Im Osten der Ukraine bahnt sich eine neue Krise an: Seit dem Frühjahr gibt es vermehrt Schusswechsel, trotz einer vereinbarten Waffenruhe sind 2021 schon rund 50 Menschen gestorben. Während der Kreml Truppenverlegungen an die ukrainische Grenze anordnet, läuft die Propaganda des russischen Staatsfernsehens auf Hochtouren: Die Ukraine bereite einen Angriff vor, Russlands „Friedenstruppen“ seien bereit, im Donbass einzumarschieren und dort für Ordnung zu sorgen, so der Tenor.
Die Ukraine versetzt Truppen in Bereitschaft und sucht Beistand im Ausland: In einem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Selensky sagte Joe Biden, dass die Ukraine auf die „unerschütterliche Unterstützung“ Amerikas zählen könne.
Die Einschätzungen der Lage gehen in Russland weit auseinander: Der russische Militärexperte Pawel Felgengauer glaubt etwa, dass die Krise sich im Extremfall sogar zu einem Weltkrieg auswachsen könne. Für Felgengauers Mitstreiter Alexander Golz ist sie vor allem Säbelrasseln, das dem Aufbau einer Drohkulisse gegenüber dem Westen dient.
Auch Fjodor Krascheninnikow argumentiert, dass Putin wohl keinen neuen Krieg will. Auf Republic kommentiert der Journalist, was der Kreml mit der aktuellen Eskalation beabsichtigt und warum die Situation trotz allem brandgefährlich ist.
Warum braucht Putin einen Krieg? Die Frage mag denen idiotisch erscheinen, die schon alle Argumente rauf und runtergenudelt haben: Die Beliebtheitswerte sinken, der Westen will nur über Nawalny reden, und überhaupt – die weltumspannende Figur des Dr. Evil verlangt nach Aggression. Beständiges Geheul im Sumpf der Propaganda. Irgendwas hat das doch zu bedeuten. Gerade mit dem ganzen Militärgerät vor Augen.
Die Staffeln von Militärgerät wirken besonders beunruhigend. Das geflügelte Wort, dass auch eine ungeladene Pistole einmal im Jahr losgeht, lässt Bedenken aufkommen, ob Riesenmengen an schweren Waffen und Soldaten, die sich am selben Ort befinden, nicht unweigerlich mit einer Schießerei enden.
Alles andere ist bei genauerem Nachdenken bedeutungslos. Bereitet man sich auf einen echten Krieg vor, dann jault man darüber nicht von morgens bis abends.
Das ist die dümmste aller Kriegsvorbereitungen, die man sich vorstellen kann
Das Ergebnis ist irgendein Blödsinn: Putin hat beschlossen Krieg zu führen, hat dem Gegner aber einen Haufen Zeit gegeben sich vorzubereiten. Und damit der mehr Argumente zur Mobilisierung der Nachbarn zwecks Unterstützung hat – wird noch Angst geschürt und von morgens bis abends demonstriert, wie ernsthaft das Vorhaben ist. Es gibt natürlich alles Mögliche, aber das ist die dümmste aller Kriegsvorbereitungen, die man sich vorstellen kann.
Wie sehr sich Chauvinisten auch versichern, dass die Ukraine keine Armee hat, keine hatte und keine haben wird – das entspricht im Frühjahr 2021 nicht den Tatsachen: Es gibt dort eine Armee, und selbst wenn es nicht die beste auf der Welt ist, so kann sie dem Gegner doch Schaden zufügen. Schaden – das bedeutet, falls es jemand nicht verstanden hat, Leichen unter unseren Landsleuten. Hunderte, tausende, im schlimmsten Fall zehntausende Leichen.
2021 ist nicht 2014
Der Unterschied zwischen unserer Zeit und der jüngsten Vergangenheit besteht darin, dass Opfer in der Gesellschaft schon lange nicht mehr als etwas Selbstverständliches angesehen werden. Es ist kein Zufall, dass die im letzten Ukrainekrieg und bei anderen geopolitischen Abenteuern Gefallenen ohne großen Pathos beerdigt werden und großer Aufwand betrieben wird, damit ihre Familien nicht vor aller Augen trauern. Das Krim-Epos brachte Putin einen so großen Erfolg ein, weil beim Normalbürger der Eindruck entstand, es wäre kein Blut geflossen.
Ich wage zu behaupten, dass selbst der schwächste Widerstand der ukrainischen Armee unsere Falken verschrecken und überhaupt die ganze patriotische Messe vermiesen könnte: Höfliche Menschen, die von Krimbewohnern mit Blumen begrüßt werden, und ein ukrainischer Admiral, der in den russischen Dienst überläuft – das ist eine Sache. Aber Krieg, Leichen und Schusswechsel sind eine völlig andere Sache. Kommt mir nicht mit „Rückkehr in den Heimathafen“. Es ist völlig offensichtlich, dass die ukrainische Armee im Jahr 2021 bereit ist für einen Krieg. Schüsse und Opfer wird man da auf keinen Fall vermeiden können.
Das Rasseln mit den Säbeln ist weitaus wirkungsvoller als ihr Einsatz
Der Krieg als Möglichkeit, um den Verhandlungen mit dem Westen einen anderen Dreh zu geben, scheint eine logische Variante zu sein. Doch auch hier scheint das Rasseln mit den Säbeln weitaus wirkungsvoller zu sein als ihr Einsatz. Denn wenn ein Krieg ausbricht, dann werden die Verhandlungen enden, und es ist unklar, wer in welcher Position ist, wenn erneut Verhandlungen aufgenommen werden. Darum ist eine Kriegsdrohung deutlich besser als ein Krieg, wenn es um Verhandlungstaktiken geht.
Auch die innenpolitischen Probleme Putins verlangen nicht nach einem handfesten Krieg. Diskussionen um innere Probleme kann man mit demonstrativen Kriegsvorbereitungen vermeiden, nicht mit einem Krieg. Um die Stammwählerschaft zu mobilisieren (auf alle anderen wird doch eh schon längst gepfiffen, falls das jemand noch nicht bemerkt hat) und rituellen Segen für weitere Gewalt gegen die Opposition zu bekommen – dafür braucht es sicher keinen Krieg als solchen, zumindest keinen realen. Die Leute wurden dazu erzogen, dem Fernseher zu vertrauen – und sie werden leicht daran glauben, Putin habe auch ohne Krieg alle überlistet, oder der Krieg habe schon stattgefunden und mit einem weiteren Sieg für uns geendet.
Das Feiglingsspiel
In der Mathematik gibt es den Bereich der Spieltheorie. Beachtenswert ist da das Chicken Game, das in einer einfachen Variante so aussieht: Zwei Autofahrer jagen aufeinander zu, und wer als erstes der Gefahr ausweicht, der ist ein Feigling. Und wer nicht ausweicht, der gewinnt. Falls keiner ausweicht, können beide beim Unfall umkommen.
Damit der Gegenspieler garantiert als erstes ausweicht, ist es sinnvoll, vorab Leichtsinn oder gar Fatalismus zu demonstrieren: Der Gegner soll denken, dass dieser Dummkopf tatsächlich bereit ist zu sterben und den anderen mit ins Grab zu ziehen.
Genau dieses Spiel spielt Putin nun mit dem Westen. Auf der einen Seite gibt es ihn, den Diktator, der mit allen Mitteln demonstriert, dass ihn die Meinung irgendwelcher Unzufriedener im eigenen Land überhaupt nicht interessiert, der nicht vorhat, sich in irgendwelchen Wahlkämpfen zu behaupten, und sich deswegen auch egal was erlauben kann – sei es, bis zum Äußersten zu gehen und tatsächlich einen Krieg anzuzetteln, oder seien es Zugeständnisse. Auf der anderen Seite gibt es die Eliten des Westens und allen voran der USA, die sehr wohl abhängig sind von der öffentlichen Meinung im eigenen Land und voneinander.
Wolltet ihr etwa wirklich einen Krieg mit Russland wegen irgendeiner Ukraine?
Darin liegt anscheinend Putins größter Trumpf: Die gegenwärtige westliche Moral macht Krieg zu einer größeren Schmach als Feigheit. Das gibt den westlichen Herrschern die Möglichkeit, im letzten Moment vom Pfad der Konfrontation abzuspringen und den Wählern zu sagen: Wolltet ihr etwa wirklich einen Krieg mit Russland wegen irgendeiner Ukraine?
Genau darauf spekuliert Putin, wie es scheint: dass der Westen im Augenblick der größten Anspannung einen Rückzieher macht und sich nicht nur damit abfindet, dass die Krim russisch ist, sondern auch damit, dass die Ukraine zur russischen Einflusssphäre gehört und man sich in innere Angelegenheiten Russlands eben keinesfalls einzumischen hat.
Drohender Kontrollverlust
Wenn der Welt und uns allen etwas droht, dann, dass die massenhafte Konzentration von bewaffneten Menschen und Militärtechnik an einem Ort zu einer Entwicklung der Ereignisse führen kann, die von niemandem mehr beherrscht wird. Putin, Biden und Selensky versuchen vielleicht globale Probleme zu lösen. Aber dann sind da ja auch noch die Offiziere und Generäle der Armeen und Geheimdienste, für die Krieg ein absolut legitimes Mittel zum Aufstieg auf der Karriereleiter ist. Und schließlich gibt es einfach auch noch Abenteurer, Sadisten, Beutemacher und andere Halunken verschiedenster Couleur, denen der Krieg eine Chance bietet, ihre alles andere als globalen Probleme zu lösen.
Der Krieg könnte wie zufällig beginnen – als Antwort auf eine weitere Provokation, als lokale Operation, als Ergebnis einer falschen Lageeinschätzung oder als bewusste Manipulation von jemandem, dem persönlich an einer Eskalation gelegen ist. Den ersten Schritt könnte auch die Ukraine machen, denn auch für deren Regierung wäre das eine völlig erklärbare Strategie: Auf einen Krieg kann man vieles abschieben und Probleme hat Selensky genug. Kurz gesagt, momentan könnte alles mögliche passieren, durch das Verschulden von einer beliebigen Seite. Aber wenn ein Krieg ausbricht, dann ist das nie zufällig, sondern die gesetzmäßige Folge dessen, was in den vergangenen Jahren passiert ist. Und dennoch bleibt die Hoffnung, dass es nicht zu einem großen Krieg kommt. Moderne Kommunikationsmittel bieten die Chance, dass im letzten Moment trotz allem der Befehl ankommt, der heißt: Entwarnung.
Der inhaftierte Kreml-Kritiker Alexej Nawalny soll seine rund zweieinhalbjährige Haftstrafe laut Medienberichten in der „Besserungskolonie Nummer 2“ (IK-2) der Strafvollzugsbehörde von Wladimir absitzen. Auf Papier sind die Haftbedingungen dieser Anstalt „mit allgemeinem Strafvollzug“ weniger hart als in anderen Lagern. Anwälte von Insassen beschreiben IK-2 jedoch als ein Straflager, das auf die „totale Vernichtung des Menschen“ ausgelegt sei.
Dass die Wahl gerade auf diese Haftanstalt rund 100 Kilometer östlich von Moskau fiel – das bewertet Kirill Rogow als persönliche Rache des russischen Präsidenten. In seinem Blog auf Echo Moskwy schreibt der Politologe, dass Nawalnys Verlegung in die berüchtigte „Folterkolonie“ nicht nur deshalb möglich war, weil es im Land keinen breiten Protest gegen die Verurteilung gab. „Es war auch das Ergebnis der diplomatisch beschämenden Mission von Josep Borrell und der EU als Ganzes.“
Die EU wendet voraussichtlich heute erstmals ihr neues Sanktionsregime für Menschenrechte an. Dabei sollen einzelne Silowiki wegen Vorgehens gegen Nawalny mit Vermögenssperren und Einreiseverboten bestraft werden. Ähnlich wie Rogow kritisieren einige Liberale und Oppositionelle die neuen EU-Sanktionen als zahnlos. Fjodor Krascheninnikow – der gemeinsam mit Nawalnys Wahlkampfleiter Leonid Wolkow ein Buch geschrieben hat – sieht das etwas anders: Auf Republic erklärt der Politologe die grundsätzliche Logik von Sanktionen und deren (ambivalente) Folgen.
Die Bekanntgabe des EU-Sanktionspakets hat für große Enttäuschung unter den Regimekritikern gesorgt. Diese hatten sich selbst erfolgreich davon überzeugt, es könne westliche Sanktionen geben, die alle Probleme Russlands auf einen Schlag lösen. Und die außerdem Wladimir Wladimirowitsch, wenn schon nicht zum Weinen und zum Rücktritt, dann doch zumindest zur Freilassung Alexej Anatoljewitsch Nawalnys bringen würden und außerdem dazu, mit den ganzen Repressionen aufzuhören.
Keine Frage, die europäischen Sanktionen hätten deutlich schärfer ausfallen und einen größeren Kreis von Personen treffen können, die an der Tyrannei beteiligt sind. Aber ist das Ergebnis wirklich so schlecht? Oder steckt hinter den zaghaften Sanktionen vielleicht doch mehr als nur die Feigheit europäischer Politiker?
Die Sanktionen – aus den unterschiedlichen Gräben heraus betrachtet
Die Sichtweise, die sich wohl am leichtesten nachvollziehen lässt, ist die der russischen Bürger, die mit dem gegenwärtigen Putin-Regime nicht einverstanden sind.
Für sie wird immer deutlicher, dass Sanktionen nur sinnvoll sind, wenn sie sich gegen konkrete Personen richten, die vom bestehenden System profitieren – am besten gegen diejenigen, die dem unabsetzbaren Leader besonders nahestehen. Denn die „sektoralen Sanktionen“ treffen die russische Wirtschaft. Den daraus resultierenden Schaden gibt die gegenwärtige Elite gekonnt an die einfachen Bürger weiter: Sie sind es, die leiden, während die Eliten ihre Verluste kompensieren, das sollte jedem klar sein. Auch ein Aus der unseligen Pipeline Nord Stream 2 wäre schlimmstenfalls eine psychologische Niederlage und würde niemandem aus Putins Umfeld tatsächlich das Leben schwer machen; und falls doch, finden sich für die Geschädigten andere oder gänzlich neue lukrative Projekte.
Ein Aus der unseligen Pipeline Nord Stream 2 wäre schlimmstenfalls eine psychologische Niederlage
Manche meinen immer noch, dass eine allmähliche Verschlechterung des Lebensstandards die Bürger zu der Einsicht bringt, dass sich politisch etwas ändern muss. Diese Theorie mag überzeugend klingen, erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als eine Abwandlung der berühmten Theorie vom Kühlschrank, der den Fernseher besiegt.
Zeit, sich von ihr zu verabschieden.
Erstens: Nichts ist gut an der Vorstellung, dass es allen zunehmend schlechter geht. Die Propaganda lässt sich die Wortfolge „Sanktionen gegen Russland“ nicht umsonst auf der Zunge zergehen, und erklärt damit, wer da genau Russland und jedem seiner Bürger schadet. Man muss schon sehr fanatisch oder zynisch sein, um allen, einschließlich sich selbst, den Abstieg in die Armut zu wünschen. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass Putin nicht ewig ist. Wenn die Wirtschaft bei seinem Abgang am Boden liegt, schadet das weniger ihm als uns – und zwar für viele Jahre.
Nichts ist gut an der Vorstellung, dass es allen zunehmend schlechter geht
Zweitens: Wenn sich der Lebensstandard zunehmend verschlechtert, beschleunigt das nicht den Anstieg der oppositionellen Gesinnung. Die Menschen würden sich vielmehr an die neuen Lebensumstände gewöhnen und nur immer mehr Kraft darauf verwenden, ihre alltäglichen und finanziellen Sorgen zu bewältigen. Folglich bliebe für politische Aktivität wenig Zeit, und auch die Risikobereitschaft würde nicht gerade größer.
Außerdem: Je ärmer der Durchschnittsbürger, desto weniger bedarf es, um ihn mit Almosen zu kaufen oder mit einem Jobverlust einzuschüchtern, sollte er an Protesten teilnehmen oder sich anderweitig ungebührlich verhalten.
Wenn Wirtschaftssanktionen also eine schnelle und sichtbare Wirkung haben sollen, müssen sie extrem hart sein.
Was könnte das sein? Außer dem Ausschluss aus dem SWIFT-System fällt einem wenig ein. Die Folge wäre eine Zerstörung oder zumindest eine schwerwiegende Schädigung des Bankensystems. Diese Maßnahme ist derzeit kaum denkbar – und das ist auch gut so.
Die Sichtweise des Westens
Wie sehen die westlichen Staats- und Regierungschefs die Situation, und warum sind sie, gelinde gesagt, so vorsichtig?
Erstens: Sie möchten sich nicht selbst schaden. Die konfrontative Rhetorik der russischen Regierung, die in letzter Zeit immer häufiger erklingt, hat eine ziemlich klare Botschaft: Als Krieg betrachtet der Kreml nicht nur die gute alte Überschreitung einer territorialen Grenze durch eine feindliche Armee, sondern alles, was erheblichen Schaden anrichtet. Das kann man natürlich für einen Bluff halten, aber wer möchte schon das Risiko auf sich nehmen, sich in solch heiklen Fragen zu irren? Jeder Staats- und Regierungschef eines demokratischen Landes ist sich darüber im Klaren, dass er keinen Dank ernten wird, wenn seine wirtschaftspolitische Entscheidung zu einem militärischen Konflikt mit Russland führt, noch dazu ist völlig unklar, wie das alles ausgehen würde. Der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System könnte im Kreml durchaus als eine solche Kriegshandlung gedeutet werden, mit allen erwartbaren Konsequenzen. Genau darauf spielt der Kreml unentwegt an. Und genau deswegen wird es in nächster Zukunft auch keinen Ausschluss geben.
Als Krieg betrachtet der Kreml alles, was erheblichen Schaden anrichtet
Zweitens: In der Vorstellung von westlichen Staats- und Regierungschefs sieht die Welt ganz anders aus, als wir oder unsere Regierung sie sehen. Ihnen fällt es schwer, zu glauben, dass ein Regierungschef im 21. Jahrhundert sein Land in die Armut und Isolation treiben könnte, nur um seine Macht zu erhalten. Einfacher ist es, sich tröstende Theorien auszudenken, dass alles nicht so schlimm sei oder man im Kreml schon zur Vernunft kommen und sagen werde, dass das alles nur ein Witz gewesen sei, oder dass die Sache sich irgendwie von allein klärt. Sich selbst erheblich zu schaden, nur um jemand anderen zu verärgern – das ist im Westen kein gängiges Verhaltensmuster. Genau das tut die russische Regierung aber und dies hat obendrein einen demoralisierenden Effekt: Was sollen Sanktionen bringen, wenn eine Regierung den eigenen Bürgern mit Gegensanktionen sogar mehr schadet?
In der Vorstellung von westlichen Staats- und Regierungschefs sieht die Welt ganz anders aus, als wir oder unsere Regierung sie sehen
Drittens: Die in westlicher Rechtstradition erzogenen Staats- und Regierungschefs Europas und der USA können nicht so einfach zustimmen, dass Milliardäre aus dem Umkreis des russischen Präsidenten oder gar ihre Familienmitglieder mit Sanktionen belegt werden, nur weil sie Putin nahestehen. Denn das gilt es juristisch erst einmal nachzuweisen.
Und leider ist das auch richtig so: Denn heute wird einer wegen einer vermeintlichen Nähe zu Putin mit Sanktionen belegt, morgen ein weiterer, weil er irgendjemand anderem nahesteht – ohne Beweise im westlichen Sinne des Wortes. Das kann ziemlich ausufern, dieses Kapitel hat Europa bereits hinter sich und möchte es nicht wiederholen. Man braucht also Beweise, und die wird es früher oder später zweifellos geben.
Viertens: Es kann durchaus sein, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs die verhängten Sanktionen als hart empfinden. Um den Unterschied in der Herangehensweise zu verstehen, sollten wir uns ein Beispiel aus einem anderen Bereich ansehen: Aus Sicht eines Durchschnittsrussen verbüßt der Massenmörder Breivik seine Gefängnisstrafe unter so komfortablen Bedingungen, dass so mancher unserer Landsleute gar nicht versteht, worin denn eigentlich die Strafe liegt. In Norwegen dagegen, und nicht nur dort, sieht man den Sinn einer Gefängnisstrafe nicht in der täglichen Demütigung – durch schlechte Lebensbedingungen oder durch die Schikane der Wärter und Mitinsassen –, sondern im Freiheitsentzug und der Isolation von der Gesellschaft. Aus Sicht der norwegischen Gesellschaft wurde Breivik also hart bestraft: Ihm wurde die Freiheit entzogen.
Es kann durchaus sein, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs die verhängten Sanktionen als hart empfinden
Genauso ist es mit den Sanktionen: Aus ihrer Sicht haben die europäischen Politiker etwas sehr Gravierendes getan. Genauso wie unsere Regierung und Propaganda davon ausgeht, dass es im Rest der Welt ungefähr so zugeht wie in Russland, nur dass alle anderen mehr heucheln, so geht man auch in Europa naiverweise davon aus, dass Russland in etwa wie ein gewöhnliches europäisches Land ist, nur dass es merkwürdigerweise „in Richtung Autoritarismus driftet“, wie Josep Borell es ausdrückte. Man kann ihn und viele andere verstehen: Es fällt ihnen schon schwer einzuräumen, dass Russland in den 2020er Jahren „in Richtung Autoritarismus driftet“, wie sollen sie da akzeptieren, dass wir den Autoritarismus längst hinter uns gelassen haben und rasend schnell auf ganz andere „ismen“ zusteuern?
Die Sichtweise des Kreml
Die Bekanntgabe von personenbezogenen Sanktionen gegen einige Silowiki beunruhigt wohl kaum jemanden im Kreml.
In Europa mag ein Justizminister oder Chef des Sicherheitsdienstes in erster Linie eine souveräne Person mit einem Privatleben und eigenen Interessen sein. In Russland aber sind das austauschbare Beamte, deren Hauptqualifikation in ihrem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit besteht. Menschen, die sich weigern könnten, eine Anordnung von oben auszuführen oder bei der leisesten Andeutung, ihren Ruf und ihre Zukunft zu opfern, gibt es im russischen Beamtentum gar nicht: Sie wurden schon auf den untersten Stufen der Karriereleiter ausgesiebt.
Fraglich ist auch, ob die Silowiki, die mit den Sanktionen belegt wurden, überhaupt noch Konten oder Immobilien in Europa haben – ich vermute, nein. Aber selbst wenn sie solche verlieren sollten, würde der Schaden zweifelsohne kompensiert – aus dem Staatsbudget versteht sich, also auf Ihre und auf meine Kosten.
Bedeutet das, dass man im Kreml unbesorgt ist und tatsächlich findet, es sei alles halb so wild? Ungeachtet der zur Schau getragenen Prahlerei wird man wohl anerkennen müssen, dass die verhängten Sanktionen für Putin und sein Umfeld durchaus unangenehm werden dürften – weniger durch ihre aktuellen, als durch langfristige und fundamentale Konsequenzen.
Man muss wohl anerkennen, dass die verhängten Sanktionen für Putin und sein Umfeld durchaus unangenehm werden dürften
Erstens: Es kann ihnen nicht gleichgültig sein, dass die russische Opposition zu einem eigenständigen Akteur auf der internationalen Bühne avanciert ist. Noch nie hat jemand so vehement und wirkungsvoll das Recht Putins und der offiziellen Regierungsvertreter infrage gestellt, Russland im Ausland zu repräsentieren. Nicht nur, dass das Schicksal eines russischen Oppositionsführers zu einem festen Punkt auf der Tagesordnung westlicher Politiker geworden ist, seine Mitstreiter sind auch noch unmittelbar an der Gestaltung der europäischen Sanktionspolitik beteiligt. Wir alle beobachten eine verblüffende Situation: Nawalnys Mitstreiter treffen sich in Brüssel mit den führenden europäischen Diplomaten, während der russische Außenminister und seine Sprecherin offenbar zu innenpolitischen Propagandisten umgeschult wurden, keinen besonders guten obendrein.
Zweitens ist das derzeit nur die erste Anwendung des neuen Sanktionsmechanismus, der von der EU entwickelt und beschlossen wurde, um bei Menschenrechtsverstößen gegen die Verantwortlichen vorzugehen. Einmal in Gang gesetzt, wird dieser Mechanismus nun permanent wirken. Angesichts dessen, wie unserer Regierung mit Menschenrechten umgeht, ist eine Erweiterung der Sanktionsliste also nur eine Frage der Zeit. Weitere gezielte Bemühungen der Opposition sowie ihre Zusammenarbeit mit der europäischen politischen Gemeinschaft und Expertenkommissionen dürften im Kreml Unbehagen verursachen.
Früher oder später werden die Sanktionen also unweigerlich sowohl Einzelpersonen als auch breitere Personengruppen treffen, die vom gegenwärtigen Regime profitieren – genau wie Nawalny es ursprünglich gefordert hat.
Doch ganz gleich, ob sich die westlichen Sanktionen gegen Einzelpersonen oder gegen einen bestimmten Wirtschaftssektor richten, sie allein werden nichts ändern. Das sollten wir nicht vergessen. Im besten Fall können sie als eine äußere Ergänzung wirken zu dem Druck von innen, den wir, die russischen Bürger, auf das politische System ausüben.
„Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens”, Bundeskanzlerin Angela Merkel fand deutliche Worte. Ein Speziallabor der Bundeswehr hat in einer toxikologischen Untersuchung nachgewiesen, dass Alexej Nawalny durch einen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe vergiftet worden war. „Die russische Regierung ist dringlich aufgefordert, sich zu dem Vorgang zu erklären”, heißt es in einer offiziellen Mitteilung der Bundesregierung. Während die Bundesregierung erklärte, mit den Partnern EU und Nato „im Lichte der russischen Einlassungen“ über Reaktionen entscheiden zu wollen, wurden bereits Rufe nach harten Konsequenzen laut. CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, sagte in den Tagesthemen, man sei „erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des Regimes Putin konfrontiert worden“ und brachte unter anderem einen Stop von Nord Stream 2 ins Spiel.
Kremlsprecher Dimitri Peskow wies in einem ersten kurzen Statement darauf hin, dass man in Russland bei Nawalny keinen Hinweis auf eine Vergiftung gefunden habe. Der Duma-Abgeordnete Andrej Lugowoj behauptete laut Nachrichtenagentur Tass, falls Nawalny Nowitschok verabreicht worden sei, so sei dies erst in der Klinik in Deutschland, also der Charité, geschehen. Das russische Außenministerium kritisierte unterdessen, dass die deutschen Ärzte nur unzureichende Belege geliefert hätten.
Liberale und oppositionelle Stimmen in Russland dagegen lassen meist keinen Zweifel aufkommen, wen sie für den Schuldigen halten: den Kreml. Was aber heißt „der Kreml“? Ist Putin persönlich verantwortlich zu machen, stecken Silowiki dahinter – darüber kann man nur mutmaßen. Wer ließ Nawalny vergiften – und warum gerade jetzt? Das sind die zwei Fragen, die derzeit derzeit die liberale russische Öffentlichkeit und unabhängige Medien beschäftigen. dekoder übersetzt vier Thesen aus der aktuellen Debatte.
„Die politische Führung ist besorgt um die Ergebnisse bei den Regionalwahlen“
Der Politologe und Kolumnist Fjodor Krascheninnikow steht Nawalny nahe. Er ist Co-Autor eines Buches von Leonid Wolkow, der wiederum den Regionalbüros des Nawalny-Teams vorsteht. Auf Republic verweist Kraschenninikow auf Nawalnys neues Enthüllungsvideo, das der Oppositionspolitiker und sein Team kurz vor der Vergiftung in Nowosibirsk gedreht hatten und das nun veröffentlicht wurde. Darin geht es um Korruption und mafiöse Strukturen bei Abgeordneten der Regierungspartei Einiges Russland, die zugleich wichtige Teile des lokalen Bau- und Bestattungsgewerbes kontrollieren.
[bilingbox]Nawalnys Filme werden wirklich millionenfach geschaut. Dadurch entsteht die einmalige Möglichkeit, mit Recherchen zu lokalen Themen die Regionalwahlen zu sprengen – jedem dieser Filme ist eine virale Verbreitung sicher. […]
Allen Anzeichen nach ist die politische Führung des Landes besorgt um die Ergebnisse am Einheitlichen Wahltag, dem 13. September. Wir reden hier von Regionalwahlen, die im Land nichts wesentlich verändern werden, wie auch immer sie ausfallen. Oder doch? Jedenfalls steigt die Nervosität und die Erwartungen sind wohl kaum besonders rosig.
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Фильмы Навального действительно смотрят миллионы, и это создает уникальную возможность «взорвать» региональные выборные расклады публикацией расследований на местные темы, каждое из которых обречено на вирусное распространение. […]
Судя по всему, итоги единого дня голосования 13 сентября тревожат политическое руководство страны – а ведь речь идет о выборах в регионах, любой исход которых ничего особо не поменяет в стране. Или поменяет? Во всяком случае, нервозность явно растет и едва ли ожидания слишком радужные.
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„Es ist sinnlos, zu rätseln, warum ausgerechnet jetzt”
Das unabhängige Medium The Bellhat mehrere Politologen um eine kurze Einschätzung der Situation gebeten – hier die von Ekaterina Schulmann:
[bilingbox]Es ist sinnlos zu rätseln, warum Nawalny ausgerechnet jetzt vergiftet wurde. Die Leute, die solche Entscheidungen treffen, leben in ihrer eigenen medialen Realität. Uns mag so etwas unlogisch erscheinen, nach den erfolgreich angenommenen Verfassungsänderungen, in Erwartung einer zweiten Pandemiewelle, vor der Präsidentschaftswahl in den USA und während der politischen Krise in Belarus. Doch diese Leute haben ihren eigenen Kalender, eine eigene Nachrichtenwelt, eigene Jahres- und Erinnerungstage. Und was auch wichtig ist: Sie haben ihre eigene Bezugsgruppe, deren Meinung ihnen wichtig ist.
Ob Proteste möglich sind? Wenn es sie bislang nicht gab, dann wird auch die Nachricht darüber, dass Nawalny ausgerechnet mit Nowitschok vergiftet wurde, keine Proteste auslösen. Es ist eine wichtige Nachricht, was die internationalen Beziehungen betrifft, aber keine, die die Gefühle der breiten Massen erregt. Aber falls – was man nicht wünschen möchte – Nawalnys Gesundheit noch irgendetwas zustößt, dann könnte das zum Protest-Trigger werden.
Die aktuellen Informationen [über Nawalnys Vergiftung mit Nowitschok] haben kaum jemanden überrascht. Es gibt die, die auch ohne Erklärung der deutschen Bundesregierung wussten, was passiert ist. Und es gibt die, die denken, dass das eine Provokation des Westens ist und das Nowitschok kein „echtes“ Nowitschok ist, sondern ein speziell zur Provokation angefertigtes. Wenn es „echtes“ wäre, wäre er sofort tot gewesen … Mir sind solche geistreichen Versionen schon untergekommen.
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Бессмысленно гадать, почему Навального отравили именно сейчас. Люди, которые принимают такие решения, живут в собственном информационном пространстве. Это нам может показаться нелогичным устраивать такое после удачно принятых конституционных поправок, в ожидании второй волны пандемии, накануне президентских выборов в США, во время белорусского политического кризиса. А у этих людей свой календарь, своя новостная повестка, свои памятные даты и годовщины. Что еще важно, у этих людей своя референтная группа, мнение которой им важно.
Возможны ли протесты? Если их не было до сих пор, то сама новость о том, что Навального отравили именно «Новичком», их не вызовет. Это важная новость для международных отношений, но не та [новость], которая может возбудить чувства широких масс. Вот если (чего не хотелось бы) что-то новое случится со здоровьем Навального, это может стать триггером.
Нынешняя информация [об отравлении Навального именно «Новичком»] мало кого и удивила. Есть те, кто и без заявления немецких властей понимал, что произошло. Есть те, кто считает, что это западная провокация и «Новичок» не настоящий, а специально изготовленный провокационный. Уж настоящий-то сразу бы убил… Мне попадались такие остроумные версии.
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„Der Staat nach der Nullsetzung der Amtszeiten – das ist Putin“
Andrej Sinizyn, Chefredakteur des Meinungsressorts kommentiert auf Republic:
[bilingbox]Die Vergiftung Nawalnys trägt einige wichtige Merkmale: Tatort war Russland. So kann man sich schwer damit herausreden, dass „das jeder gewesen sein kann“ (obwohl Abgeordnete der Duma sich ungefähr so ausdrücken) . Verwendet wurde ein seltener chemischer Kampfstoff, der in einer staatlichen Institution entwickelt wurde. Das Gift wurde mindestens zum zweiten Mal innerhalb von drei Jahren eingesetzt – nach einem heftigen Skandal und Sanktionen infolge der ersten Verwendung (im Fall Skripal); ebenso nach einigen anderen Vergiftungen, inklusive des Todes von Alexander Litwinenko. Nawalny ist der wichtigste Nicht-System-Oppositionelle in Russland. All das lässt den westlichen Politikern – nach den Untersuchungsergebnissen des Bundeswehr-Labors – keinerlei Rückszugsmöglichkeit. Und all das wusste der Kreml wahrscheinlich von vornherein. Doch Russland macht weiter: „Wir haben euch Nawalny ohne Gift übergeben“, „Zeigt eure Beweise”, „Das Gift kann man in jedem Military-Shop kaufen“ und so weiter. Diese Rechtfertigungen stimmen vielleicht einen Teil des innerrussischen Publikums zufrieden, der jedoch weitaus kleiner ist als noch vor drei Jahren. Im Westen genießt der Kreml kein Ansehen mehr – und geglaubt wird den deutschen Ärzten, nicht denen aus Omsk. Es sieht so aus, als brauche es jegliche Rechtfertigungen ohnehin nicht. Als habe ein auf Null gesetzter Putin all das nicht mehr nötig. Diplomatie, Verhandlungen, Einhalten von Verträgen, Gipfeltreffen, Mitgliedschaft im Kreis der Anständigen. Wozu? Dort drüben [in den USA] schießt die Polizei einem Unbewaffneten sieben Kugeln in den Rücken. Außerdem ist die Pandemie da schlimmer als bei uns und sie haben keinen Impfstoff und eine Wirtschaftskrise. Es reicht, genug geredet und verhandelt. Jetzt heißt es: Jeder gegen jeden, wollen wir doch mal sehen, was ihr zu unseren Überschallraketen sagt. Der Staat nach der Nullsetzung der Amtszeiten – das ist er. Als Staat hat Putin die Verantwortung für die Vergiftung eines Bürgers in sich. Aber er hat sie nicht den anderen Staaten gegenüber, sondern nur vor Gott. Also stört ihn nicht bei der Arbeit. Nun – die Bürger müssen sich darauf einstellen, dass das Land ernsthaft und für lange Zeit die Tore schließt. Einige Bürger werden um der Stabilität willen vergiftet werden. Die Regierungs- und Führungselite wird weiter altern – und das Risiko für unzurechnungsfähige Befehle wird wachsen.
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Отравление Навального имеет ряд важных характеристик. Оно произошло в России – трудно оправдываться тем, что «это мог быть кто угодно» (хотя депутаты Госдумы говорят примерно так). Использован редкий военный яд, разработанный в государственном учреждении. Яд этот использован как минимум второй раз за три года, после громкого скандала и санкций вследствие первого раза (дело Скрипалей); а также после ряда других отравлений, включая смерть Александра Литвиненко. Навальный – главный несистемный оппозиционер в России. Все это не оставляет политикам Запада – после исследований в лаборатории Бундесвера – вообще никаких путей к отступлению. И все это, наверное, заранее понимали в Кремле. Но Россия продолжит говорить: «мы вам отдали Навального без яда», «покажите ваши доказательства», «этот яд можно купить в Военторге» и т.д. Эти оправдания, возможно, устроят часть внутренней аудитории – меньшую, чем три года назад. На Западе никакой репутации у Кремля не осталось, и верить будут немецким медикам, а не омским. Но похоже, что задача оправдаться вообще не стоит. Похоже, что обнуленному Путину все это уже не нужно. Дипломатия, переговоры, соблюдение договоров, саммит «пятерки», прием в приличном обществе. Зачем? У них там в спину безоружному семь пуль выпускают полицейские. Еще у них пандемия хуже нашей, а вакцины нет, и экономический кризис. Хватит, напереговаривались. Теперь все против всех, и еще посмотрим, что вы скажете на наши гиперзвуковые ракеты. После обнуления государство – это он. Как государство, он несет ответственность за отравление гражданина внутри себя. Но не перед другими государствами, а перед Богом. Поэтому не мешайте работать. Ну а гражданам надо приготовиться к тому, что страна закроется всерьез и надолго. […] Некоторые граждане могут быть отравлены в целях стабильности. Руководящая и направляющая элита продолжит стареть, а риск невменяемых приказов – расти. [/bilingbox]
„Man darf nicht ausschließen, dass Putins nichts von der Vergiftung Nawalnys wusste. Und das ist wirklich beängstigend“
Das unabhängige Medium The Bell hat mehrere Experten um eine kurze Einschätzung der Situation gebeten – hier die des als kremlnah geltenden Politologen Konstantin Kalatschow:
[bilingbox]Die Machtvertikale, die angeblich zentral vom Kreml getroffenen Entscheidungen – das alles ist ein Mythos. Man darf nichts ausschließen. Unter anderem darf man nicht ausschließen, dass die Vergiftung Nawalnys unter Umgehung Putins und ohne Abstimmung mit ihm erfolgte. Er persönlich braucht das gerade gar nicht, darum könnte es einfach irgendjemandes Eigeninitiative sein. Aber falls das so gelaufen ist, verliert der Staat das Gewaltmonopol. Und das ist wirklich beängstigend.
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Вертикаль власти, централизованные решения, которые якобы принимает Кремль, это все миф. Ничего нельзя исключать. В том числе нельзя исключать, что отравление Навального произошло в обход Путина и без согласования с ним. Лично ему эта история сейчас не нужна, поэтому это может быть просто чья-то самодеятельность. И если это так, то государство теряет монополию на насилие. Вот это реально страшно. [/bilingbox]
Nur fünf Tage nachdem Wladimir Putin die Verfassungsreform verkündet hat, präsentierte die dafür eiligst einberufene Arbeitsgruppe am Montag ihre Vorschläge: 14 Artikel der Verfassung sollen demnach geändert werden. Ebenfalls im Eiltempo wird nun auch die für den 12. April 2020 angepeilte Volksabstimmung durchgezogen.
Abgestimmt wird wohl über ein „Paket“ an Fragen, dessen Zusammensetzung allerdings noch nicht klar ist. Einige Beobachter in Russland witzeln, dass es folgendermaßen lauten könnte: „Sind Sie für kostenloses Schulessen an allen Grundschulen des Landes (und für die Verfassungsänderung)?“
Ähnlich galgenhumorig nimmt es auch der oppositionelle Politiker und Journalist Fjodor Krascheninnikow. Für The New Times geht er der Frage nach, wie die künftige Verfassung Russlands aussehen wird – und warum das System Putin damit womöglich sein eigenes Grab schaufelt.
Wladimir Putin, der die ersten 20 Jahre seiner Regierungszeit nicht müde wurde, die Sicherheit der geltenden Verfassung zu beteuern, hat nun entschieden, sie abzuändern. Und auf diese Weise zu ermöglichen, selber weiter zu regieren: nicht als ein vom Volk gewählter Präsident, sondern als ein von der Notwendigkeit irgendwelcher Wahlen losgelöster Autokrat, der einen wie auch immer gearteten, in der Verfassung verankerten Schlüsselposten einnehmen wird. So und nur so sind die am 15. Januar verlautbarten Thesen zu einer Verfassungsreform zu verstehen. Faktisch geht es um einen Verfassungsstreich, der in den nächsten Monaten in rasender Geschwindigkeit mit Hilfe des handgesteuerten Parlaments und aller übrigen Machtorgane durchgeführt werden wird. Die Änderungen werden eine vollkommen neue Verfassung schaffen, die eine prinzipiell andere Machtstruktur beschreibt.
Faktisch geht es um einen Verfassungsstreich
Bezeichnend ist, dass eine wirkliche Beteiligung der Bürger Russlands an diesem Prozess in keiner Weise vorgesehen ist – Putin selbst hat das Wort Referendum nicht erwähnt, nur die Verlautbarungen anderer Vertreter der Machtelite lassen auf nichts anderes schließen. Doch selbst wenn Wahlen den Austausch der geltenden Verfassung gegen ein grundlegend neues Dokument begleiten, so kann Status, Ehrlichkeit und Transparenz der Abstimmung schon jetzt bezweifelt werden – insbesondere wenn man berücksichtigt, auf welchem Ehrlichkeitsniveau und mit welcher Transparenz Wahlen und Wahlkämpfe in Russland normalerweise ablaufen.
Um den Verfassungsstreich zu ermöglichen, wurde als Nebelkerze eine Hammerdosis Sozialpopulismus gezündet: Erziehungsgeld, kostenloses Schulessen, in der Verfassung verankerter Mindestlohn und Rentenausgleich und so weiter. Es ist keineswegs Fakt, dass all das im Endeffekt umgesetzt und das Leben der Menschen besser wird, doch einen Bonus und einen Zuwachs auf der Beliebtheitsskala wird Putin in jedem Fall davon haben.
Während die von den Staatsalmosen abhängigsten Bürger ihre zukünftigen Gewinne zusammenzählen, wird die Umstrukturierung des Machtsystems in ungeheurem Tempo durchgezogen – und danach wird alles egal sein: Man kann die Regierung einfach wieder für unfähig erklären, Sozialprogramme umzusetzen, und sie absetzen. Man kann die Duma auflösen und eine neue wählen und diese Tricks dann ein paar mal wiederholen. Wenn dann die Erwartungen schrittweiser sozialer Verbesserungen sowie die Verbesserungen selbst schwinden, wird alles getan sein: Die Bürger werden es mit einem völlig neuen Staat zu tun haben, bei dem nicht mal klar ist, ob in seinem Namen weiterhin das Wort „Föderation“ zu finden sein wird.
Die Verfassung von 1993 ist schlecht – und alle, die das jahrelang bestritten haben, sollten еs zumindest jetzt einsehen. Sie war weder imstande die realen Rechte der Bürger noch sich selbst zu schützen.
Erst jetzt ist klar geworden, dass der ganze Liberalismus und das Demokratische der Verfassung nur von einem garantiert wurde – dem guten Willen des ersten Mannes im Staat, ihres Garanten, des Präsidenten Russlands. Sobald ein anderer Präsident nicht mehr ihr Garant sein wollte und entschied, sich von ihrem Geist zu lösen, zeigte sich, dass dem nichts im Wege steht. Nachdem der liberale Geist der Verfassung vernichtet war, war auch ihr Wort verdammt.
Die Verfassung wurde nur von einem garantiert: dem guten Willen des Präsidenten
Die Verfassung von 1993 sollte den Präsidenten vor dem Parlament schützen. Doch die Autoren der Verfassung fürchteten nicht nur das Parlament, sondern auch die Bürger Russlands. Aus irgendeinem Grund schien ihnen, wenn man den Gemeinden und Regionen und – vor allem – den Bürgern zu viele Vollmachten gibt, dass dann automatisch die Rot-Braunen an die Macht kommen, die sowjetischen Revanchisten.
Und sie sind tatsächlich gekommen, allerdings nicht von unten und nicht durch einen Sieg bei der Dumawahl, sondern von oben: aus der Masse des Beamten- und Silowiki-Apparates, aus den Eliten der 1990er Jahre. Und es hat sich gezeigt, dass die Verfassung keinen Schutz davor bieten kann.
Die Vollmachten der regionalen Selbstverwaltung waren in der Verfassung nur sehr allgemein festgeschrieben, genauso die Verfahren zur Gouverneurswahl und zur Bildung solch wichtiger Institutionen wie dem Föderationsrat. Kurz: Es gab niemanden, der den von oben kommenden Impulsen etwas entgegensetzen konnte.
Schließlich sind wir da gelandet, wo wir gelandet sind: Ohne jegliche Verfassungsänderung wurde die regionale Selbstverwaltung praktisch vernichtet und der Föderalismus demontiert. Und es gab keine Mechanismen, um das aufzuhalten. Die Gewaltenteilung erwies sich als Fiktion, die schwülstigen Worte über die unveräußerlichen Rechte und Freiheiten des Menschen erwiesen sich als Fiktion, die Stabilität der Verfassung erwies sich als Fiktion. Alles, dessen sich die gegenwärtige Verfassung rühmte, erwies sich als Fiktion. Ihr eigentlicher Inhalt bestand letztendlich in den großen, unermesslichen, unveräußerlichen und unbestreitbaren Machtbefugnissen des Präsidenten. Nur hat noch der letzte Schritt gefehlt, das allmächtige Amt durch eine konkrete Persönlichkeit zu ersetzen – und der wurde nun vollzogen. Nach Putins Reform wird es völlig unerheblich sein, wer der Präsident ist, denn solange Putin an der Macht ist, wird Putin auch das Sagen haben.
Nach der Reform wird es völlig unerheblich sein, wer der Präsident ist, denn solange Putin an der Macht ist, wird Putin auch das Sagen haben
Bedauerlicherweise gibt es keinen Zweifel daran, dass Putin die Verfassung so umschreiben wird, wie er sich das vorstellt, und dass er sie letztendlich zu einer Garantie seiner lebenslangen Herrschaft machen wird. Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe für die schnellen Verfassungsänderungen lässt keinen Raum für Illusionen: Den juristischen Kern der Gruppe bilden genau die Leute, die persönlich verantwortlich sind für alle restriktiven Gesetze der letzten Zeit. Eiskunstläufer, Pianisten, Kosaken, Schauspieler und betagte Kosmonauten leisten ihnen Gesellschaft. Besonders wichtig ist zu bemerken, dass in der Arbeitsgruppe auch Personen sind, die ganz offen die ominösesten und menschenfeindlichsten Ideen vertreten und unterstützen. Allein schon der Donbass-Veteran Prilepin, der auch zu den Vätern der neuen Verfassung zählt!
Wirkliche Checks and Balances wird es in der Verfassung per Definition nicht geben. Allein der Gedanke daran, dass man Putin beschränken oder ihm etwas entgegensetzen könnte, ist blasphemisch für die, die den Text des neuen Gesetzes ausarbeiten.
Im Übrigen ist es denkbar, dass Putin gerade mit seinem Wunsch nach Erhalt der Stabilität die ihn dermaßen beängstigenden Veränderungen nur herbeiführt: Er selbst hat das Herrschaftssystem destabilisiert – und angesichts des vorgegebenen Tempos der Neuordnung kann es durchaus sein, dass viele wichtige Details versäumt werden. Dass viele unbedachte und irreparable Fehler gemacht werden, die schneller nach hinten losgehen, als man meint.