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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • LGBT in Russland

    LGBT in Russland

    Am 27. Mai 1993 begann für Homosexuelle ein neues Kapitel in Russland. Der Paragraph 121.1 des Strafgesetzbuches, der sexuelle Kontakte zwischen Männern mit einer Gefängnisstrafe bis zu sieben Jahre ahndete, wurde abgeschafft. Damals existierte im Land bereits eine zunehmend nach Öffentlichkeit suchende LGBT-Bewegung. Die Entkriminalisierung ermöglichte es ihr, ihre Interessen zunehmend öffentlich zu vertreten und wahrgenommen zu werden1. Die öffentliche Resonanz war in großen Teilen indes negativ – bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet. Im Zuge der Annahme des Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“ im Jahr 2013 – das sogenannte „Verbot der Propaganda nichttraditioneller sexueller Orientierungen unter Minderjährigen“ – heizte sich die homophobe Atmosphäre im Land spürbar auf und zwang die LGBT-Szene erneut ins Verborgene: nun findet der Austausch vielfach fernab der breiten Öffentlichkeit seinen Raum, darunter in den Nischen des Internets.

    Die erste Schwulenorganisation, das Leningrader Guy-Laboratorium um Alexander Saremba entstand bereits 19842 – wurde jedoch schnell zerschlagen. Die erste Lesbenorganisation der Sowjetunion – Klub der unabhängigen Frauen – wurde ebenfalls noch vor der Perestroika in Leningrad (dem heutigen St. Petersburg) gegründet. Während die Abschaffung des Straftatbestandes aus Paragraph 121.1 noch in weiter Ferne schien, existierte der Klub verdeckt und wurde von Behörden zumindest toleriert. Die Zeiten änderten sich schnell. Die Zeitung Tema, die 1989 von LGBT-Aktivist Roman Kalinin ins Leben gerufen wurde und sich den Problemen der männlichen Homosexuellen widmete, konnte bereits während der Perestroika verbreitet werden und wurde von staatlicher Seite geduldet. Gemeinsam mit Jewgenia Debrjanskaja, Ex-Ehefrau von Alexander Dugin, gründete Kalinin 1990 die Assoziation der sexuellen Minderheiten mit dem Ziel, den Paragraph 121.1 abzuschaffen und eine umfassende Gleichstellung für Männer und Frauen zu erlangen3. So gab es noch vor der Entkriminalisierung im Jahr 1993 einen regelrechten Gründungs-Boom von neuen Organisationen, Medien und Klubs. Und mit der Legalisierung erlebte die höchst fragmentierte Szene einen weiteren Schub, Optimismus verbreitete sich.

    Doch verflog diese Euphorie der ersten LGBT-Stunde im Verlauf der 1990er Jahre: Interessenvertretungen spalteten sich, viele Aktivisten der Gründungsphase zogen sich zurück und wendeten sich kommerziellen Projekten zu, etwa als Klubbetreiber. Mit der Finanzkrise 1998 wurden die meisten Print-Formate, in denen sich die Szene austauschen konnte, vorerst eingestellt.

    Die Politik setzte kaum Signale für den Minderheitenschutz: So wurden die nach sowjetischem Strafrecht verurteilten Homosexuellen nie rehabilitiert, geschweige denn entschädigt. Erst 1999 wurde Homosexualität nicht mehr als „Krankheit“ eingestuft und von einer entsprechenden offiziellen Liste gestrichen. Am gesellschaftlichen Klima änderte das wenig: Laut Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums hielten im Jahr 2013 immer noch 43 Prozent der Befragten Homosexualität für moralisch verwerflich, 35 Prozent für eine Krankheit – an diesen Zahlen hat sich seit Beginn der Untersuchung im Jahr 1998 kaum etwas verändert.4

    Konservativer Rollback?

    Zwar gab es in den 2000er Jahren Schritte zur rechtlichen Gleichstellung in der Gesellschaft. So wurde 2008 zum Beispiel das Blutspendeverbot für homosexuelle Männer aufgehoben – eine diskriminierende Praxis, deren Abschaffung westeuropäische LGBT-Verbände seit Jahren von der EU einfordern. Auch konnten sich in der Öffentlichkeit erneut Magazine etablieren: die 2003 gegründete und erfolgreiche Zeitschrift Kwir, aus demselben Verlagshaus kam die 2006 gegründete Lesbenzeitung Pinx.

    Die Situation war jedoch stets durch forcierte Versuche geprägt, die gerade erst wieder erlangten Rechte erneut zu beschneiden. Auf der regionalen Ebene gab es seit dem Jahr 2006 bereits einzelne Gesetze, die das spätere, landesweit gültige Gesetz gegen  „homosexuelle Propaganda“ vorwegnahmen. Nach mehreren gescheiterten Anläufen hatten die Hardliner in der Duma damit schließlich 2013 Erfolg5: Dem neuen, landesweit gültigen Gesetz nach ist es seitdem verboten, in Gegenwart von Minderjährigen „nicht-traditionelle Beziehungen“ zu propagieren. Der Begriff Propaganda wird in dem Gesetz bewusst unscharf gehalten.

    Bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet – Foto © Maria Komarowa/flickr.com
    Bis heute ist eine Abneigung gegen Homosexualität in der russischen Gesellschaft weit verbreitet – Foto © Maria Komarowa/flickr.com

    Wie es zur Anwendung kommen kann, zeigt besonders eindrücklich das Beispiel des 2013 gegründeten Internet-Projektes Deti-404 (dt. „Kinder-404“): Es widmet sich der Beratung von Kindern und Jugendlichen. Da die Macher des sogenannten Anti-Propaganda-Gesetzes aber gerade diese Zielgruppe vor Homosexualität „beschützen“ wollen, ist das Projekt vielen Hardlinern ein Dorn im Auge.6 Die Medienaufsicht hat das Portal zensiert, danach ist es auf eine neue Internet-Adresse umgezogen, außerdem laufen Gerichtsprozesse. Erst im Oktober 2016 drohte die Medienaufsicht nach Angaben der Seitenbetreiber wieder mit einer Websperre wegen offiziell verbotener Inhalte. Vor Kurzem nun starteten einige der Initiatoren von Deti-404 ein ähnliches Projekt: Der Sitz des Video-Portals Illuminator.info ist außerhalb Russlands und damit außer Reichweite der Behörden. Es richtet sich aufklärerisch mit Interviews von Fachexperten an ratsuchende Eltern.

    Rückzug aus dem Offline-Leben

    Die Anzahl von Online-Ressourcen der LGBT-Community wächst. Bereits seit 1996 hält sich zum Beispiel das Portal Gay.ru. Im darauffolgenden Jahr nahm auch die erste lesbische Seite VolgaVolga Anlauf. Nach der Fusion mit Kwir spaltete sich ein Teil von VolgaVolga als eigenständiges lesbiru.com-Projekt davon ab. Viele andere neue Projekte wurden zu einem Teil der Community, viele lokale Seiten entstanden und bemühen sich, neben solchen Platzhirschen wie zum Beispiel Gayly.ru (das seit 2001 besteht), um Nutzer.

    Diese Portale und Formate sorgen in der Community für Vernetzung, bieten häufig auch Hilfe und Beratung. Der überregionale Dachverband Russian LGBT network versucht nach Kräften, die einzelnen Bemühungen zu koordinieren. Die Hauptlast der Beratungsarbeit tragen aber regionale Organisationen, wie zum Beispiel Rainbow Syndrome aus Rostow oder Wyhod aus St. Petersburg – eine NGO, die 2008 als erste LGBT-Organisation Russlands ihre formelle Gründung ohne eine Gerichtsklage erwirken konnte.

    Ein Teil der Community wandert aus Russland aus und organisiert sich im Ausland, so wie beispielsweise im deutschen Verein Quarteera. Ein anderer Teil stellt angesichts öffentlicher (zum Teil organisierter) Anfeindungen und Prügelattacken solche öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie Pride Parades ein. Schließlich gibt es immer noch Aktivisten, die unerschrocken auf die Straße gehen. So mischen sie sich beispielsweise unter die Teilnehmer von offiziellen Feierlichkeiten zum 1. Mai, bilden Gruppen bei Demonstrationen und bekunden dabei ihren Protest gegen die Homophobie. Am 17. Mai, dem Internationalen Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie, finden landesweit Flashmobs statt. Andere Aktionen sind zum Beispiel der St. Petersburger LGBT International Film Festival Side by Side, oder die alljährlich Anfang April stattfindende Woche gegen Homophobie. Tendenziell ist aber eine Verlagerung der aktivistischen Arbeit ins Internet zu beobachten.

    Viele Printerzeugnisse wurden zum Ende der 2000er Jahre eingestellt oder verlagerten ihr Angebot ins Internet. Die Digitalisierung und eine Art Zeitungssterben können hier genauso als Gründe genannt werden, wie die fortschreitende Marginalisierung von LGBT-Personen und die Tabuisierung von LGBT-Themen. Pinx musste alsbald genauso schließen wie die 2013 gegründete Hochglanzzeitschrift Agens für Lesben. Kwir gibt es nur noch online, daneben bleiben nur einige wenige Printerzeugnisse.7


    1. Gessen, Mascha (1993): Prava gomoseksualistov i lesbijanok v Rossijskoj Federacii: Otčet komissii po pravam čeloveka dlja gomoseksualistov i lesbijanok, San Francisco ↩︎
    2. Kon, Igor (1997): Seksualnaja kultura v Rossii: Klubnička na berezke, Moskau, S. 356 ↩︎
    3. Gay.ru: Roman Kalinin: „Ja byl pervym otkrynym gomoseksualom“ ↩︎
    4. Zahlen von 1998 bis 2013 auf Levada.ru: Občšestvennoje mnenie o gomoseksualistach ↩︎
    5. Ria.ru: Putin podpisal ukaz o zaprete gej-propagandy sredi detej ↩︎
    6. Zona.media: Verchovnyj sud ne stal otmenjat štraf osnovatelnice soobščestva „Deti-404“ ↩︎
    7. Als Printerzeugnisse mit nennenswerter Reichweite blieben zum Beispiel die seit 2005 in Moskau erscheinende Zeitschrift Best for und die in Nowotscherkassk erscheinende Mens-GID bestehen – Magazine, die sich an den männlichen Teil der Community wenden. ↩︎

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  • Augustputsch 1991

    Augustputsch 1991

    Am 19. August 1991 wurde einer der letzten Versuche unternommen, die Sowjetunion vor der Auflösung zu bewahren. Während Millionen von Bürgern – wie sonst nur in Fällen von Staatstrauer oder großen nationalen Katastrophen – rund um die Uhr auf allen TV-Kanälen klassische Musik und die Ballettaufführung des Schwanensee sehen konnten, ließen die Minister der Unionsregierung Panzer im Zentrum Moskaus auffahren. Sie erklärten Michail Gorbatschow für amtsunfähig, verkündeten Ausnahmezustand, Machtübernahme und ihr Ziel: Bewahrung der Sowjetunion vor dem Zerfall.

    Tausende Menschen stellten sich hinter den Präsidenten Russlands Boris Jelzin und hielten dagegen. Alsbald war der Ausnahmezustand vorbei: Mit dem Untergang der Putschisten beschleunigte sich auch der Untergang der UdSSR. Boris Jelzin wurde zum demokratischen Symbol des Aufbruchs. Allerdings sehen nach den gewaltigen Umbrüchen der 1990er Jahre heute 43 Prozent der Russen in den August-Ereignissen von 1991 eine Tragödie für das Land.

     

    Ausnahmezustand

    Als am frühen Morgen des 19. August 1991 die ersten sowjetischen Radiozuhörer ihre Geräte einschalteten, mussten sie zu ihrer Überraschung erfahren, dass der Präsident der UdSSR und Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen amtsunfähig geworden sei.

    Boris Jelzin wurde zum demokratischen Symbol des Aufbruchs / Foto © Wikipedia unter CC BY 4.0

    Das Staatskomitee für den Ausnahmezustand (Russische Abkürzung: GKTschP), das unter der Führung des Vizepräsidenten Gennadi Janajew einige Minister der Unionsregierung, den Chef des KGB Wladimir Krjutschkow und weitere reformkritische Politiker vereinigte, übernahm die Führung der Staatsgeschäfte und verkündete sein oberstes Ziel: die Bewahrung der Sowjetunion vor dem Zerfall.

    Das Komitee  berief sich dabei auf die Ergebnisse des unionsweiten Referendums vom 17. März 1991, bei dem die Mehrheit für den Erhalt der UdSSR plädiert hatte.

    Auf dem Weg zu einer Konföderation

    Schon kurz nach dem Referendum begann Gorbatschow einen Verhandlungsprozess mit den Oberhäuptern der Unionsrepubliken. An deren Ende sollte ein neuer Unionsvertrag stehen: Die föderale UdSSR sollte in eine Konföderation mit dem Namen „Union Souveräner Sowjetrepubliken“ überführt werden und alle Sowjetrepubliken umfassen – mit Ausnahme der baltischen Republiken, Moldawiens, Georgiens und Armeniens. Gemäß dem völkerrechtlichen Verständnis sollten alle Konföderationsmitglieder Souveränitätsrechte bekommen. Die feierliche Unterzeichnung des Unionsvertrags war für den 20. August angesetzt. Dem aber kam das GKTschP zuvor.  

    Absetzung Gorbatschows

    Der Gründung der GKTschP war ein Versuch seiner zukünftigen Mitglieder vorausgegangen, Gorbatschow zu überreden, den Vertrag nicht zu unterzeichnen und den Ausnahmezustand auszurufen. Das Gespräch mit Gorbatschow, der sich in seiner Urlaubsresidenz Foros auf der Krim aufhielt, verlief jedoch ergebnislos.1 Daraufhin verkündete das GKTschP die Machtübernahme.

    Gorbatschow behauptete später rückblickend, dass er in Foros überrascht worden sei: Er sei drei Tage lang von der Außenwelt isoliert gewesen, sein Aufenthaltsort sei blockiert und die Telefonleitungen abgeschaltet worden.2

     

    Trailer des Dokumentarfilms „Sobytie“ („The Event“), 2015, Regisseur: Sergej Loznitsa

    Was das GKTschP allerdings versäumte, war die Isolierung Boris Jelzins – des Präsidenten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Diesem gelang es schon in den Morgenstunden des 19. August, seine Datscha zu verlassen. Durch die sich mit Panzern füllenden Straßen Moskaus fuhr er zum Gebäude des Obersten Sowjet der RSFSR, dem sogenannten Weißen Haus. Dies wurde zur Zentrale des Widerstands gegen das Komitee, dessen Mitglieder alsbald als „Putschisten“ bezeichnet wurden.

    Während auf allen Fernsehkanälen – wie sonst nur in Fällen von Staatstrauer oder großen nationalen Katastrophen – klassische Musik und das Ballett Schwanensee ausgestrahlt wurden, verteilten die Gegner der GKTschP Flugblätter mit dem Aufruf von Jelzin, in einen fristlosen Generalstreik zu treten. Um das Weiße Haus herum wuchsen Barrikaden, um 16 Uhr wurde in Moskau offiziell der Ausnahmezustand ausgerufen.

    Kräftemessen in Moskau

    Erst am Abend wurde die Bevölkerung über die Pläne der neuen Staatsführung informiert. Unter Führung Janajews fand eine Pressekonferenz statt, auf der die Mitglieder der GKTschP die Öffentlichkeit zu beruhigen versuchten: Sie bezeichneten Jelzin als „Genossen“ und Gorbatschow als „Freund“, bekannten sich zur Notwendigkeit von Marktreformen. Legendär wurden die zitternden Hände von Janajew sowie die Fragen der Journalisten, die das GKTschP offen mit Pinochet verglichen und die Aktion als einen Staatsstreich bezeichneten.

    Obwohl das GKTschP scharfe Maßnahmen gegen die „Unruhestifter“ ankündigte, die Ausstrahlung von oppositionellen Radiosendern und TV-Kanälen zeitweilig unterband und die Schließung von elf Printmedien anordnete, wurden die Redaktionsräume nicht besetzt, die Ein- und Ausreise aus dem Land blieb weiter möglich.

    Die Journalisten des Ersten Kanals konnten in den Abendnachrichten einen Beitrag über die Lage vor dem Weißen Haus senden, in dem Jelzin das GKTschP kritisierte. Das Versagen der staatlichen Zensur wurde offensichtlich.   

    Währenddessen versammelten sich vor dem Weißen Haus mehr als 200.000 Menschen. Verschiedene politische Gruppen solidarisierten sich mit Jelzin. Dieser erklärte sich am 20. August zum Oberbefehlshaber aller auf dem Gebiet der Russischen Sowjetrepublik stationierter Truppen.

    In der Nacht vom 20. auf den 21. August kulminierten die Ereignisse: In Moskau wurde eine Ausgangssperre verhängt. Das GKTschP ließ Panzer in Bewegung setzen, um das Weiße Haus zu stürmen, doch unterwegs stellten sich ihnen Protestierende in den Weg. In dieser Nacht kamen drei Zivilisten ums Leben, ein Schützenpanzer wurde von Demonstranten angezündet. Die Eliteeinheit des KGB Alpha weigerte sich, ohne einen schriftlichen Befehl vorzurücken.

    Um acht Uhr morgens zog Jasow die Truppen aus der Stadt zurück. Das Scheitern des Putsches wurde offensichtlich. Einzelne Mitglieder der GKTschP flogen nach Foros um mit Gorbatschow zu sprechen, dieser weigerte sich aber, sie zu empfangen.

    Der Anfang vom Ende – das Ende vom Anfang?

    Es war ein symbolischer Schritt, als Gorbatschow am 22. August kurz nach Mitternacht in Moskau landete. Die westlichen Länder begrüßten seine Rückkehr, und auch die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts, die schon ihre Re-Sowjetisierung befürchtet hatten, atmeten auf. Jelzin galt jetzt als Retter Gorbatschows. Leonid Krawtschuk, der wenige Monate später zum ersten Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, ließ seine loyale Haltung gegenüber dem GKTschP genauso schnell fallen wie viele andere Oberhäupter der Unionsrepubliken und schwenkte (genauso wie diese) auf die Linie Jelzins ein. Janajew und weitere Mitglieder des GKTschP wurden verhaftet, einzig Innenminister Boris Pugo entzog sich der Verhaftung durch Suizid.

    Obwohl die drei Augusttage als Gründungsereignis des neuen, unabhängigen Russlands gehandelt werden, verhallen bis heute nicht die Debatten über die Ereignisse und ihre Bewertung.

    Gorbatschow gab 20 Jahre später zu, von den Plänen der Putschisten gewusst zu haben3, und viele Forscher fragen nach seiner wirklichen Rolle.4 Da nur eine Minderheit der Bevölkerung Russlands auf die Barrikaden ging, stellt sich die Frage, wie die Mehrheit über die Vorgänge wirklich dachte. Was bedeutet es, dass 43 Prozent der Bürger Russlands5 die Niederlage des GKTschP heute als eine Tragödie sieht, die „katastrophale Folgen für das Land und die Menschen“ hatte? Und wie stark prägt der Sowjetmensch die politische Kultur Russlands heute?

    Wenige Monate nach den Ereignissen, am 8. Dezember 1991, besiegelten die Präsidenten von Russland, der Ukraine und Belarus das Ende der Sowjetunion. Wladimir Putin, der während der Augusttage auf der Seite Jelzins stand, bezeichnete den Zusammenbruch der UdSSR später als „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“.6

    Aktualisiert am 17.08.2021
    1. Pichoja, Rudol’f (1998): Sovetskij Sojuz: istorija vlasti: 1945-1991, Moskau, S. 658-659 ↩︎
    2. ebd. S. 653, 684 ↩︎
    3. Ria Novosti: Gorbačev znal o planach GKČP, no sčel bolee važnym ne dopustit’ bojni ↩︎
    4. Pichoja, Rudol’f (1998): Sovetskij Sojuz: istorija vlasti: 1945-1991, Moskau, S.684 ↩︎
    5. levada.ru: GKČP: 30 let ↩︎
    6. kremlin.ru: Putin, Vladimir: Poslanie Federal’nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii
      ↩︎

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    Auflösung der Sowjetunion

    Der Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik.

    Bereits in den ausgehenden 1980er Jahren kündigten sich zentrifugale Tendenzen in der UdSSR an. Es gründeten sich zahlreiche protopolitische Vereinigungen, die das Machtmonopol der KPdSU herausforderten. Offenes Reden über Probleme wie das Warendefizit, die Bürokratie oder die ideologische Bevormundung entzogen der KPdSU zunehmend die Legitimation. Die Krise des Staates wurde noch verstärkt durch das unablässige Wettrüsten mit den USA, das die Ressourcen der UdSSR verschlang. Die Wirtschaft des Landes konnte mit den Ansprüchen der Bevölkerung nicht mehr mithalten. In dieser Zeit wurden auch die Forderungen nach mehr Selbständigkeit der Republiken zunehmend radikaler. Einigen Historikern zufolge war es diese Krise, die das Land zu Fall brachte. Andere Historiker widersprechen dieser These: Es war die Perestroika Gorbatschows – ein letzter, jedoch erfolgloser Versuch der Erneuerung – , die ihrer Ansicht nach dem Staat entscheidend zusetzte: Mit der Schwächung der Partei, die in der Politik der Perestroika angelegt war, griff Gorbatschow die Grundlage der eigenen Macht an.

    Einen Präzedenzfall schuf Estland am 16. November 1988. Noch vor den ersten halbfreien Wahlen zum Volksdeputierten-Kongress der UdSSR, proklamierte der Oberste Rat der Estnischen SSR die Souveränität der Republik. Im nächsten Jahr folgten Litauen und Lettland. Diese Souveränitätserklärungen bedeuteten jedoch noch nicht den Austritt aus der Sowjetunion, sondern lediglich den Vorrang der eigenen Gesetze gegenüber der unionsweiten Gesetzgebung.

    Im Laufe des Jahres 1990 erklärten alle Republiken außer Armenien ihre Souveränität. Den nächsten Schritt machten im selben Jahr die drei baltischen Republiken – Litauen, Lettland  und Estland – als ihre Obersten Räte den Austritt aus der Union beschlossen. Doch der schwerste Schlag traf die Sowjetunion am 12. Juni 1990, als Russland (RSFSR) seine Souveränität erklärte. Alle Gremien der Unionsebene befanden sich in Moskau, ohne Russland konnte die Union nicht existieren. Der Oberste Rat der UdSSR und die Unionsministerien verloren in der Folge rapide an Macht gegenüber den Organen der RSFSR.

    Sowohl in der Bevölkerung als auch unter den Eliten bestand Uneinigkeit im Bezug auf die Zukunft der Sowjetunion. Nicht nur die „Demokraten“ um den ehemaligen Moskauer Parteichef Boris Jelzin, sondern auch die „konservativen“ Kritiker der Perestroika sahen in der Unabhängigkeit Russlands eine Möglichkeit, die unpopuläre Führung Gorbatschows abzuschütteln. Gorbatschow geriet so zwischen die politischen Fronten  der immer offener prowestlich-liberal auftretenden Opposition um Jelzin, die seine Reformen als zu halbherzig kritisierten, und den „Konservativen“, denen seine Reformen zu weit gingen. Begünstigend für den Zerfallsprozess wirkte auch die Tatsache, dass die Bevölkerung sowohl in Russland, als auch in den „nationalen“ Republiken jeweils ihre eigene Republik bei der Verteilung der Ressourcen im Nachteil sah.1 Für den Erhalt der Union plädierten vor allem Vertreter der russischen Minderheit in den nationalen Republiken, orthodoxe Kommunisten sowie einige Fraktionen innerhalb des demokratischen Lagers, wie zum Beispiel die Demokratische Partei Russlands.2 Innerhalb der nationalen Republiken begannen auch die KPdSU-Funktionäre, offen über die Unabhängigkeit zu diskutieren.

    Am 17. März wurde auf Vorschlag von Gorbatschow ein Referendum über den Erhalt der UdSSR abgehalten, das jedoch von den drei baltischen Republiken sowie Georgien, Armenien und Moldawien boykottiert wurde. In den restlichen Republiken sprachen sich 77,8 Prozent für den Erhalt der Sowjetunion aus. Doch das Kräftemessen zwischen der sowjetischen und der russischen Regierung ging weiter. Jelzins nächster großer Sieg nach der Souveränität der RSFSR war die Einführung des Präsidentenamtes in Russland am 17. April 1991. Durch die Direktwahl mit 57,3 Prozent der Stimmen genoss Jelzin mehr Legitimität als Gorbatschow, der Präsident der UdSSR, der in sein Amt ein Jahr zuvor durch den Obersten Rat gewählt worden war.

    Ab April 1991 verhandelten Gorbatschow und die Oberhäupter Russlands, der Ukraine, Belarus‘, Aserbaidschans sowie der zentralasiatischen Republiken über einen neuen Unionsvertrag. Im Sommer wurde der Text erarbeitet, für den 20. August war die Gründung der Union Souveräner Staaten geplant, eines föderativen Staatengebildes. In Russland appellierten einige Politiker des demokratischen Lagers an Jelzin, den neuen Vertrag nicht zu unterzeichnen, da Russland sich dann im ständigen Konflikt mit der Unionsregierung befinden würde.3 Der neue Unionsvertrag kam faktisch ohne Zustimmung der republikanischen Legislative zustande.

    Einen Tag vor dem geplanten Vertragsabschluss begann am 19. August 1991 ein dreitägiger Putschversuch der Hardliner aus der Unionsregierung, der zwar den Erhalt der Union zum Ziel erklärte, nach Meinung der meisten Experten den endgültigen Zerfall jedoch noch beschleunigte. Nach der Niederlage der Putschisten stand Jelzin als unbestrittener Sieger gegenüber Gorbatschow da.

    Nachdem der Staatsrat der UdSSR am 5. September die Unabhängigkeit der baltischen Staaten – ohne das vorgeschriebene Referendum – anerkannt hatte, drängte man auch in der Ukraine auf Autonomie. Nach der Proklamation der Unabhängigkeit am 24. August wurde am 1. Dezember 1991 ein neues Referendum durchgeführt, bei dem sich eine Mehrheit von 90,32 Prozent  für die Unabhängigkeit aussprach. Ohne die als zweitwichtigste geltende Republik konnte Gorbatschows Idee der als Konföderation umorganisierten UdSSR nicht aufrechterhalten werden. Gorbatschow drängte zwar weiterhin auf eine Einigung mit den Republiken. Doch ein Treffen Jelzins mit den Präsidenten der Ukraine und Belarus‘, Leonid Krawtschuk und Stanislau Schuschkewitsch, am 8. Dezember 1991 in Belawesschkaja Puschtscha durchkreuzte diese Versuche endgültig. Dort wurde die Auflösung der UdSSR für bereits geschehen erklärt und die Schaffung eines losen Zusammenschlusses, der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) vereinbart.

    Am 12. Dezember ratifizierte der Oberste Rat der RSFSR das Abkommen von Belawesschkaja Puschtscha mit 188 Stimmen, bei nur sechs Gegenstimmen. Die russische Delegation wurde infolgedessen aus beiden Kammern des Obersten Rates der UdSSR abberufen. Der Rat der Union verlor dadurch sein Quorum und war so formal entscheidungsunfähig. Am 25. Dezember legte Gorbatschow sein Präsidentenamt nieder. Einen Tag darauf erklärte der Rat der Republiken, das Oberhaus des Obersten Rates der UdSSR, die Existenz der Union für beendet.

    Zum damaligen Zeitpunkt befanden sich schon etliche Republiken im faktischen Kriegszustand. Die lokalen Konflikte an der Peripherie wurden jedoch in Russland zunächst aus der Wahrnehmung verdrängt. In globaler Perspektive galt nun die größte Sorge dem atomaren Erbe der sich auflösenden Weltmacht.


    1. Nezavisimaja gazeta: Obraščenie k presidentu Rossii B. N. El’cinu , 08.08.1991 ↩︎
    2. Buldakov, Vladimir (1997): Krasnaja smuta: Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija. Moskau, S. 367 ↩︎
    3. Hosking, Geoffrey (2006): Rulers and Victims – The Russians in the Soviet Union, Cambridge-London, S. 382-385 ↩︎

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