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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Russlands Arktispolitik

    Russlands Arktispolitik

    „Wir töten die Natur und arbeiten bei Rosprirodnadsor.“ Mit diesen Worten hat ein Mitarbeiter von Russlands zentraler Umweltbehörde im Mai 2020 seinen Arbeitgeber kritisiert: Er warf der Behörde vor, die ökologische Katastrophe in der Region um Norilsk zu vertuschen.1
    Nahe der mittelsibirischen Stadt am Polarkreis sind Ende Mai 2020 aus einem Kraftwerkstank des Nickelproduzenten Nornickel über 20.000 Tonnen Öl ausgelaufen. Der Großteil des Öls gelangte in die Flüsse Daldykan und Ambarnaja, die in den Pjassinosee münden. Von hier aus könnte das Öl weiter in die Karasee abfließen, ein Randmeer des Arktischen Ozeans. Derzeit ist dieses Worst-Case-Szenario zwar unwahrscheinlich, für die Region um Norilsk – eine der ohnehin am stärksten verschmutzten Gegenden Russlands – bedeutet der Zwischenfall aber eine weitere verheerende Umweltkatastrophe. 

    Der Kreml zeigte sich empört über die Missstände, dabei ist die Vertuschung von Fehlern, die durch die grassierende Korruption noch verstärkt werden, charakteristisch für autoritäre Systeme. So hatte Moskau nur verzögert von der Umweltkatastrophe erfahren – nicht von den Zuständigen, sondern via Social Media. Auch die technische Aufsichtsbehörde Rostechnadsor hatte wohl seit 2016 keinen Zugang mehr zum Kraftwerk gehabt. Der Rosprirodnadsor-Mitarbeiter Wassili Rjabinin wurde nach seiner öffentlichen Kritik allerdings suspendiert. Außerdem sorgt derzeit eine Recherche der Novaya Gazeta – die diese gemeinsam mit Rjabinin durchgeführt hat – für weiteres Aufsehen: Sie belegt, dass der Konzern Nornickel giftige Abwasser direkt in die Natur leitet. 

    Die Katastrophe von Norilsk jedenfalls zwang den russischen Präsidenten, den Notstand auszurufen. Denn der (Selbst-)Anspruch Russlands auf die Rolle der arktischen Gestaltungsmacht wird auch davon abhängen, wie das Land mit ökologischen Katastrophen im Speziellen und mit der Umwelt im Allgemeinen umgeht.
     

    In der arktischen Region stellt das durch den Klimawandel bedingte Auftauen der Permafrostböden eine besondere Belastung für die Umwelt dar. Und treibt die Erderwärmung durch die Freisetzung von Kohlendioxid und Methan zusätzlich voran. Erst 2019 erreichte die Zahl an Überschwemmungen und Waldbränden in der russischen Arktis und in Sibirien ihren bisherigen Rekord. Für die nach dem Amazonas Regenwald zweite grüne Lunge der Welt eine alarmierende Entwicklung.

    Arktische Gestaltungsmacht

    2021 wird Russland den Vorsitz im Arktischen Rat übernehmen – eine zwischenstaatliche Organisation, die Klimaschutz und Sicherheit (nicht-militärischer Art) in der Region fördern will. Zu den Mitgliedern gehören die arktischen Anrainerstaaten sowie Schweden, Finnland und Island. Der international besetzte Rat wirkt ausdrücklich nicht politisch, Kritiker bezeichnen ihn teilweise als „zahnlosen Tiger”, da er keine Macht habe, die gefällten Entscheidungen umzusetzen. Dennoch gilt er als wichtigstes Forum für Arktis-Fragen, der Rat wurde 1996 auf Grundlage der fünf Jahre zuvor vereinbarten Arctic Environmental Protection Strategy2 gegründet. Der Vorsitz rotiert alle zwei Jahre, Russland hatte ihn zuletzt von 2004 bis 2006 inne. Etwa seit dieser Zeit hat Russland gegenüber den anderen Ratsmitgliedern durchaus Akzente gesetzt – und stetig seine Ansprüche unterstrichen. 

    So haben Tauchkapseln 2007 in einer Tiefe von 4302 Metern eine russische Flagge aus Titan aufgestellt. Damit verdeutlichte Moskau wiederholt den Anspruch auf Teile der Mendelejew- und Lomonossow-Rücken. In den Gebieten, die Russland als Fortsetzungen seiner Festlandsockel betrachtet, werden reiche Rohstoffvorkommen vermutet. Sie liegen jedoch jenseits von Russlands 200-Seemeilen-Zone, eine sogenannte ausschließliche Wirtschaftszone, in der der jeweilige Küstenstaat besondere Hoheitsrechte genießt. 
    Ebenfalls 2007 nahm der Kreml seine militärische Präsenz in der Arktis in vollem Umfang wieder auf, diese war seit dem Zerfall der Sowjetunion faktisch ausgesetzt. Einzelne Stimmen aus dem Westen bewerteten den Schritt schon damals alarmistisch, zahlreiche Beobachter schätzen die Situation dennoch als stabil ein.3 Tatsächlich konnte 2010 ein 40-jähriger Grenzstreit zwischen Russland und Norwegen in einem bilateralen Abgrenzungsvertrag beigelegt werden.

    Geopolitik

    Die „Wende nach Osten“, die der Kreml seit etwa 2012 vollzieht, geht jedoch auch am Nordpolarkreis nicht vorbei. Die Ende 2014 angepasste russische Militärdoktrin sieht erstmals explizit den Einsatz von Streitkräften in der Arktis vor, zur „Gewährleistung der nationalen Interessen“4. Eigens zu diesem Zweck wurden parallel Arktische Streitkräfte und ein fünfter „nördlicher“ Militärbezirk eingerichtet. Diese Entwicklungen spiegeln sich auch im am 5. März 2020 erneuerten Hauptdokument der russischen Arktispolitik – Die Grundlagen der Staatspolitik der Russländischen Föderation in der Arktis für den Zeitraum bis 2035. Zu den nationalen Interessen Russlands in der Arktis gehört demnach an erster Stelle die „Gewährleistung der Souveränität und territorialen Integrität“ Russlands in der Nordpolarregion.5 Zur Verteidigung dieser Interessen sieht das Dokument eine Reihe nicht näher bestimmter militärischer Maßnahmen vor.

    Insgesamt erhebt der Kreml den geopolitischen Anspruch auf ein Gebiet von neun Millionen Quadratkilometern – rund 40 Prozent der gesamten Arktis. Derzeit leben von den vier Millionen Menschen, die weltweit in der Arktis siedeln, zweieinhalb Millionen in Russland. Ihre Siedlungsgebiete sind nicht zuletzt wegen extremer Witterungsverhältnisse stark von Regionalförderung aus Moskau abhängig. Dabei werden hier bis zu 15 Prozent des russischen Bruttoinlandsprodukts erzielt: Unter anderem erwirtschaftet Russland in arktischen Regionen rund ein Drittel seines Fischfangs sowie 80 Prozent der Gasförderung.

    Rohstoffbasis

    Die Region wird für Russland auch deshalb immer wichtiger, weil aller Voraussicht nach durch den Klimawandel der Wasserweg entlang der russischen Nordmeerküste bis 2050 eisfrei werden wird: Die Nordostpassage könnte so zur Handelsroute ausgebaut werden. 
    Vor diesem Hintergrund haben Russland und China 2018 das Projekt der Arktis-Seidenstraße gestartet. Nach dem Krieg in der Ostukraine verlor Russland seine Modernisierungspartnerschaft im Westen. So versucht Russland durch die Hinwendung nach China auch seine sanktionsbedingten Einbußen auszugleichen. Diese Partnerschaft ist für Russland jedoch nicht unproblematisch, denn Peking besteht darauf, dass die Schifffahrt auf der Nordostpassage nicht durch russische Gesetze geregelt wird und möchte darüber hinaus auch freie Durchfahrt für seine Kriegsschiffe durchsetzen. Sollte der Kreml darauf eingehen, würde Russland noch deutlicher in die Rolle eines Juniorpartners abrutschen – eine Konstellation, die viele Beobachter nicht selten als charakteristisch für die russisch-chinesischen Beziehungen bezeichnen. 

    Ob mit oder ohne China: Es bleibt zu befürchten, dass die Region vom Kreml auch in absehbarer Zukunft vornehmlich als Ressourcenbasis behandelt wird – trotz der im Februar 2015 initiierten Staatlichen Kommission für die Entwicklung der Arktis oder des am 26. Februar 2019 in seinem Kompetenzbereich um die Arktis erweiterten Ministeriums für die Entwicklung des Fernen Ostens. Vielleicht tragen aber auch unabhängige Einblicke wie sie etwa die Novaya Gazeta oder der populäre Vlogger Juri Dud mit seiner Reise nach Kamtschatka und Kolyma jüngst lieferten zu mehr gesellschaftlichem Druck und einem Umdenken bei – hin zu einer positiveren umwelt- und sozioökonomischen Entwicklung.6


    1. Novaya Gazeta: «My ubivaem prirodu i rabotaem v Rosprirodnadzore» ↩︎
    2. vgl. Erklärung zum Schutz der arktischen Umwelt ↩︎
    3. Humrich, Christoph/Wolf, Klaus Dieter (2011): Krieg in der Arktis? Konfliktszenarien auf dem Prüfstand, in: Osteuropa, 61.Jg., 2–3, S. 225–242 ↩︎
    4. kremlin.ru: Voennaja doktrina Rossijskoj Federacii ↩︎
    5. kremlin.ru: Vladimir Putin podpisal Ukaz «Ob osnovach gosudarstvennoj politiki Rossijskoj Federacii v Arktike na period do 2035 goda»​; Zuvor galt die am 19. September 2008 vom russischen Präsidenten Dmitrij Medvedev gebilligte Strategie für den Zeitraum bis 2020. ↩︎
    6. Jurij Dud‘ „Kamtschatka“ vom 2. Juni 2020 und „Kolyma“ vom 23. April 2019, zugegriffen am 13. Juni 2020 ↩︎

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  • Afrikapolitik

    Afrikapolitik

    Als Angela Merkel im Januar 2020 zu einem Spitzentreffen im Kreml eintraf, war es ihre erste Moskau-Reise seit fast fünf Jahren. Zwar haben Merkel und Putin in dieser Zeit häufig miteinander geredet, nach der Krim-Annexion hat die Bundeskanzlerin aber offenbar gemieden, in die russische Hauptstadt zu fliegen. 

    Einer der wichtigsten Gründe ihres Besuchs war der Bürgerkrieg in Libyen. Durch den Vormarsch des libyschen Kriegsherrn Khalifa Haftar auf Tripolis droht das Land in einer Gewaltspirale zu versinken. Dabei wird dieser Vormarsch laut Experten maßgeblich von russischer Seite unterstützt: Rund 1400 Söldner des Militärunternehmens Gruppe Wagner sollen derzeit an der Seite von Haftar kämpfen.1 
    Bei der Pressekonferenz nach dem Spitzentreffen sagte Putin, es sei möglich, dass russische Bürger in Libyen kämpfen, allerdings würden sie weder die Interessen des russischen Staates vertreten noch von ihm bezahlt werden.2

    Tatsächlich erscheint Russlands Afrikapolitik diffus: So soll Russland beispielsweise in Madagaskar (Rang 148 im russischen Ranking der Länder nach Handelsvolumen) die Präsidentschaftswahl manipuliert haben,3 und in der Zentralafrikanischen Republik (Rang 1894) ist der wichtigste Sicherheitsberater des Präsidenten ein ehemaliger russischer Geheimdienstoffizier. Hier wurden im Sommer 2019 drei russische Journalisten ermordet,  die zu den Machenschaften der Söldner von TschWK Wagner recherchierten. 

    In den letzten Jahren hat Russland afrikanischen Ländern insgesamt rund 20 Milliarden US-Dollar Schulden erlassen, darunter 4,5 Milliarden US-Dollar von Libyen. Was für Interessen könnte Russland in Libyen haben? Und überhaupt in Afrika? 

    Trotz erster Anläufe unter Dimitri Medwedew, richtete Moskau den Blick auf den afrikanischen Kontinent so richtig erst nach 2014. Die zunehmende internationale Isolation nach der Annexion der Krim katalysierten Moskaus Suche nach neuen wirtschaftlichen, aber auch diplomatischen Verbündeten. Die ersten bescheidenen Erfolge dieser Bemühungen zeigten sich bereits bei der Krim-Frage: Bei der Abstimmung vor der UN-Generalversammlung stimmten Sudan und Simbabwe mit Russland sowie acht weiteren Staaten gegen die Resolution zur territorialen Unversehrtheit der Ukraine. 

    Russland-Afrika-Gipfel 

    Um den neuen Stellenwert afrikanischer Länder zu unterstreichen, veranstaltete der Kreml im Oktober 2019 eine der kostspieligsten russischen Konferenzen der vergangenen zehn Jahre: Der erste Russland-Afrika-Gipfel in Sotschi war mit Kosten von rund 4,5 Milliarden Rubel sogar noch teurer als das Petersburger Wirtschaftsforum. Vertreter aller afrikanischer Staaten, unter ihnen 43 Staats- und Regierungschefs, sind in die Schwarzmeerstadt angereist. Sie haben Verträge in Höhe von umgerechnet rund 13 Milliarden US-Dollar unterzeichnet, außerdem soll das Format als Russia-Africa Partnership Forum nun alle drei Jahre stattfinden. Das Amtsblatt Rossijskaja Gaseta titelte: „Nach Afrika! Russische Investitionen haben ein warmes Plätzchen gefunden“.5 Parallel zum Gipfel unterstrich Moskau seine Afrika-Ambitionen, indem es erstmalig zwei Tupolew-Bomber vom Typ Tu-160 auf den südafrikanischen Militärflugplatz Waterkloof verlegte.6 Insgesamt soll Moskau mit etwa 20 Staaten auf dem afrikanischen Kontinent Militärkooperationen haben.7  

    Naher Osten und Afrika werden zusammengedacht

    Nichtsdestotrotz hat Afrika jedoch per se keine prioritäre Stellung in der russischen außenpolitischen Agenda. Das gegenwärtige Handelsvolumen beträgt etwa 20 Milliarden US-Dollar und liegt damit deutlich unter den etwa 300 Milliarden der Europäischen Union oder den 200 Milliarden US-Dollar von China. Von diesen 20 Milliarden gehen alleine acht auf den Handel mit Ägypten zurück. Seit 2006 unterhält der russische Staat hier die erste russische Universität im Nahen Osten – die Egyptian Russian University (ERU). Insgesamt wird im russischen Außenministerium der afrikanische Kontinent zweigeteilt: in ein Departement Afrika, das in etwa für die Staaten Subsahara-Afrikas verantwortlich ist, und in ein Departement Naher Osten und Nordafrika. Dieses umfasst den Maghreb, den Nahen Osten oder etwa den Sudan. 

    Dass die Kreml-Strategen womöglich eine Verbindung von russischem Engagement im Nahen Osten mit russischer Afrikapolitik verfolgen, erscheint von daher plausibel. 

    Alte Netzwerke

    Dabei soll auf Netzwerke aus der Sowjetzeit zurückgegriffen werden. Sowohl der vierte Präsident Ägyptens Hosni Mubarak als auch Hafez al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten Syriens Baschar al-Assad, wurden in der Sowjetunion ausgebildet, an der Höheren Militärkommando Schule Frunse, im heutigen Kirgistan. Die Funktion der Kaderschmiede für die sogenannte Dritte Welt übernahm insgesamt jedoch die 1960 eigens dafür gegründete heutige Russische Universität der Völkerfreundschaft (RUND).8 Von 1961 bis 1992 trug sie den Namen des ersten Staatschefs vom unabhängigen Kongo, Patrice Lumumba. Dieser wurde 1961 mit Unterstützung von US-Geheimdienst und belgischer Regierung ermordet. 

    Entkolonisierung = Kampf gegen kapitalistische Imperialisten

    Nach dem Tod des Diktators Josef Stalin, der keine nennenswerte Afrikapolitik betrieben hatte, entdeckte die Sowjetunion unter Nikita Chruschtschow den Kontinent. Im weltpolitischen Setting des Kalten Krieges erkannte Moskau viel Potenzial, nicht zuletzt in der afrikanischen Entkolonisierung. 
    Als einzige ehemalige europäische Großmacht hatte Russland zu keiner Zeit Kolonien in Afrika besessen. So versprach man sich durch das Engagement neben geopolitischen Erwägungen, wie etwa neue Militärhäfen, vor allem auch einen Zugewinn an Softpower. Die Unabhängigkeitsbestrebungen sollten ideologisch mit dem Kampf gegen die sogenannten kapitalistischen Imperialisten verbunden werden. Die Lumumba-Universität sollte entsprechende Kader ideologisch vorbereiten. 

    Ebenfalls Anfang der 1960er Jahre erscheint auch das erste umfassende sowjetische Nachschlagewerk über den Kontinent: Die Enzyklopädie Afrika wurde damals vor allem vom Afrika-Institut der sowjetischen Akademie der Wissenschaften (RAN) erarbeitet.9 Auch heute ist das Afrika Institut der RAN wieder eine veritable Forschungseinrichtung. Gleichzeitig ist der Bildungsmarkt viel kompetitiver als noch zu Zeiten der Sowjetunion. Außenminister Sergej Lawrow sagte 2018 in einem Interview mit dem marokkanischen Magazin Hommes d’Afrique, dass von den etwa 15.000 Studenten aus Afrika in Russland gut 1800 ein Stipendium vom russischen Staat erhalten haben.10 

    Konzept oder Opportunismus?

    Insgesamt hatte die Sowjetunion Einfluss vor allem nur bei verhältnismäßig instabilen und sehr armen Staaten.11 Dies werteten Beobachter als Evidenz dafür, dass für das sowjetische Engagement ein Land so gut wie das andere gewesen sei – Hauptsache der sowjetische Einfluss ließ sich vergrößern. 
    Auch heute stellt sich die Frage, ob Russland tatsächlich ein Konzept in Afrika verfolgt oder rein opportunistisch handelt. Für Dimitri Kosyrew, einen der prominenten Absolventen des Instituts der Länder Asiens und Afrikas der Lomonossow-Universität Moskau, ist klar: „Russlands zweiter afrikanischer Versuch“ bestehe etwa im Export von Know-How in Geologie und Geotechnik, Düngemitteln oder Atomkraftwerken. Gleichzeitig betont Kosyrew aber auch, „dass wir den Afrikanern immer noch angenehmer sind als die ehemaligen Kolonialherren“.12  

    Fast 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ist der Kreml international weitgehend isoliert, strebt aber gleichzeitig nach neuer Größe als international unumgänglicher Akteur. Auch die russische Afrikapolitik lässt sich teilweise in diesem Zusammenhang deuten: Hätten die russischen Söldnertruppen von Putins sogenanntem Koch Jewgeni Prigoshin beispielsweise nicht in den libyschen Bürgerkrieg eingegriffen, dann hätte sich die Lage im gebeutelten Land wahrscheinlich nicht so stark verschärft. Merkels Besuch in Moskau hätte dann also womöglich gar nicht stattgefunden, genauso wenig wie die dort verabredete Libyen-Konferenz im Januar 2020 in Berlin. Der britische Premierminister Boris Johnson jedenfalls ermahnte Putin am Rande der Konferenz äußerst undiplomatisch, als er sagte: „Es wird keine Normalisierung unserer bilateralen Beziehungen geben, bis Russland die destabilisierende Aktivität beendet, die Großbritannien und unsere Verbündeten bedroht.“13 


    1. Süddeutsche Zeitung: Libyen. Profiteur unklarer Fronten ↩︎
    2. RBK: Putin otvetil na vopros o rossijskich naemnikach v Livii ↩︎
    3. vgl. Grossman, Shelby/Bush, Daniel/DiResta, Renée (2019): Evidence of Russia-Linked Influence Operations in Africa, Freeman Spogli Institute for International Studies, Stanford University ↩︎
    4. vgl. exportcenter.ru: CAR (Central’noafrikanskaja Respublika) ↩︎
    5. Rossijskaja Gazeta: V Afriku! Rossijskie investicii našli teploe mesto ↩︎
    6. vgl. Die Presse: Premiere: Russische Langstreckenbomber in Südafrika gelandet ↩︎
    7. vgl. The Guardian: Russia in Africa: Leaked documents reveal Russian effort to exert influence in Africa ↩︎
    8. Im Rahmen des Afrika-Gipfels in Sotschi veranstaltete die Universität das erste internationale Festival „Ich will in Afrika arbeiten“, vgl. rudn.ru: Pervyj meždunarodnyj festival‘ «Ja choču rabotat‘ v Afrike» ↩︎
    9. vgl.Yastrebova, I.: The Soviet Encyclopaedia on Africa. The Journal of Modern African Studies, 1(3), S. 386f. ↩︎
    10. vgl. Interview mit dem russischen Außenminister Sergej Lavrov in der Zeitschrift Hommes d’Afrique, Moskau, 5. März 2018: mid.ru: Interv’ju Ministra inostrannych del Rossii S.V.Lavrova žurnalu «Hommes d’Afrique», Moskva, 5 marta 2018 goda ↩︎
    11. vgl. Brayton, A.: Soviet Involvement in Africa, in: The Journal of Modern African Studies, 17(2), S. 253-269; Grey, R.: The Soviet Presence in Africa: An Analysis of Goals, in: The Journal of Modern African Studies, 22(3),S. 511-527 ↩︎
    12. zit. nach: ria.ru: Vtoraja afrikanskaja popytka Rossii ↩︎
    13. zit. nach Süddetusche Zeitung: Johnson fordert von Putin Ende destabilisierender Aktivität ↩︎

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  • Bystro #9: Great Game um Syrien?

    Bystro #9: Great Game um Syrien?

    Anfang Oktober hat Donald Trump den Abzug aller US-Truppen aus Nordsyrien angeordnet. Während das Repräsentantenhaus die Entscheidung in einer Resolution verurteilt hat, ist die Türkei in Syrien eingedrungen und hat eine Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG gestartet.
    Vor dem Hintergrund massiver internationaler Kritik an dem Einsatz einigten sich die Türkei und die USA am 17. Oktober auf eine fünftägige Waffenruhe. Diese beinhaltet auch einen Abzug der bisherigen US-verbündeten Kurden.

    Wird Syrien nun zum Spielball der neuen Garantiemächte? Wie ändert sich dadurch die Machtverteilung in der sogenannten Astaninskaja Troika? Wo liegen die gemeinsamen Interessen der einzelnen Länder, wo die Konfliktpunkte? Ein Bystro von Felix Riefer in sieben Fragen und Antworten – einfach durchklicken.

    1. 1. „Millions of lives will be saved!“, twitterte Donald Trump nach der Vereinbarung der Waffenruhe am 17. Oktober. Was bedeutet die Waffenruhe für die weitere Entwicklung in Nordsyrien?

      Wie der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu nach der Vereinbarung bekanntgab, werde die Offensive nicht gestoppt, sondern nur unterbrochen: Enden werde sie nur dann, wenn die Kurdenmiliz YPG innerhalb von 120 Stunden ihre Truppen abziehe und Stellungen in einer 20 Meilen Zone (etwa 30 Kilometer) ab der türkischen Grenze zerstöre.
      Die YPG soll bereits zähneknirschend mit dem Abzug angefangen haben: Denn mit der Vereinbarung haben die USA faktisch dem Wunsch des türkischen Präsidenten entsprochen, der eine 20 Meilen Pufferzone an der Grenze zur Türkei schaffen wollte. Wer die sogenannte Schutzzone kontrollieren wird ist noch unklar. Die YPG hat angekündigt, eine türkische Präsenz an der Grenze nicht dulden zu wollen. Damit ist diese Waffenruhe weiterhin fragil.
      Den Kurden bleibt nun im Grunde nichts anderes übrig, als sich mit der Assad-Regierung zu verbünden. Das Assad-Regime würde am liebsten die YPG in ihre Streitkräfte eingliedern und die Region unter seine Kontrolle bringen.

    2. 2. Welche Rolle haben die einzelnen Länder Russland, Iran und Türkei in dem Konflikt, zumal nachdem die USA sich nun zurückziehen?

      Auf den ersten Blick scheint der US-Abzug nicht besonders gravierend zu sein, schließlich handelt es sich bei den US-Truppen in Syrien lediglich um zuletzt rund 1150 Personen. Doch durch den Rückzug der USA als Gestaltungsmacht in der Region steigen Russland, Türkei und Iran (neben Israel und Saudi-Arabien und, abgeschwächt, die Kurden) tatsächlich zu sogenannten Garantiemächten im Nahen Osten auf.
      Während sich die USA als Ordnungsmacht zurückziehen und die EU noch nicht bereit ist, als solche aufzutreten, übernimmt Russland in der Troika eine Art Führungsrolle. Damit festigt der Kreml seine geopolitische Stellung im Nahen Osten. Insgesamt geht es Russland im Grunde weniger um die Machtsicherung Assads als darum, Moskau nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder als einen unumgänglichen Akteur auf der Weltbühne zu etablieren.
      Unter der Vermittlung der Vereinten Nationen einigten sich die Regierung in Damaskus und die syrische Opposition im September auf ein Verfassungskomitee. Wegen der Zusammensetzung dieses Formats kann Russland nun eine wesentliche Rolle bei der Erarbeitung der neuen Verfassung spielen und auch damit seine Position als Power Broker festigen.

    3. 3. Das ist also das Ziel Russlands. Aber wo treffen sich die Interessen aller drei Länder, und worin unterscheiden sie sich?

      Die Troika steht in Syrien in einem äußerst komplexen Spannungsfeld aus politischen, ethnischen und religiösen Konflikten. Der Rückzug der US-Amerikaner trifft ganz besonders die Kurden, die sowohl gegen den IS als auch gegen die Türkei kämpfen. Türkische Truppen haben inzwischen den von der Kurdenmiliz YPG kontrollierten Landstreifen entlang der Grenze zu Nord- und Ostsyrien angegriffen. Die Türkei selbst wurde lange Zeit beschuldigt, die Dschihadisten zu dulden, unterstützte aber auch einige syrische Rebellengruppen. Erst nach dem IS-Anschlag in der türkischen Stadt Suruç im Juli 2015 änderte die Türkei ihre Politik und griff direkt in den Syrienkrieg ein. Zuletzt eroberten türkische Truppen die Region Afrin.
      Insgesamt wirkt die Syrien-Strategie der Türkei eher inkonsistent, gegenwärtig geht es Erdoğan vor allem darum, einen neuen Flüchtlingsandrang in die Türkei zu verhindern und die kurdische YPG zu bekämpfen. Insofern ist die ausgehandelte Waffenruhe mit dem geplanten Rückzug der Kurden ganz in seinem Sinne. Ob und wie lange der Waffenstillstand hält, das ist zum gegebenen Zeitpunkt noch unklar.

    4. 4. Wie steht Russland zu den Kurden?

      Russland ist das Schicksal der Kurden in Nordsyrien nicht so wichtig. Zwar ist zu erwarten, dass der Propagandaapparat des Kreml das wiederholte Im-Stich-Lassen der Kurden von Washington auskosten wird, zentral ist für den Kreml jedoch vielmehr der Schulterschluss mit dem Regime von Baschar al-Assad ohne dabei die Türkei zu verstimmen.
      Russische Streitkräfte ermöglichten Assad bereits, strategisch wichtige Gebiete unter seine Kontrolle zu bringen. Hinweise, dass alleine im syrischen Militärgefängnis Saydnaya bis zu 13.000 Menschen grausam getötet wurden, tut das Außenministerium Russlands dabei als haltlos ab. Seinen Part bei der türkischen Offensive auf die Kurden in Nordsyrien sieht Moskau in der Vorbeugung von Zusammenstößen von Assad-Streitkräften und türkischem Militär. Schließlich unterstützt die syrische Armee die Kurden in Nordsyrien und möchte, dass die von den Kurden kontrollierten Gebiete wieder unter die Kontrolle der Zentralregierung in Damaskus kommen.
      Auch der Iran unterstützt das Assad-Regime. Dabei fordert Präsident Rohani von der Türkei, die besetzte Afrin-Region an Syrien zurückzugeben. Der Iran versteht sich als Regionalmacht und als schiitische Schutzmacht für den Alawiten Assad. Über die Schiiten in der Region möchte Teheran sich den Zugang zur Hisbollah im Libanon und letztlich zum Mittelmeer sichern. Dabei spielt Irans traditionelle Rivalität zu Saudi-Arabien und Israel eine zentrale Rolle. Nach dem türkischen Angriffskrieg auf Nordsyrien waren Aufrufe zur Mäßigung in Richtung Ankara sowohl aus Teheran wie aus Moskau zu vernehmen.

    5. 5. Ein weiterer Streitpunkt der Troika ist der Umgang mit der Region Idlib. Worin genau besteht der Konflikt?

      Das Gebiet um die Stadt Idlib ist die letzte Region in Syrien, die noch mehrheitlich von den Gegnern des Assad-Regimes kontrolliert wird. Etwa drei Millionen Menschen sind derzeit in Idlib, davon sind etwa die Hälfte Vertriebene. Allerdings sollen sich dort auch bis zu 70.000 Dschihadisten aufhalten. Ein Teil davon, die Nationale Befreiungsfront, wird von der Türkei unterstützt.
      Ende letzten Jahres einigte sich die Troika bereits darauf, dass entlang der Frontlinie eine demilitarisierte Pufferzone eingerichtet wird und das Gebiet weiterhin unter Rebellenkontrolle bleibt. Die Türkei wird voraussichtlich versuchen, diese Einigung in der einen oder anderen Form zu verteidigen, unter anderem deshalb, weil eine Offensive auf Idlib wahrscheinlich einen neuen Flüchtlingsandrang in die Türkei zufolge hätte.
      Der zweite Teil der Dschihadistenallianz, Hajat Tahrir al-Scham (HTS), wollte sich bereits kurz nach Verkündung des Deals nicht daran halten. Schließlich ist ihr Ziel weiterhin der Sturz von Assad. Inzwischen soll HTS, das zum Teil aus Al-Qaida-Terroristen besteht, die Region dominieren. Seit April führt das Assad-Regime mit Luftunterstützung durch Moskau eine Offensive auf Idlib. So kann Moskau auch gegen die in Idlib kämpfenden Dschihadisten aus dem Nordkaukasus vorgehen.

    6. 6. Kann dieser Interessenkonflikt Russland und die Türkei wieder entzweien, wie nach dem Flugzeugabschuss im November 2015?

      Die Türkei ist nur in einem sehr überschaubaren Bereich ein Partner Russlands. Dabei gibt es Kooperationen im Energiebereich und dem Tourismus. Durch den Kauf von russischen S-400 Raketen jüngst auch im Militärbereich. Damit will sich das NATO-Mitglied unabhängiger von seinen westlichen Verbündeten machen. Zwar ist die Türkei geschwächt durch die derzeitige Währungs- und Schuldenkrise, doch auch in Russland sowie im Iran gibt es derzeit ernste wirtschaftliche Probleme. Keines der Troika-Länder kann sich also das kostspielige „Great Game“ im Nahen Osten oder gar auf der Weltbühne dauerhaft leisten.

    7. 7. Militärexperten sind sich bei einer Frage nicht einig: Möchte Russland die Türkei aus der NATO lösen oder drin behalten, als Spaltpilz?

      Russland stufte in seinem Sicherheitspolitischen Konzept vom Dezember 2015 die USA und ihre Verbündeten als Bedrohung für seine Sicherheit ein. Da ist es plausibel anzunehmen, dass der Kreml das Maximalziel Zerfall des Bündnisses nur allzu gerne befeuern würde. Solange das nicht möglich ist, wird man sich mit abgestuften Szenarien wie der Rolle eines Spaltpilzes durchaus zufriedengeben. Doch wird die NATO die Türkei nicht zuletzt aufgrund ihrer geopolitischen Brückenkopffunktion nicht so schnell aufgegeben. Die Türkei selbst lässt sich natürlich auch nicht willkürlich von Moskau instrumentalisieren, handelt allerdings immer selbstbewusster und auch auf eigene Weise destruktiv. Die Türkei ist seit 1952 Nato-Mitglied. Allerdings hat das Land unter Erdoğan schrittweise eine autoritäre Wende vollzogen und sich dabei auch Russland angenähert. Ähnlich der Angst des Kreml vor sogenannten farbigen Revolutionen, sieht Erdoğan die Protestwelle im Jahr 2013 gegen seine autoritäre Herrschaft als vom Westen gesteuert an. Somit ist ein türkischer Austritt aus der Allianz nicht mehr undenkbar. Die schrittweise Entmachtung der Kemalisten und Atlantiker in Militär und Justiz sind weitere Indizien für diese Annahme.

       


    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

     

     

     

     

    Text: Felix Riefer
    Stand: 18.10.2019

     

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