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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Alexej Balabanow

    Alexej Balabanow

    Kurz nach dem Beginn des großflächigen Angriffskrieges gegen die Ukraine haben sich viele westlichen Unternehmen und Konzerne aus Russland zurückgezogen. Unter anderem waren es Unterhaltungsriesen wie Disney und Warner Bros, die Filmstarts stoppten. Die leer gewordenen Kinoprogramme musste man zwangsläufig mit russischen Filmen füllen und es ließ sich nicht lange suchen, was Kinobesucher gerne (erneut) schauen würden: Bereits Ende März 2022 ging in die Kinos die Film-Dilogie Brat vom russischen Regisseur Alexej Balabanow, die in Russland bereits zur Jahrtausendwende Kultstatus errungen hat. Und die Wahl hatte womöglich nicht nur allein mit der Popularität dieses Filmes und des Protagonisten – dem heldenhaften Kriminellen Danila Bagrow – zu tun, sondern auch mit angeblichem Patriotismus und vermeintlichem Antiamerikanismus. Die starken Zitate aus dem Film – vor allem das berühmte „Sila w prawde“ (dt. Die Macht liegt in der Wahrheit) – tauchen immer wieder in Reden von russischen Politikern bis hin zu Wladimir Putin auf und dienen als Propaganda-Slogans. Doch wer war der Schöpfer dieser Filme, deren Protagonisten und Zitate die russische Gesellschaft in den letzten 20 Jahren so geprägt haben? 

    Balabanow lagen die Provokation wie auch die künstlerische Freiheit weit mehr am Herzen, als den Weg eines patriotischen Kinos weiterzuverfolgen / Foto © Aleksandr Schtscherbak/Kommersant
    Balabanow lagen die Provokation wie auch die künstlerische Freiheit weit mehr am Herzen, als den Weg eines patriotischen Kinos weiterzuverfolgen / Foto © Aleksandr Schtscherbak/Kommersant

    Alexej Balabanow (1959–2013) verstand es meisterhaft, Unvereinbares zu vereinen. Dadurch würde zusätzliche Energie entstehen, wie die zweite Ehefrau und Witwe des Regisseurs, die Kostümbildnerin Nadeshda Wassiljewa in einem Interview meinte.1 Das Aufeinanderprallen von Dingen, Handlungen oder Ideen, die nicht zusammenpassen, erzeugt Effekte des Staunens, der Verwunderung oder Irritation, lässt Ambivalenzen entstehen. Entsprechend bleibt das Gesamtwerk von Balabanow auch zehn Jahre nach seinem Tod widersprüchlich. Für die einen war er ein Genie, für die anderen ein Provokateur. Die einen liebten seinen unverwechselbaren Stil, die anderen fühlten sich von den exzessiven Gewaltszenen abgestoßen. Vielen Zuschauern in Russland gilt er bis heute als Kultregisseur. Im Gegensatz dazu wusste man seine Filme außerhalb von Russland oft nicht richtig einzuschätzen und hatte überdies Probleme mit dem Chauvinismus der Brat-Serie. Seine Filme – zwölf sind es an der Zahl – wurden auf internationalen Festivals zwar gezeigt, aber mit keinem einzigen wichtigen internationalen Filmpreis ausgezeichnet. Dass Balabanow zeit seines Lebens seine künstlerische Freiheit und Unabhängigkeit bewahrte, gilt jedoch als unumstritten. 

    Wanderer in der Großstadt

    Ein augenfälliges formales Beispiel für Balabanows Liebe zum Unvereinbaren hält die Eröffnungsszene seines kommerziell erfolgreichsten Films – des Mafiathrillers Brat-2 (2000) – bereit. Der aus Brat (1997) bereits bekannte Protagonist Danila Bagrow geht an einem Filmset vorbei, während der Aufnahme läuft Tschaikowskis Schwanensee. Da fällt sein Blick auf einen jungen Mann in schwarzem Anzug, der vor einem unförmigen schwarzen Geländewagen steht und wie ein Schuljunge ein Gedicht von Michail Lermontow rezitiert. Das lyrische Ich des romantischen russischen Dichters aus dem 19. Jahrhundert vergleicht sich mit Lord Byron („Nein, ich bin nicht Byron, ich bin ein anderer“) und scheint auf den ersten Blick so gar nicht zu diesem „neuen Russen“ oder Banditen zu passen. Bei genauerem Hinsehen trifft es die Protagonisten Balabanows jedoch in ihrem Kern, denn auch sie sind – so weiter im Gedicht – „von der Welt gejagte Wanderer“2, Fremde in der modernen Großstadt, die sie erobern oder von der sie verschlungen werden. Denn die Stadt, so der Obdachlose mit dem deutschen Nachnamen Gofman in Brat, ist eine „schreckliche Kraft“ – sie saugt die Menschen auf, und nur die Starken überleben.3 

    Die Wanderungen von Balabanows mit wenigen Ausnahmen männlichen Protagonisten sind aus einem genuin filmischen Stoff. Ihre mit zeitgenössischer Rockmusik unterlegten Streifzüge durch die Großstadt, meist ist es Sankt Petersburg, verleihen Balabanows Filmen ihren unverwechselbaren Rhythmus, ihre Dynamik und Energie. Die Protagonisten erschließen sich die urbanen Räume, und wir folgen ihnen auf ihren Wanderungen und Autofahrten bis in die Wohnungen hinein mit unseren Blicken. Was wir dabei zu sehen bekommen, ist – und das gilt insbesondere für die Filme, die in den 1990er Jahren beziehungsweise in der jeweiligen Gegenwart spielen – eine industriell überformte, im unmittelbaren Sinn postsowjetische Stadtlandschaft, meist in ihrem Verfall. 

    Kritik an der Moderne

    Eine grundlegende Skepsis gegenüber der Moderne und den damit einhergehenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen sowie eine Ablehnung von auf Geld basierenden Beziehungen ziehen sich wie ein roter Faden durch Balabanows filmisches Werk. Um diese Grundhaltung filmisch zum Ausdruck zu bringen, konzentriert sich der Regisseur auf zwei zeitliche Kristallisationspunkte: einerseits die Zeit des Fin de Siècle, andererseits die Transformationszeit nach dem Zerfall der Sowjetunion. 
    Die Stadt Sankt Petersburg mit ihren rastlosen Wanderern erscheint im Licht der Umwälzungen des Fin de Siècle als seelenlose und menschenfeindliche Steinwüste, wie in Balabanows an die Ästhetik des Absurden angelehnten Debütfilm Stschastliwyje dni (1991; dt. Glückliche Tage), oder als Ort des geistigen Niedergangs und der Perversion, wie in Pro urodow i ljudei (1998; Englisch bekannt als Of Freaks and Men). 

    In seinem auf Michail Bulgakows frühen Arztgeschichten basierenden Film Morfi (2008; dt. Morphium) verweist Balabanow darüber hinaus explizit auf die Faszination und Macht, die von dem mit der Moderne untrennbar verbundenen Medium Film ausgeht. In der Schlussszene landet der gescheiterte, Morphium süchtige junge Arzt in einem Kino und erschießt sich mit einer Pistole, während die Stummfilmkomödie weiterläuft – für einen Menschen des Kinos wie Balabanow der ideale Tod, wie seine Biographin Maria Kuwschinowa bemerkt: in einem Kinosaal, unbemerkt, mit einem Lächeln auf den Lippen.4 Auf die eine oder andere Weise sind Balabanows Filme daher immer auch Filme über das Kino. In seinem vorletzten Film Kotschegar (2010; dt. Der Heizer) wird das filmische Prinzip der Rahmung – des Framing – im Szenenbild verankert: Die Wände der Wohnungen sind voller Bilder, Ikonen und Spiegel, während die immer wiederkehrenden Kamine mit dem lodernden Feuer als eine archaische Entsprechung des Kinos erscheinen.

    Chauvinismus oder Volksnähe?

    Zwischen Balabanows ersten beiden Spielfilmen – Stschastliwyje dni nach Motiven von Samuel Becket und Samok (1994; dt. Das Schloss) nach Franz Kafka – und seinen Publikumserfolgen Brat (1997; Der Bruder) und Brat-2 (2000) liegen die bis in die 1980er Jahre unvereinbaren Welten des Autorenfilms einerseits und des kommerziellen Genrekinos andererseits. Um die Wende zum Populären zu vollziehen, kehrt Balabanow im Mafiathriller Brat die Ohnmacht der Protagonisten gegenüber der sie verschlingenden modernen Großstadt um. Danila Bagrow, gespielt vom Jungstar der 1990er Jahre Sergej Bodrow (1971–2002), ist ein sozialer Außenseiter aus der russischen Provinz, der aus dem brutalen Tschetschenien-Krieg zurückkehrt, und dem die Stadt als eine Art magische Energiequelle dient. So tritt er von Petersburg aus über Moskau und schließlich die USA einen Siegeszug über eine Welt an, in der die Gewalt der Mafia und die Macht des Geldes regieren. Diesen Sieg erringt er in der naiven Überzeugung, die Guten von den Bösen unterscheiden zu können und die Bösen entsprechend auch richten zu dürfen. Seine Kraft bezieht er aus traditionell hochgehaltenen Werten wie Wahrheit, Freundschaft und Liebe zur Heimat, die er in griffige Sinnsprüche packt: „Sila w prawde“ (dt. In der Wahrheit liegt die Kraft / Macht) verkündet er in Brat-2. Genau dieses Motto kursierte im Februar 2022 in den russischen Medien und wurde so zur Propagandawaffe im Angriffskrieg gegen die Ukraine.

    Es ist insbesondere die von Balabanow geschaffene Figur des Danila Bagrow, die dem Regisseur den berechtigten Vorwurf einbrachte, ein „Handlanger“5 von Chauvinismus und Nationalismus zu sein. Unter dem Deckmantel, doch nur die Sprechweise der einfachen Leute wiederzugeben,6 findet sich insbesondere in den kommerziell erfolgreichen Filmen – den beiden Brat-Filmen wie auch dem Folgefilm Woina (2002; dt. Krieg) – eine Fülle an chauvinistischen, russisch-nationalistischen, antisemitischen, antiamerikanischen und rassistischen Sprüchen.7 Und trotzdem bleibt die Figur des Danila Bagrow insbesondere in Brat ambivalent, beinhaltet im Kontext ihrer Entstehungszeit vor allem auch „die Forderung nach einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit in ihren angeblich grundlegendsten Formen: Die Schwachen müssen geschützt und die enthemmten Starken in die Schranken gewiesen werden.“8 

    Parodie und Provokation

    Balabanow lagen die Provokation wie auch die künstlerische Freiheit weit mehr am Herzen, als den Weg eines patriotischen Kinos weiterzuverfolgen. Das demonstrierte er in allen Filmen, die auf Woina noch folgen sollten. In Shmurki (2005), einer tiefschwarzen Komödie, setzte er auf das vor Blut triefende Kino eines Quentin Tarantino noch ein Stück drauf und schuf eine schrille Parodie auf die von ihm selbst ersonnenen romantisierten Banditen der Brat-Filme. In der Schluss-Szene präsentiert Balabanow einen Blick in die Gegenwart des Jahres 2005 und darüber hinaus: Aus den brutalen kriminellen Existenzen der 1990er Jahre sind eifrige Diener im politischen System Putins geworden. Fünf Jahre später entstand der Film Kotschegar, in dem die Banditen der 1990er Jahre dagegen im Lichte des russischen Kolonialismus erscheinen. Der Heizer des Filmtitels ist ein Jakute in Sankt Petersburg, ein Afghanistan-Veteran und Held der Sowjetunion, der für seinen ehemaligen Kriegskameraden die unzähligen Leichen, die dieser und sein Kumpane hinterlassen, im Heizofen einer Fabrik entsorgt. Doch die Beziehung zwischen dem Russen und dem Jakuten nimmt kein gutes Ende – ähnlich wie im zaristischen Russland. Mit dieser eindeutigen, von vielen als russophob kritisierten Botschaft ist Kotschegar einer der wenigen postkolonialen Filme, die das russische Kino bis heute hervorgebracht hat. In seiner Machart aber ist der Film ein minimalistisches filmisches Meisterwerk des Absurden und Unheimlichen.

    Cargo 200

    Als Balabanows umstrittenster und verstörendster Film gilt jedoch Grus 200 (2007; engl. Cargo 200). Der Film spielt im Jahr 1984 in einer sowjetischen Provinzstadt, in der die Ankunft einer besonderen Luftfracht angekündigt wird – die als Grus 200 in den russischen Sprachgebrauch übergegangenen Zinksärge mit in Afghanistan gefallenen Soldaten. Vor diesem Hintergrund baut Balabanow eine Geschichte des sexuellen Missbrauchs auf, der in einem Exzess abstoßender physischer und psychischer Gewalt endet. Im Mittelpunkt der Handlung steht, kurz zusammengefasst, der psychopathische, impotente Milizionär Shurow (gespielt von Alexej Polujan) und die junge Anshelika (gespielt von Agnija Kusnezowa), die von Shurow entführt wird. Shurow bringt die junge Frau in seine Wohnung, kettet sie an ein Eisenbett, legt ihren toten Verlobten aus einem der eingetroffenen Zinksärge neben sie, lässt sie von einem von der Miliz festgenommenen Alkoholiker vergewaltigen und liest ihr schließlich die Liebesbriefe ihres Verlobten vor. Am Ende dieser mehrmals durch Parallelhandlungen unterbrochenen Szene des Grauens findet sich die junge Frau inmitten von drei Männerleichen wieder, der Shurows inklusive.

    Der Filmmusik, die ein integrales Moment in allen Filmen Balabanows darstellt, kommt in Grus 200 die zentrale Funktion eines ironisch-distanzierenden Kommentars zu Bild und Erzählung zu. So ist der sich aufbauende Gewaltexzess mit populären sowjetischen Hits unterlegt, unter anderem mit Na malenkom plotu (dt. Auf einem kleinen Floß) von Juri Losa. Was Balabanow in diesem Sozialthriller daher aufeinanderprallen lässt, ist das sowjetische Gewaltregime der Exekutive und des Militärs einerseits, und die Erinnerung an ein fröhliches, glückliches Leben in der Sowjetunion andererseits. Metaphorisch gelesen schändet die bereits impotente Sowjetmacht den unschuldigen Volkskörper. Das eigentliche Monster aber, das Balabanow mit diesem Film erlegen will, ist die um sich greifende, ideologisch genährte Sowjetnostalgie. So gesehen geht es Balabanow in Grus 200 keineswegs um Gewalt als filmischen Selbstzweck, sondern um eine gesellschaftliche Schocktherapie.9 Angesichts der staatlichen und militärischen Gewaltexzesse, die aus Russland und aus dem Krieg in der Ukraine seit 2022 immer wieder bekannt werden, ist Grus 200 zehn Jahre nach dem Tod des Regisseurs daher aktueller denn je.


    1. vDud’ (YouTube): „Balabanov – genial’nyj režisser”, 15. Mai 2018 ↩︎
    2. Lermontov, Michail (2000): Gedichte. Russisch / Deutsch. Übersetzt von Kay Borowsky und Rudolf Pollach. Stuttgart, S. 59 ↩︎
    3. Im russischen Original: „Gorod – strašnaja sila. […] On zasasyvaet. Tol’ko sil’nyj možet vykrabkat’sja.“ ↩︎
    4. Vgl. Kuvšinova, Marija (2015): Balabanov. Sankt-Peterburg, S. 159 ↩︎
    5. dekoder.org: [gnose-4005]Kino #3: Brat[/gnose] ↩︎
    6. Eine von Balabanows Antworten auf den Nationalismusvorwurf lautet wie folgt: „Alle bezichtigten mich des Nationalismus. Absolut ohne Grundlage. Ich gebe das Befinden unseres Volkes wieder. Mögen die Menschen in der Provinz etwa die Juden? Natürlich nicht. Dieses Gefühl verstehen die russischen Menschen, und es ist ihnen vertraut. Und dass sie die Kaukasier nicht mögen ist genauso offensichtlich.“ (im Original: [В]се меня обвиняли в национализме. Абсолютно безосновательно. Я отражаю состояние нашего народа. В провинции люди евреев любят? Точно говорю, что не любят. Это ощущение русским людям понятно и близко. И то, что хачиков не любят — тоже абсолютно очевидно). Vgl. seance.ru: Balabanov o Balabanove ↩︎
    7. Dazu gehören aus den beiden Brat-Filmen Sprüche wie, adressiert in der konkreten Szene an Kaukasier, „Ne brat ja tebe, gnida černožopaja!“ (Ich bin für dich kein Bruder, du schwarzärschige Zecke); adressiert an Amerikaner „Muzyka tvoja amerikanskaja – govno […] Da i sami vy… Skoro vsej vašej Amerike – kirdyk.“ (Deine amerikanische Musik ist Scheiße […] Und überhaupt seid ihr selber… Bald wird’s eurem ganzen Amerika an den Kragen gehen.); adressiert an Ukrainer „Vy mne, gady, ešče za Sevastopol’ otvetite“ (Ihr Schweine werdet mir noch für Sevastopol’ büßen); schließlich, adressiert an den amerikanischen Mafiaboss, „Vot skaži mne, amerikanec, v čem sila? Razve v den’gach?… Ja dumaju, čto sila v pravde. Tot, u kogo pravda, tot i sil’nee“ (Nun sag mir, Amerikaner, worin liegt die Stärke? Etwa im Geld?… Ich denke, dass die Stärke in der Wahrheit liegt. Derjenige, der im Besitz der Wahrheit ist, ist auch stärker). ↩︎
    8. dekoder.org: [article-9083]Putin – Geisel der 1990er Jahre?[/article] ↩︎
    9. Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen von Daria Ezerova: Ezerova, Daria (2020): Laughing Apocalypse: Horror and/as Comedy. In: Nancy Condee et al (Hg.): Cinemasaurus. Russian Film in Contemporary Context. Boston, S. 84–104 ↩︎

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  • Echo Moskwy

    Echo Moskwy

    Am 22. August 1990 um 18:57 geht der erste unabhängige Radiosender der Sowjetunion auf Sendung. Als Radio-M gestartet, bekommt der Sender bald einen neuen Namen, mit dem er in die Geschichte eingehen soll: Echo Moskwy (dt. Das Echo Moskaus). Am Beginn stand der kollektive Wunsch nach Veränderung und Demokratisierung. Mit dem Slogan „Das freie Radio für freie Menschen“ wird Echo Moskwy über mehr als drei Jahrzehnte hinweg als Hochburg des liberalen Diskurses gelten. Der überwiegende Teil seines Weges aber war von Strategien der Anpassung an ein immer autoritärer werdendes politisches System und feindlicheres gesellschaftliches Klima geprägt. Dabei wird erst im Nachhinein sichtbar, wie vorhersehbar das Ende doch war: Am Abend des 1. März 2022, nur wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine, wird der Sender abgeschaltet, die Website gesperrt. Am 3. März folgt auch die „Liquidierung“ der Trägergesellschaft – eine Entscheidung des Direktorenrats des Mehrheitseigentümers Gazprom-Media, die laut Chefredakteur Alexej Wenediktow, gerade einmal 15 Minuten in Anspruch genommen hat. Die „Liquidierung“ von Echo Moskwy bedeutete nicht nur das Aus eines der letzten kritischen Medien in Russland – sondern läutete symbolisch das Ende einer Epoche ein, die der Radiosender nicht nur begleitet, sondern auch mitgestaltet hat.

    Am 1. August 1990 trat in der Sowjetunion das Gesetz über die Presse und andere Massenmedien in Kraft, das faktisch die sowjetische Zensur aufhob. Die Idee eines neuen Radiosenders war aber schon da. Bereits im Mai trifft sich eine Gruppe von Moskauer Enthusiasten und Intellektuellen. 

    Das Gründungskollektiv

    Ihre Vision war die Schaffung einer „vollkommen neuen Art“ von Radio, das den „Prinzipien des freien Journalismus und einer vollkommenen Abwesenheit von Propaganda und Gehirnwäsche“1 verpflichtet sein sollte. Mit zum Gründerkollektiv gehörten Professoren der journalistischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität, Abgeordnete des Moskauer Stadtsowjets sowie Journalisten aus Rundfunk und Presse. Als zentrale Figur für Konzept und Umsetzung gilt jedoch Sergej Korsun, zum damaligen Zeitpunkt Sprecher für das französischsprachige Radioprogramm des internationalen sowjetischen Radiosenders Radio Moskau. Für die Programmentwicklung zog er seinen Arbeitskollegen Sergej Buntman hinzu. 

    Am 22. August 1990 war die Gruppe soweit, und was sie sich überlegt hatten, ging tatsächlich auf Sendung – ein Programm aus aktuellen Nachrichten, einem Interview mit dem damaligen Reformer und Jelzin-Mitstreiter Sergej Stankewitsch und der Musiknummer All my loving der Beatles.2 Die Sendezeit in den ersten Monaten war auf zunächst zwei, später drei Stunden beschränkt.

    Von seiner Gründung im August 1990 dauerte es nur wenige Monate, bis der Radiosender zum Schlüsselmedium des politischen Prozesses wurde. Den ersten Anlass dazu gab die sowjetische Militärintervention in Litauen im Januar 1991, über die der Radiosender live berichtete. Zum entscheidenden Medium wurde Echo Moskwy dann während des Augustputsches in Moskau im selben Jahr. Während das Staatsfernsehen die Aufnahme des Balletts Schwanensee übertrug, sendete Echo Moskwy in den Tagen vom 19. bis 21. August 1991 mit Unterbrechungen Informationen zu den Ereignissen und mobilisierte die Menschen für den Widerstand gegen die Putschisten. Es waren Tage, die die Zukunft des Landes entscheiden sollten. So wurde der Sender Teil der großen Erzählung von Ende und Neubeginn in Russland.

    Institutionalisierung und zunehmender politischer Druck

    Auf die ersten Jahre des Enthusiasmus folgte eine Phase der Professionalisierung und Institutionalisierung unter den ökonomisch schwierigen Bedingungen der 1990er Jahre. Man begann, rund um die Uhr zu senden und stellte das Unternehmen auf eine sichere finanzielle Basis, indem der Medienmagnat Wladimir Gussinski mit seiner Most-Gruppe (ab 1997 Media-Most) zum Mehrheitseigentümer wurde. Auf diese Zeit geht eine Klausel zurück, die bis zum Schluss Geltung hatte und einen Schutz gegenüber Eingriffen vonseiten des Eigentümers darstellte. Sie besagte, dass der Chefredakteur vom Kollektiv zu wählen ist. 1998 wurde als Chefredakteur jener Mann gewählt, der den Sender bis zum Schluss wesentlich bestimmen sollte: Alexej Wenediktow.

    Echo Moskwy war für seine Zuhörerinnen und Zuhörer ein einzigartiges Forum des Wortes und der Diskussion / Foto: Alexej Wenediktow interviewt Michail Gorbatschow, 2008 © Alexey Yushenkov unter CC BY-SA 3.0
    Echo Moskwy war für seine Zuhörerinnen und Zuhörer ein einzigartiges Forum des Wortes und der Diskussion / Foto: Alexej Wenediktow interviewt Michail Gorbatschow, 2008 © Alexey Yushenkov unter CC BY-SA 3.0

    Nach der Zerschlagung von Gussinskis Medienunternehmen wurde Echo Moskwy 2001 in die Gazprom-Media-Holding überführt. Seit diesem Zeitpunkt, insbesondere aber seit Putins dritter Amtszeit ab Mai 2012, war die Frage der Unabhängigkeit des Senders von staatlichen Zugriffen über den verlängerten Arm von Gazprom-Media ein dauerhaftes Thema. 

    Dabei ist unbestritten, dass Echo Moskwy gerade im Unterschied zum Fernsehsender NTW, der ebenso von Gussinskis Media-Most-Gruppe zu Gazprom-Media wechselte, bis zuletzt ein politisch und gesellschaftlich höchst kritisches Programm bot. Insbesondere im Zuge der Krim-Annexion und mit Beginn des Krieges im Osten der Ukraine 2014 stellte sich der Sender gegen die patriotische Mobilisierung in den Staatsmedien und demonstrierte „editorial dissidence“, wie der bulgarische Investigativ-Journalist und Rechercheleiter von Bellingcat Christo Grozev die auch weiterhin verfolgte kremlkritische Haltung des Senders nannte.3

    Forum des Wortes und der Diskussion

    Echo Moskwy war für seine Zuhörerinnen und Zuhörer deutlich mehr als nur eine Informationsquelle – es war ein einzigartiges Forum des Wortes und der Diskussion. Neben aktuellen Informationen und Kurznachrichten im Halbstundentakt bestand das Programm aus einer Fülle an Interview-Sendungen mit Experten aus Politik und Gesellschaft sowie aus sogenannten „Autoren-Programmen“, die meist in Monologform bestritten wurden. Auch die thematischen Programmschienen zu Geschichte, Literatur, Kultur, Reisen und vielem mehr spielten für den Sender eine wichtige Rolle. Musik wurde nur in Spezialsendungen gespielt und blieb vorwiegend auf die Nachtstunden beschränkt. Zu den Stimmen und – seit Beginn der Live-Übertragung der Sendungen – Gesichtern des Senders wurden unter anderem Tatjana Felgengauer, Alexander Pljuschtschew und Olga Bytschkowa, die die Interview-Sendung Osсoboje mnenije (dt. Besondere Meinung) moderierten. Eigene „Autoren-Programme“ bekamen auch bekannte Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens, wie die Schriftstellerin und Journalistin Julia Latynina, der Vielschreiber Dimitri Bykow oder der Spekulationen zugeneigte Politologe Stanislaw Belkowski. 

    Obwohl die sogenannten liberalen oder oppositionellen Positionen bei der Auswahl der Gäste und Experten eindeutig in der Überzahl waren, kamen regelmäßig auch Personen aus dem kremlnahen Milieu und konservativen Meinungsspektrum zu Wort, wie der dem konservativ-orthodoxen Lager zuzurechnende Journalist Maxim Schewtschenko, der Putin nahestehende Politologe Sergej Markow oder der Chefredakteur des Boulevard-Blattes Komsomolskaja Prawda Wladimir Sungorkin. 

    Echo Moskwy war für seine Zuhörerinnen und Zuhörer deutlich mehr als nur eine Informationsquelle – es war ein einzigartiges Forum des Wortes und der Diskussion / Foto – Gäste von Echo Moskwy © Ilya Varlamov/varlamov.ru
    Echo Moskwy war für seine Zuhörerinnen und Zuhörer deutlich mehr als nur eine Informationsquelle – es war ein einzigartiges Forum des Wortes und der Diskussion / Foto – Gäste von Echo Moskwy © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Obwohl Echo Moskwy als Radiosender zu den traditionellen, „alten“ Medien gehörte und mit seinem linearen Programm in mehr als 30 Städten Russlands empfangen werden konnte, hatte sich der Sender in den letzten zehn Jahren seines Bestehens zu einer vielgestaltigen Internetplattform entwickelt. So bot die Webadresse echo.msk.ru eine Reihe von Blogs, ein frei zugängliches Sendungsarchiv und Live-Video-Übertragungen aus dem Radiostudio. Der Sender selbst erreichte täglich ein Millionenpublikum und rangierte über viele Jahre unter den meistgehörten Radiosendern von Moskau und Sankt Petersburg.

    Fragen journalistischer Ethik und innere Spannungen

    Im Jahr 2014 stieg nicht nur der politische Druck auf die Inhalte, sondern es mehrten sich auch offensichtliche Eingriffe in die Personalstruktur. So besetzte der Direktorenrat die Stelle des Generaldirektors mit Jekaterina Pawlowa, einer Journalistin aus den Staatsmedien mit engen Beziehungen zur Regierung (ihr Ehemann Alexej Pawlow war zum damaligen Zeitpunkt stellvertretender Leiter der Presse- und Informationsabteilung der Präsidialverwaltung).4 Im selben Jahr entbrannte ein Konflikt um die Entlassung des Echo-Journalisten Alexander Pljuschtschew durch den damaligen Generaldirektor von Gazprom-Media Michail Lesin, der mit einem Kompromiss zwischen Lesin und Wenediktow – Personalentscheidungen im Journalistenkollektiv waren die alleinige Angelegenheit des Chefredakteurs – endete. So wurde Pljuschtschew, der einen beleidigenden Tweet anlässlich des Todes von Alexander Iwanow, dem Sohn des hochrangigen Politikers und Putin-Vertrauten Sergej Iwanow, gepostet hatte,5 für zwei Monate beurlaubt. Die Echo-Journalistinnen und Journalisten einigten sich im Anschluss auf besondere Verhaltensregeln in den sozialen Medien. Gleichzeitig zeigte dieser Fall, dass die Grenzen zwischen politischer Einmischung und journalistischer Ethik nicht immer klar gezogen werden können. 

    Auch wenn es Einzelfälle blieben, kam es auf politischen Druck hin zu Einmischungen in den Redaktionsalltag. Das zeigte sich unter anderem in Löschungen von bereits gesendeten Inhalten von der Webseite. So wurde im Dezember 2015 ein Interview mit dem Publizisten und Satiriker Viktor Schenderowitsch entfernt, in dem dieser die grassierende Gesetzlosigkeit im Land beklagt und auf die direkten Verbindungen von Wladimir Putin zu kriminellen Kreisen in den 1990er Jahren verwiesen hatte.6 

    Fragen journalistischer Ethik, die nicht zuletzt auch auf innere Spannungen schließen ließen, bewegten das Gründungsmitglied Sergej Korsun dazu, 2015 den Sender zu verlassen. Korsun begründete sein Ausscheiden damit, dass die Werte, für die Echo Moskwy einst stand und zu denen unter anderem journalistische Professionalität und Redlichkeit gehörten, nicht mehr auf allen Ebenen gegeben seien. Korsuns Kritik galt vor allem der jungen, umstrittenen Journalistin Lesja Rjabzewa, der er vorwarf, die Grenzen des professionellen Journalismus durch provokante Äußerungen und eine zum Teil vulgäre Sprache überschritten zu haben.7
     

    Am Bestehen des Senders bis zum März 2022 hatte Chefredakteur Alexej Wenediktow zweifelsohne einen wesentlichen Anteil / Foto © Ilya Varlamov/varlamov.ru

    Echo Moskwy als Vitrine der Meinungsfreiheit

    Am Bestehen des Senders bis zum März 2022 hatte der Chefredakteur Alexej Wenediktow zweifelsohne einen wesentlichen Anteil. Wenediktow oder Wenik (dt. Besen), wie er unter anderem wegen seiner Frisur von vielen scherzhaft genannt wird, war bei den Echo-Journalistinnen und Journalisten für sein aufbrausendes Temperament und sein autoritäres Auftreten bekannt.8 Er verstand es über die Jahre hinweg, zwischen den politisch Verantwortlichen, den ökonomischen Interessen von Gazprom-Media und den Angestellten seines Senders zu vermitteln. Selbst Generaldirektor Michail Lesin, mit dem er im Fall Pljuschtschew im Clinch gelegen hatte, bescheinigte Wenediktow ein ausgeprägtes politisches Gespür: „Wenediktow erschien mir immer als ein kluger und talentierter Politiker, der viele Jahre lang geschickt zwischen den Aktionären, den politischen Kräften manövriert hat. Er war für alle bequem. All die Mythen, dass er super-demokratisch und liberal sei, lassen wir beiseite.“9 

    Wenediktow selbst nannte im Jahr 2018 gegenüber dem YouTuber Juri Dud drei Hauptgründe, warum die politische Macht mit Wladimir Putin an der Spitze ein Interesse am Fortbestand des Senders gehabt haben könnte.10 Erstens gelte Echo Moskwy als „Vitrine der Freiheit des Wortes in diesem Land“, sprich: als Feigenblatt, das sich vorzeigen lässt. Zweitens würde der Präsident nur zu gut wissen, dass der Sender niemanden politisch unterstützen und niemals einen „Krieg“ gegen ihn führen würde, und drittens habe Putin gegenüber Wenediktow persönliche, vielleicht sogar sentimentale Beziehungen aus der ersten Zeit seiner Präsidentschaft. Abgesehen davon würde Putin selbst kritische Informationen aus dem Radiosender beziehen. 

    Seit dem 3. März 2022 ist Wenediktows optimistische Einschätzung genauso Geschichte wie die Existenz der meisten unabhängigen Medien in Russland. 

    Shiwoi gwosd: Weiterleben oder Wiedergeburt?

    Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass auf der Frequenz von Echo Moskwy in Moskau, Sankt Petersburg und einigen anderen russischen Städten am 9. März 2022 Radio Sputnik auf Sendung ging. Gleichzeitig hat Wenediktow seine Widerstandsfähigkeit unter Beweis gestellt und bereits am 4. März seinen neuen Telegram-Kanal mit den Worten „Ja tut s wami“ (dt. Ich bin hier mit euch) eröffnet. Bereits eine Woche später nimmt der Youtube-Kanal Shiwoi gwosd (dt. Lebender Nagel) seinen Betrieb auf. Die Programm-Ankündigung für den 11. März 2022 erinnert mit insgesamt drei Sendungen stark an die Anfänge von Echo Moskwy, doch das Trägermedium hat sich grundlegend geändert. Denn obwohl sich viele der Echo-Journalistinnen und Journalisten nach kurzer Zeit unter dem Dach von Shiwoi gwosd einfinden und auch Podcasts der Sendungen unter dem alten Markenzeichen Echo Moskwy zur Verfügung gestellt werden, verfügen die Formate nicht mehr über die Präsenz, die der Radiosender mit seiner Live-Übertragung im Alltag der Menschen einnahm. So gesehen ist das Weiterleben von Echo Moskwy weniger ein Zeichen für dessen Wiedergeburt, als vielmehr dafür, dass mit der Abschaltung des Senders am 1. März 2022 eine Epoche zu Ende gegangen ist. 


    1. Den Text über die Geschichte des Senders konnte man auf der Website unter https://echo.msk.ru/about/history/timeline.html nachlesen. ↩︎
    2. vgl. Slavtcheva-Petkova, Vera (2018): Russia’s Liberal Media: Handcuffed but Free, N.Y, London, S. 118 ↩︎
    3. Grozev, Christo (2014): For Russian media, it’s “No-Truth, No-Dare”: Christo’s blog: Observations and analysis on the new information war ↩︎
    4. Kommersant: General’naja nedoverennost’ ↩︎
    5. Der Fall wird von Vera Slavtcheva-Petkova detailliert beschrieben: Slavtcheva-Petkova, Vera (2018): Russia’s Liberal Media: Handcuffed but Free, N.Y, London, S. 128-129 ↩︎
    6. Der Fall wurde vom Journalisten Oleg Kaschin publik gemacht. Auf dessen Website kann das Interview nachgelesen werden: kaschin.guru: Tekst zapreščёnnogo na «Ėcho Moskvy» ėfira Šenderoviča ↩︎
    7. Korzun, Sergej/Livejournal (2015): O grustnom… ↩︎
    8. vgl. Slavtcheva-Petkova, Vera (2018): Russia’s Liberal Media: Handcuffed but Free, N.Y, London, S. 141-144 ↩︎
    9. Novaja gazeta: Michail Lesin: «Ja ne sporju, čto uvol’nenie Pljuščeva bylo nezakonnym» ↩︎
    10. vDud’ (2018): Venediktov – Putin, Putin, Lesja, Putin ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert durch die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius

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  • Ilja Chrshanowski

    Ilja Chrshanowski

    Im Januar 2019 wurde in Paris die Weltpremiere des „Monsterprojekts“ Dau gefeiert. Über 10 Jahre lang kursierte darüber nicht viel mehr als eine Fülle an Gerüchten. Vor allem in den russischen Medien war die Rede von Chaos am Filmset, Machtmissbrauch, Ausbeutung, exzessiven Sex- und Gewaltszenen sowie dubiosen Finanzierungsquellen. Die zentrale Figur hinter all dem ist der Regisseur Ilja Chrshanowski. In seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeit bearbeitet er die gewaltvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts und er macht das auf eine unkonventionelle, innovative, gleichzeitig aber höchst polarisierende Weise. Chrshanowski provoziert, inszeniert und seziert menschliches Verhalten in extremen existentiellen Situationen, um die Wirkmechanismen totalitärer Systeme „erlebbar“ zu machen. Dieses Grundprinzip wird er nach Dau im Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew weiterverfolgen. Seine Bestellung zum künstlerischen Leiter, die im Herbst 2019 erfolgte, wurde von den Medien ebenso wie Dau äußerst kontrovers wahrgenommen: Die Kritiker befürchten die Errichtung eines „Holocaust-Disneyland“.

    In seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeit bearbeitet Ilja Chrshanowski die gewaltvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts. Foto © Ekaterina Chesnokova/Sputnik
    In seiner vielfältigen künstlerischen Tätigkeit bearbeitet Ilja Chrshanowski die gewaltvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts. Foto © Ekaterina Chesnokova/Sputnik

    Ilja Chrshanowski (geb. 1975 in Moskau) ist im Milieu der sowjetischen künstlerischen Intelligenzija aufgewachsen. Sein Vater ist der bekannte Regisseur, Trickfilmer und Drehbuchautor Andrej Chrshanowski. Sein Großvater war Künstler und Sänger und verlieh ab den 1950er Jahren zahlreichen Animationsfilmen seine Synchronstimme. Das besondere kulturelle und intellektuelle Umfeld seiner Kindheit hebt Chrshanowski in Interviews immer wieder als persönliches Privileg hervor. Gleichzeitig offenbarten sich ihm gerade in diesem Milieu vom Autoritarismus ausgeprägte menschliche Verhaltensweisen. So erinnert er sich in einem Interview mit Meduza an Peredelkino, ein sowjetisches Künstlerdorf in der Nähe von Moskau, wo die Familie Haus an Haus mit bekannten Kulturschaffenden wohnte. Über einen davon, den landesweit berühmten und angesehenen Schriftsteller Valentin Katajew, sagt Chrshanowski in dem Gespräch: „Sobald eine Hetzjagd gegen einen seiner Kollegen losging, [eilte er] nach Moskau, um rechtzeitig seine Unterschrift unter ein Verleumdungsschreiben zu setzen“.

    Im Jahr 1992 ging Chrshanowski zum Kunststudium nach Bonn, kehrte aber bereits ein Jahr später wieder nach Moskau zurück: ihm erscheine das Leben in Russland der 1990er Jahre weit interessanter als jenes in Europa.1 Zum gleichen Zeitpunkt stellte der Altmeister des Sowjetfilms Marlen Chuzijew einen Regiekurs an der Moskauer Filmhochschule WGIK zusammen, in den auch Chrshanowski aufgenommen wurde. Zehn Jahre später kam sein erster Spielfilm heraus, der den rätselhaften Titel 4 (2004) trägt. Die konzeptionellen Grundrisse von Chrshanowskis Arbeitsweise, die später in Dau münden, lassen sich bereits in diesem Film erkennen.

    Fingerübung und Sprungbrett

    Vier Jahre lang arbeitete der junge Regieabsolvent an seinem Debütfilm. Das Drehbuch stammte vom postmodernen Kultautor Vladimir Sorokin, dessen Handschrift und Themen im Filmsujet auch deutlich zu erkennen sind. Zwei Männer und eine Frau kommen eines nachts in einer Bar ins Gespräch und präsentieren ihre scheinbar fiktiven Identitäten, die im weiteren Handlungsverlauf immer realer und realistischer werden. Einer der beiden Männer stellt sich als Wissenschaftler vor, der in einem Geheimlabor Menschen klont. Seit 1947 solle es in der Sowjetunion Experimente gegeben haben und ganze Dörfer seien von geklonten Menschen bevölkert. Wie sich später zeigen wird, ist wohl auch die junge Frau, Marina, gemeinsam mit ihren drei gleich aussehenden Schwestern ein derartiger Klon.

    https://www.youtube.com/watch?v=RLaYLv77o9s

     
    Die konzeptionellen Grundrisse von Chrshanowskis Arbeitsweise, die später in Dau münden, lassen sich bereits in seinem Debütfilm 4 erkennen

    Im Mittelpunkt der Handlung steht die Rückkehr Marinas in ihr Dorf. In den Dorfszenen, die das inhaltliche und formale Gravitationszentrum des Films bilden, wird das anfängliche Science-Fiction-Sujet durch die Archaik des russischen Dorfes konterkariert. Ungewöhnlich bis skandalös wirken vor allem die dokumentarischen Aufnahmen der erotisch-morbiden, ekstatischen, karnevalesken Dorfgemeinschaft: alte Frauen bei einem Saufgelage, die sich vor laufender Kamera nackt präsentieren und sich gegenseitig an die schlaffen Brüste fassen. Der Literaturwissenschaftler Mark Lipovetsky bietet eine pointierte Beschreibung von Chrshanowskis Szenerie: „Man stelle sich ein Zaubermärchen vor, mit drei russischen Schönen, mehreren Baba Jagas (gespielt von echten Dorfbewohnerinnen), die fluchen, trinken, sich prügeln, lachen und weinen – und all das ist in einem dokumentarischen, fast emotionslosen Stil gedreht“.2

    Bereits sein Debütfilm und vor allem die filmische Darstellung des Dorfes stießen im damaligen Russland auf heftige Kritik. Der Film wurde schließlich jedoch für den Verleih freigegeben, was heute allein schon aufgrund der extensiven Verwendung der Vulgärsprache Mat undenkbar wäre (Mat darf laut Gesetz seit 1. Juli 2014 nicht mehr im Kino, Fernsehen, Theater sowie in den Medien verwendet werden). Beachtlich war dagegen die internationale Resonanz. Der Film lief 2004 bei den Filmfestspielen von Venedig außer Konkurrenz und erhielt im darauffolgenden Jahr auf Filmfestivals eine Auszeichnung nach der anderen, unter anderem in Rotterdam, Athen, Seattle oder Buenos Aires.

    Dieser Erfolg ebnete Chrshanowski den Weg, ein weit größeres Projekt in Angriff zu nehmen. Dabei entwickelte er seine Konzeption konsequent weiter und verfolgte eine für alle Beteiligten herausfordernde, künstlerisch und philosophisch höchst aktuelle Gratwanderung zwischen Fiktion und Realität, Inszenierung und Beobachtung, Spielfilm und Dokumentarismus, Parawissenschaften und (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis: 2005 beginnt er seine Arbeit an Dau.

    Vom Biopic zum Modell des Sowjetsystems

    Anfänglich plante Chrshanowski, das Leben des sowjetischen Physikers und Nobelpreisträgers Lew Landau zu verfilmen, und begann mit Sorokin am Drehbuch zu arbeiten. Sehr schnell verwarf er jedoch diese Pläne wie auch die Drehbuchvarianten, die Sorokin vorgelegt hatte.3 Aus dem Biopic über „Dau“, wie man den Physiker im Familien- und Freundeskreis nannte, wurde etwas unvergleichbar Größeres, das den Namen Mammutprojekt verdient – und ohne Drehbuch realisiert wurde.

    Chrshanowski ließ, dank der großzügigen finanziellen Unterstützung des russischen Unternehmers Sergej Adonjew, in der ukrainischen Stadt Charkiw an der Stelle eines still gelegten Freibads ein Filmset errichten. Auf 6000 Quadratmetern4 entstand das Modell eines sowjetischen Forschungsinstituts, in dem die sowjetische Gesellschaft als Ganzes simuliert werden sollte: mit realen Menschen von heute, die im „Institut“ bis zu drei Jahre lang wohnten und in die Rollen der Menschen der Jahre 1935 bis 1968 schlüpften – von Physikern über Buffetkräfte und Straßenfeger bis hin zu Miliz und Geheimpolizei. Im „Institut“ wurde mit sowjetischem Geld bezahlt, Gegenstände und Kostüme entsprachen der jeweiligen Zeit, das Essen war sowjetisch und aus den Lautsprechern war ausschließlich sowjetisches Radio zu hören.

    Das „Institut“ war für die Jahre 2008 bis 2011 Filmset und Versuchsanordnung zugleich. Diese war auf menschliches Verhalten in bestimmten Situationen fokussiert. Chrshanowski ging dabei konsequent an die Scham- und Tabugrenzen: Sex in hetero- oder homosexueller und sogar inzestuöser Form, Alkohol, Gewalt gegen Mensch und Tier. In Ergänzung dazu zielte die Versuchsanordnung auf menschliches Verhalten unter autoritären bzw. totalitären Bedingungen ab – eine Aufgabenstellung, der sich in den USA der 1960er und 1970er Jahre psychologische Experimente, wie das Milgram-Experiment oder das Stanford-Gefängnis-Experiment, verschrieben hatten.

    Unterdrückungs- und Erniedrigungsmechanismen

    Chrshanowski konzentrierte sich darauf, sowjetische Macht-, Unterdrückungs- und Erniedrigungsmechanismen emotional und intellektuell zu erschließen und dadurch „erlebbar“ zu machen. Obwohl eine Reduktion des Projekts auf dieses Moment zu kurz greifen würde, geht es doch im Wesentlichen um Vergangenheitsaufarbeitung in einem umfassenden Sinn oder, wie der russische Filmkritiker Anton Dolin es formuliert, um die „komplexen Wechselbeziehungen des postsowjetischen Menschen (insbesondere des Wissenschaftlers und Künstlers) zum totalitären Erbe der Sowjetunion“.5

    Die Teilnehmenden erklärten sich bereit, in jeder Situation gefilmt zu werden und sie wussten, wann gefilmt wurde. Mit Ausnahme von Radmila Schtschegolewa in der Rolle von Daus Ehefrau Nora sind die DarstellerInnen allesamt Laien. Aus der beobachtenden Kamera ergibt sich auch die spezifische Ästhetik der entstandenen Filme: lange Einstellungen, wenig Handlung, eine auf Eskalation ausgerichtete Dramaturgie, die serienhafte Wiederkehr der Figuren und Themen. Dabei besteht die mediale und ethische Herausforderung für die ZuschauerInnen darin, dass sie auf eine bisher kaum gekannte Art involviert werden. Unabhängig davon, ob sie den Figuren bei ihren Trinkexzessen, bei ihren intimen Beziehungskrisen oder bei kollektiven Zerstörungsorgien zusehen, werden die ZuschauerInnen durch die zur Schau gestellten Akte der Erniedrigung und Selbsterniedrigung nicht nur in die Rolle von VoyeurInnen versetzt, sondern erleben fast zwangsläufig das Gefühl der Scham. Scham für den Anderen zu evozieren ist eine Form der Empathie, die das konventionelle Kino nicht kennt.

    Vom Regisseur zum Ausstellungsmacher

    Obwohl die Dreharbeiten Ende des Jahres 2011 abgeschlossen wurden und Chrshanowski das „Institut“ real auseinandernehmen ließ (mit einer Zerstörungsorgie ukrainischer Neonazis endet auch der sechsstündige Film Dau. Degeneratsia), dauerte es noch mehrere Jahre, bis das Projekt öffentlich präsentiert wurde. Die Postproduction-Phase wurde von Charkiw nach London verlegt. Dort, in Chrshanowskis Studio in der Piccadilly Street, wurden nicht nur aus 700 Stunden gedrehtem Material mehrere Filme und Miniserien montiert, sondern auch Screenings für geladene Gäste veranstaltet.6

    Als Präsentationsorte waren für Herbst/Winter 2018/19 zuerst Berlin, dann Paris und London vorgesehen. Präsentiert werden sollte das Projekt in Form einer Ausstellung mit Screenings, Performances, Installationen und Konzerten. Die BesucherInnen sollten zu Beginn einen persönlichen Fragebogen ausfüllen, auf Basis dessen ein individualisiertes Programm vorgeschlagen werden sollte – zweifelsohne eine Provokation in Bezug auf Fragen des Datenschutzes. Vorgesehen waren darüber hinaus individuelle Gespräche mit VertreterInnen der Religionen, PsychologInnen und SozialarbeiterInnen in beichtstuhlartigen Kabinen, die gefilmt und auf Wunsch auch wieder gelöscht werden sollten.

    Die Weltpremiere von Dau, das nun als interdisziplinäres Kunstprojekt deklariert wurde, war für den 12. Oktober 2018 geplant. Als Veranstaltungsort war das Kronprinzenpalais am Boulevard Unter den Linden in Berlin vorgesehen. Das Areal rund um das Palais sollte von einer Mauer aus Beton umsäumt werden. Die Berlinpremiere scheiterte jedoch an der baulichen Genehmigung für die Mauer. Abgesehen davon skandalisierten deutsche Pressestimmen das Kunstprojekt zu einem „DDR-Disneyland“ und „stalinistischen Retro-Spektakel mit Gruselfaktor“.7

    Im Pariser Centre Pompidou und in den beiden Theatern Théâtre de la Ville und Théâtre du Châtelet wurde das Projekt schließlich von 24. Januar bis 17. Februar 2019 öffentlich in der geplanten Form präsentiert. Nach Berlin zurück kehrten ein Jahr später zwei Filme: Der sechsstündige Dau. Degeneratsia wurde im Berlinale Special gezeigt, während Dau. Natasha als Film im Wettbewerb der Berlinale lief und mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde (den Preis erhielt der deutsche Kameramann Jürgen Jürges). Im April 2020 schließlich, mitten in der Corona-Krise, ging die Streaming-Plattform Dau Cinema online, die 15 Spielfilme und 6 Serien verzeichnet, die sukzessive online gestellt werden.

    In Russland ist an eine Präsentation des Projekts aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen derzeit nicht zu denken. Vier von insgesamt zehn der beim Kulturministerium eingereichten Dau-Filme erhielten keine Verleihgenehmigung, weil sie Pornografie propagieren würden..Gegen dieses Urteil hat die Produktionsgesellschaft Phenomen Films im Februar 2020 beim Moskauer Schiedsgericht Klage eingereicht.8

    Mediales Echo

    Betrachtet man den wuchernden medialen Diskurs über Dau, so kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass das mediale Echo als integrativer Bestandteil des Projekts angelegt ist. Wo immer Chrshanowski in Erscheinung tritt, entspinnt sich in den Medien eine Polemik über den Regisseur, über seine Arbeitsmethoden und Finanzierungsquellen. Zu den konstanten Vorwürfen gegen ihn gehört, dass er Menschen manipuliere, ihre Arbeitskraft ausbeute (was gleichermaßen für die Dreharbeiten in Charkiw wie für die Dau-Präsentationen in den europäischen Metropolen gilt),9 dass er sich als männliches Genie und Sektenführer gerieren würde. Im Rahmen der Berlinale 2020, auf der zwei Dau-Filme zu sehen waren, wurde eine #metoo-Debatte losgetreten.

    Die moralischen und – konkret in der Ukraine – strafrechtlichen Vorwürfe10 gegen das Projekt wirbeln in der medialen Öffentlichkeit oberflächlich vor allem Staub auf. Indirekt demonstrieren sie dagegen, dass Chrshanowski auf eine Kunst abzielt, die sich nicht einfach konsumieren lässt, sondern die BetrachterInnen treffen will. Dieser Ansatz polarisiert in besonderem Maße. So gibt es neben vehementen KritikerInnen nicht nur eine Fülle an prominenten UnterstützerInnen, sondern auch euphorische Stimmen, wie beispielsweise die des deutschen Filmkritikers und Festivalkurators Jochen Werner, für den es besseres und aufregenderes Kino als Dau derzeit nicht zu sehen gebe.11

    Babyn Yar: ein Holocaust-Disneyland?

    An das Dau-Projekt, das Chrshanowski über die Jahre entwickelt hat, knüpft er nun konzeptionell in einem Museumsprojekt an. Im Herbst 2019 wurde Chrshanowski zum künstlerischen Leiter des in Entwicklung begriffenen Babyn Yar Holocaust Memorial Center in Kiew bestellt. Für das Museum, das an das Massaker an rund 33.000 jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt am 29. und 30. September 1941 erinnern soll, sieht Chrshanowski einen individualisierten, auf Basis neuer Medientechnologien generierten „Weg“ durch die Ausstellung vor. Die Lebensgeschichten der Opfer sollen medial aufbereitetet werden und insgesamt geht es ihm um ein Erlebbarmachen des Holocaust über die emotionale Einwirkung auf die BesucherInnen. Wie Chrshanowski im Interview mit Meduza sagte, könnten Menschen nur über den unmittelbaren Kontakt – über das In-Berührung-Kommen – „lieben, fühlen und erleben“.12

    Die Reaktionen auf die Ernennung Chrshanowskis als künstlerischer Leiter waren nicht weniger kontrovers, als die Reaktionen auf das Dau-Projekt. Die bis dahin für die Konzeption Verantwortlichen nahmen den Hut. Die ehemalige geschäftsführende Direktorin Jana Barinowa etwa krisitierte, das Projekt würde sich nun von den internationalen Standards des Holocaust-Gedenkens weg in eine vollkommen andere Richtung bewegen.13 Die kritischen Einwände zielen inhaltlich auf die Infragestellung gewohnter Grenzziehungen ab. So erscheint die Befürchtung durchaus berechtigt, Chrshanowski würde die Grundfeste einer Holocaust-Gedenkstätte, die den historischen Fakten verpflichtet ist und die Würde der Opfer ins Zentrum der Erinnerung stellt, erschüttern. Nicht adäquat erscheint dagegen die Assoziation mit einem „Holocaust-Disneyland“. Auf Unterhaltung, Vergnügung und Zerstreuung zielt Chrshanowski zweifelsohne nicht ab. Vielmehr verspricht er in Bezug auf den Holocaust, uns Nachgeborene auf eine durchdringende Weise mit den unvorstellbaren Gräueln des 20. Jahrhunderts neu zu konfrontieren.


    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Suleika öffnet die Augen

    Suleika öffnet die Augen

    Der 2015 erschienene Debütroman Sulejcha otkrywajet glasa (Suleika öffnet die Augen) der russisch-tatarischen Schriftstellerin Gusel Jachina war ein durchschlagender Erfolg. Mittlerweile erzielt allein die russische Ausgabe des Buches eine Auflage von einer halben Million Exemplare – eine beachtliche Zahl für eine Geschichte, die sich der sogenannten Entkulakisierung der frühen 1930er Jahre verschrieben hat. Die im April 2020 im staatlichen Fernsehprogramm Rossija 1 ausgestrahlte achtteilige Verfilmung stellte als erfolgreichste TV-Serie der Saison die Breitenwirkung des Romans noch einmal in den Schatten. Gleichzeitig hagelte es Kritik von verschiedenen Seiten und eine Welle der Empörung ging durch die sozialen Medien. Damit wurde ein weiteres Mal deutlich, dass die eigene Geschichte im heutigen Russland ein vermintes Terrain ist.

    Der Titel des Romans ist einprägsam und treffend, höchst anschaulich und dabei vielschichtig. Er lässt sich zudem leicht in andere Sprachen übertragen. So folgen beinahe alle der bislang angefertigten 35 Übersetzungen dem Original im Wortlaut: Suleika öffnet die Augen.

    Suleika ist eine zu Beginn der Romanhandlung 30-jährige Frau. Sie ist als tatarische Bäuerin und Ehefrau in traditionellen, patriarchalischen Lebensverhältnissen gefangen. Das Öffnen der Augen ist Alltagshandlung und Metapher zugleich, erzählt der Roman doch die Geschichte einer Frau, die aus der fremdbestimmten Knechtschaft heraustritt und im Kontakt mit anderen ihre innere Freiheit erlangt. Der Titel erzählt damit ein ganzes Leben, funktioniert gleichzeitig aber auch wie ein filmisches Close-up. Aus Augenpaaren und Frauengesichtern hatte der sowjetische Dokumentarfilmpionier Dziga Vertov beeindruckende Montagesequenzen gestaltet. Im Film Tri pesni o Lenine (1934, Drei Lieder über Lenin) – genau in jener Zeit entstanden, in der auch die Romanhandlung einsetzt – stehen die Augenpaare für etwas, das auch Suleika erlebt: die ideologisch propagierte und politisch realisierte Befreiung der muslimischen Frau des Ostens.

    Ein Roman über die Befreiung der Frau

    Mit Suleika öffnet die Augen beginnt der Roman. Dieser kurze Satz kehrt im Buch insgesamt vier Mal wieder. Mit dem Öffnen der Augen beginnt für Suleika ein Tag wie jeder andere: Sie wird ihre alte und herrische Schwiegermutter bedienen und ihren um Jahre älteren Ehemann umsorgen. Ihm hat sie bereits vier Töchter geschenkt, die alle kurz nach der Geburt gestorben sind. Sie wird sich um die kleine Wirtschaft und das Vieh – eine Kuh und ein Pferd mit Fohlen – kümmern.

    Doch mit dem ersten sowjetischen Fünfjahrplan – die Romanhandlung setzt im Februar des Jahres 1930 ein – soll jede noch so bescheidene Form der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft eliminiert werden. Die sogenannte „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“ bedeutet Enteignung und Vertreibung: Über 4 Millionen Menschen werden im Zuge dieser Kampagne nach Sibirien und in andere entlegene Regionen der Sowjetunion deportiert.

    Am darauffolgenden Tag endet für Suleika jene Gefangenschaft, die in der traditionellen Lebensweise begründet ist. Ihr Ehemann wird von einem Rotarmisten erschossen, und für Suleika beginnt der lange Weg von ihrem Dorf in der Nähe der tatarischen Stadt Kasan zu einer neu zu errichtenden Siedlung mitten in der sibirischen Taiga. Dort verbringt sie die kommenden 16 Jahre ihres Lebens. Im Arbeitslager, in einem bunt zusammengewürfelten Kollektiv bestehend aus Kulaken und Leningrader „Ehemaligen“ aus dem Gelehrten- und Künstlermilieu sowie aus Kriminellen und Denunzianten, wird Suleika zu einer Frau, die sich ihrer selbst bewusst ist.

    Das Schweigen einer ganzen Generation

    Gusel Jachina ließ sich durch die Geschichte ihrer Großmutter inspirieren, wie die Autorin in einem Interview kurz nach Erscheinen des Romans erläutert: „Sie war sieben Jahre alt, als ihre Familie entkulakisiert und an die Angara deportiert wurde, wo sie sechzehneinhalb Jahre verbrachte. Dieser zeitliche Rahmen – von 1930 bis 1946 – wiederholt sich im Roman. Meine Heldin im Roman ist freilich nicht meiner Großmutter nachempfunden, sondern eine ganz andere Frau.“1

    Suleika öffnet die Augen ist ein Roman, der die jüngere Vergangenheit und damit die Erschütterungen, Verwerfungen und Traumatisierungen, die Millionen von Menschen im Europa des 20. Jahrhundert erfahren mussten, in den Blick nimmt. Im Unterschied zum historischen Masternarrativ um eine heroische Vergangenheit, das von vielen geschichtspolitischen Akteuren gepflegt wird, sind es in Russland gerade literarisch-künstlerische Texte, die von der Mehrheitsgesellschaft vergessene Stimmen hörbar und aus dem kollektiven Gedächtnis Ausgeblendetes sichtbar machen können. Ein bewährtes erzähltechnisches Verfahren für die Weitergabe des Erlebten im Sinne der Oral History stellt die Kommunikation zwischen Großeltern und Enkelkindern dar.

    Im literarischen Erinnerungsdiskurs nimmt daher die Figur der Großmutter oder Urgroßmutter eine prominente Rolle ein. Das zeigen überaus erfolgreiche europäische Romane mit Russland- bzw. Sowjetbezug beginnend mit Le Testament Français (1995) des in Frankreich lebenden Andreï Makanine über Vielleicht Esther (2014) der in Deutschland lebenden Katja Petrowskaja bis hin zum Roman Menschen im August (Originaltitel: Ljudi avgusta, 2015) des russischen Autors Sergej Lebedew. Der Schreibprozess selbst wird häufig durch die willentlichen und unwillentlichen Lücken im Familiengedächtnis motiviert, die das Ergebnis des Schweigens einer ganzen sowjetischen Generation sind. Wie Lebedew dies in Menschen im August formuliert: „In den dreißiger und vierziger Jahren sorgte ein Maulkorb für das Schweigen; Anfang der achtziger Jahre war der Maulkorb weg, doch man war an ihn gewöhnt, er war bereits mit der Persönlichkeit verwachsen.“2

    Die Entkulakisierung als TV-Melodrama

    Nicht einmal ein Jahr nach Erscheinen des Buches machte der Fernsehsender Rossija 1 der Autorin das Angebot, ihren Roman als TV-Serie zu verfilmen. Regie führte der auf TV-Serien spezialisierte Jegor Anaschkin und die Hauptrollen wurden prominent besetzt: mit Tschulpan Chamatowa in der Rolle der Suleika, dem charismatischen Jewgeni Morosow in der Rolle des Iwan Ignatow und mit Sergej Makowezki in der Rolle des verrückten Kasaner Professors Lejbe. Obwohl die Serie bereits im Herbst 2019 fertiggestellt war, ließ sich der TV-Sender Zeit und strahlte sie schließlich zwischen 13. und 22. April 2020 aus.

    Dass in der TV-Serie die Liebesgeschichte zwischen Suleika und Ignatow mehr Gewicht erhält als im Roman, wurde ihr am wenigsten zum Vorwurf gemacht. Ähnlich wie die Serie aus dem melodramatischen Stoff wesentliche Spannungsmomente bezieht – bis zur vorletzten siebten Folge muss man auf die Liebesszene warten –, kommen auch andere effektvolle, filmische Mittel zum Einsatz, wie Panorama-Aufnahmen über endlose Wälder oder ein einprägsamer Soundtrack, der auf die Ethnomusikerin Dina Garipowa zurückgeht.3 Durch die Melodramatisierung geht jedoch die dreigliedrige Figurenkonstellation des Romans verloren, die diesem eine bestimmte kulturelle, um nicht zu sagen kulturideologische Prägung verleiht. Mit den drei Figuren rückt Jachina nämlich gleichzeitig drei Kulturen und Sprachen in den Vordergrund, die die kulturelle Diversität der Stadt Kasan und der Wolgaregion insgesamt repräsentieren und die gleichzeitig auch autobiographisch motiviert sind: Suleika steht für die tatarische, Ignatow für die russische und der verrückte Professor Lejbe für die deutsche Kultur – konkret für die zahlreichen Professoren deutscher Provenienz an der 1804 gegründeten Kasaner Universität.

    Kritik und Empörung

    Die lauteste Kritik an der TV-Serie kam aus dem nationalistischen und nationalpatriotischen Lager und wurde von einer Welle an Beleidigungen, Beschuldigungen und Beschimpfungen begleitet. Sie treffen am heftigsten die beiden Frauen tatarischer Herkunft – die Schauspielerin Tschulpan Chamatowa und die Autorin Gusel Jachina. Von tatarischer Seite wurde Kritik an der Darstellung der Tataren geübt und das Fehlen positiver ethnokultureller Momente beklagt – eine Kritik, die auch schon in Bezug auf den Roman geäußert wurde. So lernt der heranwachsende Jusuf im Arbeitslager bekanntlich Französisch, Tatarisch aber scheint er nicht zu sprechen. Anstoß erregten aber auch die kurze Sexszene in der Moschee, die sich zwischen Ignatow und einer Rotarmistin abspielt, die vermeintlichen Fehler bei der Wiedergabe traditioneller tatarischer Kleidung und Einrichtung sowie das Verlesen tatarischer Familiennamen beim Abtransport nach Sibirien, die historischen und zeitgenössischen tatarischen Muftis zugeordnet werden konnten. Bei der Namensliste dürfte den Filmemachern tatsächlich ein Missgeschick passiert sein.

    Der Vorwurf der Beleidigung und Verleumdung kam aber nicht nur von der tatarischen, sondern mindestens genauso so heftig von der russischen Seite. Dabei fühlte sich das nationalpatriotische Lager durch die Geschichtsdarstellung im Nationalstolz gekränkt, während kommunistische Gesinnungsgenossen den Film als antisowjetisch verdammten.4 Bei den Vorwürfen mag eine nicht zu unterschätzende Rolle die Darstellung des Geheimdienstes – der sowjetischen Geheimpolizei GPU, später NKVD und schließlich KGB – gespielt haben. Die Figur des Sinowi Kusnez, seines Zeichens „Verantwortliche[r] für Sonderaufgaben der Krasnojarsker Abteilung der GPU“,5ist bereits im Roman eine der wenigen nicht ambivalent gezeichneten Figuren. Erst in der TV-Serie aber wird die Figur durch die brillante Darstellung des Schauspielers Roman Madjanow plastisch und in ihrer ganzen moralischen Verkommenheit greifbar.

    Das Urteil über Roman und Serie hängt eng damit zusammen, wie man zu den stalinistischen Verbrechen steht. So wurde bereits der Roman für seine zu positive, ja geradezu beschönigende Darstellung des Arbeitslagers kritisiert. Christiane Pöhlmann bezeichnete den Roman in ihrer Buchbesprechung für die FAZ als „engagiert vom Ansatz her, aber verharmlosend in der Ausführung“.6 Auch diesbezüglich war jedoch die Angriffsfläche, die die TV-Serie bot, ungleich größer. So mokierten sich die Radiomoderatorinnen Xenia Larina und Irina Petrowskaja in ihrer Sendung auf Radio Echo Moskwy über die frisch gezimmerten Holzhäuschen der herausgeputzten Siedlung und die perfekt manikürten und ins Bild gesetzten Fingernägel von Tschulpan Chamatowa.7

    „Suleika, öffne ihnen die Augen!“

    Die äußerst widersprüchliche Kritik an Roman und Serie macht deutlich, dass es in der heutigen russischen Gesellschaft keinen Konsens über die stalinistischen Verbrechen gibt. Für den Korrespondenten der Novaya gazeta Alexej Tarassow ist dies in einem engen Zusammenhang mit der Verlagerung der öffentlichen Aufmerksamkeit weg vom unheroischen Lagerthema und hin zum heroischen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu sehen. In seiner Geschichtsreportage zur Serie8 macht er diesen Wandel beispielhaft an der Familiengeschichte der Rimma Galejewa fest, die in den 2000er Jahren eine schulische Arbeit über ihre Großmutter verfasst hatte, die als Kleinkind nach Sibirien deportiert worden war. Heute schreibt ihr zehnjähriger Sohn bei derselben Lehrerin ebenfalls eine historische Arbeit, allerdings stünde jetzt der in der Schlacht um Stalingrad vermisste Urgroßvater väterlicherseits im Zentrum. Die Lagererzählungen der Großmütter aber würden nun gegen die TV-Serie ins Treffen geführt – „ne bylo takogo“ – „so etwas gab es nicht“. Dagegen lässt sich mit Tarassow in der Tat nur noch einwenden: „Suleika, öffne ihnen die Augen!“


    1. business-gazeta.ru: Gusel Jachina: „U menja est‘ četkoe otnošenie k figure Stalina i periodu ego pravlenija“ ↩︎
    2. Lebedew, Sergej (2015): Menschen im August. Frankfurt am Main: S. Fischer 2015, S. 9 ↩︎
    3. Die vollständige Version des tatarischen Volksliedes „Aj, bylbylym“ in der Bearbeitung von Dina Garipowa findet sich unter business-gazeta.ru: Dina Garipova vypustila polnuju versiju pesni, stavšej saundtrekom seriala «Zulejcha otkryvaet glaza» ↩︎
    4. Eine Zusammenstellung der Kritik findet sich in der Novayagazeta.ru: Čulpan Chamatova: «Nevežestvo vsegda peremešano s varvarstvom i agressiej» ↩︎
    5. Jachina, Gusel (2017): Suleika öffnet die Augen. Berlin: Aufbau Verlag 2017, S. 223 ↩︎
    6. Christiane Pöhlmann (2017): Willkommen in Bad GULag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.03.2017. S. auf buecher.de ↩︎
    7. Vgl. die Sendung der Radio Echo Moskwy vom 25.04.2020 auf echo.msk.ru: Čelovek iz televizora ↩︎
    8. Novayagazeta.ru: Zulejcha, otkroj im glaza ↩︎

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  • Juri Dud

    Juri Dud

    Seit Februar 2017 ist die russische Medienszene um einen YouTube-Kanal und Medienstar reicher. vDud (rus. „вДудь“) heißt das Interview-Projekt des Sportjournalisten und Bloggers Juri Dud, das drei Jahre nach seinem Start über sieben Millionen Abonnenten und über 925 Millionen Aufrufe vorweisen kann. Der durchschlagende Erfolg des Projekts lässt die Novaya Gazeta bereits ein halbes Jahr nach Erscheinen des ersten Videos vom „Dud-Effekt“ sprechen. Dieser zeige sich vor allem darin, dass die Abwesenheit im russischen Staatsfernsehen immer stärker von Erfolg gekrönt sei. Und in der Tat: der Dud-Effekt wirkt, vor allem auf junge Menschen. Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.

    Der 1986 in Potsdam geborene Juri Dud hat seine Berufswahl bereits als Jugendlicher getroffen. Als sich sein Kindheitstraum, Fußballspieler zu werden, aufgrund chronischen Asthmas zerschlug, entdeckte er den Journalismus – nach der Prostitution der in Russland am leichtesten zugängliche Beruf, wie Dud witzelt.1 

    Als am 2. Februar 2017 der YouTube-Kanal vDud online ging, war der damals 30-jährige Dud bereits ein bekanntes Gesicht in der medialen Öffentlichkeit. Seine ersten Schritte im Journalismus hatte er schon als Kind gemacht: Mit elf schrieb er für eine Zeitung für Gleichaltrige, mit 13 absolvierte er ein Praktikum bei der Zeitung Segodnja. Bereits mit 14 wurde er freier Mitarbeiter bei der Izvestia, bekam dort mit 16 eine feste Anstellung als Sportreporter und absolvierte parallel dazu ein Journalistikstudium an der Moskauer Staatlichen Universität. Er war als Sportreporter für mehrere Fernsehsender wie NTW-Pljus, Rossija 2 oder Match TV tätig und von 2011 bis 2018 Chefredakteur des renommierten Internetportals Sports.ru. Für diese Medienauftritte wurde er 2016 und 2017 vom Männer- und Lifestyle-Magazin GQ – Gentlemen’s Quarterly zum „Mann des Jahres“ gekürt.2 

    Gegenpol zum Fernsehen

    Die Erfolgsstrategien von Duds YouTube-Projektes sind einfach, transparent und unverhohlen kommerziell. Dies schmälert jedoch keineswegs seine gesellschaftliche und politische Relevanz und Brisanz. vDud ist als Gegenpol und Konkurrenz zum überästhetisierten und überregulierten staatlichen beziehungsweise staatsnahen Fernsehen konzipiert. Im Intro zu einer vDud-Spezialausgabe, die die „goldenen“ 1990er Jahre des Musiksenders MTV in Russland beleuchtet, formuliert Dud seine Kritik am heutigen Fernsehen explizit und schonungslos: „Wir sind es gewohnt, dass das Fernsehen eine Schande ist. Das wichtigste Massenmedium des Landes lügt, fügt Schaden zu, bereitet die Bevölkerung auf den Krieg vor und kommuniziert mit den Menschen in einer toten Komsomol-Sprache.“3

    Mit dem Interview bedient Dud ein klassisches Fernsehformat, doch sein legeres Auftreten, sein Nicht-Still-Sitzen-Können und seine direkten Fragen – insbesondere in Bezug auf Geld, Vermögensverhältnisse und Sex – sind gerade ein Beispiel dafür, wie man es nach Lehrmeinung nicht machen sollte. Dennoch wirkt er, wie ihm wohlgesonnene Kritiker immer wieder bescheinigen, gut vorbereitet auf seine Gesprächspartner, stimmt die Fragen gezielt auf sein Gegenüber ab und nimmt sich die Zeit, die er für angemessen hält (die Dauer eines Interviews beträgt zwischen 40 Minuten und 2 Stunden). 

    Das Interview-Setting ist minimalistisch, die Kamera meist statisch auf die beiden frontal einander gegenübersitzenden Gesprächspartner gerichtet. Abgesehen von nur wenigen, kurz eingespielten Standbildern oder Videoclips und einer alternierenden Position, die die Gesprächspartner im Stehen zeigt, liegt die Konzentration auf dem Interview selbst.

    Tabubruch und Freiheit

    Tabubrüche gehören zu Duds grundlegenden Erfolgsstrategien, doch sie sind gemäßigt, wohldosiert und wohlkalkuliert. Sie ziehen die mediale Aufmerksamkeit auf sich – ähnlich wie in das Videobild eingeblendete Schlagwörter oder zentrale Aussagen und „starke“ Ausdrücke der Interviewpartner die Aufmerksamkeit der Rezipienten wecken. Bereits der Titel des Kanals spielt mit einem Sprachtabu, steckt darin doch nicht nur der Nachname seines Schöpfers, sondern auch das Thema Sex, über das dieser so gerne spricht (vdut’ ist gleichbedeutend mit dt. „durchficken“).

    Während die Unterhaltungsprogramme und Talk-Shows in den großen russischen Fernsehkanälen immer pompöser, gleichförmiger und starrer werden, vermitteln bereits die Anordnung und der Ablauf von Duds Interviews den Eindruck des Ungezwungenen und Spontanen. Der YouTube-Kanal vDud und sein Schöpfer strahlen Freiheit aus – die Freiheit, sich nicht an Sprachkonventionen halten zu müssen und die russische Vulgärsprache Mat nach Lust und Laune verwenden zu können (was insbesondere für die Interviewpartner gilt). Die Freiheit, politisch brisante und gesellschaftlich tabuisierte Themen diskutieren zu können und schließlich die Freiheit, die Interviewpartner unabhängig von politischen Vorgaben auszuwählen. 

    Waren es am Anfang hauptsächlich noch Vertreter der Musikszene (den Auftakt bildeten die Rapper Basta und L’One sowie der Punk-Rock-Star Sergej Schnurow), die er interviewte, so weitete Juri Dud den Personenkreis sehr schnell auf ausgeprägte Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, der Medienszene und sogar der Wissenschaft aus. Unter den Gästen der regelmäßigen Interviews finden sich der Chefredakteur von Radio Echo Moskwy Alexej Wenediktow, der Fernseh-Interviewer Nummer eins Wladimir Posner oder der ehemalige Fernsehmoderator Sergej Dorenko.

    Duds Auswahl der Gesprächspartner zielt immer wieder auch darauf ab, Persönlichkeiten in die mediale Öffentlichkeit zurückzuholen, die die russischen Staatsmedien mit einem Bann belegt haben. Dies gilt für Alexej Nawalny genauso, wie für Michail Chodorkowski. Gleichzeitig finden sich unter Duds Gästen aber auch Vertreter des politischen Establishments, wie Wladimir Shirinowski oder der Präsidentschaftskandidat der Kommunisten Pawel Grudinin, mediale Gallionsfiguren des patriotischen Lagers, wie der Regisseur Nikita Michalkow und der mächtige Medienmann Dimitri Kisseljow oder der ukrainische Fernsehmoderator Dimitri Gordon.

     

    Im Präsidentschaftswahlkampf 2018 hat sich Juri Dud mit dem Kandidaten der Kommunisten getroffen und ihn über sein Verhältnis zu Stalin befragt

    Ist die Rede von Interviewpartnern, so  scheint die Verwendung der geschlechtsspezifischen männlichen Form hier durchaus adäquat, stellen weibliche Gäste doch die Ausnahme dar. So waren im Laufe der ersten drei Jahre nur wenige Frauen bei Dud zu Gast, unter anderem die Journalistin und Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak und die ehemalige Pussy Riot-Aktivistin und Performance-Künstlerin Nadeshda Tolokonnikowa. 

    Generationen verbinden

    Die Auswahl der Gäste wie auch die Diskussionsthemen zeigen, dass Dud einerseits seine eigene Generation und vor allem junge Menschen ansprechen will, während er andererseits über seine Diskussionspartner die jüngere Vergangenheit des Landes ergründet. Das Interesse an der Zeit und den Personen, die ihn persönlich geprägt haben, verpackt er häufig in bewusst naive, mitunter provokative, jedenfalls aber ungewohnt direkte Fragen. Gerade dies verleiht den Interviews eine Lebendigkeit, Natürlichkeit und Aufrichtigkeit, die man im Fernsehen mittlerweile kläglich vermisst. Im Interview mit Chodorkowski lautete beispielsweise eine Frage, warum dieser damals, im Jahr 1996, – bei aller Wertschätzung für Boris Jelzin – auf einen „lebenden Leichnam“ gesetzt hätte. 

    Hipster und Volksaufklärer

    Juri Dud vereint in seinem Internet-Auftritt verschiedene soziale Rollenbilder, die vor allem greifbar werden im Kontrast zu dem, was er nicht ist und nicht sein will. Den ideologisch deklarierten traditionellen Werten und dem politischen Patriotismus setzt Dud Weltoffenheit und liberale Werte entgegen, dem Zynismus der offiziellen Medienmacher Aufrichtigkeit, dem journalistischen Dilettantismus und Opportunismus Professionalität und Leistungsbereitschaft, dem radikalen Protest gemäßigte Kritik am System, dem antimaterialistischen Habitus der spätsowjetischen Intelligenzija Konsum und Markenbewusstsein. Rein äußerlich ist er ein Hipster mit perfekt gestyltem Haar, lässig gekleidet in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, das iPhone stets griffbereit. 

    Die größte Resonanz sowohl an Aufrufen wie auch in der öffentlichen Debatte erzielt Dud allerdings weniger mit den Interview-Ausgaben, als vielmehr mit Dokumentarfilmen über gesellschaftlich brisante Themen. Bereits im ersten Jahr erweiterte Dud das reine Interview-Format in Richtung eines Interview-basierten dokumentarischen Porträts, als er dem Schauspieler und Idol des ersten postsowjetischen Jahrzehnts Sergej Bodrow eine vDud-Ausgabe widmete. Dem folgten weitere Porträts über Kultur- und Medienschaffende der vergangenen Jahrzehnte, die für ganze Generationen prägend waren, etwa über den Kultregisseur Alexej Balabanow oder über Oleg Tabakow, einen der bekanntesten sowjetischen Schauspieler seit der Tauwetterzeit

    Duds Interesse an diesen Persönlichkeiten ist stets von Fragen der Gegenwart und der subjektiven Wahrnehmung seiner Generation motiviert. Zu seinen besonderen Stärken zählt dabei, das Charakteristische der jeweiligen Person im Intro der einzelnen Folge konzis zu formulieren. Im Fall von Oleg Tabakow etwa die Verbindung von Konservatismus und Interesse für das Neue, im Fall von Balabanow die Liebe zu Russland bei gleichzeitiger Kritik. Auf diese Weise – und unabhängig vom Format – enthüllt Dud mit jeder Ausgabe ein weiteres kleines Stück seiner Lebenshaltung und seines Verständnisses von Gesellschaft, Politik und Geschichte. Man könnte auch sagen, er arbeitet kontinuierlich an seiner Rolle als moralisches Vorbild, Volksaufklärer und Volksbildner im YouTube-Format.

    Am deutlichsten kommt diese Rolle in drei thematisch fokussierten Dokumentarfilmen zum Ausdruck: in Kolyma – rodina naschego stracha (Kolyma – Heimat unserer Angst), Beslan. Pomni (dt. Beslan. Gedenke) und WITSCH w Rossii (dt. HIV in Russland). Die Grundfragen, die er in diesen Filmen stellt, sind so einfach wie erhellend, so selbstverständlich für die Aufgeklärten wie eine wahre Entdeckung für die Nichtwissenden. Kolyma, der Inbegriff des stalinistischen Gulag, soll vor allem jenen als Entdeckung dienen, die noch nie etwas vom Stalinterror gehört haben – laut einer Umfrage betrifft das fast die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen in Russland. Im Fall von HIV geht es dagegen darum, die russische Gesellschaft allgemein und insbesondere junge Menschen über die Krankheit und über das Leben mit der Krankheit zu informieren. 

    Weltoffener russländischer Patriotismus

    Solide journalistische Recherchen und ausgesprochen gut gewählte Interviewpartner sind in Duds Dokumentarfilmen gepaart mit starken, eingängigen Thesen. 
    Die Hauptthese in Kolyma lautet, dass das (Über)Leben im Kommunismus zu einer Grundangst der Eltern- und Großelterngeneration geführt habe, die sich etwa in der Devise „Nur ja nicht auffallen!“ – „Ne wysowywaisja!“ – zeige. 
    In Beslan rollt Dud die zeitliche Abfolge der Geiselnahme 2004 minutiös auf, um die Frage der politischen Verantwortung für die Katastrophe noch einmal aus heutiger Sicht und mit heutigem Wissensstand zu stellen und nicht zuletzt auch, um die Opfer ausführlich zu Wort kommen zu lassen. 

    In seiner Gesamtheit ist vDud ein gelungener Hybrid, in dem das alte Fernsehinterview mit seinem Fokus auf Gesprächsinhalte, die Fernsehdokumentation und das dokumentarische Porträt an die neuen ökonomischen Regeln und Bedingungen der digitalen Medien angepasst werden. Dud bewirbt in integrierten Werbespots Gadgets und Dienstleistungsangebote jeder Art und macht kein Hehl daraus, dass sich damit gutes Geld verdienen lässt. Damit inszeniert  er sich als Vertreter einer westlich orientierten, dynamischen Pop- und Konsumkultur. Gleichzeitig macht die große öffentliche Resonanz des Projekts deutlich, dass Dud das Potenzial hat, gesellschaftlichen Konsens zwischen unterschiedlichen Gruppen und Positionen herzustellen – zwischen Alt und Jung, intellektuell und kommerziell, traditionell und liberal. Einem engstirnigen Nationalismus setzt er seine Vorstellung eines weltoffenen russländischen Patriotismus entgegen, indem er vermittelt, dass „die Welt groß und klasse ist“ und man sich daher besser als ein Teil dieser Welt definiert, „als sie misstrauisch durch den Zaun zu beäugen“.4 Im April 2022 wurde Juri Dud auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.


    1. vgl. Jurij Dud’ im Interview mit The Flow, 11.06.2016 oder zu Gast bei Ivan Urgant in der Fernsehshow Večernyj Urgant am 29.09.2017 ↩︎
    2. Ein weiteres Mal bekam er diesen Preis im September 2019 verliehen. ↩︎
    3. YouTube: MTV – glavnyj kanal našego detstva / vDud‘ ↩︎
    4. YouTube: Antocha. Putešestvie iz Magadana v Evropu / vDud‘ ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Kirill Serebrennikow

    Kirill Serebrennikow

    Kurzgeschnittener Bart, kahlgeschorener Kopf, Mütze, Brille, ernster Blick. Seit Jahren kennt man den intellektuellen Habitus von Kirill Serebrennikow, der im Moskau der 2000er Jahre eine steile Karriere hingelegt hat. Nach den Theaterbühnen in seiner Heimatstadt Rostow am Don eroberte er innerhalb weniger Jahre die weit bedeutenderen in Moskau. Von 2012 bis 2021 hatte er mit dem Gogol Center sein eigenes Theater und Kulturzentrum, mit einem eigenen Ensemble. Darüber hinaus bekommt er Einladungen zu den wichtigsten Theaterfestivals in Europa und inszeniert auch an großen Opernhäusern in Deutschland.

    Seit Mai 2017 sind die medialen Schlagzeilen über Serebrennikow jedoch von einer anderen Art. Er und seine Mitarbeiter sollen 2012 staatliche Gelder veruntreut haben. Konkret geht es um eine Förderung in Millionenhöhe für die Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum im Rahmen des hochsubventionierten Theaterprojekts Plattform. Während des Ermittlungsverfahrens musste der Regisseur einen fast zwei Jahre langen Hausarrest absitzen. Im Juni 2020 hat ein russisches Gericht Serebrennikow schuldig gesprochen und zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Er darf das Land nicht verlassen: Zu der Premiere seines Films Leto auf dem Festival in Cannes – wo Serebrennikow den Preis für den besten Soundtrack gewann – durfte er nicht reisen.  Auch die Filmfestspiele 2021 werden ohne den russischen Regisseur stattfinden – obwohl sein Film Die Petrows mit Grippe im Wettbewerb läuft.

    Die Frage, warum ausgerechnet Serebrennikow in das Visier der Strafermittlung geraten ist, gibt Anlass zu einer Fülle von Spekulationen, die viel über die politische und gesellschaftliche Situation im Land verraten.

     

    Die Mütze ist sein Markenzeichen – Regisseur Kirill Serebrennikow / Foto © Sasha Kargaltsev/Flickr
    Die Mütze ist sein Markenzeichen – Regisseur Kirill Serebrennikow / Foto © Sasha Kargaltsev/Flickr

    Kirill Serebrennikow ist ein vielseitiger Künstler. In erster Linie aber ist er Theaterregisseur. Seit er Anfang der 2000er Jahre in Moskau Fuß fassen konnte, hat er an den besten Häusern der Hauptstadt inszeniert: am Moskauer Künstlertheater MChT, wo einst Stanislawski die Stücke von Anton Tschechow in Szene setzte, am Sowremennik-Theater, am Puschkin-Theater und am Staatlichen Theater der Nationen. Von 2013 bis Februar 2021 waren seine Inszenierungen im Moskauer Gogol Center zu sehen. Dieses Theater- und Veranstaltungszentrum hat der damalige Leiter der Moskauer Kulturabteilung Sergej Kapkow praktisch für Serebrennikow neu geschaffen, es löste das antiquiert-sowjetische Gogol-Theater ab.

    Serebrennikows Inszenierungen haben zwei unterschiedliche Stoßrichtungen. Zum einen handelt es sich dabei um originelle Neubearbeitungen der literarischen Klassik, vor allem der russischen Literatur, wie zuletzt Die toten Seelen nach Nikolaj Gogol (2014), Eine alltägliche Geschichte (2015) nach Iwan Gontscharow oder Wer lebt glücklich in Russland? nach Nikolaj Nekrassow (ebenfalls 2015). 
    Zum anderen hat sich Serebrennikow mit Inszenierungen zeitgenössischer Dramatiker einer sozial- und gesellschaftskritischen Richtung einen Namen gemacht. So war seine erste Inszenierung am Moskauer Künstlertheater im Jahr 2002 Terrorismus der Brüder Presnjakow, deren Stücke längst auch außerhalb Russlands gespielt werden. Zu seinen neueren Arbeiten am eigenen Haus gehört Märtyrer des deutschen Autors Marius von Mayenburg, ein Stück über religiösen Fanatismus unter Jugendlichen, dessen Schauplatz Serebrennikow vom protestantischen Deutschland ins orthodoxe Russland verlegte.

    Avantgarde und Slapstick

    Serebrennikow vereint in seinen Inszenierungen zwei scheinbar entgegengesetzte Pole. Zum einen weisen seine Aufführungen eine experimentelle, avantgardistische Seite auf – mit komplexen Sinnstrukturen und einer Fülle an Referenzen quer durch die Literatur- und Kulturgeschichte. Zum anderen tendieren die Inszenierungen zum Spektakel, zu Humoreske und Burleske, was Serebrennikow den Zuspruch des Publikums sichert. 
    Serebrennikows Darsteller, insbesondere die Mitglieder des von ihm ins Leben gerufenen Siebten Studios, mimen nicht nur Rollen, sondern verstehen sich auch auf Gesang und Tanz. Auch exzentrische Kostümierungen und Slapstick-Einlagen gehören zum Repertoire. 

    Die körperbetonten, stellenweise derben und dann doch wieder tragisch-ernsten Spektakel sind nicht auf ein kleines Theaterstudio, sondern auf den großen Bühnenraum ausgerichtet. Das prädestiniert Serebrennikow geradezu für die Opernbühne, wie seine Inszenierungen an deutschen Opernhäusern zeigen: Salome (2015) und Hänsel und Gretel (2017) an der Oper Stuttgart und Der Barbier von Sevilla (2016) an der Komischen Oper in Berlin. 

    Abgesehen davon ist Serebrennikow im Filmgeschäft aktiv, wobei seine Kinoprojekte häufig aus der Theaterarbeit hervorgehen. So auch Utschenik (2016, dt. Der Schüler), der auf der Märtyrer-Inszenierung im Gogol Center basiert, seine Premiere in Cannes feierte und unter dem deutschen Verleihtitel Der die Zeichen liest im Januar 2017 in die deutschen Kinos kam. 
    Die Theater-Kritikerin Marina Dawydowa verortet Serebrennikows größtes Talent allerdings im Genre der sozialen Burleske: „Egal, wo er inszeniert – in der Oper, im Theater, im Kino – wenn er sich in diesem Genre bewegt, dann ist er praktisch konkurrenzlos.“1 Diese Stärken zeigen sich besonders in der originellen, international jedoch kaum beachteten Presnjakow-Verfilmung Isobrashaja Shertwu (2006, dt. Das Opfer spielen2).

    Symbolfigur des russischen Kulturlebens

    Serebrennikows Erfolge im In- und Ausland machen den Regisseur zweifelsohne zu einer Symbolfigur des russischen Kulturlebens. Dabei hat Serebrennikow keine professionelle Theaterausbildung, sondern in seiner Geburtsstadt Rostow am Don ein Physik-Studium absolviert. Der traditionell beziehungsweise konservativ gestimmte Teil der russischen Theater- und Künstlerszene beäugt den umtriebigen Serebrennikow daher seit Jahren nicht nur mit einem gewissen Neid, sondern auch mit dem Argwohn, dass der „Laie ohne Diplom“ die russische Theatertradition zerstöre.3 Allerdings dürfte die zunehmend konservative Stimmung im Land auch unter der kulturellen Elite nicht mehr als ein Mosaikstein im angestrengten Strafverfahren sein. 

    Verhaftung: Politische Stimmungsmache?

    Indes bezweifelt niemand in der systemkritischen Kulturszene, dass im Fall Serebrennikow ein politischer Wille zum Ausdruck kommt. Als ein mögliches Motiv für die Verhaftung von Serebrennikow wird politische Stimmungsmache im Vorwahljahr 2017 vermutet. So soll die russische Bevölkerung unter dem Schlagwort der Korruptionsbekämpfung von der Effizienz des Staatsapparats überzeugt werden. Der mediale Rummel um den Fall einschließlich der bekannten Unterstützungsrituale wäre dann nicht eine unvermeidliche Begleiterscheinung sondern Kalkül. Der schauprozessartige Ablauf und die Schlagzeilen über verschwendete Steuergelder weisen durchaus in diese Richtung. 

    Gleichzeitig wird der Fall als weiterer Akt im zu beobachtenden Kampf der ideologisch-konservativen Kräfte gegen die Reformer beziehungsweise Pragmatiker gedeutet – so unter anderem von Alexander Baunow vom Moskauer Carnegie Center.4 Mit seiner eindeutigen Haltung gegenüber der Ukraine-Politik oder gegenüber Homosexualität verwundert es nicht, dass Serebrennikow den sogenannten Patrioten schon länger ein Dorn im Auge ist. Besonders bezeichnend erscheint dabei die zynische Reaktion des gewichtigen Filmregisseurs Nikita Michalkow: „Wenn ein Gouverneur oder Minister hinter Gitter kommt, würde das als normal empfunden – nicht dagegen bei einem Regisseur. Vielleicht wären da Gitterstäbe aus Lorbeer angebracht?“5

    Der Fall Serebrennikow muss insbesondere den liberalen Kulturschaffenden als ernsthafte Bedrohung erscheinen. Unübersehbar erscheinen die Parallelen zur Verhaftung des Wirtschaftsoligarchen Michail Chodorkowski im Jahr 2003. So könnte der Fall ein Signal dafür sein, dass man nun darangeht, nach Wirtschaft und politischer Opposition auch die Kultur der autoritären Politik zu unterwerfen. 

    aktualisiert: 09.07.2021


    1. Meduza: «Emu ničevo ne stoit žit na zapadnye kontrakty» ↩︎
    2. Das Stück wurde unter dem Titel Opfer vom Dienst auch auf deutschen Bühnen gespielt, u.a. am Hessischen Staatstheater Wiesbaden im Jahr 2004. ↩︎
    3. vgl. dazu den ausführlichen Artikel von Marina Davydova in der deutschen Zeitschrift Theater heute: Davydova, Marina (2017): Der Staat regiert: Was Ausländer über den Fall Kirill Serebrennikov wissen müssen – sieben Anleitungen, in: Theater heute, Heft Juli 2017, S. 6-9 ↩︎
    4. vgl. Alexandr Baunov in der Sendung Osoboe mnenie auf Radio Echo Moskvy, 23.08.2017 ↩︎
    5. Nikita Michalkov im Interview mit dem Fernsehsender REN-TV, 25.08.2017 ↩︎

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  • Kino #9: Major

    Kino #9: Major

    Gesellschaftskritik verpackt in Mainstream-Ästhetik – das ist die Richtung, die der junge Regisseur Juri Bykow seit mehreren Jahren konsequent verfolgt. Seine Geschichten erzählt er fesselnd mit konzentrierten Plots und klar kalkulierten Wendepunkten, es sind Thriller aus dem russischen Hinterland. So auch Major (2013), in dem Bykow eine russische Kreispolizeibehörde ins Zentrum der Handlung stellt.

    Während man im russischen Kulturministerium historische und patriotische Stoffe bevorzugt, entfalten Regisseure wie Bykow ihr Schaffen im Schatten solcher Großproduktionen.1 Auf diese Weise entstehen Werke über das konkrete, alltägliche Leben im neuen Russland, das längst aus einer postsowjetischen Periode herausgetreten ist.
    Bykow ist herausragend in seiner Generation, begann seine Karriere nach einem Schauspielstudium zum Ende der 2000er Jahre und wurde sogleich auf dem wichtigsten Festival des Landes, dem Kinotawr, für den besten Kurzfilm ausgezeichnet. In seinen spannungsgeladenen Geschichten ist Nervenkitzel kein Selbstzweck und nicht zur bloßen Unterhaltung gedacht. Vielmehr geht Bykow hart ins Gericht mit politischen und sozialen Strukturen, die das Verhalten seiner Figuren maßgeblich bestimmen. Major ist sein zweiter abendfüllender Film. Einfache Antworten oder moralische Botschaften nach einem Gut-Böse-Schema darf man hier nicht erwarten – dafür tiefe Einblicke in die russische Gegenwart.

    Major mit englischen Untertiteln auf sovietmoviesonline.com
    Major mit englischen Untertiteln auf sovietmoviesonline.com

    Ein Fahrer rast in den frühen Morgenstunden mit seinem Wagen über eine Landstraße. Er ist auf dem Weg zur nächstgelegenen Kreisstadt, wo seine Frau in einer Klinik in den Wehen liegt. Es herrscht klirrende Kälte, ein Dunstschleier verhüllt die Landschaft, die Fahrbahn ist völlig vereist. An einer Bushaltestelle überquert ein siebenjähriger Junge die Straße, der Fahrer ist viel zu schnell unterwegs und kann nicht mehr ausweichen. Der Junge stirbt.

    Die Kräfte für eine Aufklärung des Unfalls sind sichtbar ungleich verteilt: Der Fahrer ist ein junger, aufstrebender Polizeimajor, und ein Eingeständnis seiner Schuld hätte nicht nur für seine Karriere fatale Folgen, sondern würde einen Skandal bedeuten, den niemand in der Polizeidienststelle gebrauchen kann. Die Mutter des Jungen, vor deren Augen sich das Unglück ereignet hat, entstammt dagegen einer Arbeiterfamilie. Sie und ihr Ehemann bleiben hart und weigern sich, für den Major zu lügen.

    Die Polizei als Symptom des Gesellschaftssystems

    Die Handlung wird rund um die verantwortliche Kreispolizeibehörde angeordnet. Jedoch geht es Bykow nicht um den Polizeiapparat als solchen, sondern allgemein um die Machtverhältnisse und das soziale Gefüge in einer Gesellschaft, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion neu formieren musste. Genauso wenig wird das Verhalten des Einzelnen zur Diskussion gestellt, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, die ein konkretes Verhalten hervorbringen. Den Gravitationspunkt der dynamisch voranschreitenden Handlung bilden bei Major die beiden unterschiedlich agierenden Hauptprotagonisten: der junge, titelgebende Major Sobolew (gespielt von Denis Schwedow) und sein Vertrauter Korschunow (gespielt von Juri Bykow selbst). Während Korschunow alles dafür tut, um die Schuld seines Kollegen zu vertuschen, schert Sobolew plötzlich aus, versucht, seinem Gewissen zu folgen und seine Schuld einzugestehen. Dadurch wird er jedoch nicht zum Helden, sondern entfesselt eine Welle der Gewalt.

    Konflikt zwischen Vertrauten: Mit seinem Schuldgeständnis entfesselt Major Sobolew eine Welle der Gewalt / Fotos © Rock Films
    Konflikt zwischen Vertrauten: Mit seinem Schuldgeständnis entfesselt Major Sobolew eine Welle der Gewalt / Fotos © Rock Films

    Trotz des ernüchternden Befunds von Korruption und Machtmissbrauch innerhalb der Behörden stellt Bykow die Polizeibeamten nicht als „Werwölfe mit Schulterklappen“2 dar. Dazu passt, dass der Film unter dem Slogan vermarktet wurde: „Major – prosto tschelowek“ – der Major ist auch nur ein Mensch, einer von uns.

    Informelle Regeln

    Korschunows Verhalten führt konkret vor Augen, was es bedeutet, wenn der Polizeiapparat nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem System informeller Regeln und Normen funktioniert. In der russischen Gegenwartssprache existiert dafür der Ausdruck shit po ponjatijam, was wörtlich übersetzt „nach den Begriffen leben“ bedeutet. Entlehnt aus dem Jargon der sowjetischen Verbrecherwelt3 gibt die Wendung zu verstehen, dass im heutigen russischen Alltag, in Politik und Verwaltung, vieles nicht nach kodifiziertem Recht, sondern nach „anderen, informellen Regeln und Abmachungen“ funktioniert.  Oben, an der Spitze der Provinzstadt, steht eine grauhaarige Autorität, die nicht nur über die Exekutive, sondern auch über alles andere wacht. Ihn suchen Korschunow und Sobolew auf, seine Entscheidung gilt: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden.
    Da sich die Machtvertikale nach oben hin fortsetzt, erscheint für alle Beteiligten als wichtigster Grundsatz, nicht negativ aufzufallen und nur keinen Staub aufzuwirbeln. Überregionale Instanzen könnten auf den Plan gerufen werden.

    Die Entscheidung der „grauhaarigen Autorität“ steht: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden
    Die Entscheidung der „grauhaarigen Autorität“ steht: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden

    So handelt Korschunow absolut loyal – po ponjatijam – und setzt um, was ihm von oben aufgetragen wird: Um der Mutter das Einvernehmen abzupressen, benutzt er zuerst die Mittel der Rhetorik, dann die der Gewalt. Dabei wäre aus seiner Sicht doch alles ganz einfach und logisch: Den toten Jungen macht nichts wieder lebendig, aber der Major muss weiterleben und gemeinsam mit ihm steht das Leben und Wohlergehen seiner Nächsten – seiner Familie, Freunde und Kollegen – auf dem Spiel. Der entfachte Konflikt bringt schließlich die Bruchlinien hervor, die dem Zuschauer systematisch Einblick in die wirkmächtigen Strukturen des Systems gewähren.

    Engagiertes sozialkritisches Kino

    Es ist dieser Fokus bei Bykow – auf Gesellschaftsstrukturen und die Zwänge, die sich für den Einzelnen ergeben – der seine Filme  als ein engagiertes sozialkritisches Kino markiert und die drei bislang realisierten Streifen wie eine Trilogie erscheinen lässt: Shit! (dt. Leben!, 2010), Major (dt. Der Major, 2013) und zuletzt Durak (dt. Der Idiot, 2014).4 Während sich Figurenkonstellation und Milieu ändern, steht immer die Frage nach der sozialen Verantwortung und damit nach einer Pflicht im Mittelpunkt, die nicht nur den Nächsten, sondern allen Gesellschaftsmitgliedern gegenüber besteht. Bykows Figuren aber stellen den Schutz der Familie, Freunde und Kollegen über alles. Der persönliche Einsatz für die Nächsten heiligt die Mittel, rechtfertigt Gewalt und Mord (Shit!, Major). Wer dieses System durchbricht, fällt ihm zum Opfer (Durak).

    Der persönliche Einsatz für die Nächsten rechtfertigt selbst Gewalt und Mord
    Der persönliche Einsatz für die Nächsten rechtfertigt selbst Gewalt und Mord

    Fehlende soziale Verantwortung begründet für Bykow eine Art modernen Feudalismus: „Eine liberale Gesellschaft bedeutet, dass Jeder für Jeden Verantwortung übernimmt. Ein Bürger für den anderen. Feudal bedeutet dagegen, wenn es meine Familie gibt, meine Nächsten, meine Freunde – und so weiter, je nach Entfernung.“5 Dabei versteht Bykow seine Filme als Anstoß zur Veränderung: „Für mich ist es [gemeint ist Major] ein Film darüber, dass wir nicht länger allgemeinmenschliche ethische Werte ignorieren können. Die zivile, menschliche Pflicht dem anderen gegenüber ist wesentlich wichtiger als Clan- und Familienbeziehungen.“6

    Anklänge an die tschernucha der 1980er und 1990er

    Bykow kennt Milieu und Schauplatz seiner Filme gut, dreht bevorzugt im Gebiet von Rjasan rund 200 Kilometer südöstlich von Moskau, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Realitätsnähe ist ihm wichtig, zugleich verfolgt er eine klare filmische Stilistik. 

    So ruft die erste Szene auf der Polizeiwache Effekte der Tschernucha aus der Perestroika-Zeit auf, einer neonaturalistischen Darstellungsweise, die daran ging, die sozialen Abgründe der Gesellschaft zu ästhetisieren. Die Kamera bahnt sich bei Major den Weg durch die klaustrophobische Enge des Ganges mit seinen lackierten Wänden und abgewetzten Türen. Sie kann gar nicht anders, als nah an die sich dort tummelnden Menschen – Alkoholiker, Prostituierte, Kleinkriminelle – heranrücken. „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte, faltige Frau einem jungen Polizeibeamten entgegen, der sie gerade vor ihrem gewalttätigen Sohn gerettet hat. 

    „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte Frau dem jungen Polizeibeamten entgegen
    „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte Frau dem jungen Polizeibeamten entgegen

    In den 1990er Jahren wurde diese Ästhetik mit dem im Entstehen begriffenen Genre-Kino kombiniert und fand Eingang in Thriller und Krimi. Die Schlussszene von Major mit dem Hauptprotagonisten, der per Anhalter in einen Laster steigt, verweist unverkennbar auf Alexej Balabanows Kultfilm Brat (dt. Der Bruder, 1997). Dabei ruft die Szene gerade dazu auf, die Unterschiede im Herangehen der beiden Regisseure zu formulieren: Während Balabanow eine adäquate filmische Darstellung der postsowjetischen Realität fand und das Verbrechen romantisierte, setzt Bykow die längst etablierten Mittel des Genrekinos ein, um seiner kritischen Stimme Gehör zu verschaffen. 
    Das verbindet ihn auch mit dem Sozialrealismus US-amerikanischer Low-Budget-Produktionen, wie zuletzt überzeugend in Hell or High Water von Regisseur David Mackenzie zu sehen. Dabei ist freilich einzuräumen, dass das filmisch vermessene amerikanische Hinterland auf eine weit reichere Tradition zurückgreifen kann, als dies bei der russischen Provinz der Fall ist.

    Autorenfilmer in der Praxis

    Gerade durch die mainstreamtaugliche, leicht verständliche Sprache heben sich Bykows Filme auch klar von Andrej Swjaginzews Sozialdramen ab, obwohl Letzterer in Leviafan (dt. Leviathan, 2014) einen durchaus vergleichbaren Stoff bearbeitet hat. Die ewigen Themen des Menschen – der „Kosmos gespiegelt im Wassertropfen“7 – sind Bykows Sache nicht. Entsprechend distanziert werden seine Filme auch von der liberalen russischen Kulturelite aufgenommen, der sie zu wenig künstlerisch, zu direkt, zu grob sind.8

    Dabei zeugt der Weg, den der 1981 geborene Regisseur bislang verfolgt, von einer Eigenständigkeit und Kompromisslosigkeit, wie sie in der Blütezeit des europäischen Autorenfilms jedem Filmemacher zur Ehre gereicht hätte. Den Autorenfilmer verkörpert Bykow nicht zuletzt durch seine Vielseitigkeit; so übernimmt er Schlüsselfunktionen selbst – vom Drehbuch über die Montage bis hin zur minimalistischen Musik.9 Autorenfilm und Mainstream-Ästhetik schließen einander heute, wie Andrej Tarkowski dereinst noch glaubte, längst nicht mehr aus. 

    TextEva Binder
    Veröffentlicht am 05.09.2017


    1.Genannt seien hier beispielsweise Stalingrad (2013) von Fedor Bondarčuk, der erste russische Blockbuster, der komplett in 3D gedreht wurde, oder Admiral (2008) von Andrej Kravčuk, der den russischen Bürgerkrieg monumental in Szene setzt.
    2.Die verbreitete Wendung oborotni v pogonach geht auf eine Folge von bekannt gewordenen Korruptionsfällen in den 2000er Jahren zurück und wird so auch vom Filmkritiker Andrej Plachov in seiner Rezension zu Major verwendet, vgl. Kommersant: Obyknovennyj feodalizm.
    3.Siegert, Jens (2016):  Diebe im Gesetz, in: Russland-Analysen Nr. 321, S. 27
    4.Durak ist Bykovs erster Film, der seinen Weg in den deutschsprachigen Filmverleih gefunden hat. Er wird vom Schweizer trigon film unter dem Titel Durak als Kinofilm und DVD vertrieben.
    5.Bykov im Interview mit der Zeitung Izvestija; das Interview wurde 2013 anlässlich der Aufnahme des Films in das Programm Semaine internationale de la critique der Filmfestspiele von Cannes geführt.
    6.Bykov in der Pressekonferenz anlässlich der Russlandpremiere des Films beim Filmfestival Kinotavr in Sotschi 2013. Der genaue Wortlaut im Original lautet: «Dlja menja kartina o tom, čto chvatit ignorirovat’obščečelovečeskuju moral‘. Graždanskij, čelovečeskij dolg postoronnemu čeloveku gorazdo važnee čem vzjakie vot klanovye, semejstvennye vešči.»
    7.vgl. Bykov im Interview mit der Zeitschrift Russkij reporter
    8.vgl. Bykovs Ausführungen zur Rezeption seiner Filme in dem Gespräch, das der Regisseur mit dem russischen Schriftsteller Sachar Prilepin in dessen Sendung Čaj s Sacharom (dt. Tee mit Sachar) auf dem Sender Tsargrad TV geführt hat.
    9.Von seiner Ausbildung her Schauspieler, wurde er schnell als Multitalent und Autodidakt gefeiert. Bei seinem zum Kinotavr prämierten Kurzfilm Načalnik (dt. Der Vorgesetzte, 2009) hatte er Regie, Drehbuch, Schnitt und die Hauptrolle übernommen.

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  • Andrej Swjaginzew

    Andrej Swjaginzew

    „Mir schien, dass da ein großer Regisseur durch die Gänge unserer Fernsehanstalt läuft“1 – sagte im Jahr 2003 Dimitri Lesnewski, damals noch der Generaldirektor des privaten Fernsehsenders REN TV. Das Geld in den Film eines jungen Regisseurs zu investieren, der bisher nur Werbespots und kurze Novellen gedreht hatte, bedeutete ein gewisses Risiko. Der Regisseur und sein Filmteam, von den beiden Drehbuchautoren über den Kameramann bis hin zu den Darstellerinnen und Darstellern, waren zu dem Zeitpunkt weder in Russland, geschweige denn in internationalen Fachkreisen bekannt.

    Lesnewski hat sich jedoch nicht geirrt: Durch die Gänge lief Andrej Swjaginzew, dessen Debütfilm Woswraschtschenije (dt. Rückkehr) schließlich mit einem der begehrtesten Preise des europäischen Festivalbetriebs – mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig – ausgezeichnet wurde. Seitdem hat Swjaginzew weitere vier Filme gedreht, bedeutende Preise bekommen – unter anderem den Golden Globe für seinen Film Lewiafan (Leviathan), Neljubow (Loveless) ist für den Oscar nominiert – und zählt heute zu den wichtigsten Regisseuren in Russland. 

    Der 1964 in Nowosibirsk geborene Swjaginzew war Laie, als er sich 2002 an seinen ersten abendfüllenden Spielfilm wagte. Er hatte in den 1980er Jahren ein Schauspielstudium in seiner Geburtsstadt absolviert. Nach dem Umzug nach Moskau 1986 hatte er an der traditionsreichen Russischen Akademie für Theaterkunst (GITIS) studiert, in den 1990er Jahren als Theaterschauspieler gearbeitet und ab 1992 auch kleinere Rollen in Fernsehserien und Kinofilmen übernommen. Im Jahr 2000 hatte er zusammen mit seinem Kameramann Michail Kritschman drei kurze Novellen des Fernsehkrimis Tschornaja Komnata (dt. schwarzes Zimmer) gedreht. Unmittelbar darauf begann Swjaginzew mit den Dreharbeiten zu seinem ersten Kinofilm. Woswraschtschenije wurde ein internationaler Erfolg. Und die Richtung, die der Regisseur mit diesem Debüt-Film eingeschlagenen hat, verfolgt er bis heute. Swjaginzew positioniert sich eindeutig in der Tradition des europäischen Autorenfilms, was ihm in Russland immer wieder den Vorwurf einbringt, einem „elitären“ Kino und Kunstverständnis anzuhängen. 

    Zwischen Swjaginzews Filmprojekten liegen Jahre: Nach Woswraschtschenije 2003 präsentierte er 2007 Isgnanije (dt. Verbannung), im Jahr 2011 Jelena und 2014 Leviathan. Sowohl Leviathan als auch der neueste Film Loveless (so der internationale englische Titel von Neljubow, 2017) liefen im Wettbewerb um die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes und wurden mit dem Preis für das Beste Drehbuch (Leviathan) und mit dem Preis der Jury (Loveless) ausgezeichnet. Loveless war 2018 in der Sparte „Bester fremdsprachiger Film“ für den Oscar nominiert.

    Beziehungsdramen im „großen Stil“

    Wenngleich sich Swjaginzews Filme nicht auf Genre-Schablonen reduzieren lassen, handelt es sich dabei doch um Beziehungs- und Familiendramen. Die Handlung kann um das konfliktbeladene Verhältnis zwischen einem Vater und seinen beiden Söhnen (Woswraschtschenije) oder um Ehebruch und Vergeltung (Isgnanije) kreisen. Swjaginzews Filme sind aber gewissermaßen Beziehungs- und Familiendramen im „großen Stil“. 

    Es sind Filme, die für die Kinoleinwand bestimmt sind – mit bildgewaltigen Kamera-Einstellungen, beeindruckender Musik und einer auf wesentliche Momente reduzierten Handlungsdramaturgie. Sie spielen zwar in der Gegenwart, doch die Sujets – menschliche Grundsituationen und archetypische Beziehungen – erscheinen zeitlos und universell. Dasselbe gilt auch für den Ort der Handlung. Swjaginzew setzt nördliche Landschaften effektvoll in Szene, ohne diese als spezifisch russisch zu kennzeichnen. Diese Tendenz, von Ort und Zeit zu abstrahieren, zeichnete bereits seinen Debütfilm aus und wurde in seinem zweiten Film Isgnanije noch einmal gesteigert. Doch das Resultat stieß auf Kritik, denn zu sehr schienen die überarrangierte Szenengestaltung, die metaphorisch aufgeladenen Landschaftsbilder und die mit religiös-biblischen Motiven durchsetzte Handlung an die überladene Bildästhetik der späten Filme des russischen Autorenfilmers Andrej Tarkowski zu erinnern.2

    Gesellschaftskritik

    Den Vorwurf, ein Epigone Tarkowskis zu sein, konnte Swjaginzew mit seinem dritten Spielfilm Jelena jedoch entkräften, indem er die Handlung an die gesellschaftliche Realität Russlands zurückband. Es wird die Geschichte einer Ehefrau und Mutter erzählt, die aufgrund innerfamiliärer Konflikte und Loyalitäten zur Mörderin wird. Der Film bezieht sein Spannungspotenzial aus dem Klassenkonflikt, der heute mitten durch die russische Gesellschaft geht. Die Handlung spielt in Moskau, und die beiden Hauptschauplätze sind bezeichnend für die sozialen Gegensätze des postsowjetischen Russlands: einerseits ein luxuriöses Appartement im Zentrum der Stadt, andererseits eine beengte Wohnung in einem typisch sowjetischen Plattenbau weit ab von den Zentren des neu erworbenen Wohlstands. 
     
    Ein ähnlich aktuelles, gesellschaftskritisches und noch dazu politisch brisantes Sujet zeichnet auch Swjaginzews vierten Spielfilm Leviathan aus. Ausgezeichnet mit dem Preis für das beste Drehbuch in Cannes und einem Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film kam Leviathan sowohl in Europa als auch in den USA in den regulären Kinoverleih.3 Im Film verliert die Hauptfigur alles, was im Leben von Bedeutung ist – das Haus, die Ehefrau, den Sohn und schließlich auch noch die eigene Freiheit. Das Sujet ist aber nur die Oberfläche. Auf die Vielschichtigkeit des Films lässt bereits der Titel schließen, der sowohl auf das biblische Buch Hiob als auch auf die staatsphilosophische Schrift Leviathan von Thomas Hobbes verweist. Swjaginzew gelingt es, eine komplexe Verknüpfung zwischen den historischen Texten und seiner Filmhandlung herzustellen, indem er die Hauptfigur an den Machtstrukturen einer nördlichen russischen Provinzstadt scheitern und sie einen wahrhaft biblischen Leidensweg durchschreiten lässt.

    Hetzkampagne

    Die im Film explizit geäußerte Kritik an der weltlichen und kirchlichen Macht und ihren Institutionen stieß in Russland auf heftige Gegenreaktionen. An der über die russischen Medien ausgetragene Hetzkampagne gegen den Regisseur, die durch die Auszeichnung des Films bei den Golden Globe Awards im Januar 2015 angeheizt wurde, nahmen Kirchenvertreter wie auch Politiker teil. Nicht zuletzt meldete sich auch der russische Kulturminister Wladimir Medinski in der Debatte zu Wort und warf Swjaginzew vor, er hätte einen konjunkturbedingten Film gemacht und würde nicht seine Helden, sondern vielmehr Ruhm, rote Teppiche und Statuetten lieben.4 Und diese seien wesentlich leichter zu bekommen, wenn der Schauplatz des Films Russland und nicht etwa ein Vorort von Paris, Süditalien oder der US-Bundesstaat Colorado sei, wo sich eine vergleichbare Geschichte zugetragen hatte, die Swjaginzew als Inspirationsquelle diente.5

    Es wäre gewagt zu behaupten, es gäbe keinen Zusammenhang zwischen dem Skandal, den der Film in Russland auslöste, und der Aufmerksamkeit, die ihm von den westlichen Medien zuteil wurde. Swjaginzew selbst jedoch betonte immer wieder die allgemein menschliche Dimension seines Film, mit dem er für die Einmaligkeit des menschlichen Lebens als einzigen wahren Wert und einzige Wahrheit eintreten würde: „Die Heimat, das ist der gewaltige Ozean, der große und weite Kreis des Weltalls und der kleine Kreis des nahen Umfelds – deine Familie und deine Freunde, die dir geistig nah sind.“6


    1. Zit. nach: Kičin, V. (2003): Triumf v Venecii ↩︎
    2. Vgl. dazu die Diskussion in der von Aleksandr Gordon moderierten TV-Talkshow Zakrytyj pokaz (dt. Geschlossene Vorstellung), gesendet im Ersten Kanal am 21.03.2008. ↩︎
    3. Dies gelingt heute russischen Filmproduktionen kaum – mit Ausnahme der Filme von Alexander Sokurow, wie Faust (2011) oder Francofonia (2015). ↩︎
    4. Das Interview mit Medinski, das auch deutsche Rezensenten des Films wiederholt und zum Teil verzerrt zitierten, erschien am 15. Januar 2015 in der Zeitung Izvestija: Vladimir Medinskij: «Leviafan» zapredel’no konjunkturen. Rezensionen in der deutschsprachigen Presse finden sich unter anderem in der Neuen Zürcher Zeitung: Im Zeichen des Wals, in der Süddeutschen Zeitung: Hiobs Traum oder in der Zeit Online: Ungeheuer Russland und Welt ohne Gnade. ↩︎
    5. In vielen Interviews erzählte Swjaginzew, dass das Drama Leviathan von der Geschichte des amerikanischen Unternehmers Marvin John Heemeyer inspiriert wurde, der nach einem langjährigen Streit mit den Behörden als Rache auf seinem gepanzerten Bulldozer 13 Gebäude zerstörte und schließlich sich selbst tötete. Vergl: Vedomosti: Otečestvo istinnoje i mnimoje, ili Mnenije eščė odnogo zritelja. Eine deutsche Übersetzung erschien auf dekoder.org: Das wahre und das vermeintliche Vaterland. ↩︎
    6. dekoder.org: Das wahre und das vermeintliche Vaterland ↩︎

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  • Kino #5: Malenkaja Vera

    Kino #5: Malenkaja Vera

    Sowohl an sowjetischen Kinokassen als auch auf dem internationalen Markt war er ein Kassenschlager: Malenkaja Vera, zu dt. Kleine Vera. Gedreht vor 30 Jahren auf dem Höhepunkt der Perestroika – im Sommer 1987 in der ukrainischen Industrie- und Hafenstadt Mariupol – zeigt der Film eine freche, autoritätsverweigernde junge Generation kurz vor dem Zusammenbruch eines ganzen Gesellschaftssystems. Spürbar ist die neu aufgekommene Ästhetik des Kinos seinerzeit, die tschernucha, eine Schwarzmalerei, die der trostlosen sowjetischen Provinz ihren Akzent verleiht. Die rebellische Vera, die versucht dort auszubrechen, um ihren Platz zu finden, war auch deshalb ein Kinoereignis, weil erstmals in einem sowjetischen Film eine Sexszene offen gezeigt wurde. Die Hauptdarstellerin posierte sogar unter dem Titel From Russia with Love: The Soviets’ First Sex Star Natalya Negoda für den US-amerikanischen Playboy.1

    Das Ehepaar Wassili Pitschul (Regie) und Maria Chmelik (Drehbuch) hat mit seinem Debütfilm die Zeichen der Zeit auf paradigmatische Weise konserviert. Und dabei eine Alltagstragödie zwischen keimender Hoffnung und erdrückender Enge geschaffen.

    https://www.youtube.com/watch?v=ojJzBYrIM9I


    Begleitet von Synthesizer-Musik schwenkt die Kamera über ein Meer von Plattenbauten, hinter denen Fabrikschlote in den verwaschen-graublauen Himmel ragen. Wohnhäuser und Industrieanlagen verschmelzen zu einer spezifisch sowjetischen beziehungsweise sozialistischen Landschaft. Man kennt dieses Setting aus Filmen der 1950er Jahre, nur war es damals positiv konnotiert. Es stand für Arbeit, Leben, Glück und Zukunft. 

    Die Kamera zoomt an einen dieser Plattenbauten heran und das Bild, das wir uns von diesem urbanen Leben hier machen sollen, konkretisiert sich ganz anders: Vom Balkon fällt der Blick auf einen langsam vorbeifahrenden Güterzug und einen begrünten Innenhof mit einer Kinderschaukel. Die dazugehörigen Geräusche des Ratterns und Quietschens werden leitmotivisch wiederkehren – genauso wie der etablierte Sprachgestus. Der Familienalltag ist durch Brüllen und Heulen gekennzeichnet. Grob und derb geht es zu: „Bekomm’ ich endlich was zu fressen?“ („Ty poshrat-to dasch, net?“), fragt der Vater die Mutter, oder „Ich hätte dich besser abgetrieben!“ („Lutschsche by ja abort sdelala!“) schleudert die Mutter der Tochter zum Ende des Films entgegen.

    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo
    Fotos © Kinostudija im. M. Gorkogo

    Porträt einer sowjetischen Arbeiterfamilie

    Malenkaja Vera ist das Porträt einer sowjetischen Arbeiterfamilie, die als der gesellschaftliche Durchschnitt zu verstehen war. Ihr Leben in der Provinz ist voller Frust: Der Vater, ein LKW-Fahrer, betrinkt sich täglich nach der Arbeit mit Selbstgebranntem; die Mutter, eine Textilarbeiterin, ernährt ihre Familie wie eine Besessene; der Sohn Witja hat als in Moskau arbeitender Arzt den Bildungsaufstieg geschafft und wird immer dann gerufen, wenn zu Hause die Situation aus dem Ruder läuft. Dafür verantwortlich ist die 17-jährige Tochter Vera, die aus der Enge der sowjetischen Wohnverhältnisse und Denkstrukturen ausbrechen will und gegen ein vorbestimmtes Leben aus Heirat, Kinder und einem wenig fordernden Beruf rebelliert. Auf der Suche nach Identität und von zwei Männern begehrt, wählt sie den Schurken und stürzt sich dadurch ins Unglück.

    Neues ästhetisches Programm

    Bei aller Sozial- und Gesellschaftskritik verfolgt der Film vor allem auch ein neues ästhetisches Programm, das für das Perestroika-Kino der späten 1980er und frühen 1990er Jahre kennzeichnend war. Es steht für eine ins Negative und Hässliche gekippte Ästhetik, die alsbald mit dem Schlagwort der tschernucha, auf Deutsch in etwa Schwarzmalerei, bedacht wurde. Die russische Filmkritikerin Natalja Siriwlja verglich diese Ästhetik, die durch die Lockerung der Zensur unter dem Zeichen von Glasnost überhaupt erst möglich wurde, treffend mit der „Entdeckung der Rückseite des Mondes“2. In den Vordergrund wurde gerückt, was bis dahin verborgen gehalten wurde: Dunkelheit dominierte über Licht, Abfall und Schmutz über Reinheit, Marginalität über Norm, Kriminalität über Rechtschaffenheit, Wollust und Körperlichkeit über hehre Gefühle.

    Der Vater, gespielt von Juri Nasarow
    Der Vater, gespielt von Juri Nasarow

    In diesem Licht steht allein schon die bemerkenswerte Darbietung der Eltern in Malenkaja Vera: Die sonst in anderen Filmen ebenmäßig-schönen Gesichter von Ludmila Saizewa und Juri Nasarow erscheinen hier fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt – er mit seinen „boshaften, scharfen Augen“ und seinem „knittrigen Gesicht“, sie mit strengen Dauerwellenlöckchen und einem „permanenten, stumpfsinnigen Ziegenblick“3.

    Es ist ein inszeniertes und dennoch realitätsgetreu dargestelltes Leben, und die Kamera tastet Innenräume und Alltagsgegenstände regelrecht ab: von den grün gestrichenen fleckigen Wänden des Studentenheims bis hin zur sowjetischen Küche, die bei aller Beengtheit der Ort des Essens, Trinkens und Kommunizierens dieser Familie wie des sowjetischen Privatlebens insgesamt ist.

    Gedreht wurde entsprechend an Originalschauplätzen und nicht im Studio – in einer gewöhnlichen, vom Filmteam angemieteten Wohnung in einer Chruschtschowka am Stadtrand von Mariupol, der Geburtsstadt des Regisseurs in der Ukraine.

    Melodrama mit durchschlagendem Erfolg

    Was sich anfänglich noch zwischen  Komödie und Satire bewegt, wird immer mehr zu einer Alltagstragödie – die insgesamt alle Register eines klassischen Melodramas zieht und damit mainstream-taugliche Kinounterhaltung bietet. Dafür spricht jedenfalls der Erfolg des Films im In- wie im Ausland. In der Sowjetunion sahen den Film, der dort im Oktober 1988 in die Kinos kam, mehr als 50 Millionen Menschen. Damit war der damals 27-jährige Wassili Pitschul der letzte sowjetische Regisseur, der einen derartigen Erfolg für sich verbuchen konnte. 

    Von zwei Männern begehrt, wählt Vera den Schurken Sergej und stürzt sich ins Unglück
    Von zwei Männern begehrt, wählt Vera den Schurken Sergej und stürzt sich ins Unglück

    Dazu beigetragen hat zweifelsohne die skandalträchtige einminütige Sexszene, die wie eine Antwort auf den 1986 in Umlauf gebrachten und zum geflügelten Wort gewordenen Ausspruch „In der Sowjetunion gibt es keinen Sex“ („W SSSR sexa net“) wirkte. Für Kino und Fernsehen stimmte diese Aussage jedenfalls, denn Sex- wie auch Gewaltdarstellungen waren bis zur Perestroika-Zeit nicht zugelassen – eine Zensurvorschrift, die für sowjetische wie zum Import zugelassene Filme gleichermaßen galt. 

    Als Melodrama zeigt sich der Film zudem im „Modus des Exzesses“, wie es Peter Brooks beschrieben hat. Dabei meint „Exzess“ ein Hervortreten der aufgestauten dramatischen Konflikte nicht nur innerhalb der Handlung, sondern auch auf formaler Ebene, also bei Dekor oder Musik.4 Dies trifft besonders auf die Besäufnisse des Vaters zu, aber auch auf die innerfamiliären Schreiduelle sowie auf das ekstatische Lachen der jungen Vera und ihr freches Auftreten – mit ihren Netzstrümpfen, ihrem knallengen Mini, toupierten Haar, schnippischen Benehmen und Spaß am Sex.

    Rebellen ohne Perspektive?

    Die aufbegehrende Vera ist mit ihrem Erwachsenwerden von einem Klima der Gewalt umgeben. Die Jugendlichen haben zwar Fluchtpunkte wie die Freiluft-Disko in der Stadt, doch unterscheidet sich ihr aggressives Sozialverhalten nicht grundlegend von dem der Erwachsenen. Veras Eltern wie auch ihr Bruder stehen paradigmatisch für den Verlust von gesellschaftlichen Vorbildern und Wertvorstellungen. 

    Vater und Bruder beanspruchen zwar die traditionellen Rollen von Autoritäten, doch sie erscheinen wie Karikaturen. Die Mutter schwankt zwischen rigider Moral und sozialem Kalkül (wissend, wer der richtige Mann für die Tochter ist) und füllt gleichzeitig die Rolle einer unterwürfigen Ernährerin aus, die allen permanent das Selbstgekochte und Eingemachte aufzwingt. Eine Flucht aus den innerfamiliären und gesellschaftlichen Zwängen erscheint illusorisch, weil das Individuum nicht losgelöst von der Gesellschaft existiert.

    Filme mit unangepassten Helden, die jugendliche Rebellion, das war einmal eines der großen Themen des US-amerikanischen und europäischen Kinos der 1960er Jahre. Filme mit James Dean oder Jean-Paul Belmondo erlangten Kultstatus. Für diese Rebellion gab es im sowjetischen Kino der Tauwetterzeit keine Entsprechung – bei aller Innovation und den ästhetischen Impulsen, die auch vom sowjetischen Film in dieser Zeit kamen. Das Aufbegehren der Jungen wurde erst zwei Jahrzehnte später medial realisiert.

    Die Rebellion in Malenkaja Vera wirkt auch heute noch erfrischend. Damals signalisierte sie Hoffnung auf Veränderung und Freiheit – eine Hoffnung, die in den Folgejahren vielleicht konsequenter eingelöst wurde, als uns das heute scheinen mag.

    Text: Eva Binder
    Veröffentlicht am 02.05.2017


    1.Der Spiegel hat sie damals vorgestellt: Glasnost Girl, das Cover ist hier zu sehen: Pinterest: Natalya Negoda – Playboy Magazine
    2.Sirivlja, Natal’ja (2002): Die langen Schatten des Perestrojka-Films, in: Eisensteins Erben. Der sowjetische Film vom Tauwetter zur Perestrojka (1953–1991), Innsbruck, S. 39-45, hier S. 39
    3.Russkoe kino: Malenkaja Vera
    4.Brooks, Peter (1976): The Melodramatic Imagination: Balzac, Henry James, Melodrama, and the Mode of Excess, New Haven u.a.

     

    dekoder-Kino #5: Malenkaja Vera wurde gefördert von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S.

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  • Sergej Schnurow

    Sergej Schnurow

    Ehemann kommt stockbesoffen nach Hause: Ich war heut besoffen und am Arsch. Du sagst, deine Nerven sind auf Abmarsch. Du sagst, du kannst nicht mit mir. Du sagst, du krankes Alki-Tier. Ich sag, scheiß drauf, mir schnurz, zieh Leine, ich bin Agent 007 auch alleine. Du sagst, du liebst mich nicht mehr. Du sagst, ein Schwein macht da mehr her. Ich sag, scheiß drauf, mir schnurz, hau ab, 0,5 Liter Wodka kauf ich vorab.

    Ein typischer Liedtext von Sergej Schnurow – in diesem Fall aus dem Album Datschniki (dt. soviel wie Kleingärtner), mit dem er und seine Band Leningrad im Jahr 2000 berühmt geworden sind. Es ist ein schlichtes Sujet mit eigener Sprache, wie in vielen seiner Lieder: Schnurows Protagonist schuftet, kommt besoffen nach Hause, setzt sich vor die Glotze, streitet mit seiner Frau, schimpft über den Westen und verwendet ständig Kraftausdrücke (Mat). Auf diese Art thematisiert und ästhetisiert Schnurow ein Lebensgefühl und eine Lebensweise, die von vielen Menschen in Russland aufgrund ihrer Derbheit verachtet werden. Und doch wurde Schnurow in kürzester Zeit zu einem der populärsten Musiker Russlands, und seine Konzerte ziehen bis heute zigtausende Menschen an.

    Sergej Schnurow, kurz Schnur genannt, mimt den russischen Mann und Macho in einer dezidiert rauen und brutalen Ausprägung. Mit dieser Rolle repräsentiert er ein Stereotyp, spielt ironisch damit und revoltiert gleichzeitig gegen eine süßliche, verweichlichte und angepasste Popkultur, die auf Russisch abwertend auch als popsa bezeichnet wird.

    Diese männliche Wildheit der Band Leningrad wird auf mehreren Ebenen inszeniert. Dazu gehören, erstens, ein exzessiver Alkoholkonsum der Musiker und ihrer Konzertbesucher sowie das Besingen einer derben Saufkultur, zweitens ein ebenso exzessiver Gebrauch des russischen Mat, und drittens eine souverän gespielte Mischung aus Ska, Punk-Rock und Chanson mit eingängigen ekstatischen Rhythmen.

    Sergej Schnurow wurde 1973 in der Stadt des russischen Rocks – in Leningrad – geboren und dort sozialisiert. Eine Ausbildung zum Restaurator brach er ab, wie er auch ein Philosophiestudium nicht abschloss.1 Gleichzeitig begann er Anfang der 1990er Jahre damit, Musik zu machen. Als Gründungsdatum der Gruppirowka Leningrad, wie sich die Band offiziell bezeichnet, gilt der 9. Januar 1997, damals noch mit Igor Wdowin als Lead-Sänger und Sergej Schnurow als Komponisten und Bass-Gitarristen.

    Programm gegen verweichlichten Pop – die Band Leningrad – Foto © Irina Bushor/Kommersant
    Programm gegen verweichlichten Pop – die Band Leningrad – Foto © Irina Bushor/Kommersant

    Seit 1999 führt Schnurow selbst die bis zu 17-köpfige Band als Frontmann an. Die Mitglieder wechseln immer wieder, während er zu ihrem unverwechselbaren Gesicht geworden ist und inzwischen einen beachtlichen Output vorweisen kann: über 20 Studio- und Konzertalben, weit mehr als 100 Videoclips und auch einige Film-Soundtracks zählen dazu (unter anderem zu dem im Jahr 2003 entstandenen Film Bumer unter der Regie von Pjotr Buslow). Sergej Schnurow ist darüber hinaus ein gefragter Einzeldarsteller und spielt immer wieder in Filmen mit. Er tritt auch als Opernsänger, Fernsehmoderator und Maler in Erscheinung, und ist zudem in Werbespots zu sehen, so zum Beispiel für ein Potenzmittel oder für das Telekommunikationsunternehmen Ewroset (wobei letzterer Spot fast ausschließlich aus Pieptönen besteht, die Schnurows Mat gespielt zensieren). In Interviews gibt sich Schnurow dagegen durchaus auch als belesener Petersburger Intellektueller, oder er posiert in teurer Markenkleidung.2

    Ein Narkotiseur Russlands

    Obwohl Schnurow quer durch die Gesellschaft des ganzen Landes enorm beliebt ist und in seinen Liedern auch auf aktuelle politische Ereignisse reagiert, ist seine gesellschaftliche Rolle alles andere als unumstritten. So bezeichnet ihn der bekannte Musikkritiker Artemi Troizki als einen „Narkotiseur Russlands“, als „Lackierer der russischen Realität“, der einerseits das „wahre“ Leben besinge, in dem alles scheiße sei – wir, ich, du –, dabei gleichzeitig aber zu verstehen gebe, „wie cool das alles ist und wie fröhlich es sich hier leben lässt“.3 Das spiele – so Troizki – dem Kreml in die Hände, weswegen Schnurow eine der wichtigsten „geistigen Klammern“ der russischen Gesellschaft sei – neben dem Tag des Sieges und der Angliederung der Krim. Die Staatsführung, die traditionelle Werte propagiert und mit einem gesetzlichen Verbot gegen Mat in den Medien und in der Kunst vorgeht, toleriert die Auftritte von Leningrad und würdigt die Band sogar öffentlich.4

    Männliche Wildheit und Saufkultur

    Schnurow ist jedoch zweifelsohne kein ideologiekonformer Patriot. Eines seiner Erfolgsgeheimnisse liegt vielmehr in seiner affirmativen und gleichzeitig ironisch-distanzierten Haltung gegenüber seiner medialen Persona. So besingt Schnurow die im russischen Selbstbild verankerte besondere „männliche Souveränität“ in der Welt mit den Worten „überall ist es besser, wo wir sind / wo wir aber nicht sind, ist es schlecht“ („Choroscho tam, gde my est / no gde nas net, tam plocho“), während das männliche Selbstbewusstsein in anderen Liedern wieder als vom Wodka beflügelter Größenwahn und national-patriotischer Chauvinismus entlarvt wird. Dies geschieht im Song Kogda-nibud (dt. Irgendwann), der in das Album Vetschny ogon (dt. Ewiges Feuer, 2011) Eingang fand. Schnurows Ironie geht hier bereits aus dem Titel hervor: Denn das Plattencover zeigt nicht etwa wie der Albumtitel ausgehend von bestehenden Ehrenmalen vermuten ließe eine den gefallenen Soldaten des Großen Vaterländischen Kriegs gewidmete Gedenkstätte, sondern den bläulichen Flammenkranz eines Gasherdes.

    Lachen über sich selbst

    In Kogda-nibud sind alternierend eine männliche und eine weibliche Stimme zu hören. Während der männliche Part eine grobe und aggressive Ansammlung patriotischer Phrasen herausbrüllt, auf Deutsch sinngemäß „wir, verdammt, sind Kulturträger / wir sind ein orthodoxes Land“ („My, bljad, nositeli kultury / my prawoslawnaja strana“), holt die sanfte weibliche Gegenstimme diesen Höhenflug, der in dem animierten Clip als sowjetischer Traum vom Kosmos daherkommt, auf den Boden der Realität zurück: „Irgendwann wirst du das Trinken aufgeben / und ich werde dich zum Arzt bringen“ („Kogda-nibud ty brosisch pit / ja otwedu tebja k wratschu“).

    Auf diese Weise gelingt es Schnurow, die Rolle des „Volkssängers“ und die des Gesellschaftskritikers in sich zu vereinen. Damit erreicht er, was nur Wenigen gelingt, nämlich dass das von ihm besungene russische „Volk“ mitunter auch über sich selbst lachen kann. Wie Schnurow selbst in einem Interview sagte: „Solange wir über uns selbst lachen können, […] bleiben wir im Rahmen des Vernünftigen. Wenn wir das einmal nicht mehr können, ist alles [pisdez] im Arsch.“5


    1. vgl. snob.ru: Sergej Šnurov: Glavnoe – sozdat’ mif ↩︎
    2. snob.ru: Sergej Šnurov: Glavnoe – sozdat’ mif ↩︎
    3. vgl. Echo Moskwy: Osboe Mnenie, 24.05.2016 ↩︎
    4. Beispielsweise hat Vize-Premierminister Dimitri Rogozin im Mai 2016 vorgeschlagen, Sergej Schnurow 2017 zum Eurovision zu schicken., sh. lenta.ru: Rogozin predložil otpravit’ Šnurova na „Evrovidenie“ ↩︎
    5. RBC.ru: Sergej Šnurov – RBK: „Obraz v majke-alkogoličke realizovan uže na 120%“ ↩︎

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