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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wjatscheslaw Wolodin

    Wjatscheslaw Wolodin war von Dezember 2011 bis Oktober 2016 erster stellvertretender Leiter der Präsidialadministration, in der er nach langjähriger regional- und parteipolitischer Karriere für Innenpolitik verantwortlich war. In dieser Eigenschaft war Wolodin bestrebt, Russland nach außen als nicht-westliche Demokratie zu legitimieren, nach innen – nach den Protesten 2011/12 – auf föderaler und regionaler Ebene das Parteiensystem um die Exekutive zu konsolidieren und oppositionelle Akteure zu marginalisieren. Im Oktober 2016 wurde Wolodin zum Vorsitzenden der Staatsduma gewählt.

    Der 1964 im Saratower Gebiet geborene Wolodin begann nach Ausbildung und Promotion zum Landwirtschaftsingenieur seine politische Karriere 1990 in der Wolgastadt Saratow in diversen Ämtern in Stadt und Gebiet. Parallel erlangte er an der Russischen Akademie für Staatsdienst eine weitere Ausbildung als Jurist.

    Parteikarriere

    Im Parlamentswahlkampf 1999 trat er erstmals auf föderaler Ebene bei Vaterland – Ganz Russland (russ. Otetschestwo – wsja Rossija – OWR) in Erscheinung und wurde in die Duma gewählt. OWR war ein Bündnis von Ex-Premier Jewgeni Primakow, dem damaligen Moskauer Bürgermeister Juri Lushkow und einigen politischen Schwergewichten aus den russischen Regionen. Das Bündnis galt als Hauptkonkurrent der von der Jelzin-Familie und dem damaligen Premier Putin unterstützten Partei Einheit. Putin inkorporierte die OWR in die ursprünglich nur als Wahlkampfvehikel geplante Einheit, wodurch die Partei Einiges Russland (russ. Jedinaja Rossija – ER) entstand1.

    Wolodin wurde stellvertretender Fraktionsführer in der Duma und Mitglied des Parteipräsidiums. Nach einjähriger Zwischenstation als Vize-Premierminister wurde Wolodin 2011 vom amtierenden Präsidenten Dimitri Medwedew zum Stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration ernannt und löste somit die „Graue Eminenz“ und den Meister „politisch-administrativer Technologie“2 Wladislaw Surkow ab.

    Berufung in die Präsidialadministration

    Wolodins Parteikarriere ist insofern von Bedeutung, als dass Einiges Russland eben nicht nur die dominante Partei in der Staatsduma ist, sondern auch eine Kaderreserve für hochrangige Posten in der Staatsverwaltung darstellt, wobei Wechsel von Einiges Russland zur Präsidialadministration  und von dort wieder zurück zu den Hochzeiten der Partei keine Seltenheit waren.

    Obwohl anfangs spöttisch Slawa II.3 genannt, baute Wolodin seine Machtposition schnell aus, indem er zügig eigene Weggefährten aus OWR, ER und der 2011 neugegründeten All-Russischen Volksfront (russ. Obschtscherossiski narodni Front – ONF) in seiner Abteilung platzierte. Seine inoffizell auch als „Ministerium für Politik“ bezeichnete Abteilung in der Präsidialadministration ist mit circa 200 Mitarbeitern für Regionalpolitik und -wahlen, das Parlament und Gesetzgebung, Parteien, öffentliche Organisationen sowie nationale und religiöse Gemeinschaften verantwortlich. Sogenannte „Kuratoren“ sorgen für informelle Kontrolle und Steuerung bestimmter Politikbereiche.

    Das von Alexej Nawalny aufgedeckte Datschenkooperativ Sosny4 deutet nicht nur auf bedeutendes privates Vermögen, sondern auch beste Vernetzung Wolodins in der Partei Einiges Russland und Regierung hin.

    Wolodin an der Seite von Wladimir Putin während einer Sitzung des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten 2015 -  Foto © Dimitri Asarow/Kommersant
    Wolodin an der Seite von Wladimir Putin während einer Sitzung des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten 2015 – Foto © Dimitri Asarow/Kommersant

    Mit seinem Statement „Ohne Putin gibt es heute kein Russland“ auf dem Waldai-Forum im Oktober 2014 erklärte er den Persönlichkeitskult um Präsident Putin zur inoffiziellen Staatsideologie. Wolodin war zudem als Dozent am Lehrstuhl für Staatsverwaltung der Moskauer Staatlichen Universität tätig, organisierte in der Präsidialadministration Konferenzen für Lehrstuhlinhaber sozialwissenschaftlicher Fakultäten und lancierte (und finanzierte indirekt) den von dem renommierten Politikwissenschaftler Adam Przeworski5 herausgegebenen Sammelband Democracy in a Russian Mirror, in dem internationale und russische Autoren nicht-westliche, nicht-liberale Formen von Demokratie theoretisieren. Wolodin ist somit vielleicht noch ambitionierter als sein Vorgänger Slawa I.3, der den Begriff souveräne Demokratie prägte und den ideologischen Grundstein für Russlands Ablehnung westlich geprägter Demokratiemodelle legte.


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  • Volksfront für Russland (ONF)

    Volksfront für Russland (ONF)

    Die Obschtscherossiskoe obschtschestwennoe dwishenie „Narodny front za Rossiju(kurz: ONF) (deutsch: „Allrussische Gesellschaftliche Bewegung ‚Volksfront für Russland‘“) ist eine nationalpatriotische Dachorganisation, die im Jahr 2011 von Wladimir Putin ins Leben gerufen wurde; und zwar mit dem Ziel, die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft neu zu ordnen. In ihrer Struktur und Funktion ähnelt die ONF sowohl Parteien als auch NGOs und Verbänden. Regionale Interessen sollen stärker in der föderalen Politik Gehör finden und somit Defizite staatlichen Handelns ausgleichen, die durch die Machtvertikale entstanden sind. Außerdem dient die ONF als Kaderreserve, sie ist auf Verbandsebene in der Wirtschaftspolitik aktiv und kontrolliert vor allem regionale Behörden im Beschaffungswesen und bei der Umsetzung von präsidialen Entscheidungen. Durch die enge Anbindung an die Präsidialadministration ist die ONF allerdings zentral gelenkt. Sie ist geprägt durch ein Verständnis von Gesellschaft, die durch den Staat von oben mitgestaltet wird.1

    Präsident Wladimir Putin ist Anführer der Volksfront, die seit 2013 als Bewegung einen eigenen Rechtsstatus besitzt. NGOs, Berufs- und Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und andere gesellschaftlich aktive Organisationen machen den Kernbestand der ONF aus. Ko-Vorsitzende und Mitglieder des Exekutivkomitees sind hochrangige Personen aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaftsverbänden.

    Der Name Volksfront erinnert einerseits an Parteikoalitionen in der Kommunistischen Internationalen, aber auch an die Unabhängigkeitsbewegungen, die sich gegen Ende der Sowjetunion in zahlreichen Republiken bildeten. Andererseits werden ONF-Mitglieder in der Umgangssprache auch als frontowiki bezeichnet, was im Russischen auf die sowjetischen Frontsoldaten im Großen Vaterländischen Krieg anspielt. Laut ONF-Statut2 kämpfen die frontowiki  für einen „starken, freien und souveränen Staat“3.

    Kaderreserve für Parlamente und Verwaltung

    Der Gründungszeitpunkt vor den Dumawahlen 2011, als die Zustimmungswerte von Einiges Russland einen Tiefpunkt erreichten, weist auf eine erste Funktion der Volksfront hin: Sie dient als Kaderreserve für höhere Ämter in Parlamenten und in der Verwaltung, die soziale Basis von Einiges Russland sollte dadurch verbreitert werden. Dieses Ziel wurde bei der Dumawahl 2011 allerdings nur teilweise erreicht: Zwar entstammten 80 Abgeordnete der Duma-Fraktion Einiges Russland der ONF und hatten davor teilweise sozialpolitisch einschlägige Berufe wie Arzt oder Lehrer ausgeübt, Abgeordnete mit Erfahrung in der Wirtschaft überwogen aber bei weitem4.

    Volkskontrolle der Bürokratie

    Die grundsätzliche Bedeutung der ONF besteht darin, dass die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft neu geordnet wurde: Kontroll- und Aufsichtsfunktionen, die vorher über 40 staatlichen Behörden5 vorbehalten waren, sind nun auch auf eine gesellschaftliche Bewegung delegiert6. Durch den Ausbau der Machtvertikale nahm zwar die Kontrollkapazität des föderalen Zentrums gegenüber den russischen Regionen in den 2000er Jahren zu. Bad governance7, also ineffiziente, intransparente, durch Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit geprägte Regierungsführung, bleibt aber weiterhin eine Konstante staatlichen Handelns in Russland. Eklatant sichtbar wurde dies an den sogenannten Mai-Erlassen, in denen Wladimir Putin sein Programm aus dem Präsidentschaftswahlkampf 2012 als verbindliches Regierungsziel formulierte. Diese Erlasse werden von Ministerien und Regionalverwaltungen nur formal, schleppend oder gar nicht umgesetzt. Deswegen hat hier nicht nur die Kontrollabteilung der Präsidialadministration8 die Aufsicht, sondern auch Narodnaja Ekspertisa9, ein Monitoringzentrum der ONF, die mit russlandweit derzeit über 16.000 sogenannten „Volks-Experten“ die Umsetzung präsidialer Entscheidungen überwacht. Eine weitere ONF-Initiative ist „Sa tschestnye sakupki“10 („Für ehrliche [staatliche] Beschaffung“): Sie richtet sich gegen Korruption und Verschwendung öffentlicher Gelder11.

    Im Dilemma zwischen Kontrolle und Präsidentenloyalität

    Staatskapitalismus und autoritäre Modernisierung stoßen an ihre Grenzen, wenn die Bürokratie ineffizient arbeitet. Die ONF stellt einen Versuch dar, durch eine von oben herab gesteuerte „Ersatzdelegierung“12 von Kontrollfunktionen, gesellschaftlichen und öffentlichen Druck auf Verwaltungen der föderalen und regionalen Ebene auszuüben.

    Das Dilemma besteht allerdings darin, dass die ONF als verlängerter Arm des Präsidenten diesem gegenüber zu Loyalität verpflichtet ist. Was zwangsläufig  (nach dem Motto „Guter Zar, schlechte Bojaren“) zu selektiver Kontrolltätigkeit führt und die Gefahr birgt, dass Kontrolle als Instrument gegen politische oder wirtschaftliche Konkurrenten eingesetzt wird. Die Finanzierung der ONF ist äußerst intransparent13, so trägt sie selbst zur weiteren Überregulierung und Zentralisierung staatlichen Handelns bei – was den erklärten Zielen der Bewegung widerspricht.


    1. Hale, H. E. (2002): Civil society from above? Statist and liberal models of state-building in Russia, in: Demokratizatsiya, 10(3), S. 306 ↩︎
    2. onf.ru: Ustav ↩︎
    3. Malle, S. (2016): The All-Russian National Front–for Russia: a new actor in the political and economic landscape, in: Post-Communist Economies, 28(2), S. 199-219 ↩︎
    4. Chaisty, P. (2013): The Impact of Party Primaries and the All-Russian Popular Front on the Composition of United Russia’s Majority in the Sixth Duma, in: Russian Analytical Digest No. 127, S. 8-12 ↩︎
    5. Kommersant: Kontrol‘ i nadzor nanosjat na kartu ↩︎
    6. Das in der Breshnew-Zeit geschaffene System der Volkskontrolle kann hier als historisches Vorbild gesehen werden, s. Tarasov, A.M. (2008): Gosudarstvennyj kontrol‘ v Rossii, in: Kontinent, S. 163-169 ↩︎
    7. Gelman, V. (2016): Političeskie osnovanija „nedostojnogo pravlenija“ v postsoveckoj Evrasii: nabroski k issledovatel‘skoj povestke dnja, in: Izdatel‘stvo Evropejskogo universiteta v Sankt-Peterburge, M-49/16, S. 1-24 ↩︎
    8. kremlin.ru: Kontrol‘noe upravlenie ↩︎
    9. narexpert.ru: Monitoring ispolnenija ukasov Prezidenta RF ↩︎
    10. onf.ru: Za čestnye zakupki ↩︎
    11. rbc.ru: Kogo kritikoval Narodnyj front ↩︎
    12. siehe hierzu: Hedberg, M. (2016): Top‐Down Self‐Organization: State Logics, Substitutional Delegation, and Private Governance in Russia, in: Governance, 29(1), S. 67-83 und Kropp, S. / Schuhmann, J. (2014): Hierarchie und Netzwerk-Governance in russischen Regionen, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 8(1), S. 61-89 ↩︎
    13. rbc.ru: Rassledovanie RBK: na kakie den’gi živet Narodnyj Front Vladimira Putina ↩︎

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    „Antifaschistische Bewegung“ als Selbstbezeichnung

    Krim nasch

    Premierminister

    Präsidialadministration

    Jedinaja Rossija

    Regierungsfinanzierte Jugendorganisationen

  • Vorwahlen

    Vorwahlen

    Der russische Begriff praimеris ist ein Lehnwort aus dem amerikanischen Englisch (primaries) und bezeichnet in Russland von Parteien durchgeführte Vorwahlen. Sie werden auch als Volks- oder vorläufige Abstimmung bezeichnet und dienen zur Ermittlung von Kandidaten auf lokaler, regionaler oder föderaler Ebene. Die Vorwahlen sind ein Import aus westlichen politischen Systemen, sie haben auch regimestabilisierende Funktionen: Die Vorwahlen von Einiges Russland tragen zur Legitimierung nach außen und innen bei und dienen für Kandidaten und Regionaladministrationen als Testlauf für die Dumawahlen im September 2016. Um Proteste zu vermeiden soll der Wahlsieg der Regierungspartei sichergestellt werden, und zwar so, dass dafür, wenn überhaupt, nicht mehr als ein Mindestmaß an Wahl-Manipulation durchgeführt werden muss.

    In Russland traten die Vorwahlen zum ersten Mal 2006 in Erscheinung, als die Junge Garde, die Jugendorganisation von Einiges Russland, das Projekt „Politfabrik“ ausrief, um Nachwuchs für die große Politik zu rekrutieren. Auf föderaler politischer Ebene führte Einiges Russland schließlich vor den Dumawahlen 2007 erstmals Vorwahlen durch. Im November 2009 verankerte der Parteitag verpflichtende Vorwahlen auf allen Ebenen im Statut der Partei. Umgesetzt wurde diese Regelung allerdings nur halbherzig, und der Weg in die politische Praxis war mit Unregelmäßigkeiten und Skandalen gepflastert.1

    Erst die Talfahrt der Zustimmungswerte von Einiges Russland (s. Grafik 1) verlieh den Vorwahlen im Parlamentswahlkampf 2011 erneut Aufschwung. Allerdings erwiesen sich die Vorwahlen damals als nicht verbindlich2: Ein Fünftel aller Sieger fand sich nicht in der finalen Parteiliste wieder. Lediglich in acht von 80 Fällen stimmten die regionalen Dumawahllisten mit den Ergebnissen der Vorwahlen überein. 

    Die Ausgangslage für Einiges Russland vor den Dumawahlen 2016 dagegen ist dank höherer Zustimmungswerte (Grafik 1) und sorgfältiger polittechnologischer Vorbereitung durch Wjatscheslaw Wolodins Abteilung für Innenpolitik in der Präsidialadministration deutlich günstiger. So wurden etwa die Parlamentswahlen in das Sommerloch vorverlegt, Wahlkreiszuschnitte wurden verändert und die Bedingungen für unabhängige Wahlbeobachtungen erschwert.3

    Grafik 1: Einiges Russland in Meinungsumfragen 2008 – 2016. Quelle: FOM

    Vorwahlen mit neuem Zuschnitt

    Die Vorwahlen wurden als eine „vorläufige Abstimmung“ über Einiges Russland-Kandidaten unter dem Motto „Offenheit, Konkurrenz, Legitimität“ auf den 22. Mai 2016 angesetzt. Zum ersten Mal waren alle wahlberechtigten Russen aufgerufen (offene primaries), über die knapp 2780 Kandidaten abzustimmen, die sich auf dem eigens dafür eingerichteten Webportal registrierеn konnten.

    Nach offiziellen Angaben belief sich die Beteiligung bei den Vorwahlen auf 10 Millionen bzw. 9,5% der Wahlberechtigten. Der Prozess war von zahlreichen Manipulationsvorwürfen begleitet, wobei sich bemerkenswerterweise Kremlsympathisanten gegenseitig beschuldigten4: Bei den Wahlbeobachtern von Golos gingen 99 Beschwerden ein, der Generalsekretär der Partei Sergej Newerow verzeichnete gar über 400 Klagen.

    Dennoch lassen sich einige regimestabilisierende Funktionen ausmachen: Zum einen dienen Vorwahlen der externen und internen Legitimierung. So waren laut dem Politikberater Jewgeni Mintschenko Wahlbeteiligung und Konkurrenz in den Wahlbezirken höher als beispielsweise in Frankreich und Kanada.5 Zudem verzichtete die systemische Opposition auf Vorwahlen, die primaries der nicht-systemischen Demokratischen Koalition um Kassjanow und Nawalny am 28. und 29. Mai waren im Ausmaß bedeutend geringer. Somit hat Einiges Russland zumindest ein diskursives Monopol auf Wählernähe.6

    Protesten die Grundlage entziehen

    Zum anderen bieten sich  für die Präsidialadministration trotz des ressourcenintensiven Ablaufs Vorteile: Vorwahlen dienen im Hinblick auf die Parlamentswahlen als Testlauf, durch den wählbare Kandidaten herausgesiebt und Loyalität von Regionaladministrationen (v.a. der Gouverneure und Bürgermeister), sowie ihre Fähigkeiten zur Wählermobilisierung auf die Probe gestellt werden können. Denn allzu grobe Wahlmanipulationen sollen bei den Dumawahlen verhindert werden, um Protesten – wie nach den Parlamentswahlenswahlen 2011 – präventiv die Grundlage zu entziehen.  

    Der kremlnahe Polittechnologe Dimitri Badowski geht davon aus, dass die Einiges Russland-Fraktion in der kommenden Legislaturperiode um bis zu 60 % erneuert wird.7 Die Vorwahlen führen somit zu mehr Wettbewerb in der Partei und zwischen Kandidaten. Sie rütteln jedoch nicht am Grundprinzip elektoraler Autokratien, wonach der Prozess intransparent und das Ergebnis vorhersehbar ist.

    Regionen gewinnen an Bedeutung

    Die Vorwahlen zeigen8 aber, dass auch aufgrund des neuen Wahlgesetzes9 die Regionen wieder stärker an Bedeutung gewinnen: Regionaladministrationen waren bei den praimeris bemüht, ihre Kandidaten gegenüber föderalen Schwergewichten ohne lokalen Bezug zu stützen. Zwar bieten die Einerwahlkreise auch Chancen für einige Oppositionskandidaten. In der neuen Duma wird sich aber vor allem das Lobbypotential der Regionen – auch dank der Vorwahlen – deutlich verstärken.


    1. Slider, D. (2010): How united is United Russia? Regional sources of intra-party conflict. In: Journal of Communist Studies and Transition Politics, 26(2), S. 257-275 ↩︎
    2. Panov, P., & Ross, C. (2016): Levels of Centralisation and Autonomy in Russia’s ‘Party of Power’: Cross-Regional Variations. In: Europe-Asia Studies, 68 (2), S. 232-252 ↩︎
    3. Kynev, A. (2016): Instituzionalno-polititscheskie osobennosti rossijskich wyborow 2016 goda. Komtitet graschdanskich iniziatiw: https://komitetgi.ru/analytics/2802/. ↩︎
    4. Kommersant.ru: Edinorossy žalujutsja sami na sebja ↩︎
    5. Minchenko.ru: Institut provedenija predvaritel’nykh vyborov – mirovoj opyt ↩︎
    6. Carnegie.ru: Kak, začem i počemu: pričiny i uroki prajmeriz «Edinoj Rossii» – 2016 ↩︎
    7. Rbc.ru: Prajmeriz «Edinoy Rossii» proigrali okolo 50 deputatov Gosdumy ↩︎
    8. Znak.com: Predvaritel’naja očistka: «Edinaja Rossija» snimet s prajmeriz rjad kandidatov: spisok familij ↩︎
    9. Es gilt wie schon bis 2003 das Grabenwahlsystem: Die eine Hälfte der 450 Parlamentsmandate wird über Parteilisten, die andere in Einerwahlkreisen vergeben. ↩︎

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    Protestbewegung 2011–2013

    Staatsduma

    Die Entwicklung des russischen Parteiensystems

    Nicht-System-Opposition

    Präsidialadministration

    Jedinaja Rossija

    Wjatscheslaw Wolodin

  • Staatsduma

    Staatsduma

    Als Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde.

    Russlands Parlament, die Föderale Versammlung, ist in zwei Kammern organisiert. Als Oberhaus vertritt der Föderationsrat die Regionen. Das Unterhaus wird als Staatsduma (Gosudarstwennaja Duma) bezeichnet. Die Namensgebung weist auf die historische Vorgängerin hin, die von 1905 bis zur Oktoberrevolution 1917 als Staatsduma des Russischen Imperiums tagte.

    In drei Schritten zur Dominanz der Exekutive

    Am 12. Dezember 1993 fanden die Wahlen zur ersten postsowjetischen Duma und gleichzeitig das Referendum über die Verfassung der Russischen Föderation statt. Dies war die endgültige Abkehr vom Obersten Rat und damit vom Sowjetparlamentarismus, der keine Gewaltenteilung kannte.

    Die Beziehungen im Dreieck zwischen Präsident, Regierung und Duma lassen sich in drei Phasen einteilen. Sie unterscheiden sich  im Hinblick darauf, inwieweit der Präsident durch parlamentarische Fraktionen und Gruppen unterstützt wird: 1994 bis 1999 waren die pro-präsidentiellen Parteien in der Minderheit, 2000 bis 2003 konnte Putin eine Koalition aus vier Fraktionen schmieden, seit 2004 dominiert Einiges Russland die Duma.1

    Grafik 1: Fraktionen und Gruppen in den Legislaturperioden I bis VI (1994-2016)2

    Die gesamte erste Phase, und auch Teile der zweiten, waren durch ein schwach institutionalisiertes Parteiensystem3 gekennzeichnet: Den pro-präsidentiellen Parteien der Macht standen eine Vielzahl anderer Fraktionen und Gruppen gegenüber. In der zweiten Duma stellten die Kommunisten gar die meisten Abgeordneten (s. Grafik 1). Dennoch regierte Jelzin nicht einfach mit Präsidialerlassen am Parlament vorbei, sondern handelte Unterstützung für Gesetzesvorhaben aus, in dem er beispielsweise im Gegenzug bestimmten Interessensgruppen bei der Haushaltsplanung entgegenkam4.

    Mit den Parlamentswahlen von 1999 änderte sich das Bild. Die neu kreierte Regierungspartei Einheit erlangte zwar nur knapp 17 Prozent der Mandate, zusammen mit drei weiteren Fraktionen setzte sie jedoch die von Präsident und Regierung eingebrachten Gesetze weitgehend um. Mit den Wahlerfolgen der Einheit-Nachfolgerin Einiges Russland in den Jahren 2003 und 2007 wurde in Phase drei der Übergang zu einem dominanten Parteiensystem mit einem Parlament, das weitgehend von der Exekutive bestimmt wird, vollzogen. Die Politikwissenschaftlerin Petra Stykow spricht daher bei der Staatsduma von einer „institutionalisierten, autoritären Legislative“.5

    Auswirkungen auf die Funktionen des Parlaments

    Die Ausübung der verfassungsmäßig garantierten Kernfunktionen fällt in den drei Phasen entsprechend unterschiedlich aus.

    Erstens: Die Ernennung des Regierungschefs. Im Unterschied zu vergleichbaren politischen Systemen werden in Russland Regierungsposten nicht an parlamentarische Parteien vergeben6, sondern Präsidenten bestellen Technokratenregierungen. Allerdings muss die Duma zustimmen, wenn der neugewählte Präsident den Regierungschef ernennt. Während Jelzin noch zu Eingeständnissen gezwungen war (zur Auflösung der Duma nach der dritten Ablehnung kam es allerdings nie), wurden Putins Ministerpräsidenten ausnahmslos mit deutlichen Mehrheiten bestätigt.

    Zweitens: Misstrauensvoten gegen die Regierung. Abstimmungen wurden 1994, 1995, 2001, 2003 und 2005 lanciert. Lediglich 1995 nach der Geiselnahme in Budjonnowsk kam eine Mehrheit von 241 Stimmen zustande – allerdings gestattet es die Verfassung auch hier dem Präsidenten, das Misstrauensvotum zu ignorieren. Die Duma kann außerdem ein komplexes Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten einleiten, sollte der Verdacht bestehen, dass sich der Präsident einer schweren Straftat schuldig gemacht hat. 1998 lancierte die Fraktion der Kommunisten ein solches Verfahren gegen Jelzin, jedoch fand keiner der fünf zur Abstimmung gebrachten Anklagepunkte die nötige Zweidrittel-Mehrheit für die Weiterleitung an den Föderationsrat und das Verfassungsgericht.

    Drittens: Die Gesetzgebung, das Hoheitsrecht der Duma. Grafik 2 veranschaulicht, dass zwischen 1994 und 1999 die Hälfte bis ein Drittel der von Präsident und Regierung initiierten Gesetzesentwürfe nicht die Unterstützung der Duma fanden. Mit dem Siegeszug von Einiges Russland ändert sich das Bild: Exekutive Gesetzesentwürfe scheitern nur noch in Ausnahmefällen. Umgekehrt verhält es sich mit präsidentiellen Vetos: In den 1990er Jahren legte Jelzin durchschnittlich gegen 15 bis 25 Prozent der Gesetze, die von der Staatsduma verabschiedet wurden, Widerspruch ein. Unter Putin starb das Veto im Laufe der Zeit aus.
     

     


    Grafik 2: Erfolgsrate von Präsident und Regierung in der Duma, Quelle: Autor

     

     


    Grafik 3: Veto russischer Präsidenten, Quelle: Autor

    Allgemein lässt sich festhalten, dass sich mit dem Übergang in die Putin-Ära die Abwesenheit von Abgeordneten bei Abstimmungen verringert und die Fraktionsdisziplin erhöht hat. Auch die Anzahl der Gesetze und die Geschwindigkeit, mit der diese verabschiedet werden, hat sich gesteigert.

    Die Duma als Faktor der Regimestabilität

    In den Medien kursiert der angebliche Ausspruch des ehemaligen Vorsitzenden Boris Gryzlov, dass die Duma „kein Ort für Diskussionen“7 sei. Der Volksmund sieht in ihr gar einen „durchgedrehten Drucker“, der Gesetze am laufenden Band ausspuckt. Als „autoritäre, institutionalisierte Legislative“ kann die Duma nicht mehr ihrer horizontalen Kontrollfunktion8 gegenüber Präsident und Regierung nachkommen. Dies macht die Kammer jedoch nicht bedeutungslos, denn bürokratische Verteilungskämpfe um Ressourcen innerhalb der Exekutive werden auch in und mit der Duma ausgetragen9. Wenn Ministerien etwa um Ressourcen konkurrieren, können diesen loyal gesinnte Abgeordnete Gesetze verzögern oder Änderungen beantragen.

    Nach den Protesten 2011/2012 wies die Gesetzgebung vor allem in den Bereichen Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit einen zunehmend repressiven Charakter auf. Ein Beispiel dafür ist das Gesetz über ausländische Agenten10. Mit anhaltender Wirtschaftskrise nehmen außerdem Gesetze überhand, die über Steuern und andere Abgaben Eigentum von Bürgern und Unternehmern „konfiszieren“. Die Politologin Ekaterina Schulmann11 argumentiert, dass es immerhin besser sei, etwas tiefer in die Tasche zu greifen, als ins Gefängnis zu wandern. Sicher ist jedenfalls, dass die Duma auch nach den Wahlen 2016 eine wichtige Rolle dabei spielt, Repression und Konfiskation ins Gleichgewicht zu bringen und somit über Regimestabilität und -wandel mitentscheiden wird.


    1. Chaisty, P. (2014): Presidential dynamics and legislative velocity in Russia, 1994–2007, in: East European Politics, 30(4), S. 588-601 ↩︎
    2. Interaktive Quelle zum Weiterklicken: Ria Novosti: 20 let Gossudarstvennoj dumy ↩︎
    3. Stykow, P. (2008): Die Transformation des russischen Parteiensystems: Regimestabilisierung durch personalisierte Institutionalisierung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 772-794 ↩︎
    4. Remington, T. F. (2007): The Russian Federal Assembly, 1994–2004, in: The Journal of Legislative Studies, 13(1), S. 121-141 und: Troxel, T. A. (2003): Parliamentary Power in Russia, 1994-2001 ↩︎
    5. Stykow, P. (2015): Parlamente und Legislativen unter den Bedingungen „patronaler Politik“: Die eurasischen Fälle im Vergleich, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, S. 396 – 425 ↩︎
    6. University of Oxford: The Coalitional Presidentialism Project ↩︎
    7. Gryzlov wurde von den Medien nicht korrekt zitiert, allerdings ist die plakative Phrase fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses über die Duma geworden. Hier das Originalzitat von Gryzlov ↩︎
    8. Whitmore, S. (2010): Parliamentary oversight in Putin’s neo-patrimonial state: Watchdogs or show-dogs?, in: Europe-Asia Studies, 62(6), S. 999-1025 ↩︎
    9. ben.noble.com: Rethinking ‚rubber stamps‘: Legislative Subservience, Executive factionalism, and policy-making in the Russian state duma ↩︎
    10. Inzwischen existiert eine Liste mit Gesetzen, die aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit nach Meinung eines Expertenkomitees rückgängig zu machen sind. ↩︎
    11. Vedomosti: Čto lučše: kogda sažajut ili kogda razdevajut? ↩︎

    Weitere Themen

    Protestbewegung 2011–2013

    Business-Krimi in drei Akten

    Irina Jarowaja

    Präsidialadministration

    Sieg der Stille

    Polittechnologie

  • Polittechnologie

    Polittechnologie

    Polittechnologija bezeichnet in Russland und anderen postsowjetischen Staaten ein Menü von Strategien und Techniken zur Manipulation des politischen Prozesses. Politik – als Theater verstanden – wird dabei als virtuelle Welt nach einer bestimmten Dramaturgie erschaffen. Politische Opponenten werden mit kompromittierenden Materialien in den Medien bekämpft, falsche Parteien oder Kandidaten lanciert oder ganze Bedrohungsszenarien eigens kreiert.

    Zwar sehen sich russische Polittechnologen mitunter in europäischer, auf das alte Rom und später Niccolò Machiavelli1 zurückgehender, Tradition. Verwandt ist der Begriff auch mit dem US-amerikanischen Konzept des political Consulting, also der Politikberatung beziehungsweise den spin Doctors: 1996 beispielsweise war ein Team um den Clinton-nahen Richard Dresner kurzzeitig für Boris Jelzin2 tätig, und die Russische Assoziation der Politikberater3 um Igor Mintusow oder Jewgeni Mintschenko versteht sich als Vertretung der PR- und GR4-Berater. Dennoch ist Polittechnologija als ein eigenständiges Konzept zu verstehen, dessen Wurzeln bis auf die Geheimpolizei Ochrana im Zarenreich, auf die psychologische Kriegsführung (aktive Maßnahmen) des KGB und auf die Sowjetpropaganda zurückzuführen sind. Zugleich spielt es auf Werbesprache und französische postmoderne Denker wie Jean Baudrillard oder Roland Barthes an. In Viktor Pelewins Generation P wurde es zudem literarisch verewigt.

    Die Hochzeit der Polittechnologen waren die 1990er und frühen 2000er, in denen Politik über das Fernsehen mit einer entsprechenden Dramaturgie als virtuelle Welt in einem Theater5 vermittelt wurde, ganz nach dem Motto „Nichts ist wahr und alles ist möglich“6. Mehr oder minder kompetitive Wahlen waren von Informationskriegen begleitet, für die Politiker aus Quellen jenseits der legalen Wahlfinanzierung für oft horrende Summen Polittechnologen anheuerten, die den Gegner bekämpften. Zu den Mitteln gehörten graue und schwarze PR7  (Provokationen durch öffentlich gewalttätige Gruppen, das Unschädlichmachen von Medienressourcen des Gegners, das Lancieren von spoiler-Parteien und Doppelgängerkandidaten und so weiter) oder Kompromat – „kompromittierende Materialien“. Diese werden in den Medien über Schmiergeld als sogenannte Sakasucha oder Dshinsa platziert und diskreditieren den Gegner mithilfe frei erfundener Geschichten oder illegal beziehungsweise geheimdienstlich beschaffter Informationen, suggerieren Nähe zur organisierten Kriminalität oder geben Details aus dem Privatleben preis. Zu neueren Formen der Polittechnologie im Internet gehören Hackerattacken und Trollfarmen8, die content entweder lahmlegen oder inhaltlich manipulieren.

    In der gelenkten Demokratie der 2000er Jahre greifen zudem Präsidialadministration (vor allem die Abteilung für Innenpolitik), amtierende Gouverneure oder Bürgermeister auf Administrative Ressourcen zurück, um Wahlen manipulativ für sich zu entscheiden. Dies beinhaltet ungleiche Wahlkampffinanzierung, Instruktionen an staatliche Medien (Temniki), Einschalten von Gerichten und Staatsanwaltschaft gegen Opponenten oder Betrug am Wahltag (wie Zwangsabstimmung bei Staatsangestellten, mehrfache Abgabe von Stimmzetteln oder Fälschungen beim Auszählen).

    In den 1990er und frühen 2000er Jahren gehörten Gleb Pawlowski, Marat Gelman, Igor Mintusow und Sergej Markow mit der Stiftung für effektive Politik zu den einflussreichsten Polittechnologen. Alexej Chesnakow, Konstantin Kostin oder Dimitri Badowski verbanden in ihrer Karriere den Staatsdienst in der Präsidialadministration mit einer Beratungstätigkeit für staatliche Akteure und Einiges Russland oder die Allrussische Volksfront. Andere, wie Dimitri Orlow, spezialisieren sich vor allem auf Parteien oder, wie Michail Winogradow oder Jewgeni Mintschenko, auf die russischen Regionen.

    In der Wahrnehmung der Bevölkerung ist Polittechnologie meist negativ konnotiert und wird oft auch mit Politologie, also Politikwissenschaft, verwechselt, was nicht nur vom manipulativen Charakter des politischen Prozesses im postsowjetischen Russland, sondern auch von der tiefen Krise der Geistes- und Sozialwissenschaften zeugt9.


    1. Nicht von ungefähr ist nach dem Fürstenberater eine der bekanntesten russischen Agenturen benannt: Nikkolom. ↩︎
    2. Zasurskiĭ, I. (2004): Media and power in post-Soviet Russia, New York, S. 72 – 76 ↩︎
    3. rapc-congress.ru: II Kongres Russijskoj associacii političeskich konsulʼtatov (RAPK) ↩︎
    4. government relations ↩︎
    5. Wilson, A. (2005): Virtual politics: faking democracy in the post-Soviet world, New Haven ↩︎
    6. Pomerantsev, Peter: Nichts ist wahr, alles ist möglich ↩︎
    7. Ledeneva, A. V. (2006): How Russia really works: The informal practices that shaped post-Soviet politics and business, New York, S. 28 – 56 ↩︎
    8. The New York Times: The Agency ↩︎
    9. Kharkhordin, O. (2015): From Priests to Pathfinders: The Fate of the Humanities and Social Sciences in Russia after World War II, in: The American Historical Review, 120(4), S. 1283-1298 ↩︎

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  • Dimitri Medwedew

    Dimitri Medwedew

    Dimitri Medwedew ist seit Januar 2020 stellvertretender Vorsitzender des Sicherheitsrates. Er war von 2012 bis 2020 Premierminister und bekleidete von 2008 bis 2012 das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation. Medwedew gehört zu den engsten Vertrauten von Präsident Putin und nimmt, nicht zuletzt als Vorsitzender der Regierungspartei Einiges Russland, eine wichtige Rolle im politischen Systems Russlands ein.

    Der aus einer Leningrader Professorenfamilie stammende Medwedew (geb. 1965) absolvierte sowohl sein Jurastudium, als auch die anschließende Promotion an der renommierten Staatlichen Universität Leningrad. Neben seiner Lehrtätigkeit an der nun in Sankt Petersburger Staatliche Universität umbenannten Hochschule war der auf Privatrecht spezialisierte Jurist auch als Berater von Anatoli Sobtschak im Stadtparlament und später im Komitee für Außenwirtschaftsbeziehungen tätig, das bis 1996 von Wladimir Putin geleitet wurde.

    Putins Vertrauter

    Als Leiter des Wahlkampfstabes trug Medwedew zum Erfolg von Putin bei der Präsidentschaftswahl 2000 bei. Bis heute ist das Verhältnis der beiden Petersburger Juristen durch gegenseitige Loyalität gekennzeichnet. Neben hochrangigen Posten in der Präsidialadministration und der Regierung war Medwedew von 2000 bis 2008 auch Vorstandsvorsitzender des Gasmonopolisten Gazprom. Sahen 2007 Experten und Meinungsumfragen noch den Ex-KGBler Sergej Iwanow als wahrscheinlichsten Präsidentschaftskandidaten an, so sprach sich Wladimir Putin im Dezember 2007 für Medwedew als favorisierten Nachfolger aus. Mit seinem Slogan „Freiheit ist besser als Unfreiheit“ und dem Schwerpunkt auf Modernisierung waren im In- und Ausland große Hoffnungen mit Medwedews Amtszeit verbunden. Insgesamt muss aber bilanzierend festgehalten werden, dass die Wirklichkeit weit hinter den ursprünglich formulierten Politikzielen zurückgeblieben ist.1

    Reformvorhaben

    Als Programmschriften seiner Reformvorhaben gelten der Artikel „Russland, vorwärts!“2 und seine Reden an die Föderalversammlung. Im Hochtechnologiebereich sollten dabei Innovationen in den Bereichen Energieeffizienz, Medizin und Pharmazie, Atomenergie, Informationstechnologien sowie Raumfahrt und Telekommunikation angestrebt werden, wobei Leuchtturmprojekte wie die Staatskorporation Rosnano und das Innovationszentrum Skolkowo bisher nur wenige Erfolge vorzuweisen haben. Um Rechtsnihilismus und Korruption zu bekämpfen, brachte Medwedew einige Reformen in Wirtschaft und Justizwesen in Gang. Ein Teilerfolg war zumindest, dass der Druck auf kleine und mittelständische Unternehmen durch Steuerkontrollen (s. a. Steuerpressing) bis 2011 abnahm. Medwedews Polizeireform hingegen wird von den meisten Beobachtern als gescheitert bewertet.3 Einige Reformen, wie das Bestreben, Vorstände von Staatsunternehmen mit Ökonomen anstatt mit Staatsbediensteten zu besetzen, wurden wieder rückgängig gemacht. Andere, wie Einkommenserklärungen von hochrangigen Beamten, durch Schlupflöcher und mangelnde Umsetzung konterkariert. Bleibende Wirkung entfalten die Wiedereinführung der Gouverneurswahlen, die Entkoppelung und Verlängerung der Amtszeiten der Staatsduma auf fünf und die des Präsidenten auf sechs Jahre sowie die Nominierung des Vorsitzenden des Verfassungsgerichts und dessen Stellvertreter durch den Präsidenten.

    Foto © Jürg Vollmer unter CC BY-SA 3.0
    Foto © Jürg Vollmer unter CC BY-SA 3.0

    Außenpolitisch war Medwedews Präsidentschaft durch entspannungspolitische Initiativen gekennzeichnet, die auch auf wirtschaftliche Konvergenz Russlands mit dem Westen abzielten. So wurde auf dem Petersburger Dialog 2008 eine deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft4 lanciert, 2009 folgte der „reset“ mit den USA, 2010 die „partnership for modernisation“ mit der EU. Der im August 2012 in Kraft getretene WTO-Beitritt Russlands wurde ebenfalls noch unter Medwedew auf den Weg gebracht. Diese auf internationale Verflechtung abzielenden Ansätze sind spätestens seit der sogenannten Ukraine-Krise bis auf Weiteres gescheitert.

    Insgesamt zeigen Untersuchungen, dass Medwedew, trotz seiner untergeordneten Stellung im Tandem, bis zur Rokirowka durchaus Signalwirkung5 auf die politische Elite entfaltete und sich diese bis zu einem gewissen Grade an dessen Politik orientierte. Nachdem im September 2011 bekannt wurde, dass Medwedew nicht mehr zur Wiederwahl antreten würde, verloren er und die ihm nahestehenden Elitenakteure jedoch kontinuierlich an Einfluss6.

    Als Premierminister büßte er auch an Ansehen ein. Die regelmäßig vom unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Lewada durchgeführten Umfragen zeigten zunächst einen Abfall seiner Zustimmungswerte, bevor sie wieder stiegen, gleichzeitig mit der Beliebtheit des Präsidenten.7

    Korruptionsvorwürfe

    Ihren erneuten Rückgang markierte Anfang März 2017 ein Youtube-Video des vom Oppositionspolitiker Alexej Nawalny gegründeten Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK). Darin fanden sich zahlreiche Hinweise auf mögliche Korruption im direkten Umfeld von Medwedew. Demnach deuten Auszüge aus Firmenregistern darauf hin, dass der Premierminister Immobilien im Gesamtwert von 1,1 Milliarden Euro besitze. Deklariert als Eigentum von angeblich gemeinnützigen Stiftungen, sollen diese Immobilien aus vermeintlichen Spenden einiger russischer Oligarchen wie Alischer Usmanow finanziert worden sein.

    Vor dem Hintergrund dieses Skandals brachte Nawalny landesweit zehntausende Menschen auf die Straße. Unter dem Motto „Dimon otwetit“ (dt. „Dimon wird antworten“) forderten sie den Rücktritt des Premiers.

    Eine offizielle Reaktion blieb allerdings aus, und so konnte Medwedew auch nach der Präsidentschaftswahl 2018 seinen Posten behalten.8Aufgegeben hat er ihn schließlich am 15. Januar 2020, als Putin überraschend eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt hat. Die Hintergründe für den darauf folgenden Rücktritt der gesamten Regierung blieben unklar, jedenfalls wurde eigens für Medwedew der Posten des stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates geschaffen. Zum neuen Premierminister ernannte der Präsident Michail Mischustin. 

    Aktualisiert am 23.01.2020


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  • Rokirowka

    Rokirowka

    Rokirowka – zu Deutsch Rochade – ist ein aus dem Schach entlehnter Begriff, der im russischen politischen Diskurs einen Ämtertausch meint, genauer die Rückkehr Wladimir Putins in das Präsidentenamt 2012 nach der Interimspräsidentschaft von Dimitri Medwedew (2008-2012).

    In nicht-demokratischen Regimen, an deren Spitze starke Präsidenten stehen, ist aufgrund der hohen Machtkonzentration im Staatsoberhaupt die Nachfolgerfrage von enormer Bedeutung. Die rokirowka markiert eine Bruchstelle im postsowjetischen Russland, wobei die Ämterverteilung wie zuvor beim Wechsel von Jelzin zu Putin intraelitär gelöst wurde. Artikel 81, Absatz 3 der russischen Verfassung schreibt vor, dass ein und dieselbe Person das Präsidentenamt nicht länger als zwei Amtsperioden in Folge innehaben kann. Nach zwei Amtszeiten stand Putin 2007 vor der Wahl, entweder die Amtszeitbeschränkung in der Verfassung zu ändern, wie in einigen zentralasiatischen Staaten oder auch Belarus geschehen, oder, wie eingetreten, die Nachfolge an einen Vertrauten zu übergeben und in das Amt des Premierministers zu wechseln. Ob die Rückkehr Putins in das Präsidentenamt bereits von Anfang an geplant war, bleibt umstritten. Für das Gros der russischen Elite jedenfalls wurde sie völlig unerwartet auf dem Parteitag von Einiges Russland am 24. September 2011 verkündet. Letztlich untermauert die rokirowka aber die These, dass während der Präsidentschaft Medwedews das eigentliche Machtzentrum bei Premierminister Putin blieb, der zudem noch als Parteiführer von Einiges Russland (ohne jedoch Mitglied zu sein) über eine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament verfügte.

    Die Ankündigung der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt war mit den nachweislich manipulierten1 Dumawahlen 2011 ein Hauptgrund für die anschließenden Massenproteste im Winter und Frühjahr 2011/12. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung verband mit der zu erwartenden dritten Amtszeit Putins ein Ende politischer und wirtschaftlicher Öffnung, auf die unter Medwedew zumindest Hoffnung bestand. So trugen die rokirowka und die darauffolgenden Demonstrationen zur schwersten Legimititätskrise des Putin-Regimes bei; diese wurde  mit dem Ukraine-Konflikt jedoch vorerst wieder in den Hintergrund gedrängt.


    1. Kynew, Alexander (2012) Wahlfälschung und ihre Grenzen: der regionale Vergleich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, in: Russland-Analysen 2012 (235), S.15-19 ↩︎

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  • Premierminister

    Premierminister

    Der Premierminister oder Ministerpräsident ist nach dem Präsidenten die zweite Amtsperson im russischen Staat. Er ist vor allem für Wirtschafts- und Finanzpolitik verantwortlich.

    Der Vorsitzende der Regierung, meist Premierminister oder Ministerpräsident genannt, steht der exekutiven Gewalt vor. Er wird vom Präsidenten ernannt mit Zustimmung der unteren Kammer des Parlaments, der Staatsduma. Lehnt die Duma den Kandidaten drei Mal ab, so muss der Präsident die Duma auflösen und Neuwahlen ansetzen. Der Premierminister und dessen Kabinett treten ihr Amt in der Regel nach Präsidentschafts- und nicht nach Parlamentswahlen an. Die Regierung geht also nicht aus den parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen im Parlament hervor, vielmehr handelt es sich um ein „technisches“ Präsidialkabinett.

    Im Kabinett sind die so genannten Machtministerien (s. a.  Silowiki) – hierzu gehören das Justiz-, Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium sowie das Ministerium für Zivilschutz – direkt dem Präsidenten unterstellt. Der Premier verantwortet vor allem die Wirtschaftspolitik mit den Schlüsselministerien für Wirtschaft und Finanzen. Die Regierung verfügt über das Recht, Gesetze einzubringen, und der Premierminister hat einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat.

    Das Parlament hat das Recht auf ein Misstrauensvotum gegenüber der Regierung. Jedoch entscheidet allein der Präsident darüber, ob im Falle eines erfolgreichen Misstrauensvotums die Regierung zurücktritt oder er das Parlament auflöst.

    Seit 1991 gab es 15 Kabinette, denen 12 verschiedene Premierminister vorstanden. Zurzeit hat Michail Mischustin das Amt des Premierministers inne. Für das Verhältnis von Präsident, Premierminister und Parlament sind vor allem die Amtsperioden von Jewgeni Primakow (1998-1999) und Wladimir Putin (2008-2012) von Interesse. Die Amtszeit Putins kam teilweise sogar der Vorstellung einer der russischen Verfassungsväter, Sergej Aleksejew, nahe. Dieser hatte das Machtzentrum ursprünglich in einem starken Premierminister gesehen, während der Präsident nur eine Art neutralen Schiedsrichter spielen sollte. De facto jedoch zeigt die rokirowka (der Ämtertausch Medwedew – Putin), dass formalrechtliche Kompetenzen nur eine begrenzte Rolle spielen, da die Führungsrolle nicht an die Institution gebunden, sondern mit der Person Putin vom Amt des Präsidenten in das des Premierministers und wieder zurück gewandert war.

    Obwohl Kompetenzen der Regierung in der Präsidialadministration gedoppelt sind und immer wieder Gerüchte kursieren, Putin wolle das Amt des Premierministers zugunsten einer Art Administration nach US-Vorbild abschaffen, ist der Premierminister nach wie vor eine zentrale Figur im politischen System Russlands.

    aktualisiert am 28.01.2020

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  • Präsidentenrating

    Präsidentenrating

    Das Präsidentenrating wird in national repräsentativen Meinungsumfragen anhand der Frage „Stimmen Sie der Tätigkeit von [Name des jeweils amtierenden Präsidenten – dek.] als Präsident der Russischen Föderation zu?“ gemessen. Während in den 1990ern Boris Jelzins Zustimmung kontinuierlich sank, verzeichnet Wladimir Putin durchgängig Zustimmungswerte von über 60 Prozent, welche bei außenpolitischen Konflikten Höchstwerte erzielen und bei Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung meist etwas zurückgehen.

    Am 22. Oktober 2015 meldete das 1987 gegründete staatliche Umfrageinstitut WZIOM1 erneut einen Rekordwert von 89,9 Prozent Zustimmung für Präsident Wladimir Putin. Seit der Angliederung der Krim im Frühling 2014 war der Zustimmungswert nach langjährigem Tief zwischen 60 und 70 Prozent wieder auf über 80 Prozent angeschwollen. Als Begründung für das Oktoberhoch nannte WZIOM das russische Eingreifen in Syrien. Schwankungen im Präsidentenrating und deren mögliche Ursachen lassen sich am besten mit Rückgriff auf russische und internationale Meinungsforschung erklären, die seit 1990 die Zustimmung zu sowjetischen und russischen Präsidenten analysiert.

    Auffällig ist, wie unterschiedlich die Präsidenten Jelzin in den 1990ern und Putin in den 2000ern von der Bevölkerung bewertet werden. Fand Jelzin im September 1991 noch bei 81 Prozent der Bevölkerung Zustimmung, so waren es am Ende seiner Amtszeit gerade einmal 8 Prozent, vor den Präsidentschaftswahlen 1996 lagen seine Werte lange unter denen des Kommunisten Gennadi Sjuganow. Noch als Premier hatte Wladimir Putin im August 1999 eine Zustimmung von 31 Prozent, im Januar 2000 als designierter Jelzin-Nachfolger waren es schon 84 Prozent. Seitdem liegen Putins Werte dauerhaft über 60 Prozent. Bemerkenswert ist zudem, dass er von 2008 bis 2012 selbst als Premierminister mehr Zustimmung erfuhr als der amtierende Präsident Dimitri Medwedew.

    Grafik 1: Zustimmungswerte und Bewertung von Boris Jelzin (1993 – 1999) und Wladimir Putin (2000 – 2008) nach einem Datensatz von Daniel Treisman.2

    Vor Präsidentschaftswahlen nahmen die Zustimmungswerte von Putin und Medwedew zu – nicht zuletzt durch Einsatz von Administrativer Ressource (siehe auch Polittechnologie) soll potentiellen Gegeneliten Macht demonstriert und unzufriedenen Bevölkerungsgruppen signalisiert werden, dass Proteste gegen Wahlfälschungen fruchtlos sind.3Die Versessenheit Putins auf Zustimmungswerte wurde deswegen auch als Ratingokratie4 bezeichnet, was durchaus populistische Gesten gegenüber der Bevölkerung mit einschließt. Zudem können außergewöhnliche Ereignisse wie die Geiselnahme im Dubrowka-Theater 2002 oder der Georgienkrieg 2008 zu Höchstständen führen. Die Zustimmung kann aber auch zeitweilig einbrechen, so etwa 2005, als einige Sozialleistungen in einen Geldwert umgerechnet wurden, oder bei den Bolotnaja-Protesten 2011.

    Grafik 2: Zustimmungswerte von Wladimir Putin und Dimitri Medwedew 1999 – 2015, Zusammenstellung nach Daten des Lewada-Zentrums.5

    Forschungsergebnisse legen nahe, dass das Präsidentenrating stark von wirtschaftlichen Faktoren abhängt, genauer: davon, wie die russischen Bürger die Zukunftsperspektiven der wirtschaftlichen Entwicklung wahrnehmen. Dabei scheint die Wahrnehmung der Volkswirtschaft als ganzer wichtiger zu sein als die der Entwicklung der eigenen Finanzen.6 Auch der Personenkult und das Phänomen Putin sind keineswegs dem entkleideten Torso des langjährigen Staatsoberhaupts zu verdanken. Vielmehr bringen Russen, die die Entwicklung der russischen Wirtschaft als positiv einschätzen, dieses Wachstum mit der Person Putin in Verbindung.7 Mit einem komplexen statistischen Verfahren kommt Daniel Treisman zu dem Schluss, dass Jelzin mit den Wirtschaftsdaten der Putinjahre einen positiven Trend bei der Zustimmung aufgewiesen hätte und 1999 auf einer Zehnpunkteskala anstatt mit zwei gar mit einer acht bewertet worden wäre.8

    Konsequenterweise sanken mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise nach 2008 auch die Zustimmungswerte von Putin und Medwedew, und zwar bei allen sozialen Gruppen. Insbesondere die kreative Klasse, Frauen, Wohlhabende und Einwohner von Kleinstädten machten Wladimir Putin persönlich verantwortlich.9 Bei ihnen verlor Putin am stärksten an Unterstützung. Die Bedeutung der Angliederung der Krim und des Ukraine-Konflikts sowie der Syrienkrise ist wohl darin zu sehen, dass das Präsidentenrating bis auf weiteres von der Wahrnehmung der Wirtschaft entkoppelt (siehe auch Gesellschaftsvertrag) und auf die Außenpolitik umgepolt wurde. Der Leiter des Lewada-Zentrums Lew Gudkow meint, dass ideologische Elemente wie Neotraditionalismus, geopolitische Denkmuster, die Einheit der Nation, Anti-Westernismus verbunden mit dem Glauben, dass es eine Verschwörung gegen Russland gebe, derzeit das hohe Rating von Putin begründen.10

    Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die befragten Bürger bei Meinungsumfragen wahrheitsgemäß ihre Präferenzen angeben und Putin tatsächlich populär ist.11 Dennoch kommt es in Russland, wie auch in vergleichbaren autoritären Regimen, durch Einschränkung der Medienfreiheit, der bewusst forcierten „Alternativlosigkeit“ Putins als Präsident sowie durch gezielte Repressionen gegen öffentlich sichtbare Andersdenkende bei medialen Meinungsführern zu sogenannten Präferenzfalsifikationen12. Dies bedeutet, dass öffentlich und privat geäußerte Ansichten dieser Meinungsmacher auseinanderklaffen, also öffentlich eine positive Meinung geäußert wird, auch wenn die Personen im Privaten vom Gegenteil überzeugt sind. Dies kann sich auch in den tatsächlichen Ansichten der breiten Bevölkerung niederschlagen.

    Zuletzt ist anzumerken, dass die Höhe der Zustimmungswerte nichts über Tiefe und Dauerhaftigkeit der Zustimmung aussagt. Hohe Präsidentenratings gehen durchaus auch mit einer kritischen Bewertung der Lage im Land einher: Die Liste der Antworten auf die Frage, in welchem Bereich Putin am wenigsten erfolgreich war, führen Antikorruptionsmaßnahmen, die Verbesserung des Lebensstandards, Einschränkung des Einflusses von Oligarchen und Verbrechensbekämpfung an.13 Zudem erzeugen Rekordwerte bei der Zustimmung auch Druck auf den Präsidenten, da jedes noch so kleine Wiederabsinken den Eliten und der Bevölkerung Schwäche signalisiert.


    Mehr dazu: Das Präsidentenrating für Wladimir Putin als interaktive Infografik

    1. Wciom.ru: Press vypusk No.2958 ↩︎
    2. Treisman, Daniel (2011): Presidential popularity in a hybrid regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science 55(3), S. 590-609 ↩︎
    3. Hale, Henry E. (2014): Patronal Politics: Eurasian Regime Dynamics in Comparative Perspective, Cambridge University Press, S. 74f. ↩︎
    4. Russkij Žurnal: Konec rejtingokratii ↩︎
    5. Levada.ru: Assessment of situation in the country ↩︎
    6. Treisman, D. (2011): Presidential popularity in a hybrid regime: Russia under Yeltsin and Putin, in: American Journal of Political Science, 55(3), S. 590-609 und Rose, R. / Mishler, W. / Munro, N. (2011): Popular support for an undemocratic regime: The changing views of Russians. Cambridge University Press ↩︎
    7. White, S. / McAllister, I. (2008): The Putin Phenomenon, in: Journal of Communist Studies and Transition Politics, 24(4), S. 604-628; Rose, R. (2007): The impact of president putin on popular support for Russia’s regime, in: Post-Soviet Affairs, 23(2), S. 97-117 ↩︎
    8. Wichtig anzumerken ist, dass Treisman dabei die Wirtschaftsleistung nicht den jeweiligen Präsidenten zuschreibt, sondern jeweils als „geerbt“ betrachtet: Jelzin erbte eine kollabierende Wirtschaft von der Sowjetunion, und Putin profitierte vom Ölpreisboom. ↩︎
    9. Treisman, D. (2014): Putin’s popularity since 2010: why did support for the Kremlin plunge, then stabilize? In: Post-Soviet Affairs, 30(5), S. 370-388 ↩︎
    10. Gudkov, L. (2015): Antiamerikanismus in Putins Russland: Schichten, Spezifika, Funktionen, in: Osteuropa 4/2015, S. 73–97 ↩︎
    11. Frye, T, Gehlbach, S. / Reuter, O.J. (2015): Is Putin’s popularity real? In: Ponars Eurasia Policy, Memo 403 ↩︎
    12. Institute of Modern Russia: Timur Kuran: ‚An Atmosphere of Repression Leads to Preference Falsification Among Opinion Leaders‘ ↩︎
    13. Daten des Lewada-Zentrums ↩︎

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