenig Raum für die Erfahrungen derjenigen, die den Deutschen und ihren Helfer:innen ausgeliefert waren und keine Möglichkeit hatten zu kämpfen.

    Keine Stimmen

    Im Falle von Auschwitz gab es Überlebende aus ganz Europa, die über ihre Erfahrungen schreiben und sprechen konnten und deren Stimmen allmählich in die Öffentlichkeit drangen. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der italienische Schriftsteller Primo Levi, dessen Werk Ist das ein Mensch? 1958 in Deutschland erschien. Zudem traten einige deutschsprachige Überlebende regelmäßig öffentlich als Zeitzeug:innen auf. Doch für das sowjetische Judentum fehlten diese Stimmen. Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass die Ermordung der baltischen und sowjetischen Jüdinnen und Juden bis heute in Deutschland weniger präsent ist.

    Die Stimmen fehlten zum einen, weil so wenige überlebt hatten. Zum anderen spielte in diesem Zusammenhang aber auch die sowjetische Marginalisierung jüdischer Narrative eine Rolle. Diese lässt sich teilweise auf den Antisemitismus in der Sowjetunion zurückführen. Vor allem aber fügte sich die Spezifik der jüdischen Erfahrung nicht in die Erzählung von den sowjetischen Völkern ein, die alle gleichermaßen unter den deutschen Faschist:innen gelitten hätten. Beobachtungen wie in Wassili Grossmans 1943 erschienener Reportage Ukraine ohne Juden hätten nach dem Krieg nicht mehr erscheinen können.

    In dem Text, den Grossman als Kriegsberichterstatter während des Vormarschs der Roten Armee gen Westen verfasste, wird literarisch eindrucksvoll der Kontrast zwischen der ukrainischen und der jüdischen Erfahrung herausgearbeitet. Das ukrainische Volk hatte unter der deutschen Besatzung unzählige Opfer zu beklagen: „In keiner ukrainischen Stadt, in keinem Dorf, gibt es ein Haus, wo nicht Worte der Entrüstung über die Deutschen zu hören wären, wo während dieser zwei Jahre keine Tränen vergossen worden wären, wo der deutsche Faschismus nicht verflucht würde, kein Haus ohne Witwen und Waisen.“

    Doch anders als im Falle der jüdischen Bevölkerung, gab es unter den Ukrainer:innen Überlebende, die ihre Geschichten erzählen konnten. Die Einzigartigkeit des Verbrechens an den Jüdinnen und Juden lag darin, dass sie ausgelöscht worden waren und zwar „allein deshalb, weil sie Juden waren. […] Es gibt in der Ukraine Dörfer“, so Grossman weiter, „in denen man keine Klagen hört und keine ausgeweinten Augen sieht, wo Stille und Ruhe herrschen.“ Und wie ganze Dörfer schwiegen, so schwiegen auch die Juden der Ukraine. „Es gibt keine Juden in der Ukraine. […] Ein Volk wurde meuchlerisch ermordet […].“3

    Unter den Vorzeichen des Kalten Kriegs hatten es die sowjetisch-jüdischen Überlebenden und ihre Nachfahren zudem schwer, bis in die westliche Öffentlichkeit vorzudringen. Auch Grossmans Jahrhundertroman Leben und Schicksal, in dem er eindrucksvoll die Ermordung der sowjetischen jüdischen Bevölkerung schildert, konnte erst 1984 – über abenteuerliche Wege und nachdem es in der Sowjetunion der Zensur zum Opfer gefallen war – in Deutschland erscheinen.4

    Kein Interesse

    Und selbst den wenigen Stimmen, die es gab, schenkten die Deutschen wenig Beachtung. So etwa im Falle der Künstlerin Dina Pronitschewa, die als eine der ganz wenigen das Massaker von Babyn Jar überlebt hatte. Sie wurde im Rahmen des so genannten Callsen-Prozesses, in welchem sich eine Reihe von SS-Männern für ihre Beteiligung an den Morden am Stadtrand Kiews vor einem bundesdeutschen Gericht in Darmstadt verantworten mussten, als Zeugin gehört. Sie schilderte ihre grauenhaften Erfahrungen am 29. April 1968, aber die deutsche Öffentlichkeit nahm kaum Notiz davon. Lediglich das lokale Darmstädter Echo berichtete ausführlich.5 Auch später in Deutschland erschienene Zeugnisse, etwa das erinnerte Tagebuch von Mascha Rolnikaite über das Ghetto in Vilnius, sind bis heute in Deutschland nahezu unbekannt.

    Damit ist ein weiterer Grund für das Schattendasein der Ermordung des sowjetischen Judentums in der bundesdeutschen Erinnerungskultur genannt: die Verdrängung der eigenen Taten. Der Krieg gegen die Sowjetunion, der von Beginn an einer anderen Logik folgte als die Kriegsführung im Westen, figurierte nach Kriegsende vor allem als „Russlandfeldzug“. Der Anti-Bolschewismus der Nationalsozialisten überlebte in abgewandelter Form eines bundesrepublikanischen Anti-Kommunismus im Kontext der Westintegration. Obwohl die Wehrmacht den erbarmungslosen Vernichtungskrieg von Beginn an mitgetragen hatte, sahen sich die meisten der Soldaten nicht als Täter.  Stattdessen stand der „Mythos Stalingrad“ im Zentrum der Erinnerung an den Krieg im Osten.6 Dieser Mythos stellte das eigene deutsche Leid in den Mittelpunkt, personifiziert durch die von der eigenen Führung verratenen Soldaten im Kessel der Wolgastadt. Damit wurden die anderen Dimensionen des Kriegs überdeckt, über die die Täter auch in den Familien in der Regel schwiegen.7 Wie beharrlich sich die Vorstellung der vermeintlich sauberen Wehrmacht in der deutschen Gedenkkultur hielt, zeigten die Proteste und hochemotionalen Reaktionen auf die Wehrmachtausstellungen (1995–1999, 2001–2004) des Hamburger Instituts für Sozialforschung, welche die tragende Rolle der deutschen Streitkräfte bei einer Vielzahl von Verbrechen – darunter auch dem Holocaust – im östlichen Europa dokumentierten.8

    In gewisser Weise war die erinnerungskulturelle Reduktion der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden auf den Ort Auschwitz die gesellschaftlich bequemere. Der Täter:innenkreis konnte auf diese Weise auf die mörderischen Absichten einer überschaubaren Zahl von SS-Leuten reduziert werden, die den anonymen Massenmord in Lagern perfektionierten. Die Wehrmachtausstellungen zeigten dagegen den engen Nexus zwischen Vernichtungskrieg und Schoah, unter anderem in der Sowjetunion. Sie zwangen die breitere Öffentlichkeit zu einer Auseinandersetzung, zu der jedoch vor allem rechte und konservative Kreise selbst in den 1990er und frühen 2000er Jahren nicht bereit waren und deren erinnerungspolitische Konsequenzen sie ablehnten.

    Die Erinnerung an den Krieg gegen die Sowjetunion ist in Deutschland immer noch im Wandel. Anlässlich des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine in der Presse viel beachtete Rede. Darin wies er auf die ungeheuren Dimensionen des deutschen Vernichtungskriegs im Osten hin und mahnte zugleich an, dass viele seiner Schauplätze bis heute in Deutschland noch viel zu unbekannt seien. Dabei erinnerte er auch an die Erschießung der jüdischen Bevölkerung auf dem von Deutschland besetzten Gebiet der Sowjetunion.9Es bleibt zu hoffen, dass in den kommenden Jahren das gesellschaftliche Wissen um die Schoah jenseits von Auschwitz und den anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern weiter zunehmen wird. 


    1. Hansen, Imke (2015): „Nie wieder Auschwitz!“: die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945 – 1955, Göttingen ↩︎
    2. Die relative Bekanntheit von Babyn Jar speist sich aus unterschiedlichen Quellen. Zum einen wurde das Massaker in der zweiten Folge der amerikanischen TV-Serie Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiß dargestellt, die im Januar 1979 in Deutschland von den dritten Programmen der ARD ausgestrahlt wurde. Zum anderen hat aber auch vor einigen Jahren die Autorin Katja Petrowskaja das Verbrechen in Deutschland bekannter gemacht. In ihrer Erzählung Vielleicht Ester, für die sie 2014 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, verarbeitete sie das Schicksal ihrer in Babyn Jar ermordeten Urgroßmutter. ↩︎
    3. vgl. Grossman, Wassili (2010): Ukraine ohne Juden, aus dem Russischen übertragen und eingeleitet von Jürgen Zarusky, in: Hürter, Johannes/Zarusky, Jürgen (Hrsg.): Besatzung, Kollaboration, Holocaust: Neue Studien zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Mit einer Reportage von Wassili Grossman, München, S. 189-200, hier S. 196-197, 199 ↩︎
    4. Größeres Aufsehen erregte in den deutschen Feuilletons dann die vollständige Fassung, die erst 2007 aufgelegt wurde. ↩︎
    5. In der Grube den Fangschüssen entkommen: Erste russische Zeugin berichtet im Kommando-Prozeß über das Massaker bei Kiew, Darmstädter Echo, 30. April 1968, S. 8. Abgedruckt in Osteuropa 71, 1-2 (2021), S. 59-61. Erst in diesem Jahr wurde ihre Aussage vollständig in deutscher Übersetzung gedruckt., vgl. Aussage der Zeugin Dina Proničeva, Kiew, in: Osteuropa 71, 1-2 (2021), S. 47-57. Zur Geschichte ihrer Zeugenaussage siehe: Berkhoff, Karel C. (2021): Aussage in der Heimat der Täter: Dina Proničeva im Callsen-Prozess, in: Osteuropa 71, 1-2 (2021), S. 41-46 ↩︎
    6. Morina, Christina (2011): Legacies of Stalingrad: Remembering the Eastern Front in Germany since 1945, Cambridge ↩︎
    7. Wette, Wolfram (Hrsg, 2012): Stalingrad: Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, Frankfurt a. Main ↩︎
    8. Hartmann, Christian/Hürter, Johannes/Jureit, Ulrike (Hrsg., 2005): Verbrechen der Wehrmacht: Bilanz einer Debatte, München ↩︎
    9. Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 18. Juni 2021 in Berlin ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von:

    Sie entstand mit der Unterstützung der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen.

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    Warum am 22. Juni 1941 auch der Holocaust begann

  • Dekabristen

    Dekabristen

    Als „adelige Revolutionäre“ beschrieb Wladimir Lenin die russischen Offiziere, die sich im Dezember 1825 zum Aufstand gegen den Zaren entschlossen. Tatsächlich prägte der Aufstand der sogenannten Dekabristen die Entwicklung des Russischen Reichs im 19. Jahrhundert maßgeblich.

    Am 14. Dezember 1825 (julianischer Zeitrechnung) versammelten sich im Verlauf des Tages etwa 3000 russische Offiziere auf dem Petersburger Senatsplatz (russ. Senatskaja Ploschtschad). In einem bis dahin beispiellosen Vorgang in der russischen Geschichte verweigerten sie dem neuen Zaren Nikolaus I. die Gefolgschaft. Dieser Erhebung war eine sich über etwa zwei Wochen erstreckende Unklarheit über die Thronfolge vorangegangen: Schon am 19. November war Zar Alexander I. gestorben, und die Petersburger Elite war zunächst davon ausgegangen, dass sein Bruder Konstantin ihm folgen würde. Dieser allerdings lebte in einer nicht standesgemäßen Ehe in Warschau und weigerte sich, den Thron zu besteigen. Aus Sicht der später als Dekabristen bekannten Offiziere war dies ein willkommener, wenn auch unerwarteter, Anlass sich gegen das zaristische Regime zu stellen.

    Ursprünge des Dekabristen-Aufstandes

    „Wir waren Kinder von 1812“ schrieb der Dekabrist Matwej Murawjew-Apostol in seinen Memoiren, und in der Tat reichten die Ursprünge des Dekabristen-Aufstands mindestens so weit zurück. In diesem Jahr kämpften einige der späteren Aufständischen als junge Offiziere im Vaterländischen Krieg gegen Napoleon. Der Krieg und die folgenden ausländischen Feldzüge endeten nicht nur mit einem russischen Sieg, sondern brachten die adeligen militärischen Eliten mit den politischen Ideen im westlichen Europa nach 1789 in direkten Kontakt. Hier galt die Macht des Monarchen nicht mehr als unantastbar, und in vielen Staaten war die Leibeigenschaft der Bauern bereits aufgehoben worden. Noch wichtiger war aber die gemeinsame Kriegserfahrung von russischen Bauern und Adeligen. Sie änderte das Bild, das sich die Offiziere von den russischen Bauern machten. Sie galten den späteren Aufständischen nun als die Verkörperung des russischen Vaterlands, deren fortwährende Unterdrückung inakzeptabel war.

    Diese Erfahrungen und Ideen prägten die Offiziere nach ihrer Rückkehr nach Russland.

    Sie organisierten sich in geheimen Gesellschaften, in denen sie politische Zukunftsvisionen für ihre Heimat entwarfen. Ihnen schlossen sich auch eine Reihe von gebildeten Offizieren an, die selbst nicht im westlichen Europa gekämpft hatten. Politische Einigkeit bestand zwischen den unterschiedlichen Bündnissen allerdings nicht: während Pawel Pastel im Südbund eine Verfassung für ein künftiges, republikanisches Russland entwarf, befürwortete der sogenannte Nordbund unter Führung von Nikita Murawjew lediglich die Einschränkung der Macht des Zaren und die Abschaffung der Leibeigenschaft der russischen Bauern.

    Scheitern des Aufstandes

    Nur mit dieser Vorgeschichte lässt sich die Erhebung von 1825 erklären. Erfolgreich waren die Aufständischen allerdings nicht. Die Abwesenheit eindeutiger Führungsfiguren und die eigene Planlosigkeit erleichterten die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands noch am selben Tag. Fünf der Revolutionäre wurden später erhängt, eine ungleich größere Zahl ins Exil nach Sibirien geschickt. Viele von ihnen widmeten sich dort der Bildungs-, Sozial- und Kulturarbeit und hatten so in den folgenden Jahrzehnten einen erheblichen Einfluss auf die sibirische Gesellschaft. Aber auch für das autokratische Gefüge waren die Folgen des Dekabristen-Aufstands immens. Zar Nikolaus I. war von der offenen Infragestellung der Autokratie traumatisiert, was sich auch auf seine Herrschaft (1825–1855) auswirkte.

    Der Aufstand aus Sicht der Forschung

    Lange Zeit hat die historische Forschung seine Politik als eine reaktionäre Ära gedeutet, die vor allem darauf bedacht gewesen sei, die Herrschaft des Zaren zu zementieren und Russland vor den Ideen der Französischen Revolution zu schützen. In der Tat war Nikolaus I. ein zutiefst konservativer Staatsmann, für den die Einschränkung monarchischer Herrschaft undenkbar war. Allerdings hat die jüngere Forschung inzwischen darauf verwiesen, dass die Erfahrung des Dekabristen-Aufstands auch ein Katalysator für vorsichtige Reformen von oben war, etwa in der Verwaltung und im Militär. Diese wiederum hätten die Grundlagen für zumindest einige der Großen Reformen von Zar Alexander II. in den 60–70er Jahren des 19. Jahrhunderts gelegt.1


    1. So zum Beispiel A.I. Polunov (2005): Russia in the nineteenth century. Autocracy, reform and social change, New York
      ↩︎

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  • Sergej Uwarow

    Sergej Uwarow

    Sergej Uwarow (1786–1855), Bildungsminister unter Zar Nikolaus I., gilt in der Geschichtsschreibung als widersprüchliche Persönlichkeit. Einerseits machte er sich um das Schul- und Universitätswesen in Russland verdient, andererseits war er ein ausgesprochen konservativer Ideologe des Zarenreiches, dem der berühmte Dreiklang Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit zugeschrieben wird.

    Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit

    „Es gibt drei Grundlagen, ohne die Russland nicht blühen, nicht stärker werden, nicht leben kann […]: Erstens die Orthodoxie, zweitens die Selbstherrschaft und drittens die Volkstümlichkeit (narodnost).“ So äußerte sich der frisch berufene Bildungsminister des Russischen Reiches, Graf Sergej Semjonowitsch Uwarow, im November 1833 in einem Gespräch gegenüber Zar Nikolaus I. Diese später als Theorie der offiziellen Volkstümlichkeit beschriebene Losung sollte zu einer wichtigen ideologischen Grundlage der Herrschaft Nikolaus‘ I. werden, der darum bemüht war, sich als die Verkörperung der russischen Nation zu inszenieren.1 Das autokratische Herrschaftssystem wurde nun nicht mehr nur aus einer göttlichen Legitimation abgeleitet, sondern als eine zutiefst russische Eigenschaft gedeutet, durch die Russland sich angeblich fundamental von Europa unterscheide.

    Antwort auf die Prinzipien der Französischen Revolution

    Sergej Uwarows zentrale Rolle für die ideologische Ausgestaltung der konservativen Herrschaft Nikolaus‘ I. hat ihm lange Zeit den Vorwurf des Anti-Liberalismus eingebracht. In der Tat ist Uwarows Dreiklang von Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit als Antwort auf  die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der Französischen Revolution von 1789 zu verstehen. Trotzdem stellt sich die Frage, ob man Uwarow mit diesem Urteil gerecht wird. 1786 als Sohn russischer Adeliger in Moskau geboren, widmete sich Uwarow in seinem Studium, das er teilweise in Deutschland absolvierte, vor allem der klassischen Antike. Selbst anerkannter Wissenschaftler, wurde er 1818 zum Präsidenten der ehrwürdigen Petersburger Akademie der Wissenschaften ernannt und behielt dieses Amt bis zu seinem Tod im Jahr 1855.

    Noch 1818 hatte Uwarow die Freiheit als ein hohes Gut gelobt. Was bewog ihn 1833 dazu, die Selbstherrschaft als Herrschaftsform zu empfehlen?2 Zar Nikolaus I. war 1825 nach dem gescheiterten Dekabristen-Aufstand an die Macht gekommen, in dem junge Offiziere vergeblich eine Einschränkung der autokratischen Herrschaft gefordert hatten. Einige der Offiziere hatten für ihre Forderungen mit Exil oder gar mit ihrem Leben zahlen müssen.

    S. Uwarow, 1815 / Foto © artsait.ru
    S. Uwarow, 1815 / Foto © artsait.ru

    Ideologische Antworten auf die Herausforderungen der Zeit

    1830 waren in Belgien und Frankreich revolutionäre Erhebungen ausgebrochen. Das Zarenreich selbst sah sich im polnischen Aufstand von 1830/31, der schließlich mit Gewalt niedergeschlagen wurde, fundamental herausgefordert. Zumindest aus Sicht der Beamten des Zarenreiches war es da nur folgerichtig, eine ideologische Antwort auf die Herausforderungen der Zeit zu formulieren, die die Stabilität des Zarenreichs sichern sollte. Dass Nikolaus I. keinesfalls eine Einschränkung der Zarenmacht dulden würde, war zu diesem Zeitpunkt völlig eindeutig.

    In der Französischen Revolution war das Prinzip der göttlichen Legitimation der Königsmacht durch den Bezug auf die Nation als Quelle politischer Herrschaft in Frage gestellt worden. Mehr noch: Russland war im 19. Jahrhundert kein Nationalstaat, sondern ein Vielvölkerreich. Vor diesem Hintergrund musste aus Sicht Uwarows die russische Nation genau wie die Selbstherrschaft gestärkt werden. Als eine Quelle konnte dabei der Rückbezug auf die russische Orthodoxie dienen, und die Selbstherrschaft selbst musste eben national gedeutet werden, wenn sie das 19. Jahrhundert überstehen wollte. Die politische Schlagkraft nationaler Bewegungen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert für das russische Vielvölkerreich zu einer zentralen Herausforderung und Sergej Uwarow hatte dies vielleicht schon in den 1830er Jahren begriffen.

    Uwarow war aber auch Architekt zahlreicher Bildungsreformen im Zarenreich. Er trieb nicht nur den Ausbau des Realschulwesens voran, sondern war auch eine zentrale Figur für die Gründung staatlicher Schulen für die Juden des Russischen Reiches. Einige Jahrzehnte später sollte aus den Absolventen dieser Schulen die erste Generation einer russisch-jüdischen Intelligenzija hervorgehen. In mehrfacher Hinsicht war Uwarow also einer der einflussreichsten Staatsmänner seiner Zeit.


    1. Unter der Ägide Nikolaus‘ I. entstanden unter anderem die Nationalhymne „Gott, schütze den Zaren!“ und die berühmte Oper „Ein Leben für den Zaren“ von Michail Glinka. Für die Selbstinszenierung NikolaUs‘ I. als Verkörperung der russischen Nation, siehe: Wortman, Richard S. (2006): Scenarios of power: Myth and ceremony in Russian monarchy from Peter the Great to the abdication of Nicholas II, Princeton, S. 143–165 ↩︎
    2. Für eine Neudeutung Uwarows, siehe: Miller, A. I. (2008): The Romanov empire and nationalism: Essays in the methodology of historical research, Budapest, S. 139–158 ↩︎

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