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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alexej Djumin

    Alexej Djumin

    „Torhüter Djumin ist einer, der galant den Puck ins Tor gleiten lässt, wann immer Wladimir Putin zum Schuss ansetzt.“1 Diese Szene aus der Nachthockeyliga, in der Alt-Stars gegen auserlesene Vertraute Putins antreten, steht bildlich für das innige Vertrauensverhältnis zwischen Putin und seinem ehemaligen Leibwächter. Im Februar 2016 ernannte Putin den damals 43-Jährigen zum Interimsgouverneur der unweit von Moskau gelegenen Oblast Tula. Kurz darauf bezeichnete der legendäre Journalist Sergej Dorenko, damals Chefredakteur des Radiosenders Goworit Moskwa, Djumin als wahrscheinlichsten Nachfolger Putins. Dorenko begründete sein Bauchgefühl folgendermaßen:

    „Djumin würde das politische Erbe Putins niemals in Frage stellen und lässt auch Putin selbst nie im Stich. Er wäre ein hervorragender Präsident für die Silowiki der Armee und alle anderen. Er ist ebenso hervorragend als Garant der Sicherheit für einen ruhigen Lebensabend.“2

    Seither sind über sieben Jahre vergangen. Djumin ist immer noch Gouverneur der Oblast Tula. Doch sein Stern leuchtete wieder auf, als Berichte über seine entscheidende Rolle bei der Abwendung des Vormarschs von Prigoshins Söldnertruppen erschienen. Manche sehen ihn bereits als potenziellen neuen Verteidigungsminister. 

    Bis zu seiner Berufung zum Gouverneur schien Alexej Djumin eine steile Karriere hinzulegen. Geboren am 28. August 1972 in Kursk, unweit der ukrainischen Grenze, erlangte er 1994 sein Diplom an der Woronesher Höheren Militäringenieurshochschule für Radioelektronik. Daraufhin war der Ingenieur für Nachrichtentechnik zwei Jahre bei der russländischen Luftwaffe tätig. Anschließend arbeitete er beim Föderalen Bewachungsdienst (heute Federalnaja Slushba Ochrany, FSO, damals noch Hauptabteilung für Bewachung). Der Nachrichtendienst ist nicht nur für die Sicherheit hochrangiger Staatsbediensteter im In- und Ausland zuständig, sondern auch für verschlüsselte Kommunikation. Im August 1999 wechselte Djumin in den Sicherheitsdienst des Präsidenten (Slushba Besopasnosti Presidenta, SBP), der wichtigsten Einheit des FSO. Bei diesem Aufstieg halfen auch Familienbeziehungen. Djumins Vater Gennadi – ein Militärarzt – trug durch seine Freundschaft mit dem Verteidigungsminister Pawel Gratschow (1992–1996) insbesondere in den 1990er Jahren zum Einstieg in den FSO und die folgende Karriere im Sicherheitsdienst bei. Diesen Werdegang bis hin zum stellvertretenden Leiter der Behörde hat Djumin sicherlich auch seiner Sozialisation in einer Militärfamilie und -hochschule mit ihrer hierarchischen Struktur zu verdanken. Dazu kommt seine frühe Bekanntschaft mit den informellen Praktiken des russischen „crony capitalism“ – ein Wirtschaftssystem, in dem der Staatsdienst mit persönlicher Bereicherung einhergeht.3 

    „Putin vertraut uns genauso wie sich selbst“

    Im Laufe der ersten beiden Amtszeiten war es hauptsächlich die bedingungslose Loyalität gegenüber Putin, die Djumins Aufstieg begünstigte. „Putin vertraut uns genauso wie sich selbst.“ So beschrieb Djumin einmal das Verhältnis zwischen dem russischen Staatschef und seinen engsten Leibwächtern.4 Djumin streitet ab, jemals Putins persönlicher Adjutant gewesen zu sein. Allerdings sprechen einige Details seiner Biographie dafür, die Djumin von regulären Offizieren des präsidialen Sicherheitsdienstes unterscheiden.5

    Zum einen gab er selbst in einem Interview preis,6 informelle Botschaften und Aufträge von Putin direkt an Minister und Gouverneure weitergegeben zu haben. Aufgrund seiner Nähe zum Präsidenten avancierte er zum Lobbyobjekt und Gatekeeper, der den Zugang zum Staatsoberhaupt regelte und Informationen überbringen konnte. Zudem war Djumin nicht nur Torhüter in der Nachthockeyliga und spielte mit Putin-Vertrauten, – wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dem Gouverneur der Region Moskau Andrej Worobjow, dem ehemaligen Innenminister Raschid Nurgalijew oder den Oligarchen Arkadi Rotenberg und Gennadi Timtschenko – er stieg auch zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Liga auf. 2012 fungierte er zeitweilig als Berater von Gennadi Timtschenko und dessen Petersburger Eishockeyklub SKA. Darüber hinaus erhielt Djumin während seiner Zeit im SBP Zugang zu exklusiven Grundstücken, die in der Nähe von Putins Residenzen in Nowo-Ogarjowo (Rubljowka) und im Waldai liegen. Letztlich sprechen mehrere Weiterbildungen dafür, dass Djumin in Putins Kaderreserve für höhere Aufgaben war: 2009 promovierte7 er mit einer Arbeit über Global Governance in der G8 an der RANCHiGS. 2013 absolvierte er eine Fortbildung in der Militärakademie des Generalstabs der russländischen Streitkräfte.

    Djumin blieb auch Putins Leibwächter, als dieser in der Zeit der „Tandem-Herrschaft“ zwischen 2008 und 2012 Premierminister war. Die Rückkehr Putins ins Präsidentenamt im Zuge der Rokirowka markierte nicht nur einen Bruch für das Putin-Regime. Eine weitere Herausforderung bestand darin, einen graduellen Generationenwandel in der Staatsverwaltung zu befördern, ohne dabei die Regimestabilität – und damit vor allem Putins Sicherheit – zu gefährden. Einige vormals hochrangige Sankt Petersburger Tschekisten mussten ihren Platz in der Elite verlassen. Als Ausgleich für das Bröckeln des Kooperativs Osero und die fortschreitende Alterung der verbleibenden Silowiki zog Putin eine Kohorte von Leibwächtern heran, zu denen er über die Jahre ein enges Vertrauensverhältnis aufgebaut hat.8 Deren herausragendster Vertreter war Alexej Djumin. Ab 2013 kommandierte er die Sondereinsatzkräfte des Generalstabs. Diese Eliteeinheit übernahm besonders heikle Aufgaben, etwa bei der Annexion der Krim. Putin zeigte sich zufrieden und bekleidete Djumin mit Orden. 2015 folgte eine Beförderung zum Stabschef und stellvertretenden Oberkommandeur des russländischen Heeres. Bis zum Ende desselben Jahres stieg Djumin sogar zum stellvertretenden Verteidigungsminister auf. In dieser Position verblieb er allerdings weniger als zwei Monate. Anfang Februar 2016 ernannte Putin ihn zum Interimsgouverneur der Oblast Tula – ein vorläufiger Karriererückschritt, dem möglicherweise ein unterschwelliger Konflikt mit Verteidigungsminister Schoigu vorausging.

    Ein Regionalpolitiker auf Zeit mit föderalem Lobbypotenzial

    Von Beginn an galt Djumins Versetzung nach Tula in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Zwischenstation, sein Weg sollte zurück in die föderale Exekutive führen. Nicht nur begannen im Jahr 2016 die Spekulationen, Djumin könne im Rennen für die Putin-Nachfolge sein. Er stand auch laut Medien regelmäßig in der engeren Auswahl für prestigeträchtige Posten wie die Ministerien für Verteidigung oder Industrie und Handel. Dennoch versuchte Djumin von Beginn an, seine Moskauer Elitenetzwerke für sich und, bis zu einem gewissen Grad, für die Oblast Tula zu nutzen. Gleichzeitig weckten Unternehmen in der Oblast Tula vermehrt Interesse bei föderalen Eliteakteuren. Über diese versprach man sich Zugang zu Djumin und damit indirekt zu Putin, da dieser trotz Djumins Ausscheidens aus der Leibgarde für ihn weiterhin ein offenes Ohr behielt.

    Schon seit der Zarenzeit ist Tula ein Standort für Waffenproduktion. Auch heute noch ist die Region eines der wichtigsten Zentren der russländischen Rüstungsindustrie: Über ein Dutzend strategische Unternehmen des militär-industriellen Komplexes haben hier ihren Firmensitz. Das Gros dieser Waffenschmieden kontrolliert der von Sergej Tschemesow geleitete Rüstungskonzern Rostec. Aber auch das global agierende Unternehmen Almas-Antei, dessen Vorstand der ehemalige Premier und Ex-Chef des Auslandsgeheimdienstes Michail Fradkow9 ist, hat in der Region eine bedeutende Präsenz. 

    Djumin ist Präsidiumsmitglied des Staatsrats – das wichtigste Koordinationsgremium zwischen dem föderalen Zentrum und den Regionen. Seit Dezember 2020 hat er den Vorsitz des Staatsratsausschusses für Industrie inne. Damit gehört Djumin zu den zentralen Funktionären des militär-industriellen Komplexes. Eines der letzten Treffen von Putin mit den Chefs der größten Rüstungsunternehmen fand etwa im Dezember 2022 in Tula statt.

    Djumins tiefe Verwurzelung im russischen Elitenetzwerk verdeutlicht insbesondere der Sport. Obwohl Djumin als passionierter Hockeyspieler gilt, erlebte gerade der ehemals von Finanzsorgen geplagte Tulaer Fußballclub Arsenal ein neues Hoch. Seit Djumin Gouverneur von Tula geworden ist, konnte Arsenal zeitweise Sponsoringverträge mit Gazprom, Rostec, Rosneft sowie mit dem Metall- und Telekommunikationsmagnaten Alischer Usmanow an Land ziehen. Insbesondere der Rosneft-Boss Igor Setschin zeigte sich plötzlich höchst interessiert an der Oblast Tula: So erwarb Rosneft die traditionsreiche Gouverneursresidenz, die Djumin seither selbst nutzt. Rosneft gab 2016 bekannt, dass er in der Region vermehrt im Rahmen der Importsubstitution produzieren wolle. Des Weiteren betreibt Igor Setschin im Gebiet Tula ein weitläufiges Jagdgebiet.

    Djumins Netzwerke und der Wagner-Aufstand

    Djumins Beziehungen zu Eliteakteuren gehen aber weit über die Rüstungsindustrie und den Sport hinaus. Sie bieten zumindest einen Einblick in Djumins Positionierung vor und während des Wagner-Aufstands. Tschetscheniens Gewaltherrscher Ramsan Kadyrow spricht von Djumin als „älterem Bruder“,10 nach außen projizieren sie ein vertrauensvolles Verhältnis. Kadyrow pflegt ebenfalls enge Beziehungen zum Chef der Nationalgarde, Viktor Solotow, der viele Jahre Djumins direkter Vorgesetzter war. Djumin hat vielfältige private Kontakte zum Gouverneur der Oblast Moskau Andrej Worobjow: Sie gehen zusammen auf die Jagd, besteigen den Elbrus oder pilgern zum Berg Athos. Worobjow zählt aufgrund der Freundschaftsbande zwischen seinem Vater Juri Worobjow und Sergej Schoigu zu dessen engstem Vertrautenkreis jenseits des Verteidigungsministeriums. Deswegen gehören Djumin sowie Dimitri Mironow, ebenfalls ein ehemaliger FSO-Adjutant Putins, zum erweiterten Clan Schoigu-Worobjow-Timtschenko. Dennoch bleibt derzeit offen, wie angespannt das Verhältnis zwischen Schoigu und Djumin ist. Denn schon im Oktober 2022 berichteten unabhängige russische Medien, dass Prigoshin, Kadyrow und auch Mironow die Ernennung Djumins als neuen Verteidigungsminister lobbyierten. Sie begründeten dies mit den Rückschlägen der russländischen Armee an der ukrainischen Front.11

    Auch sein Verhältnis zu Prigoshin zeugt davon, dass Djumins Haltung zu Schoigu im besten Fall ambivalent ist und bei weitem nicht immer der Linie des Verteidigungsministeriums entspricht. Die Bekanntschaft der beiden datiert auf die Zeit, als Prigoshin das Catering für Putins Staatsempfänge übernahm. Djumin war dabei für die Sicherheit zuständig. Geleakte Telefon- und SMS-Daten aus den Jahren 2013 und 201412 legen nahe, dass Prigoshin und Djumin in regelmäßigem Kontakt standen, in den Jahren 2012 bis 2022 hatten die beiden mindestens 33 persönliche Treffen.13 

    Djumin spielte eine entscheidende Rolle bei der Gründung der Söldnergruppe Wagner und machte gar den ehemaligen GRU-Offizier Dimitri Utkin mit Jewgeni Prigoshin bekannt. Als Djumin 2016 das Verteidigungsministerium verließ, gingen die Staatsaufträge der Behörde an Prigoshin-Strukturen zurück. Gleichzeitig bekamen mit Prigoshin affiliierte Unternehmen vermehrt Aufträge in der Oblast Tula, etwa um die Tulaer Version des Park Patriot des Verteidigungsministeriums zu bauen. Und als Prigoshin im Spätherbst 2022 von der Präsidialadministration die Erlaubnis bekam, in Gefängniskolonien Häftlinge für seine stark dezimierte Söldnertruppe Wagner anzuheuern, so betrieb er dies insbesondere auch in der Oblast Tula.

    Dass die Wagner-Söldner beim „Marsch“ auf Moskau noch vor der Region Tula zum Stillstand kamen und wieder umkehrten, trug umso mehr zum „Mythos Djumin“ bei. Djumin selbst schwieg sich am Wochenende des Aufstands aus und ließ über seinen Pressedienst verkünden, dass er nicht an den Verhandlungen über die Beilegung des Aufstands beteiligt gewesen war. Am Sonntag, den 25. Juni, verbreitete Djumin ein Video, in dem er die neu geschaffene Söldnertruppe Tula besuchte. Diese hatte einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium abgeschlossen.

    Aus der Logik hochpersonalisierter autoritärer Regime heraus handelte Djumin in der heiklen Situation des Aufstands genau richtig. Er hielt sich öffentlich bedeckt und setzte im Hintergrund seine Ressourcen ein. Dabei schlug er sich demonstrativ auf die Seite Schoigus und des Verteidigungsministeriums. Gleichzeitig ließ er nicht den geringsten Verdacht aufkommen, dass er politische Ambitionen jenseits der Oblast Tula an den Tag legt. Denn wer sich zu früh in Stellung bringt, sei es für das Amt des Verteidigungsministers oder gar die Nachfolge Putins, der riskiert, dass konkurrierende Elitegruppen einem den Garaus machen. Derzeit bleibt unklar, inwiefern Djumin über unabhängige Machtressourcen und ein eigenes Team verfügt, die auch ohne Putins Patronage Bestand hätten. 

    Djumins Aufstieg ist einerseits sehr individuell. Andererseits ist er ein typisches Beispiel für die dynastische Weitergabe von Sozialkapital über Generationen und Regimewechsel hinweg.15 Die Person Djumin charakterisiert somit einen schleichenden Generationenwandel im Putin-Regime. Sie zeigt aber auch, wie putinistisch ein Russland selbst nach Putin aussehen könnte – unabhängig davon, ob Djumin Putins Nachfolger sein wird oder nicht. 


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    Bystro #27: Wird die Bundestagswahl die Russland-Politik verändern?

    Außenpolitische Erwägungen spielen bei der Bundestagswahl für die Wähler traditionell eine, gelinde gesagt, untergeordnete Rolle. So auch bei der aktuellen Wahl, die der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz einen knappen Sieg vor der CDU/CSU beschert hat. Was aber bedeutet eine mögliche neue Regierung unter Scholz, der sich bereits für eine Ampel-Koalition mit den Grünen und mit der FDP ausgesprochen hat, für eine deutsche Außenpolitik in Bezug auf Russland und Belarus? Ist eine Rückkehr zur früheren Ostpolitik denkbar? Was würde eine sogenannte Jamaika-Koalition für die deutsch-russischen Beziehungen bedeuten? Auf diese Fragen und andere antwortet Fabian Burkhardt in einem Bystro.

    1. 1. Wer macht in Deutschland überhaupt Russland- und Belarus-Politik: das Auswärtige Amt oder das Kanzleramt?

      Traditionell verbindet man deutsche Außenpolitik mit dem Auswärtigen Amt – unter anderem weil dort in den Fachreferaten die außenpolitische Expertise sitzt und die Diplomaten langjährige Erfahrung haben. 

      Allerdings verfügt die Bundeskanzlerin über die Richtlinienkompetenz – sie kann entscheidende Akzente in der Außenpolitik setzen. Das Auswärtige Amt ist natürlich an diese Richtlinienkompetenz gebunden, obwohl der Außenminister traditionell aus einer anderen Partei kommt als die Bundeskanzlerin. Wenn man zurückblickt, verbindet man wichtige Weichenstellungen wie Sanktionen nach der Krim-Annexion und Russlands militärischer Intervention in der Ostukraine, das Normandie-Format oder auch die Fertigstellung von Nord Stream 2 mit der Bundeskanzlerin. Andererseits war vor allem Steinmeier als Außenminister prägend, etwa durch die Initiierung der Modernisierungspartnerschaft 2008 oder die sogenannte Steinmeier-Formel zur Beilegung des Ukraine-Konflikts. 

      In den 16 Jahren Merkel waren vier verschiedene Bundesminister des Auswärtigen tätig: Im Kanzleramt gab es also mehr Konstanz – und somit politisches Gewicht – in außenpolitischen Fragen. Hinzu muss man aber auch bedenken, dass zur Außenpolitik auch Wirtschafts-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik sowie andere Politikfelder gehören. Das heißt: Es kommt sehr stark auf die Koordination verschiedener Ministerien an. Da dem Kanzleramt eine Koordinationsfunktion zukommt, kann es in der Außenpolitik Akzente und Prioritäten setzen. Insgesamt sind die wesentlichen Akteure der deutschen Außenpolitik im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt auf bürokratischer Ebene sehr eng miteinander verzahnt: sowohl hinsichtlich der politischen Entscheidungen als auch personell. 

    2. 2. Wenn es – was eher unwahrscheinlich ist – zu einer Großen Koalition unter Olaf Scholz kommt – würde sich die Russland- und Belarus-Politik der Bundesregierung überhaupt verändern?

      Eine Große Koalition mit umgekehrten Vorzeichen könnte für weitestgehende Konstanz in der Außenpolitik stehen. Zwar hat der Kanzlerkandidat Scholz im Wahlkampf eine neue Ostpolitik gefordert, auf die Einzelheiten ging er dabei aber nicht ein. Daher ist es fraglich, mit welchen Inhalten er diese füllen würde. Scholz hat den Weiterbau von Nord Stream 2 mitgetragen, er steht auch ausdrücklich zu den Sanktionen gegenüber Russland und Belarus, als Kanzler würde er sich in seiner Ostpolitik eng mit der EU abstimmen müssen, die Partnerschaft innerhalb der NATO würde wohl ähnlich fortgesetzt wie unter Merkel. Hinzu kommt, dass sich in der SPD in den vergangenen Jahren ein Generationenwandel vollzogen hat: Die Reihen der Vertreter einer klassischen sozialdemokratischen Ostpolitik haben sich merklich gelichtet. Die Jüngeren dagegen sehen Deutschland viel stärker als Teil der EU, deutsche Alleingänge in der Russland- und Belarus-Politik sind da nur schwer denkbar. Obwohl der linke Flügel in der Partei immer noch stark ist, halte ich es aus den genannten Gründen für wenig wahrscheinlich, dass die SPD zu einer traditionellen Ostpolitik im Geiste von Willy Brandt zurückkehrt. Es ist zwar denkbar, dass Initiativen etwa im Bereich der Rüstungskontrolle gestartet werden, insgesamt ist der Handlungsspielraum aber sehr begrenzt.

    3. 3. Bei einer Dreier-Koalition: Wie würde ein Außenminister der Grünen oder der FDP die Beziehungen zu Russland prägen?

      Die Grünen haben sich in ihrem Wahlprogramm aus Umweltschutzgründen gegen Nord Stream 2 ausgesprochen. Die FDP wollte ein Moratorium, bis der Kreml im Fall Nawalny unabhängige Ermittlungen gewährleistet und sich die Menschenrechtslage in Russland bessert. 

      Ob die Pipeline überhaupt Einzug in einen Koalitionsvertrag finden wird, ist derzeit aber unklar. Eine Dreierkoalition bedeutet insgesamt einen höheren Aufwand bei der Koordinierung zwischen den Koalitionspartnern. Sie bedeutet außerdem, dass man automatisch zu mehr Kompromissen gezwungen ist. 

      Die Einlösung von Wahlversprechen ist bei Nord Stream 2 deshalb genauso schwierig wie bei anderen Fragestellungen der Russland-Politik. Möglicherweise könnten die Grünen und die FDP darauf drängen, dass die Pipeline nicht den EU-Anforderungen für den Gasbinnenmarkt entspricht. Vielleicht wird Nord Stream 2 aber wie geplant in Betrieb gehen: Vieles hängt von der Kompromissbereitschaft der Koalitionspartner ab. Hinzu kommt, dass es etwa in der FDP verschiedene Kräfte gibt – solche, die für liberale Werte und Menschenrechte eintreten, und andere – denen wirtschaftliche Aspekte und solche wichtiger sind, die der sozialdemokratischen Ostpolitik nahestehen. Bei den Grünen gibt es möglicherweise verstärktes Interesse, mit Russland in einen Dialog über den Klimawandel einzutreten. Neben den Dynamiken zwischen den drei Koalitionspartnern werden also auch die Eigendynamiken innerhalb der Parteien selbst eine Rolle in der Russland-Politik spielen. In Bezug auf Belarus scheint eindeutig, dass sowohl Grüne als auch die FDP das Sanktionsregime gegen das System Lukaschenko weiter mittragen werden oder dieses (möglicherweise auch gegen Russland) verschärfen würden, wenn es zu einer erneuten Repressionswelle oder Eskalation kommt. 

    4. 4. Welche Rolle spielt der Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft in der Russland- und Belarus-Politik?

      Das 2003 von der rot-grünen Bundesregierung geschaffene Amt hieß zunächst Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Nach der Krim-Annexion bekam es eine neue Bezeichnung – und eine weitere Ausrichtung hin zu den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Zentralasiens. Die letzten beiden Koordinatoren – Dirk Wiese und Johann Saathoff (beide SPD) – waren nur wenig profiliert in der Region, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den erfahrenen Außenpolitikern Gernot Erler (SPD) und Andreas Schockenhoff (CDU). Wiese hat versucht, eigene Akzente zu setzen, vor allem in Fragen der Jugend- und Visa-Politik. Der Handlungsspielraum des Koordinators ist allerdings sehr eng bemessen und wird noch begrenzter durch den zunehmend repressiven Kurs der belarussischen und russischen Regierung gegen die jeweilige Zivilgesellschaft. Dass die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit immer schwieriger wird – das hat das Beispiel der NGOs Deutsch-Russischer Austausch (DRA), Libmod und Forum der russischsprachigen Europäer gezeigt, die Ende Mai in Russland zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt wurden. Damit ist das Amt des Koordinators derzeit eine extrem schwierige Position, und es ist fraglich, ob es in den nächsten Jahren nennenswerte Gestaltungsfreiräume haben wird. Gefragt sind deswegen Kreativität und neue Ansätze in der Zusammenarbeit mit den Zivilgesellschaften und der Diaspora. 

    5. 5. 16 Jahre Angela Merkel – bedeutet dies 16 Jahre Kontinuität in der deutschen Russland-Politik? 

      Für die vergangenen 16 Jahre lassen sich viel Wandel und viele Brüche feststellen, von der in den optimistischen 2000er Jahren ausgerufenen Modernisierungspartnerschaft bis hin zu immer schärferen Sanktionen. Immer wenn man nach 2014 gedacht hat, die Beziehungen können eigentlich gar nicht mehr schlechter werden, wurde man leider eines Besseren belehrt. Kontinuität lässt sich vor diesem Hintergrund demgegenüber am Beispiel Nord Stream 2 feststellen: Egal wie schlecht die Beziehungen waren, Merkel hat immer am Weiterbau der Pipeline festgehalten. Kontinuität gab es auch hinsichtlich der Krim-Annexion und des Krieges in der Ostukraine: Merkel ist nie von der Position abgerückt, dass die Annexion völkerrechtswidrig sei, und dass Russland deshalb sanktioniert werden müsse. Gleichzeitig bemühte sie sich im Normandie-Format um die Konfliktbeilegung. Schließlich hat es auch eine Kontinuität bei Menschenrechten gegeben: Im Fall Nawalny blieb sie standfest, und der Austausch zwischen den Zivilgesellschaften war für sie immer ein wichtiger Pfeiler der Russland-Politik. Insgesamt lässt sich Merkels Erbe auf die Formel bringen: Sie hat stets versucht Russland in verschiedene Kooperationsformate einzubinden, gleichzeitig war sie aber auch eine treibende Kraft in der Sanktionspolitik. 

    6. 6. Wird Merkels Nachfolger diese Linie fortsetzen?

      Die nächste Bundesregierung wird sich mit dem teils widersprüchlichen Erbe der Russland- und Belaruspolitik von Merkel konfrontiert sehen. Sie wird wohl weiterhin versuchen, begrenzte Kooperationsangebote zu schaffen, wo sich die Interessen von Russland und Deutschland überschneiden. Gleichzeitig wird sie eine in die EU eingebettete Sanktionspolitik betreiben und versuchen, die EU resilienter gegenüber Russland zu gestalten. 

      Unabhängig davon, wie die endgültige Regierung dann aussehen wird – es gibt gewisse strukturelle Elemente, die die bilateralen Beziehungen zu Russland in den nächsten Jahren prägen werden: Dazu gehören etwa die transatlantischen Beziehungen zu den USA, aber auch die Beziehungen der EU, der USA aber auch Russlands zu China. Wie wird sich die Politik innerhalb der EU selbst gestalten? Auch diese Frage ist entscheidend für die deutsche Russland- und Belarus-Politik. Schließlich wird auch die Klimapolitik eine Rolle spielen: Je schneller die Energiewende in Europa vollzogen wird, desto schneller wird die europäische Abhängigkeit von den Importen fossiler russischer Energieträger sinken – was für Russland gravierende Folgen haben könnte. 

    *Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Fabian Burkhardt
    Veröffentlicht am: 27. September 2021

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  • Die Beziehungen zwischen Belarus und der EU

    Die Beziehungen zwischen Belarus und der EU

    Die Beziehungen zwischen der EU und Belarus gleichen einer Achterbahn, in der es einige Höhepunkte, aber noch viel mehr Tiefpunkte gibt. Im Zuge der beispiellosen Repressionswelle nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020, infolge derer die EU Alexander Lukaschenko nicht mehr als legitimen Präsidenten von Belarus anerkennt, rast der Achterbahnwagen förmlich auf einen Abgrund zu. Doch wann immer der endgültige Tiefpunkt erreicht scheint, wird ein neuer Boden durchbrochen.

    Die EU-Russland-Beziehungen waren am 28. Juni 2021 an einem weiteren vorläufigen Tiefpunkt angelangt, als das belarusische Außenministerium verkündete, die belarusische Teilnahme an der Östlichen Partnerschaft bis auf Weiteres einzustellen. Damit reagierte das Land auf das bereits vierte Sanktionspaket der EU seit August 2020, das am 24. Juni 2021 als Antwort auf die erzwungene Landung von Ryanair Flug 4978 und der Festnahme von Roman Protassewitsch verabschiedet worden war. Im Rahmen dieser Kettenreaktion fror Belarus auch das Abkommen über Rückübernahme ein, welches erst am 1. Juli 2020 in Kraft getreten war, und machte sofort seine Drohung wahr, wonach dieser Rückzug Auswirkungen auf die Bekämpfung der undokumentierten Migration und der organisierten Kriminalität haben würde. Lukaschenko forcierte seitdem geradezu den „Export“ von Migranten, insbesondere aus dem Irak, und verursachte eine manifeste humanitäre- und Migrationskrise in den Grenzgebieten mit Litauen, Lettland und Polen.

    Partnerschaft auf Abwegen

    Diese jüngste Abwärtsspirale steht wie im Zeitraffer für die EU-Belarus-Beziehungen der letzten drei Jahrzehnte. Immer wieder wurden die kurzen Phasen der Annäherung von anhaltenden Perioden tiefgreifender Entfremdung abgelöst. Nach der staatlichen Unabhängigkeit im Jahr 1991 hatte das junge postsowjetische Land schnell diplomatische Beziehungen mit der EU aufgenommen und schließlich im März 1995 ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) unterzeichnet. Der im PKA vorgesehene politische Dialog sollte den demokratischen Wandel und die marktwirtschaftliche Transformation des Landes unterstützen. Doch das Abkommen wurde nie ratifiziert. Denn nach seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 hebelte Lukaschenko mit dem Verfassungsstreich von 1996 den Obersten Sowjet aus und konzentrierte alle Macht im Präsidentenamt1 – was von der Venedig-Kommission und der EU als nicht den demokratischen Standards entsprechend eingestuft wurde. Mit seinen Schlussfolgerungen vom 15. September 1997 beendete der Rat den Ratifizierungsprozess des PKA. Grundlage für die Beziehungen zwischen der EU und Belarus bleibt somit bis heute ein Abkommen über Handel und wirtschaftliche Kooperation, welches noch mit der Sowjetunion im Jahr 1989 geschlossen wurde.

    In der Folge verhielt sich Lukaschenko – in den Worten der EU-Schlussfolgerungen von 1997 – nicht nur nicht konstruktiv, sondern geradezu obstruktiv. Der Drozdy-Konflikt im Jahr 1998, infolgedessen die Botschafter der EU und der USA das Land verlassen mussten, ist hierfür ein weiteres eindrückliches Beispiel. Schon in den ersten Jahren der Lukaschenko-Herrschaft wurden somit die Divergenzen zwischen den normativen Ansprüchen und Interessen der EU und den immer autoritärer werdenden Herrschaftspraktiken des Lukaschenko-Regimes deutlich. 

    Das Sanktionsparadox

    In Reaktion auf Verstöße gegen demokratische Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Belarus griff die EU häufig auf Sanktionen als außenpolitische Zwangsmaßnahme zurück. Erstmals verabschiedete der Rat 2004 umfangreiche personenbezogene Sanktionen, nachdem der sogenannte Pourgourides-Bericht die Beteiligung von hochrangigen belarusischen Offiziellen am Verschwinden von vier Personen in den Jahren 1999/2000 nachgewiesen hatte.2

    Weitere bedeutende Sanktionspakete folgten auf die Präsidentschaftswahlen der Jahre 2006, 2010 und 2020/2021, in deren Verlauf es zu Wahlfälschungen sowie zu Gewalt und Repressionen gegen Oppositionelle und Protestierende kam. Die EU verzichtete dabei auf sektorale Sanktionen und setzte stattdessen auf „smarte“ Sanktionen, die sich gezielt gegen Personen, Unternehmen oder auch staatliche Institutionen richten. Ergänzt wurde dies um ein Exportverbot von Gütern, die für interne Repression missbraucht werden können, sowie um ein Waffenembargo. Im Juni 2021 verbot die EU der nationalen Fluggesellschaft Belavia den Zugang zum Luftraum der EU. Zudem erließ die EU ein Einfuhrverbot von Kalidünger, einem der wichtigsten Exportgüter von Belarus.

    Doch je mehr Druck von außen auf das Lukaschenko-Regime ausgeübt wird, desto weniger Spielraum bleibt der EU, um durch Handel, Kredite oder Kooperationspartner Einfluss auf die Prozesse im Land zu nehmen – in der Forschung spricht man von dem sogenannten „Sanktionsparadox“3. Insgesamt wird die EU-Sanktionspraxis daher kontrovers diskutiert. Einerseits versichert die EU damit der Welt und sich selbst, dass sie zu ihren proklamierten Werten steht. Zudem signalisiert sie einerseits den belarusischen demokratischen Kräften, dass sie deren Bestreben ernst nimmt und andererseits dem Regime, dass es bei weiteren Repressionen hohe Kosten in Kauf nehmen muss. Insgesamt ist aber festzuhalten, dass die EU-Sanktionen zu keiner Verhaltensänderung geführt haben und keine Demokratisierung des Landes erzwingen konnten.4 So besteht zum Beispiel kein Zusammenhang zwischen der Härte der Sanktionen und der Freilassung von politischen Gefangenen. Eine weitere Gefahr von schärferen Sanktionen besteht darin, dass Belarus noch stärker in die Abhängigkeit von Russland getrieben wird.

    Externe Demokratisierungshilfe

    Jenseits von Sanktionen war die EU auch bemüht, die Demokratisierung von Belarus mit Kooperationsangeboten an die Zivilgesellschaft zu fördern. Im Jahr 2009 wurde Belarus schließlich in die Östliche Partnerschaft der EU aufgenommen. Aufgrund des fehlenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens ist das als größter bisheriger Meilenstein in den bilateralen Beziehungen zu werten.

    Insbesondere in den Bereichen Forschung und Politikberatung, Bildung, Bürgerrechte, Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung, Regionalentwicklung und Kultur entstanden enge Verbindungen.5 Über Kanäle wie das Zivilgesellschaftliche Forum der Östlichen Partnerschaft bekam die belarusische Zivilgesellschaft nicht nur einen direkten Draht zur EU, sondern auch ein Forum, um sich zumindest formal bei der belarusischen Regierung Gehör zu verschaffen.6

    Im Zuge der beispiellosen Repressionswelle in den Jahren 2020 und 2021 bleibt der EU als externem Akteur jedoch nur die Option, Schadensbegrenzung zu betreiben, die Dokumentation der Repression zu fördern und das Fortbestehen von wichtigen Akteuren der belarusischen Zivilgesellschaft außerhalb von Belarus zu sichern.7

    Funktionale Kooperation und Geopolitik

    Als dritter Weg neben Sanktionen und Demokratieförderung erwies sich mit den Jahren die funktionale Kooperation. Obwohl ein Ausbau der Beziehungen nach EU-Prinzipien eigentlich nur dann erfolgen darf, wenn Belarus Fortschritte in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte vorweist, ergab sich mit der EU-Osterweiterung 2004 zunehmend die Notwendigkeit zur Kooperation. Mit Litauen, Lettland und Polen wurden drei Nachbarstaaten von Belarus zu EU-Mitgliedern. Diese technokratische Zusammenarbeit der EU mit Belarus erfolgte vorwiegend in wenig politisierten Bereichen, in denen es eine große Überschneidung gemeinsamer Interessen gab, etwa in ‚weichen‘ Sicherheitsbereichen wie Schmuggel oder Migrationsfragen.

    Auch für Lukaschenko gab es einige strukturelle Faktoren, die ihn immer wieder die Annäherung an die EU suchen ließen. Zum einen blickten Teile der technokratischen, reformorientierten Elite auf die EU, um die Modernisierung des Landes voranzutreiben. Zweitens ist die EU als Wirtschaftsblock nach Russland der zweitwichtigste Handelspartner von Belarus. Und drittens zeigte sich Lukaschenko gerade immer dann der EU zugeneigt, wenn es galt, den wachsenden Einfluss Russlands auszugleichen. Zudem sollte mit der Drohung, sich außenpolitisch zu diversifizieren, mehr Subventionen aus dem östlichen Nachbarn herausgeschlagen werden. Mit diesem sogenannten „Souveränitätsunternehmertum“8versuchte Lukaschenko, die in Integrationskonkurrenz stehenden Regionalmächte EU und Russland gegeneinander auszuspielen.

    So demonstrierte Belarus etwa nach der russischen Krim-Annexion 2014 weiterhin äußerste Loyalität gegenüber Russland und profitierte als Lebensmittel(re)exporteur auch von den russischen, gegen die EU gerichteten Sanktionen. Andererseits weigerte sich Lukaschenko, die Krim als russisch anzuerkennen, stellte Minsk als internationale Plattform für Friedensverhandlungen zur Verfügung und zeigte sich ebenfalls um gute Beziehungen zur Ukraine bemüht. Die EU honorierte diese außenpolitische Zurückhaltung und die mit vergleichsweise mäßigen Repressionen abgehaltenen Präsidentschaftswahlen im Oktober 2015 damit, dass Sanktionen gegen 170 Personen und drei Unternehmen im Februar 2016 nicht mehr verlängert wurden und 2016 die gemeinsame Mobilitätspartnerschaft beschlossen wurde.

    Auch die Europäische Investitionsbank (EIB) unterstützte ab 2018 Projekte im Bereich Kleine und Mittelständische Unternehmen, nachhaltige Energiewirtschaft, Transportinfrastruktur oder Wasserwirtschaft.9 Dieser Versuch einer „Normalisierung“ der Beziehungen, die seitens der EU auf der Philosophie des „prinzipientreuen Engagements“10 beruhte, hatte neben der rein technokratischen funktionalen Kooperation noch eine weitere Absicht, hatte sich die EU doch auf die Fahne geschrieben, in der eigenen Nachbarschaft deutlich geopolitischer zu agieren: Angesichts des erhöhten Integrationsdrucks, der ab 2018 von Russland auf Belarus ausgeübt wurde, sollte durch intensivierte Kooperation mit Belarus vor allem dessen Souveränität und staatliche Unabhängigkeit gestärkt werden.11 Die Ereignisse seit August 2020 verdeutlichen allerdings, dass die staatliche Souveränität von Belarus vor allem von den Absichten Russlands abhängt und die Möglichkeiten der EU verschwindend gering sind.

    Meinung der belarusischen Bürger

    Langjährige Meinungsumfragen von verschiedenen Instituten legen nahe, dass in den letzten zwei Jahrzehnten in der Regel mehr Belarusen eine Integration mit Russland befürwortet haben als mit der EU.


    Quellen12

    Allerdings lassen sich einige Schwankungen beobachten. So bevorzugten zwischen 2009 und 2013 mehr Belarusen eine Integration mit der EU als mit Russland, ein Trend, der möglicherweise mit der Aufnahme von Belarus in die Östliche Partnerschaft und Handelskonflikten mit Russland in Verbindung steht. Mit der Annexion der Krim und dem anhaltenden Konflikt zwischen Russland und dem Westen wendete sich das Blatt allerdings wieder. Verschiedene Umfragen legen nahe, dass seit dem Krieg in der Ukraine eine Mehrheit der Belarusen eher eine Integration mit Russland als mit der EU bevorzugt.13

    Neuere Umfragen, die nach August 2020 durchgeführt wurden, zeigen, dass sich das Gesamtbild grundsätzlich nicht verändert hat, auch wenn Teilnehmende an den Protesten der EU tendenziell positiver gegenüberstehen als der Durchschnitt der Bevölkerung.14

    Werden hingegen mehr Antwortmöglichkeiten vorgegeben, bevorzugt die absolute Mehrheit der Befragten entweder eine gleichzeitige Integration sowohl mit Russland als auch der EU (41,1 Prozent) oder gar kein geopolitisches Bündnis (22,6 Prozent).15

    Strebt die EU also langfristig eine tiefere Integration mit Belarus an, muss sie in Belarus das Wissen über sich erhöhen und das eigene Image verbessern. Zudem muss sie damit rechnen, dass ein großer Anteil der Belarusen weiterhin Russland Sympathien entgegenbringen oder zumindest einer Integrationskonkurrenz der beiden Regionalmächte EU und Russland skeptisch gegenüberstehen wird.16


    Anmerkung der Redaktion:

    Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.


     

     

    1. Burkhardt, Fabian (2016): Belarus, in: Fruhstorfer, Anna / Hein, Michael (Hrsg.): Constitutional Politics in Central and Eastern Europe, S. 463-493. ↩︎
    2. Official Journal of the European Union: COUNCIL COMMON POSITION 2004/661/CFSP of 24 September 2004 concerning restrictive measures against certain officials of Belarus ↩︎
    3. Kryvoi, Yaroslau / Wilson, Andrew (2015): From sanctions to summits: Belarus after the Ukraine crisis (ECFR Policy Memo 132) ↩︎
    4. Grauvogel, Julia / von Soest, Christian (2014): Claims to legitimacy count: Why sanctions fail to instigate democratisation in authoritarian regimes, in: European Journal of Political Research 53(4), S. 635-653. ↩︎
    5. Mazepus, Honorata et. al. (2021): Civil society and external actors: how linkages with the EU and Russia interact with socio-political orders in Belarus and Ukraine, in: East European Politics 37(1), S. 43-64. Die kritische Forschung über externe Demokratieförderung weist allerdings darauf hin, dass die Unterstützung von politischer Opposition indirekt auch zur Stärkung des autoritären Status quo beitragen haben könnte, indem es sich für Geber und Geförderte als vorteilhaft erwies, die externe Förderung aufrecht zu erhalten, obwohl die gewünschten Ergebnisse nicht eingetreten sind, vgl. Pikulik, Alexei / Bedford, Sofie (2019): Aid Paradox: Strengthening Belarusian Non-democracy through Democracy Promotion, in: East European Politics and Societies: and Cultures 33(2), S. 378-399. ↩︎
    6. Shmatsina, Katsiaryna (2020): 10 Jahre Östliche Partnerschaft für Belarus – Erfolg, Misserfolg oder etwas dazwischen?, in: Belarus-Analysen Ausgabe 47, S. 2-6. ↩︎
    7. Auswärtiges Amt: Gegen Repression und Gewalt: Ein Aktionsplan für die Zivilgesellschaft in Belarus. ↩︎
    8. Nice, Alex (2012): Belarus: Zwischen Russland und der EU. Präsident Lukaschenko nutzt den Gegensatz zwischen Russland und der EU geschickt zum Regimeerhalt, in: DGAP Analyse 02 ↩︎
    9. European Investment Bank: Financed projects in Belarus. ↩︎
    10. Marin, Anaïs (2016): Belarus: Time for a ‘principled’ re-engagement (Policy Brief of the European Union Institute for Strategic Studies). ↩︎
    11. Lough, John (2019): Belarus: Danger ahead – EU response needed (Libmod Policy Paper). ↩︎
    12. Quellen: Repräsentative Umfrage des Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies (IISEPS) vom Dezember 2015 und September 2008. Daten ab Dezember 2015: Andrej Wardamackij (Belarusian Analytical Workroom), Frage: In welcher Union wäre es besser – in der EU oder in einer Union mit Russland? ↩︎
    13. Vgl. Belarus-Analysen: Umfragen des Belarusian Analytical Workroom und Independent Institute of Socio-Economic and Political Studies (IISEPS) ↩︎
    14. Vgl. die Umfragen von Chatham House (2021): Belarusians’ views on the political crisis, OSW (2021): Belarusians on Poland, Russia and themselves und ZoiS (2021): Belarus at a crossroads: attitudes on social and political change. ↩︎
    15. Meinungsumfrage von Chatham House (2020): Welcher geopolitische Block ist für Belarus besser geeignet? ↩︎
    16. Burkhardt, Fabian (2020): Verfassungsreform in Belarus: die EU und Russland setzen auf unterschiedliche Wege aus der Krise, in: Belarus-Analysen Ausgabe 52, S. 21-23. ↩︎

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  • Bystro #25: Warum sind deutsche NGOs in Russland „unerwünscht“?

    Bystro #25: Warum sind deutsche NGOs in Russland „unerwünscht“?

    Drei deutsche NGOs gefährden laut russischer Generalstaatsanwaltschaft „die Grundlagen der Verfassungsordnung und die Sicherheit der russischen Föderation“. Aus diesem Grund wurden sie Ende Mai 2021 zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt. Warum ausgerechnet diese drei? Wird es noch weitere treffen? Und was sind die Hintergründe? Ein Bystro in neun Fragen und Antworten von Fabian Burkhardt.

    1. Was bedeutet der Status „unerwünschte Organisation“ überhaupt? Welche Verbote oder Regularien beinhaltet er? 

    2. Ende Mai 2021 wurden drei deutsche NGOs zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt: DRA, Libmod und das Forum der russischsprachigen Europäer. Was für Organisationen sind das? Welche Projekte haben sie in Russland realisiert?

    3. Wo liegt der Unterschied zwischen diesen Organisationen?

    4. Es gab bisher schon rund 30 NGOs, die in Russland als „unerwünscht“ galten, bisher war darunter nur eine deutsche. Ist diese Entscheidung, nun auch weitere deutsche Organisationen als „unerwünscht“ zu erklären, mit irgendwelchen Problemen in den deutsch-russischen Beziehungen verbunden?

    5. Warum wurden aus den zahlreichen deutschen NGOs, die in Russland tätig sind, ausgerechnet diese drei ausgewählt?

    6. Bleibt es nur bei diesen „Unerwünschten“? Oder kommen noch weitere deutsche NGOs auf die Liste?

    7. Alles nur Willkür, oder lassen sich gewisse Muster ableiten?

    8. Welche Konsequenzen hat diese Entscheidung für die deutsch-russischen Beziehungen?

    9. Es geht dabei also auch um eine Wirkung nach außen?


    1. Was bedeutet der Status „unerwünschte Organisation“ überhaupt? Welche Verbote oder Regularien beinhaltet er? 

    Die Einführung des Status „unerwünschte Organisation“ im Jahr 2015 ist im Kontext der Krim-Annexion 2014 zu sehen. Das Gesetz wurde von den Abgeordneten Alexander Tarnawski (Gerechtes Russland) und Anton Ischtschenko (LDPR) initiiert als Reaktion auf westliche Wirtschaftssanktionen. Offiziell war das Gesetz gegen transnationale Wirtschaftsunternehmen gerichtet. In der Praxis wurde es aber ausschließlich gegen internationale NGOs angewandt. Derzeit befinden sich 40 Organisationen im Verzeichnis des Justizministeriums, die vor allem aus den USA, aber auch aus EU-Ländern wie Belgien und Tschechien stammen. Mit dem Bard College und dem Oxford Russia Fund wurden im Juni und Juli 2021 zum ersten Mal auch wissenschaftliche Organisationen gelistet. Formal entscheiden federführend das Außenministerium und die Staatsanwaltschaft, welche Organisationen in das Verzeichnis aufgenommen werden. Informell dürfte vor allem das Votum des Inlandsgeheimdienstes FSB entscheidend sein. Eine offizielle Begründung oder gar ein Gerichtsentscheid sind nicht notwendig. Wird eine internationale Organisation als „unerwünscht“ verzeichnet, so muss sie umgehend jegliche Geschäftstätigkeit in und mit Russland einstellen. Bei Zuwiderhandlung sieht das Ordnungs- und Strafrecht hohe Geld- und Freiheitsstrafen von bis zu sechs Jahren vor. In einem Gutachten vom Juni 2016 stellt die Venedig-Kommission des Europarats fest, dass die Gesetzgebung mehrfach gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Auch das Europäische Parlament hat Russland in einer Resolution aufgerufen, die Gesetzgebung wieder rückgängig zu machen. Tatsächlich wurden die Strafen in den vergangenen Jahren verschärft und der Gültigkeitsbereich des Gesetzes ausgeweitet: Inzwischen dürfen russische Staatsbürger auch im Ausland nicht mehr mit „unerwünschten Organisationen“ kooperieren.

    2. Ende Mai 2021 wurden drei deutsche NGO’s zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt: DRA, Libmod und das Forum der russischsprachigen Europäer. Was für Organisationen sind das? Welche Projekte haben sie in Russland realisiert?

    Der Deutsch-Russische Austausch (DRA) ist die älteste der drei NGOs und wurde 1992 mit dem Ziel gegründet, die demokratische Entwicklung in Russland zu unterstützen. Seither führte der Verein eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Projekten in Russland sowie in Mittel- und Osteuropa durch, um die Völkerverständigung zu fördern. Seit 2014 widmet sich der DRA auch der friedlichen Überwindung des Konflikts in der Ostukraine, insbesondere durch den Aufbau der zivilgesellschaftlichen Plattform CivilM+
    Das Forum der russischsprachigen Europäer in Deutschland wurde im Jahr 2017 von dem Politologen und Soziologen Igor Eidman gegründet, dem Cousin des 2015 ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Wie der Name des Vereins schon sagt, richtet er sich vor allem an russischsprachige Menschen in Deutschland. Das Forum wehrt sich dagegen, dass „Putins Russland“ stellvertretend für alle Russen spricht, es will den „Vormarsch des Putinismus nach Europa“ stoppen. 
    Das Zentrum Liberale Moderne (Libmod) wurde 2017 vom ehemaligen Ko-Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks und der langjährigen Osteuropapolitikerin der Grünen im Bundestag Marieluise Beck gegründet. Libmod versteht sich als „unabhängige Denkwerkstatt, ein Debattenforum und ein Projektbüro“, das sich der Krise der liberalen Demokratie annimmt. Russland ist zwar nur einer der Schwerpunkte des Zentrums, aber sicherlich ein zentraler, da der „Kreml als Hauptquartier der antiliberalen Internationalen“ angesehen wird. Projekte mit russischen zivilgesellschaftlichen Akteuren widmen sich Themen wie Freiheit im Internet, dem Erbe von Andrej Sacharow, dem Klimawandel und der Abhängigkeit Russlands von fossilen Rohstoffen, Menschenrechten und den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. 

    3. Wo liegt der Unterschied zwischen diesen Organisationen?

    Vor allem gibt es einige Gemeinsamkeiten. Zum einen ist dies eine klare Werteorientierung hinsichtlich liberaler Demokratie, Menschenrechten und dem Völkerrecht. Zweitens ist dies eine Haltung, die den zivilgesellschaftlichen Akteuren das Primat zuspricht, selbstbestimmt und unabhängig von Wirtschaft und Staat zu entscheiden, mit wem kooperiert wird. Die Organisationen weigern sich also, Russland mit Putins Russland gleichzusetzen. Drittens weigern sich alle drei NGOs, das deutsch-russische Verhältnis als Sonderbeziehung zu betrachten, das auf dem Rücken der mittel- und osteuropäischen Staaten ausgetragen werden kann. Seit der Krim-Annexion spielt hier das Verhältnis zur Ukraine eine herausragende Rolle. Viertens waren alle drei deutschen NGOs in Projekten mit russischen Organisationen involviert, die in Russland als „ausländische Agenten“ eingestuft sind. Und fünftens haben alle drei in unterschiedlichem Ausmaß Fördergelder des Auswärtigen Amts für die Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland bezogen. 
    Zu den Unterschieden: Das Forum sticht etwas heraus, da es am wenigsten Projekte durchführt und vor allem auf die Vernetzung und Kommunikation von russischsprachigen Menschen in Deutschland – etwa auf Facebook – abzielt. Zudem setzen sich das Forum und Libmod vom DRA ab, indem sie deutlich politischer agieren und auch russische Oppositionspolitiker in Veranstaltungen mit einbeziehen. So traten etwa bei einer Veranstaltung des Forums Sergej Dawidis und Wladimir Kara-Mursa auf. Libmod kooperiert mit Michail Chodorkowski und Open Russia, auch Wladimir Kara-Mursa tritt als Sprecher bei Diskussionen auf. 

    4. Es gab bisher schon rund 30 NGO’s, die in Russland als „unerwünscht“ galten, bisher war darunter nur eine deutsche. Ist diese Entscheidung, nun auch weitere deutsche Organisationen als „unerwünscht“ zu erklären, mit irgendwelchen Problemen in den deutsch-russischen Beziehungen verbunden?

    Die deutsch-russischen Beziehungen haben sich im vergangenen Jahrzehnt rapide verschlechtert. Die Krim-Annexion und Russlands Krieg in der Ostukraine markierten nach der Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt im Jahr 2012 und der damit endgültig gescheiterten Modernisierungspartnerschaft einen Wendepunkt und das Ende der Sonderbeziehungen. Deutschland setzte sich für Sanktionen gegen Russland ein, zeigte sich mit dem Normandie-Format aber auch bemüht um Dialog und Konfliktlösung, und der Ausbau der zivilgesellschaftlichen Kontakte blieb weiterhin ein wichtiger Pfeiler der bilateralen Beziehungen. Mit der Zeit wurde es aber immer schwieriger, Konflikt und Kooperation auseinanderzuhalten. 
    2017 forderten einige Duma-Abgeordnete im Zusammenhang mit der Gedenkrede eines russischen Jungen im Bundestag, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung zur „unerwünschten Organisation“ erklärt werden sollte. 2018 wurde im Vorfeld der Präsidentschaftswahl die von der Berliner NGO Europäischer Austausch geführte European Platform for Democratic Elections (EPDE) als erste deutsche NGO zur „unerwünschten Organisation“ in Russland erklärt. Dies geschah offensichtlich für die Kooperation mit der unabhängigen Wahlbeobachtungsorganisation Golos, die in Russland als „ausländischer Agent“ gelistet ist. 2019 forderte der Duma-Ausschuss für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands, dass der Deutschen Welle die russische Lizenz für angebliche „Aufrufe zu nicht genehmigten Demonstrationen“ auf Twitter und für die „Rechtfertigung von Extremismus“ entzogen werden sollte. 
    Die Behandlung von Alexej Nawalny in der Berliner Charité nach seiner Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok im Jahr 2020 markierte einen weiteren Tiefpunkt in den Beziehungen. Außenminister Lawrow behauptete sogar, dass Nawalny möglicherweise in Deutschland oder auf dem Weg dorthin im Flugzeug vergiftet worden sein könnte. Im April 2021 belegte Moskau den Leiter der Berliner Staatsanwaltschaft Jörg Raupach mit einer Einreisesperre. Die offizielle Sicht des russischen Außenministeriums: Deutschland nutze Nawalny, um sich in die „inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen“ und um „seine außenpolitischen Ambitionen innerhalb der NATO und der EU“ zu realisieren. Insbesondere vor der Dumawahl im September 2021 wolle Deutschland einen „destabilisierenden Einfluss auf die innenpolitische Lage in Russland“ nehmen. 

    5. Warum wurden aus den zahlreichen deutschen NGO’s, die in Russland tätig sind, ausgerechnet diese drei ausgewählt?

    Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Vertreter der deutschen Organisationen können selbst nur spekulieren, was der Grund gewesen sein mag, wirkliche Anzeichen gab es dafür nicht. Vermutlich ist diese Verunsicherung über den Anlass gerade eine der wichtigsten Absichten: Andere zivilgesellschaftliche Organisationen sollen abgeschreckt werden mit dem Ziel, dass diese sich selbst zensieren oder ihr Verhalten konformer gestalten. Die offizielle Begründung der russischen Staatsanwaltschaft ist, dass diese Organisationen eine „Gefahr für die Verfassungsordnung und die Sicherheit“ Russlands darstellen. Wassili Piskarjow, Vorsitzender des Duma-Ausschusses für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands, warf den drei deutschen NGOs sowie der Heinrich-Böll-Stiftung bei einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter Géza Andreas von Geyr im April 2021 vor, dass diese unter Beobachtung des Ausschusses stünden, weil sie terroristische Tätigkeiten rechtfertigten, sich russischen Projekten im Rohstoff- und Energiesektor entgegenstellten, nationalistische und separatistische Stimmungen beförderten, „nichttraditionelle Werte“ in der Jugend propagierten, Russlands Kampf gegen das Coronavirus diskreditierten und die russische Geschichte verzerrten, insbesondere die Ereignisse im Großen Vaterländischen Krieg
    Da die russische Staatsanwaltschaft keine Begründung für die Einstufung der NGOs gibt, kann erstens keine sichere Aussage getroffen werden, welcher der genannten Gründe für die einzelnen NGOs ausschlaggebend war und zweitens, warum die Heinrich-Böll-Stiftung als einzige der genannten nicht als „unerwünschte Organisation“ eingestuft wurde. 

    6. Bleibt es nur bei diesen „Unerwünschten“? Oder kommen noch weitere deutsche NGO’s auf die Liste?

    Aus mehreren Gründen ist zu befürchten, dass diese NGOs nicht die einzigen deutschen „unerwünschten Organisationen“ bleiben werden. Dies hat zum einen mit den sich sukzessive verschlechternden deutsch-russischen Beziehungen zu tun, hier ist in nächster Zeit keine Trendwende in Sicht. Zum anderen liegt dies auch in der bürokratischen Logik des Regimes begründet. Die Rolle des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB ist in den letzten Jahren gewachsen, sowohl im Föderationsrat als auch in der Staatsduma gibt es Ausschüsse, die sich mit ausländischer Einflussnahme in innere Angelegenheiten befassen. Ist diese Maschinerie erst einmal in Gang gebracht, so ist sie nicht nur schwer zu bremsen, sie muss auch immer neue Gefahren „produzieren“, die sie „neutralisieren“ kann. Dies ist auch der Grund, warum die Gesetzgebung über „unerwünschte Organisationen“ verschärft wurde. Im Umkehrschluss heißt dies, dass das, was deutsche NGOs tun und mit wem sie kooperieren, kein hinreichender Grund ist, um als „unerwünscht“ erklärt zu werden: Kalkulierte Willkür der russischen Behörden spielt hier eine entscheidende Rolle. 

    7. Alles nur Willkür, oder lassen sich gewisse Muster ableiten?

    Ja, Muster gibt es. Diese sind erstens Perioden vor und während Wahlen – wie die Präsidentschaftswahl 2018, die Moskauer Stadtdumawahl 2019 oder die Dumawahl 2021 –, die besonders riskant sind. Zweitens sind offenbar insbesondere solche zivilgesellschaftlichen Organisationen gefährdet, die mit anderen Organisationen kooperieren, die in Russland als „unerwünscht“ gelten oder in der Liste der „ausländischen Agenten“ geführt werden. 
    Drittens scheinen (zumindest bisher noch) deutsche politische Stiftungen (wie die Böll-Stiftung) besser geschützt als zivilgesellschaftliche Organisationen. Wie eine Sendung im russischen Militärkanal Swesda vom Mai 2021 zeigt, werden diese aber von Hardlinern als Handlanger der deutschen Geheimdienste gesehen, und es wird außerdem darauf verwiesen, dass sie in Ländern wie Belarus keine Länderbüros mehr haben. Zudem scheint es, viertens, bestimmte Themen zu geben, die von den russischen Sicherheitsorganen als besonders heikel betrachtet werden. Hierzu gehören etwa Wahlen und Wahlbeobachtung, Proteste und nicht-systemische Opposition, Menschenrechte, Sanktionen, oder auch Energiepolitik wie etwa Gas (Nord Stream 2) . Zu weiteren heiklen Themenfeldern gehören auch Gender, der Nordkaukasus, die Ukraine (insbesondere die Krim), als „terroristisch“ oder „extremistisch“ eingestuften Organisationen sowie Geschichtspolitik. 

    8. Welche Konsequenzen hat diese Entscheidung für die deutsch-russischen Beziehungen?

    Konkret hatte dies erst einmal zwei Folgen: Zum einen waren die drei NGOs gezwungen, jegliche bilateralen Projekte und formalen Geschäftsbeziehungen zu beenden, um die russischen Partner keiner strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen. Zum anderen wurde eine Vorstandssitzung des Petersburger Dialogs abgesagt, die für den 8. und 9. Juli in Moskau angesetzt war. Sollten insbesondere der Deutsch-Russische Austausch und das Zentrum Liberale Moderne „unerwünscht“ bleiben, – beide sind Mitglieder des Petersburger Dialogs – so ist eine Fortführung des Petersburger Dialogs in derzeitiger Form nicht mehr denkbar, da für die deutsche Seite eine Trennung in „erwünschte“ und „unerwünschte“ Organisationen nicht akzeptabel ist. Möglich ist auch, dass Mitglieder der NGOs mit Einreisesperren nach Russland belegt werden, wie etwa im Fall der Geschäftsführerin des Europäischen Austauschs Stefanie Schiffer, die nach der Listung der European Platform for Democratic Elections seit 2018 kein Visum mehr bekommt. 

    9. Es geht dabei also auch um eine Wirkung nach außen?

    Insgesamt richtet sich die Listung auch gegen die Bundesregierung und vor allem gegen das Auswärtige Amt, das seit 2014 mit seinem Programm zum Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland Projekte des DRA, Libmod und des Forums unterstützt. Die russische Gesetzgebung über „unerwünschte Organisationen“ trägt also nicht einfach zur weiteren Isolierung der russischen Zivilgesellschaft bei, sie hat auch extraterritoriale Wirkung: Sie durchkreuzt die deutsche Strategie, zivilgesellschaftliche Kooperation mit russischen Akteuren außerhalb von Russland zu fördern, etwa bei Seminaren in Berlin. Zudem wird es immer schwieriger, russische Partner in überregionale Projekte einzubinden, etwa mit NGOs aus den Ländern der östlichen Partnerschaft. Nicht zuletzt stellt die Gesetzgebung die deutsche Zivilgesellschaft vor die Wahl, inwieweit sie bereit ist, sich selbst zu zensieren, um weitere Projekte mit Russland durchführen zu können. 
    Letztendlich führt die russische Gesetzgebung der Bundesregierung die Widersprüchlichkeit der deutschen Russlandpolitik vor Augen: Russland mit Sanktionen zu belegen und die Resilienz der EU zu stärken, gleichzeitig aber den zivilgesellschaftlichen Austausch fördern zu wollen, wird immer schwieriger. Vor allem aber ist die vom Kreml unabhängige russische Zivilgesellschaft die Hauptleidtragende. Denn selbst wenn keine weiteren deutschen Organisationen mehr als „unerwünscht“ bezeichnet werden, wird die Luft für sie durch andere repressive Gesetzgebung über „ausländische Agenten“ oder die Einschränkung der Bildungstätigkeit immer dünner. 

    Autor: Fabian Burkhardt
    Veröffentlicht am 15.07.2021

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  • Technokratie

    Technokratie

    Wenn in den letzten Jahren neue Gouverneure, Regierungsmitglieder oder Beamte in der Präsidialverwaltung ernannt wurden, dann war immer wieder von sogenannten „jungen Technokraten“ die Rede.1 Während manche Beobachter darüber witzeln, dass die neue Technokratenriege aus der Retorte käme, versteigen sich die anderen schon dazu, von einem Elitenwandel zu sprechen. Heißt dies nun, dass Russland auf dem Weg zu einer Technokratie ist? Und was würde das für die Wirtschaftspolitik des Landes und die Stabilität des autoritären Regimes als Ganzes bedeuten?

    Russlands Technokraten, die sich so ähnlich sehen, dass sie sicher – so wird gescherzt – aus einem geheimen Kreml-Labor stammen / Quelle unbekannt
    Russlands Technokraten, die sich so ähnlich sehen, dass sie sicher – so wird gescherzt – aus einem geheimen Kreml-Labor stammen / Quelle unbekannt

    Im allgemeinsprachlichen Gebrauch scheint die Bedeutung klar zu sein: Als Technokraten werden vor allem Politmanager bezeichnet. Sie haben keinen parteipolitischen Hintergrund und sind durch ihre oft ökonomisch geprägten Fachausbildungen vor allem an pragmatischer Modernisierung und wirtschaftlichem Fortschritt interessiert. Damit unterscheiden sie sich einerseits von den auf Kontrolle versessenen Silowiki und andererseits von den als dogmatisch geltenden neokonservativen Ideologen. 

    Die Politikwissenschaft stuft eine technokratische Regierung im engeren Sinne als direkten Gegensatz zu Parteienregierungen ein. Ein technokratischer Minister hat demnach zuvor kein öffentliches Amt im Namen einer Partei innegehabt, er ist kein Parteimitglied und gilt als ein unparteiischer Experte. Gerade diese Eigenschaften bringen ihm auch das Regierungsmandat ein.2

    In europäischen Demokratien kommt es vor allem nach politischen Skandalen und ökonomischen Rezessionen zu technokratischen Regierungen. Wenn Parteienregierungen vorzeitig aufgelöst werden oder politische Blockaden nach Wahlen eine Koalitionsregierung verhindern, dann treten Technokratenregierungen oft als eine Art Allheilmittel auf den Plan.3 Die Kernelemente von Parteienregierungen der repräsentativen Demokratie bestehen unter anderem aus Konsensbildung und aus der Bereitschaft, auf Wähler einzugehen und vor ihnen Rechenschaft abzulegen. Demgegenüber zeichnen sich Technokraten vordergründig durch fachliche Expertise aus, ihre Unabhängigkeit von Parteien oder Lobbygruppen soll zudem ebenfalls bestmögliche Politikergebnisse liefern, die wiederum technisch rational begründet werden.

    „Rote“ versus „Experten“

    Ideengeschichtlich lässt sich die Technokratie mindestens auf die Zeit der Aufklärung mit ihrem ausgeprägten Wissenschafts- und Technologieglauben zurückführen. Dabei war dieser nicht auf die industrialisierten Länder des Westens beschränkt. Lenin hatte 1920 die Parole ausgegeben, dass Kommunismus Sowjetmacht plus Elektrifizierung sei. Gerade in den 1920er Jahren habe die junge Sowjetunion einen „technokratischen Eifer“4 an den Tag gelegt, der mit der Innovationsbegeisterung im England Mitte des 18. Jahrhunderts zu vergleichen sei, so der Soziologe Reinhard Bendix. 
    In der Tat zeigen Studien, dass sich nach der Oktoberrevolution 1917 eine neue technisch-naturwissenschaftlich ausgebildete Elite in der Zivilverwaltung herauszubilden begann, ohne dass jemals eine Technokratie etabliert wurde.5 In der Literatur wird der Widerspruch zwischen kommunistischer Ideologie und Modernisierungsansprüchen plakativ als Konflikt zwischen „Roten“ und „Experten“6 dargestellt.

    Im Unterschied zu stabilen Demokratien bergen technokratische Elemente für totalitäre und post-totalitäre Regime wie die Sowjetunion eine Destabilisierungsgefahr. Die Etablierung einer Technokratie in der UdSSR hätte bedeutet, dass die Herrschaft letztendlich an technisch versierte Experten übergegangen wäre, die Politik und Wirtschaft wissenschaftlich und „rational“ steuern. Dies hätte wiederum das Herrschafts- und Gewaltmonopol der Partei vollständig untergraben.7 So lässt sich erklären, warum viele führende Forscher der Sowjetunion als Gefahr für die Regimestabilität wahrgenommen wurden und dem Großen Terror zum Opfer fielen. Oder warum die im Weltraum- und Atomprogramm tätigen Größen wie Sergej Koroljow und Andrej Sacharow zumindest zeitweise in Lagerhaft oder in der Verbannung waren.

    Junge Reformer

    Doch ein solch komplexes politökonomisches System wie die Sowjetunion war auf Expertise angewiesen, und so ist es wenig verwunderlich, dass in der Staatsverwaltung auf Technokraten gesetzt wurde, insbesondere in Krisenzeiten. Während der Perestroika nahm zum Beispiel der technokratische Premierminister Nikolai Ryshkow eine führende Position im Staat ein, er regierte als eine Art technokratisches alter ego des Generalsekretärs Gorbatschow8.

    Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam im Russland der frühen 1990er Jahre eine neue Generation von jungen Reformern um Jegor Gaidar an die Macht, die vorwiegend mathematisch und wirtschaftswissenschaftlich geprägt war und eine technokratische Sicht auf die Politik vertrat. Charakteristisch hierfür etwa ist ein Zitat von Alexej Uljukajew aus dem Jahr 1995: „Die wichtigste Frage jeder Evolution ist die Abgrenzung der Macht: Wie können Entscheidungen kompetent getroffen werden, sodass diese nur von Wissen und Erfahrung abhängen, nicht jedoch von Abstimmungsergebnissen?“9

    „Mentalität“ des Technokraten

    Für gewöhnlich werden Bürokraten wie der Vorsitzende des Rechnungshofes Alexej Kudrin, Sparkassenvorsitzender German Gref, Zentralbankchefin Elwira Nabiullina, Finanzminister Anton Siluanow, Wirtschaftsminister Maxim Oreschkin oder der stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Sergej Kirijenko als Technokraten bezeichnet. Sie stehen für wirtschaftsliberale Politikansätze, die vor allem der makroökonomischen Stabilisierung dienen sollen.

    Politische und bürgerliche Freiheitsrechte spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Eine technokratische Geisteshaltung lehnt viele Elemente ab, die im Kern zum politischen Liberalismus gehören. Zur „Mentalität“10 des Technokraten gehören etwa, dass technisch-wissenschaftliche Lösungen Politik ersetzen sollen. Technokraten vertreten eine Grundskepsis gegenüber politischen Institutionen wie Parteien und Parlamenten sowie gegenüber der Offenheit und Gleichberechtigung der repräsentativen Demokratie. Technokraten glauben außerdem, dass soziale und politische Konflikte sowie Meinungsverschiedenheiten schädlich sind, weil sie vor allem der Unwissenheit geschuldet seien. Sie haben aus Prinzip eine Abneigung gegen moralisierende oder ideologisierende Debatten: Die Lösung von Problemen soll demnach in den verschiedenen Politikfeldern vor allem durch pragmatische und praktische Ansätze erfolgen. Insgesamt sei technischer Fortschritt und materielle Produktivität weitaus wichtiger als soziale Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit.

    Techno-Optimismus

    Vor diesem Hintergrund ist auch die Begeisterung nachvollziehbar, mit der viele russische Politiker derzeit von neuen Technologien im IT-Bereich sprechen. Viele von ihnen sehen darin auch eine Lösung für den anhaltenden Reformstau in vielen Politikfeldern. Selbst Putin, der vor einigen Jahren noch behauptete, kein Internet zu nutzen, leide nun inzwischen an der „digitalen Krankheit“, witzeln einige Beobachter. In der Tat sprechen der Präsident und seine Berater zusehends öfter von blockchain, neuronalen Netzwerken, Algorithmen, maschinellem Lernen, Automatisierung und Arbeiten in der cloud.

    Fortschritte in diesem Bereich sollen nicht nur der Wirtschaft zu Gute kommen, sondern auch das Gerichtswesen und die Staatsverwaltung effizienter machen. Der „Staat als Plattform“11 etwa ist eine der zentralen Reformempfehlungen des Zentrums für Strategische Entwicklung (CSR), dessen Ratsvorsitz Alexej Kudrin innehat. Die Grundidee dabei ist, dass die vom Staat erhobenen Daten digitalisiert und zentral abgespeichert werden. Die Analyse großer Datenmengen soll dann automatisiert erfolgen. Dadurch, so die Überlegung, können gesetzliche Regulierungen und Beamtenschaft abgebaut werden, was nicht nur staatliche Leistungen schneller und effizienter mache, sondern gleichzeitig auch institutionelle Anreize schaffe, mit denen korrupte Praktiken abgebaut werden können.

    Diese Form von Techno-Optimismus ist nicht nur für Teile der bürokratischen Elite, sondern auch für die russische Gesellschaft charakteristisch: Laut Umfragen des Eurobarometers ist Techno-Optimismus in Russland und in anderen postkommunistischen Staaten deutlich häufiger anzutreffen als in Westeuropa. Je geringer das zwischenmenschliche Vertrauen und das Vertrauen in politische und staatliche Institutionen ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass geglaubt wird, mit Wissenschaft und Technik alle Probleme der Menschheit lösen zu können12. Dazu gehören zum Beispiel auch Richter-Roboter, von denen sich die Bürger gerechtere Urteile erhoffen.

    Innovationsstau trotz Techno-Optimismus

    Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum Russland es trotz zahlreicher Technokraten in Regierungsverantwortung, großem Techno-Optimismus und auch Erfindergeist in der Gesellschaft und in Unternehmern nicht schafft, die Volkswirtschaft zu modernisieren. Und warum Russland selbst im Vergleich zu anderen autoritären Regimen wie China technisch immer weiter an Boden verliert. Der MIT-Professor Loren Graham bringt dieses Dilemma in seinem Buch Lonely Ideas13 auf den Punkt: Zwar seien Russen bei „Erfindungen“ erfolgreich, hätten es aber auch in historischer Perspektive selten geschafft, diese in „Innovationen“ zu transformieren. Dazu, so Graham, wäre ein institutionelles Umfeld nötig, das auf demokratischen Entscheidungsprozessen, freier Marktwirtschaft, Wettbewerb und einem Rechtsstaat beruhe. 

    Dies, so zeigt die Geschichte Russlands, würde aber vor allem die Macht der herrschenden Elite untergraben. Der jüngste Versuch, den Instant-Messaging-Dienst Telegram in Russland zu blockieren, hat erneut demonstriert, welche Richtung die Digitalisierung in Russlands „techno-bürokratischem Autoritarismus“14 einschlägt: Neue Technologien sollen zuallererst unter der Aufsicht des Staates bleiben, unkontrollierte kreative Energie wie die von Pawel Durow wird dabei erstickt oder ins Ausland gedrängt. Mitverantwortung tragen hier aber nicht nur die Silowiki, sondern eben auch jene Technokraten, deren Weltsicht sich allzu sehr gegen politische Reformen sträubt. 


    1. Burkhardt, Fabian/Kluge, Janis (2017): Generalprobe für Russlands Präsidentschaftswahlen: Moskau stärkt seine Kontrolle über Gouverneure und regionale Finanzen, in: SWP-Aktuell 2017/A 66 ↩︎
    2. McDonnell, Duncan/Valbruzzi, Marco (2014): Defining and classifying technocrat‐led and technocratic governments, in: European Journal of Political Research 53(4), S. 654-671 ↩︎
    3. Wratil, Christopher/Pastorella, Giulia (2018): Dodging the bullet: How crises trigger technocrat‐led governments, in: European Journal of Political Research 57(2), S. 450-472 ↩︎
    4. Bendix, Reinhard (1977): Nation-building and citizenship: Studies of our changing social order, University of California Press, S. 186 ↩︎
    5. Rowney, Don K. (1989): Transition to Technocracy: The Structural Origins of the Soviet Administrative State, Cornell University Press ↩︎
    6. Bailes, Kendall E. (1974): The politics of technology: Stalin and technocratic thinking among Soviet engineers, in: The American Historical Review 79(2), S. 445-469 ↩︎
    7. Moore, Barrington (1954): Terror and Progress USSR: Some sources of change and stability in the Soviet Dictatorship, Harvard University Press, S. 189 ↩︎
    8. Bialer, Seweryn/Afferica, Joan (1985): The Genesis of Gorbachev’s World, in: Foreign Affairs 64(3), S. 605-644 ↩︎
    9. zit. nach Gel’man, Vladimir (2018): Politics versus Policy: Technocratic Traps of Russia’s Policy Reforms, in: Russian Politics 3(2), S. 283 ↩︎
    10. Putnam, Robert D. (1977): Elite transformation in advanced industrial societies: An empirical assessment of the theory of technocracy, in: Comparative Political Studies 10(3), S. 383-412 ↩︎
    11. csr.ru: Cifrovaja Transformacija Gosudarstva: Grazhdanin i Gosudarstvo v Novoj Cifrovoj Real’nosti ↩︎
    12. So die Fragen, die Respondenten bei den Umfragen gestellt werden. Meduza: Segodnja Prezident – ne političeskij, a sakral’nyj institut: Interv’ju Sociologa Viktora Vachštajna – o tom, komu doverjajut Rossijane ↩︎
    13. Graham, Loren (2013): Lonely ideas: can Russia compete?, MIT Press ↩︎
    14. Burkhardt, Fabian (2016): Ordnung der Macht: Die Generation Anton Wainos und Russlands techno-bürokratischer Autoritarismus, in: Russland-Analysen Nr. 322, S. 13-19 ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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    Skolkowo

    Vom Osten lernen

    Präsidialadministration

    Administrative Ressource

    Telegram: Privatsphäre first

    Polittechnologie

  • Präsidialadministration

    Präsidialadministration

    Staraja Ploschtschad – außer dem Kreml ist auch diese Moskauer Adresse das Synonym für politische Macht. Unweit der Kreml-Mauern gelegen, hat das Gebäude an der Staraja Ploschtschad 4 eine bewegte Geschichte: Erbaut 1915, befand sich hier zunächst ein Warenhaus, bevor in den 1920er Jahren das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (ZK) einzog. Heute ist hier einer von drei Standorten der Präsidialadministration. Anders als das ZK hat die Präsidialadministration kein verfassungsmäßiges Recht auf das Machtmonopol im Land. Dennoch wird sie wegen ihrer informellen enormen Machtfülle häufig mit dem ZK verglichen.

    Die Präsidialadministration (PA) wird laut russischer Verfassung vom Präsidenten gebildet. Dieser regelt durch seine Ukase (dt. Dekrete) die genaue Struktur der Behörde, die Ausgestaltung ihrer Kompetenzen und die personelle Besetzung. 

    Die mehr als 2500 Beschäftigten der PA gehören zu den bestbezahlten Staatsbediensteten in Russland, die Gehaltsstufen sind denen im Militär angepasst. Die wichtigsten Personen sind der Leiter der PA (derzeit Anton Waino), seine beiden Ersten Stellvertreter (Sergej Kirijenko und Alexej Gromow), der Pressesprecher (Dimitri Peskow), die präsidialen Vertreter in den föderalen Staatsorganen und in den Föderalbezirken sowie die Abteilungsleiter und Berater des Präsidenten. 

    Struktur der PA

    Die Struktur der Abteilungen sichert die Ausübung der Kompetenzen ab, die dem Präsidenten formal in der Verfassung zugeschrieben werden. Zu den bedeutendsten gehören: Die Kontrollabteilung, in der 1996 einst Wladimir Putin seine Moskauer Karriere begann und die für die Kontrolle von präsidialen Anweisungen und Gesetzen verantwortlich ist. Sie ist aufgrund weitreichender Kompetenzen zu einem Grundpfeiler der Machtvertikale geworden. 

    Desweiteren gehört die Expertenabteilung dazu, die für die Akquisition von Fachwissen aus Think-Tanks und Universitäten sorgt. Außerdem sind hier zu nennen die Abteilungen für Innen- und Außenpolitik sowie die Abteilung für Staat und Recht (GPU). Diese ist für juristische Fragen, etwa bei Gesetzesentwürfen oder Präsidialerlassen zuständig. Die Leiterin der GPU, Larissa Brytschewa, machte zuletzt im Februar 2014 bei einer Vorlesung in der Staatsduma auf sich aufmerksam, als sie die hohe Geschwindigkeit, in der Gesetze erlassen werden und gleichzeitig die mangelnde juristische Qualität der verabschiedeten Gesetze bemängelte.

    Informelle Macht

    Die Spiegelung vieler Regierungsfunktionen bezeichnet Eugene Huskey als institutionelle Redundanz1. Er deutet damit an, dass, obwohl der Präsident das Staatsoberhaupt, nicht aber Chef der Exekutive ist, die eigentliche exekutive Vorrangstellung dennoch beim Präsidenten liegt. So ist das administrative Gewicht des Leiters der PA, welcher regelmäßig bei Expertenumfragen zu den mächtigsten Politikern gezählt wird, durchaus mit dem des Regierungschefs gleichzusetzen.

    Die informelle, gut belegte und rechtlich in keiner Weise gedeckte Einflussnahme der PA auf Parlament, Parteien, Gerichte, Medien, NGOs und Wirtschaftsunternehmen zeugt davon, dass es sich bei ihr keineswegs nur um ein Hilfsorgan des Präsidenten handelt, sondern um eine mit beträchtlichen Ressourcen ausgestattete Behörde. Ihr Steuerungs- und Kontrollanspruch ist dabei in der politischen Praxis nicht mit Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit vereinbar.


    1. Huskey, E. (1999): Presidential power in Russia (Vol. 1), New York ↩︎

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    „Die Rhetorik derzeit ist komplett putinozentrisch“

    Duma: Masse statt Klasse?

    Sergej Iwanow

    Silowiki

    Rokirowka

    Siebte Legislaturperiode der Staatsduma

  • Siebte Legislaturperiode der Staatsduma

    Siebte Legislaturperiode der Staatsduma

    Am 18. September 2016 fanden die Wahlen zur siebten (Legislaturperiode der) Staatsduma statt. Die Wahlbeteiligung in Höhe von 47,88 Prozent lag auf dem historisch niedrigsten Niveau. Das kann zum einen damit erklärt werden, dass die Wahl vorverlegt wurde und der Wahlkampf somit in die Sommerferien fiel. Zum anderen führte die Regierungspartei Einiges Russland schon am 22. Mai Primaries durch, die vielen Menschen einen erneuten Wahlgang überflüssig erscheinen ließen. Schließlich genießt die Duma ohnehin wenig Vertrauen in der Gesellschaft – und die niedrige Wahlbeteiligung war dafür lediglich eine weitere Bestätigung.

    Der Wechsel des politischen Schwergewichts Wjatscheslaw Wolodin von der Präsidialverwaltung in die Duma kann vor diesem Hintergrund als ein Versuch gesehen werden, das Parlament aufzuwerten. Nach seiner Wahl zum Vorsitzenden zeigt er sich bestrebt, der Duma mehr Unabhängigkeit von Regierung und Präsidialverwaltung zu verschaffen und das Vertrauen der Gesellschaft zurückzugewinnen.

     

    Figur 1: Vertrauenswerte, Quelle: Lewada-Zentrum

    Mandatsverteilung

    Wie von vielen erwartet, ging Einiges Russland als deutlicher Sieger aus der Dumawahl hervor. Obendrein bescherte der nach dem Grabenwahlsystem abgehaltene Urnengang der Machtpartei einen bisher unerreichten Erdrutschsieg. Sie bekam 54,19 Prozent der Stimmen nach der Listenwahl und 79,6 Prozent für Direktkandidaten in den Einerwahlkreisen1. Mit 343 von 450 Mandaten verfügt Einiges Russland (ER) wie schon in den Jahren 2007 bis 2011 nun auch in der siebten Legislaturperiode über eine verfassungsändernde Mehrheit. Im Vergleich zur vorherigen Amtszeit steigerte sie sich sogar um ganze 105 Sitze.

    Dementsprechend erlangten die Oppositionsparteien weniger Stimmen: die KPRF erhielt 42 Mandate (minus 50), die LDPR 39 (minus 17), Gerechtes Russland 23 (minus 41), Heimat, Bürgerplattform und ein Parteiloser jeweils ein Mandat. Die ONF – eine nationalpatriotische Dachorganisation, die Einiges Russland als Kaderreserve dient – brachte etwas über 80 Kandidaten ins Parlament, also weniger als ein Viertel der ER-Abgeordneten. In der vorherigen Legislaturperiode hatten sie mit ebenfalls rund 80 Aktivisten noch ein Drittel ausgemacht2

    Personelle Kontinuität

    Es gibt vergleichsweise wenig neue Gesichter in der neuen Duma: 222 Deputierte aus der jetzigen Duma waren schon in der sechsten Legislaturperiode im Parlament – so viele wie noch nie zuvor (in den vorangegangenen Amtszeiten waren dies jeweils 218, 217, 204, in der dritten Duma ab 1999 gar nur 162 Abgeordnete). Acht Urgesteine waren in allen Dumas seit 1994 vertreten. Die siebte ist somit die erfahrenste Unterkammer in der Geschichte des Parlaments. Allerdings erneuerte sich die Fraktion von Einiges Russland mit 60 Prozent oder 205 Abgeordneten durchschnittlich am stärksten, was dafür spricht, dass bei den Wahlen die Konkurrenz innerhalb der Machtpartei, und nicht zwischen den Parteien, bestimmend war. 

    Soziodemografisches Porträt

    Männlich, Anfang 50, studiert – so sieht der durchschnittliche Duma-Abgeordnete der siebten Legislaturperiode aus.

    Knapp 85 Prozent der 450 Abgeordneten sind männlich, im Vergleich zu den vorherigen Wahlperioden steigerte sich der Frauenanteil leicht. Das Durchschnittsalter beträgt 52 Jahre, damit ist die Duma etwas gealtert.

    80 Abgeordnete begannen ihre Berufskarriere als Arbeiter, 58 waren im Bildungsbereich tätig, 35 können den Silowiki zugerechnet werden. 33 Abgeordnete starteten ihre Laufbahn als Unternehmer: Deren Anteil sank im Vergleich zur vorherigen Amtsperiode um gut ein Drittel. Mit 26 Ingenieuren, 25 Ärzten, 24 Journalisten und 20 Sportlern (davon 12 Olympiasieger) steigerten vier Berufsgruppen ihre Präsenz in der Duma.

    443 Abgeordnete verfügen über einen Hochschulabschluss, in der dritten Duma ab 1999 waren dies nur 298. Mit 128 Deputierten überwiegen technische Ausbildungen deutlich, 107 verfügen über ein Diplom in den Wirtschaftswissenschaften, 95 in Jura, 70 in der Staatsverwaltung, 50 dürfen sich Pädagogen nennen, 35 Berufsmilitärs und 24 Ärzte schließen das Bildungsspektrum nach unten ab. 127 Abgeordnete tragen den Titel kandidat nauk (vergleichbar mit dem Doktortitel), 60 Volksvertreter habilitierten sich als doktor nauk.3

    Insgesamt 61 Abgeordnete sind Unternehmer. Basierend auf den offiziellen Einkommenserklärungen konnte RBC4errechnen, dass das Durchschnittseinkommen aller Parlamentarier im Jahr 2015 bei 16 Millionen Rubel [etwa 260.000 Euro – dek] lag. Ein Abgeordneter hatte laut der Untersuchung im Schnitt 11 Millionen Rubel [etwa 180.000 Euro – dek] auf dem Konto deponiert. Bemerkenswerterweise sind die Deputierten der siebten Legislaturperiode offiziell weniger vermögend als deren Vorgänger in der sechsten Amtszeit: Damals beliefen sich die Durchschnittswerte auf 30,3 Millionen Rubel [etwa 493.000 Euro – dek] Einkommen und 128,7 Millionen Rubel [etwa 2 Millionen Euro – dek] Ersparnisse.

    Die Unterschiede zwischen den Abgeordneten sind allerdings genauso enorm wie die zwischen deklariertem Einkommen und tatsächlichem Vermögen: Der Unternehmer und Milliardär Alexander Skorobogatko5 war mit 745 Millionen Rubel [etwa 12,1 Millionen Euro – dek] Jahreseinkommen lediglich auf Platz vier in der Duma-Rangliste. Mit einem geschätzten Vermögen von 2,3 Milliarden US-Dollar wird er von Forbes jedoch auf Platz 40 der reichsten Russen eingestuft. 

    Wolodins Legislative – „starke Abgeordnete, starke Duma“? 

    Wjatscheslaw Wolodin hatte noch in seiner Funktion als stellvertretender Leiter der Präsidialadministration für Einiges Russland Wahlkampf betrieben. Am 5. Oktober 2016 wurde er zum Vorsitzenden der neuen Duma gewählt. Damit löste er Sergej Naryschkin ab, der zum Direktor des Auslandsgeheimdienstes SWR ernannt wurde. Weitere wichtige Posten haben die zwei ersten stellvertretenden Duma-Vorsitzenden und die sechs einfachen stellvertretenden Vorsitzenden inne, bei denen – wie auch im Fall der 26 Ausschussvorsitzenden – die systemischen Oppositionsfraktionen mit einem Anteil von 50 Prozent „übervorteilt“ wurden. Dies soll ein besseres vorläufiges Zusammenspiel dieser Fraktionen bei der Gesetzgebung garantieren: Jeweils fünf Ausschüsse gingen an die KPRF und Gerechtes Russland, drei an die LDPR.

    Wolodin ist bekannt für seinen hierarchischen, bürokratisch-administrativen Führungsstil. Vieles spricht dafür, dass er diesen auch in der Duma beibehalten wird. So besetzte er vier von fünf Führungspositionen des Duma-Verwaltungsapparates6 neu, drei seiner ehemaligen Untergebenen wechselten im Oktober von der Staraja Ploschtschad in den Ochotny Rjad. Gleichzeitig schränkte Wolodin den Zugang für Präsidialverwaltungs-Mitarbeiter der Abteilung „Innenpolitik“ zum Dumagebäude ein. Insgesamt versucht er, seine Machtvertikale als Duma-Vorsitzender auszubauen, aber auch die Unabhängigkeit der Duma von Regierung und Präsidialverwaltung zu steigern.

    Zu diesem Zweck wurden einige formale Änderungen an der Geschäftsordnung der Duma7 vorgenommen: Weil in der Vergangenheit viele Abgeordnete durch häufige Abwesenheit auffielen, besteht bei den Plenarsitzungen nun Anwesenheitspflicht. Da einige Abgeordnete oftmals für ihre Kollegen votierten, sind nun Stimmübertragungen nicht mehr gestattet.


    Gleichzeitig zeigt sich Wolodin um Status und Professionalisierung bemüht: Abgeordneten sollen jetzt sieben anstatt fünf Mitarbeiter zugestanden werden, außerdem sollen Fraktionen zusätzliche Gelder für juristische Gesetzesentwurf-Expertisen erhalten. Einiges Russland führte darüber hinaus Expertenräte ein, die unter anderem allzu wirre Gesetzesentwürfe vor dem Einbringen sichten und filtern sollen, zudem wird die juristische Beratung aller Fraktionen im Duma-Apparat zentral koordiniert. 

    Ab 2017 soll die Staatsfinanzierung für Parteien von 110 auf 152 Rubel [etwa 2,50 Euro – dek] pro erhaltener Stimme angehoben werden, auch bekommen Abgeordnete wieder Zugang zu VIP-Sälen in Flughäfen und Migalki – Blaulichter – nicht unwichtige Statussymbole. Durch eine Änderung ihrer Geschäftsordnung soll die Regierung nun auch dazu verpflichtet werden, Vertreter mindestens im Rang eines Vizeministers in die Duma zu entsenden, wenn von der Regierung initiierte Gesetzesentwürfe in den Ausschüssen debattiert werden. 

    Mehr Einfluss?

    Bisher zielen Wolodins „Reformen“ darauf ab, die Duma weniger abhängig von der Präsidialverwaltung zu machen und gleichzeitig der Regierung – neben dem Präsidenten der wichtigste Initiator von Gesetzen – Einfluss abzuringen. Dies kann dazu beitragen, dass die siebte Duma mehr Eigengewicht in Relation zu den anderen Staatsorganen erlangt und beispielsweise Wirtschaftsinteressen von Regionen stärker berücksichtigt werden.

    Sollte die Duma wieder vermehrt zu einem „Ort für Diskussionen“ werden, dann jedoch zentral von oben moderiert. Bei Kerninteressen des Regimes wie Sicherheits-, Verteidigungs-, Außen- und Rechtsschutzpolitik wird wohl weiterhin schnell und mit überwältigenden Mehrheiten eine einheitliche Front8 demonstriert. Es bleibt also fraglich, ob der eingeschlagene Kurs zu höheren Vertrauenswerten seitens der Gesellschaft beitragen wird.


    1. Hinsichtlich der Wahlergebnisse wurden begründete und überzeugende Hinweise auf Fälschungen vorgebracht, wonach Einiges Russland gegenüber den anderen Parteien bevorteilt und die Wahlbeteiligung nach oben korrigiert wurde. Zudem fanden die Wahlen ebenfalls auf der völkerrechtswidrig annektierten Krim statt, diese sechs Abgeordneten wurden darauf von den USA und Kanada mit Sanktionen belegt. Die Angaben in der Gnose beziehen sich auf die offiziellen Ergebnisse der Zentralen Wahlkommission. ↩︎
    2. vgl. Chaisty, Paul (2013): The Impact of Party Primaries and the All-Russian Popular Front on the Composition of United Russia’s Majority in the Sixth Duma, in: Russian Analytical Digest No. 127, S. 8-12 ↩︎
    3. Eine gute soziodemografische Übersicht bietet traditionell Kommersant, der seit 2000 biografische Angaben aller Abgeordneten sammelt und aufbereitet. ↩︎
    4. Über die Aussagekraft dieser Daten mag diskutiert werden, dennoch ist der Vergleich über Zeit und zwischen den Fraktionen durchaus von Interesse, siehe RBC: Issledovanie RBK: čem bogaty deputaty novoj Gosdumy ↩︎
    5. Alexander Skorobogatko, gab inzwischen sein Mandat auf: vermutlich weil die Zeit- und Arbeitsbelastung zu groß wurde, um gleichzeitig noch die eigenen Geschäfte managen zu können. ↩︎
    6. Gosudarstvennaja Duma: Rukovodstvo Apparata Gosudarstvennoj Dumy ↩︎
    7. Gosudarstvennaja Duma: Reglament Gosudarstvennoj Dumy ↩︎
    8. Intersection: Volodin’s Duma ↩︎


    Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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  • Andrej Beloussow

    Andrej Beloussow

    Russlands neuer Verteidigungsminister Andrej Beloussow ist ein prominentes Beispiel dafür, wie die technokratische Elite Russlands über Systembrüche hinweg ihr Sozialkapital an die nächsten Generationen weitergibt. Beloussows Vater Rem Alexandrowitsch (1926–2008) schloss 1950 die Diplomaten-Kaderschmiede MGIMO ab, arbeitete danach an dem planwirtschaftlichen Lenkungssystem mit und an Reformen zu Effizienzsteigerungen sowjetischer Unternehmen. Später wurde er Wissenschaftler der auf Staatsverwaltung spezialisierten Akademie für Gesellschaftswissenschaften. 

    Damit war die spätere Karriere seines Sohnes Andrej, geboren am 17. März 1959, gewissermaßen vorgezeichnet: Zunächst besuchte er die elitäre Zweite Mathematik- und Physikschule in Moskau.1 Danach studierte und promovierte er an der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Staatlichen Universität. Schon sein früher Bildungsweg weist auf ein prägendes biografisches Merkmal von Beloussow hin: Einerseits profitierte er vom sozialen Milieu seiner Moskauer Nomenklatura-Akademikerfamilie. Andererseits helfen persönliche Beziehungen wenig beim Lösen mathematischer Probleme – ohne Talent und Disziplin hätte er diese Abschlüsse wohl nicht geschafft. Insofern ist die Dichotomie zwischen Kompetenz und Loyalität,2  auf die Wissenschaftler häufig in Bezug auf Putins Personalpolitik verweisen, holzschnittartig: Beloussow hat Regimetreue und Etatismus geradezu mit der Muttermilch eingesogen und sicher auch von Patronage profitiert. Allerdings war es gerade seine Fachexpertise und oft treffgenaue Wirtschaftsprognosen, die seinen Aufstieg beförderten.3 

    Nomenklatura-Putinismus

    Zwischen 1990 und 2006 war Beloussow wissenschaftlicher Mitarbeiter und später Leiter des Labors des Instituts für Wirtschaftsprognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften. Schon Ende der 1990er Jahre war er Wirtschaftsberater der Regierungen Primakow und Stepaschin, mit der Gründung seines eigenen Think Tanks ZMAKP nahm er vermehrt auch an der Ausarbeitung richtungsweisender Planungsdokumente teil, wie der unter der Leitung von German Gref entworfenen Strategie-2010, dessen Vize er 2006 im Wirtschaftsministerium wurde. Zwischen 2008 und 2012 war Beloussow Abteilungsleiter für Wirtschaft und Finanzen im Apparat des Premierministers Wladimir Putin, zu dessen wichtigstem Wirtschaftsberater er zwischen 2013 und 2020 in der Präsidialverwaltung aufstieg.

    Kein eigenes Team, aber ein weitreichendes Elitennetzwerk

    Beloussow wird nachgesagt, dass er kein eigenes Team habe. Und in der Tat: Alle Posten, die er bisher im Staat bekleidete, waren entweder beratender oder koordinierender Natur. Dadurch hatte er keinen großen Stab oder gar eine eigene Behörde unter sich. Ebenso gehört er keinem der Clans an, denen Personen aus dem innersten Zirkel Putins vorstehen. Beloussows Mandat hängt allein von Putins Gunst und Vertrauen ab. Gleichzeitig hat sich Beloussow über die Jahrzehnte ein weit verzweigtes Beziehungsnetzwerk aufgebaut, das viele Schlüsselakteure in der Elite und in Staatsunternehmen umfasst.

    Beloussow gilt auch wegen seiner fehlenden Clan-Affiliation als wenig korrupt. Es fehlen Hinweise auf die üblichen Attribute von hochrangigen Staatsdienern wie Luxus-Penthäuser, weitläufige, mit Villen bestückte Grundstücke in teuren Gegenden oder die informelle Kontrolle über Anteile an Unternehmen. Sehr ausgeprägt in Beloussows Umgebung ist allerdings der Nepotismus: Sein Sohn Pawel gründete nach dem Abschluss der Moskauer Technischen Bauman-Universität zusammen mit seiner Frau 2015 das Beratungsunternehmen Claire & Clarté, das unter anderem das Ministerium für Industrie und Handel, Rostec, Roskosmos und Rosatom als Kunden hat. Anfangs waren die Auftragssummen noch gering. Im Jahr 2023 jedoch stieg der Umsatz auf knapp 600 Millionen Rubel, was vor allem auf das Rüstungsunternehmen Rostec zurückzuführen ist.4

    Diese Auftragnehmer gehören zum direkten Einflussbereich Beloussows. Aufgebaut hat er sich diesen Wirkungskreis als Wirtschaftsberater von Putin und Vizepremier. Rostec-Chef Sergej Tschemesow soll etwa sowohl gute Beziehungen zu Putin pflegen wie auch zu Beloussow, für Rosatom und Roskosmos saß Beloussow sogar im Aufsichtsrat. Daneben war er Vorstandsmitglied von Rosneft und der Russischen Eisenbahn RShD.

    Diese Posten boten tiefe Einblicke in staatlich kontrollierte Unternehmen, mit Rosatom und Roskosmos waren dies auch Schlüsselunternehmen der Rüstungsindustrie. Zwischen 2014 und 2020 war Beloussow Mitglied der Kommission für Rüstungsindustrie beim Präsidenten und ab 2022 koordinierte er als Vizepremier das militärische Drohnenprogramm. Gleichzeitig war er als Präsidentenberater einer der informellen Kuratoren der Söldnertruppe Wagner und pflegte enge persönliche Kontakte zu Wagner-Chef Jewgeni Prigoshin.5 Beloussow kannte somit die Rüstungsindustrie schon lange vor seinem Wechsel ins Verteidigungsministerium sehr gut.

    Rüstungsindustrie und atomare Orthodoxie

    Neben seinen weitreichenden Kontakten in die höchsten Staatsebenen und Schlüsselindustrien gibt es einen weiteren Bereich, der eine besondere Rolle in Beloussows Lebenswelt spielt: die Orthodoxie. Beloussow ließ sich 2007 im Alter von 47 Jahren taufen, seither gibt er sich als tiefgläubig orthodox.6 Der russisch-orthodoxe Glaube geht bei ihm über das Private hinaus und markiert die Zugehörigkeit zu Netzwerken, die weit in die Staatsverwaltung, Sicherheitsbehörden und Wirtschaft hineinreichen. Derzeit sind die sogenannte „Athos-Bruderschaft“ und die „Diwejewo-Bruderschaft“7 die bedeutendsten dieser informellen Netzwerke. Zu den Athos-Brüdern, die nach dem im nordöstlichen Griechenland gelegenen Berg Athos und der gleichnamigen Mönchsrepublik benannt ist, werden unter anderem die Rotenberg-Brüder, Wladimir Jakunin, Sergej Tschemesow und Igor Setschin zugerechnet. Nachdem Pilgerfahrten in das NATO-Mitgliedsland Griechenland immer schwieriger wurden, wuchs die Bedeutung des Klosters in Diwejewo, zu deren „Bruderschaft“ Beloussow gehört.8

    Der heutige Pilgerkomplex Arsamas-Diwejewo-Sarow ist nicht nur für die Russisch-Orthodoxe Kirche aufgrund des Heiligen Serafim von Sarow von größter spiritueller Bedeutung. Im Sarow-Kloster war zu Sowjetzeiten das Designbüro KB-11 ansässig, das eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der sowjetischen Atombombe spielte. Und auch heute noch ist das Allrussische Forschungsinstitut für Experimentalphysik in Sarow (früher Arzamas-16) Kernbestandteil des russischen Atomprogramms. 

    Der Aufstieg von Diwejewo begann, als Sergej Kirijenko 2005 zum Rosatom-Chef wurde und das Unternehmen zum Hauptsponsor für die Restaurierung der örtlichen Kirchen machte. Neben Kirijenko und Beloussow zählen auch die Kowaltschuk-Brüder, Premier Mischustin, Vizepremier Tschernyschenko, oder etwa auch der Regisseur Nikita Michalkow zu den Gönnern von Diwejewo. Die Bedeutung der „Diwejewo-Bruderschaft“ liegt also gerade in der Verquickung der Russisch-Orthodoxen Kirche mit der atomaren Rüstungsindustrie. Dieses Phänomen bezeichnete der Militärexperte Dmitry Adamsky als „Russlands nukleare Orthodoxie“9.

    Wirtschaftspolitik und Kriegswirtschaft 

    Die Ernennung Beloussows zum Verteidigungsminister hatte niemand vorhergesehen. Eine der plausibelsten Theorien ist, dass er die vorhandenen Ressourcen angesichts des massiv gestiegenen Militärhaushalts effizienter nutzen soll. Gleichzeitig wird seine Aufgabe sein, die zivile und militärische Integration der Rüstungsproduktion voranzutreiben. Und zwar nicht nur als Mittel, um den Krieg zu gewinnen und Russland langfristig den Status einer militärischen Großmacht zu sichern. Sondern auch, um mithilfe der staatlichen Rüstungsausgaben das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.10 Die Berliner Soziologieprofessorin Katharina Bluhm ordnete Beloussow in der Zeit vor der Vollinvasion als jemanden ein, der ausgiebige staatliche Kontrolle über die Wirtschaft befürwortet.11 Das Bild von Beloussow als derschawnik vertreten auch ehemalige Mitstreiter, die ihn in den 1990er Jahren im Zuge eines intellektuellen Diskussionsklubs über Außenpolitik kennenlernten: Er sei schon damals ein Etatist gewesen, der für einen starken Staat in der Wirtschaftspolitik und außenpolitisch für Russlands Positionierung als Großmacht eintrat.

    Im Gegensatz zu vielen anderen Anhängern des Dirigismus in Russland teile Beloussow laut Bluhm jedoch nicht „die Agenda der illiberalen Konservativen“. Anders als der von Schoigu abgelöste langjährige Sekretär des Sicherheitsrates, Nikolaj Patruschew, setzte er sich beispielsweise nicht dafür ein, zur Mobilisierungswirtschaft überzugehen.  Beloussow steht vielmehr dem sogenannten „militärischen Keynesianismus“ nah. Diese Art der makroökonomischen Politik will die Gesamtnachfrage in der Wirtschaft durch höhere Militärausgaben erhöhen, um mit der so gesteigerten zivilen und militärischen Binnennachfrage das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.12

    Andrej Beloussow und Wladimir Putin bei einem Treffen im Kreml im November 2023 / Foto © Gavriil Grigorov/Russian Presidential Press and Information Office/TASS/imago-images

    Einige Weggefährten beschreiben Beloussow als „progressiven sowjetischen Ökonomen“,13 der die Sowjetunion viel lieber reformiert als kollabiert gesehen hätte. Beloussow selbst äußerte sich jedoch noch im Dezember 2021 ablehnend gegenüber Spekulationen, Russland würde zur ökonomischen Planungsbehörde Gosplan zurückkehren: „In der Sowjetunion war der Gosplan nur die Spitze des Eisbergs. Es war eine sehr verzweigte, schwere, riesige Maschine, die extrem ineffizient arbeitete. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde Gosplan heute wieder einführen wollen“14, sagte der Sohn eines ehemaligen Gosplan-Mitarbeiters 2021 im Interview mit Forbes.

    Ähnlich negativ äußerte er sich nach Beginn der Vollinvasion im Juni 2022 über die Perspektive, Russland in eine Mobilisierungswirtschaft zu transformieren.15 Für die Entwicklung Russlands bevorzugt Beloussow stattdessen eine Methode, die er „situatives Reagieren“ nennt, also kurzfristige Anpassungen und Veränderungen aufgrund von akuten Problemen. Dieses „situative Reagieren“ sei Beloussow zufolge wenig risikobehaftet und würde größere gesellschaftliche Unterstützung genießen, weil es wenig soziale Verwerfungen nach sich ziehe. Vor diesem Hintergrund erklärt sich sein Rezept, das Wirtschaftswachstum durch Binnennachfrage und höhere Staatsausgaben fürs Militär anzukurbeln und dabei günstige Kreditzinsen zu gewährleisten, da es gesellschaftlich wenig disruptiv ist. Mit diesem Zugang will Beloussow größtmögliche technologische Souveränität und die sogenannten nationalen Entwicklungsziele erreichen. 

    Diese hatte Putin in seinem Mai-Ukas 2012 den föderalen und regionalen Exekutiven vorgeschrieben. Seither beschäftigte Beloussow sich damit, diese Ziele zu messen und zu kontrollieren, was ihm das Image eines Buchhalters eingebracht hat. Allerdings bleibt die Umsetzung der nationalen Ziele trotz zunehmender Zentralisierung höchst mangelhaft. Zum einen liegt das an schwachen staatlichen Institutionen, zum anderen verleiten derartige quantitative Indikatoren Behörden dazu, diese zu fälschen, um dem Kreml Loyalität zu signalisieren.16

    Technologische Souveränität als Grundlage der „Staat-Zivilisation“ Russland

    Als Verteidigungsminister ist Beloussow neben dem Präsidenten und dem Generalstabschef eine der drei Personen, die im Besitz eines Atomkoffers sind. Im Gegensatz zu seinen früheren Posten im Staat wurde er plötzlich zu einem der zentralen Entscheidungsträger der russischen Außen- und Sicherheitspolitik. Dennoch ist Beloussow keineswegs ein unbedarfter Neuling auf diesem Gebiet, er bringt ein ausgeprägtes Weltbild mit ins neue Amt. So soll er etwa als einziger hochrangiger Wirtschaftsexperte aus dem Umfeld Putins die Annexion der Krim befürwortet haben und versicherte Putin, dass die russische Wirtschaft den Sanktionsschock gut abfedern könne.17 Seine Grundüberzeugung ist deswegen auch, dass Russlands Lage sich „kardinal“ und „langfristig“ aufgrund von tektonischen Verschiebungen in der Weltpolitik verändert, was entsprechende Anpassungen vonnöten macht. Russland versteht er dabei nicht als Nationalstaat, sondern als eine „Staat-Zivilisation“ (gosudarstwo-ziwilisazija)18, also eine eigene Zivilisation mit einer eigenen Subjektivität und einem eigenen kulturellen Code. Dabei sieht er Russland keineswegs in absoluter Gegnerschaft zu Europa, sondern als Hüterin der gemeinsamen traditionellen, konservativen Werte, von denen sich der Westen immer weiter verabschiede. Die Grundvoraussetzung einer Zivilisation mit eigener Sinnhaftigkeit sieht Beloussow in der Souveränität, die nur wenige Staaten wie die USA, China, Indien und auch Russland besitzen. Nur Souveränität könne ein Überleben in der multipolaren Welt garantieren. Beloussow war eine der treibenden Kräfte hinter der nationalen Strategie zur Erreichung der technologischen Souveränität bis 2030, die die Regierung am 25. Mai 2023 verabschiedete. Nur durch Souveränität können Beloussow zufolge Russlands nationale Entwicklungsziele erreicht werden. 

    Wie wirkmächtig dieses Konzept und somit auch Beloussows Denkweise ist, lässt sich auch daran erkennen, dass Souveränität in Bezug auf Wirtschaft, Finanzen, Kader und Technologie ein zentraler Begriff in Putins Ansprachen an die Nation der Jahre 2023 und 2024 war. In Beloussows Weltsicht ist die Wende Russlands nach Osten und Süden nur konsequent und auch keineswegs eine neue Idee. Sein Vater Rem war schon in den 1970er und 1980er Jahren als Wirtschaftsberater in Südostasien unterwegs. Juri Jarjomenko, einer seiner wichtigsten Mentoren in der Sowjetzeit, zitierte häufig die konfuzianische Weisheit: „Ein wahrer Mann hat nur zwei Aufgaben: die Natur zu beobachten und dem Staat zu dienen.“19 Im Amt des Verteidigungsministers wird Beloussow wenig Zeit für die Natur haben. Aber er wird dem Staat dienen, obwohl dieser einen Angriffskrieg führt – oder vielleicht gerade deswegen. Bei seiner ersten öffentlichen Rede als Verteidigungsminister sagte Beloussow, er verpflichte sich, all seine Kräfte anzustrengen und gar seine Gesundheit und, falls notwendig, sein Leben zu opfern, um seine neue Aufgabe zu erfüllen. 


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  • Silowiki

    Silowiki

    Der Begriff Silowiki leitet sich von dem russischen Wort sila ab, was mit Kraft oder Gewalt übersetzt werden kann. Silowiki sind demnach Amtspersonen in Macht- oder Gewaltbehörden (russ. „silowye wedomstwa“), die mit der Wahrung und Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols in Russland betraut sind. Im Volksmund werden Silowiki auch als Personen in Uniform / mit Schulterklappen bezeichnet. Der Begriff hat sich gegen Ende der 1990er Jahre – also zur Regierungszeit Jelzins – im Zusammenhang mit dem Zustrom an „Schulterklappenträgern“ in die russische Elite in der Umgangs- und Mediensprache etabliert.

    Zu den Silowiki werden gewöhnlich die Mitarbeiter des Verteidigungs-, Innen- und Justizministeriums, des Ministeriums für Zivilschutz sowie untergeordneter Behörden wie der Truppen des Innenministeriums gezählt. Am prominentesten sind sicherlich die Inlands- und Auslandsgeheimdienste, weniger bekannt die Staatsanwaltschaft, die Nationalgarde sowie die Drogen- und Gefängnisaufsichtsbehörden. Vertreter der nicht unumstrittenen Militarisierungsthese gehen davon aus, dass die Zahl und Bedeutung der Silowiki unter Putin stetig zunahm. Nach Berechnungen von Olga Kryschtanowskaja und Stephen White1 bestand die politische Elite unter Jelzin 1993 zu 11,2 Prozent, unter Putin 2002 zu 25,1 Prozent, 2008 zu 42,3 Prozent und unter Medwedew 2010 zu 20,7 Prozent aus Silowiki.

    Als Gegensatz zu den (Wirtschafts-) Liberalen wird den Silowiki ein Weltbild zugesprochen, welches nach einer starken Hand und autoritärer Führung verlangt und Demokratie westlicher Prägung ablehnt. Im Verlauf des Ukraine-Konflikts hat der realpolitische Einfluss der Uniformträger wieder merklich zugenommen. Die Silowiki sollten jedoch nicht als homogene Gruppe gesehen werden. So stehen beispielsweise die Staatsanwaltschaft und das Ermittlungskomitee nach der Aufspaltung in zwei Behörden in schärfster Konkurrenz zueinander, eine Folge der teile und herrsche-Taktik, die viele Beobachter für einen wichtigen Teil des Herrschaftssystems Wladimir Putins halten.2 Definitorisch ist zudem nicht geklärt, wie lange eine Person in einer entsprechenden Behörde tätig gewesen sein muss, um zu den Silowiki gerechnet zu werden. So hat etwa der langjährige Financier der regierungskritischen Zeitung Novaya Gazeta, Alexander Lebedew, ebenso eine KGB-Vergangenheit wie der ehemalige Duma-Oppositionelle Gennadi Gudkow, der eine wichtige Rolle bei den Bolotnaja-Protesten spielte.


    1. Unveröffentlichtes paper von 2014. Siehe auch: Kryshtanovskaya, Olga / White, Stephen (2011): The Formation of Russia’s Network Directorate, in: Russia as a Network State: What Works in Russia when state institutions do not?, S. 19–38 ↩︎
    2. Gel’man, Vladimir (2005): Political Opposition in Russia: A Dying Species?, in: Post-Soviet Affairs, Vol. 21/3, S. 226-246 und Vedomosti: Političeskaja sistema v dviženii ↩︎
    3. ↩︎

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