дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Archipel Gulag

    Archipel Gulag

    Archipel Gulag ist das Hauptwerk des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn. Darin wird das menschenverachtende sowjetische Straflagersystem eindrucksvoll beschrieben, weshalb das Werk in der Sowjetunion verboten war und zunächst nur im Ausland erschien. Heute gilt es vor allem als wichtiges Zeitdokument.

    Der Archipel Gulag gehört zu den wichtigsten und bekanntesten literarischen Werken der sowjetischen Dissidentenbewegung. In der Sowjetunion verboten, wurde es 1973 in Paris erstveröffentlicht. Die deutsche Übersetzung erschien wenig später und der erste Band brach alle deutschsprachigen Buchverkaufsrekorde. Kurz nach dem Erscheinen des Buchs wurde Solschenizyn aus der Sowjetunion ausgewiesen, man sprach damals von der Solschenizyn-Affäre. In der Sowjetunion erschien das Buch erst Ende der 1980er Jahre; inzwischen zählt es zur Pflichtlektüre an russischen Schulen.

    Das Werk

    Die drei Bände des Archipel Gulag sind in sieben Teile und zahlreiche Unterkapitel unterteilt. Den Plot des Buches bilden die Massenverhaftungen in der Sowjetunion: Verhör, Gericht, Zwangsarbeit und Verbannung. Zahlreiche Erzählstimmen sind eng verflochten: Sie präsentieren Solschenizyns eigene Haftgeschichte und die von vielen anderen Mitbürgern, aber auch die ideologischen Sichtweisen des Autors über andere Häftlinge, über Stalin und die Sowjetunion. Als Ganzes zielt das Werk auf eine Delegitimierung der sowjetischen Ideologie durch die Darstellung von staatlicher Ungerechtigkeit ab. Das Werk trägt auch den Charakter eines moralischen Appells.

    Die Rezeption

    „Kaum ein literarisches Werk des Dissens ist […] so einhellig begrüßt worden wie Solschenizyns Archipel.“ (Karl Schlögel).1 Die überaus positive Rezeption des Buchs in westlichen Ländern entsprang insbesondere aus dem Bedürfnis der Leser, sich vom sowjetischen Kommunismus als Ideologie abgrenzen zu wollen. So wurde das Buch zu einem Symbol des Kalten Krieges.

    Die Frage der literarischen Gattung: Wie kann man „Gulag“ heute lesen?

    Archipel Gulag wird vom Autor selbst als eine „künstlerische Untersuchung“ bezeichnet. Die literarische Gattung des Archipel Gulag ist jedoch schwer festzulegen. Der Autor behauptet, neben seiner eigenen Erfahrung auch die Hafterlebnisse von 227 anderen Personen niederzuschreiben und auf nichts Fiktives zurückzugreifen. Das Werk wird daher häufig als Geschichte gelesen, was jedoch problematisch ist, da es viele unbelegte Fakten und zahlreiche subjektive Einschätzungen enthält. Archipel Gulag beschreibt Begebenheiten, die sich nicht belegen lassen: So werden beispielsweise geheime Gespräche zwischen Dritten ohne Quellenhinweise wörtlich wiedergegeben.

    Das Werk lässt sich nicht einfach als generelle Anklage gegen das Unrecht in der UdSSR lesen, da Solschenizyn die Bestrafung von manchen Opfern des Stalinismus rechtfertigt und die Haft als eine Art „Schulung für die Seele“ betrachtet.2Auch seine Darstellung von Frauen oder Minderheiten ist unzeitgemäß. Beispielsweise werden lesbische Beziehungen als Krankheit eingestuft (Band 2, S. 236)3 und homosexuelle Männer durchgehend als „Schlampen“ (russ. suka, wörtl. Hündin) beschimpft. Massenvergewaltigung wird in einer Passage als etwas präsentiert, das bei nicht betroffenen Frauen Neid hervorruft (Band 2, S. 221–222)4. Heute erfordert das Werk die kritische Distanz des Lesers, es bleibt aber dennoch ein epochales Beispiel politischer Literatur.


    1. Schlögel, Karl (1982): Literatur der Dissidenz als Ansatz einer Theorienbildung zur sowjetischen Gesellschaft, in: Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Bd. 31 ↩︎
    2. Toker, Leona (2000): Return from the Archipelago: Narratives of Gulag Survivors, Bloomington ↩︎
    3. Solschenizyn, Alexander (1974): Der Archipel Gulag, Bde. 1–3, Bern ↩︎
    4. ebd. ↩︎

    Weitere Themen

    Larissa Bogoras

    Genrich Jagoda

    Großer Vaterländischer Krieg

    Dimitri Peskow

    Dimitri Kisseljow

    Leonid Breshnew

    Alexander Solschenizyn

  • Alexander Solschenizyn

    Alexander Solschenizyn

    Im Westen ist Alexander Solschenizyn als einer der bedeutendsten Oppositionellen der Sowjetära bekannt. Solschenizyn selbst verbrachte acht Jahre seines Lebens in Straflagern und seine Werke über die Lagerhaft waren langjährige Bestseller in den 1960er und 1970er Jahren. 1974 wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen und lebte bis 1994 im Exil. Heute wird er aufgrund seiner moralischen und politischen Vorstellungen hauptsächlich in konservativen und christlichen Kreisen in Russland und im Westen gelesen und wurde im Zuge des Ukraine-Konflikts wieder populärer.

    Solschenizyn (1918–2008) studierte Mathematik in Rostow am Don, wo er 1940 seine Frau Natalja heiratete. 1941 wurde er in die Rote Armee eingezogen und 1945 wegen staatsfeindlicher Äußerungen verhaftet. Er verbrachte die ersten Jahre seiner Haft in einem Lager, in dem er  als Wissenschaftler intellektuelle Zwangsarbeit zu leisten hatte. Die Bedingungen dort waren wesentlich leichter als später im Sonderlager Ekibastus, wo er zu physischer Arbeit gezwungen wurde und bis 1953 inhaftiert war. Nach seiner Entlassung durfte er zunächst seinen Wohnort nicht frei wählen und konnte nur in Randgebieten der Sowjetunion leben. 1956 wurde das ursprüngliche Urteil gegen ihn für gegenstandlos erklärt. Solschenizyn arbeitete fortan als Lehrer und begann, abends zu schreiben. Seine Frau Natalja zog zu ihm nach Rjasan.

    Sein erstes Werk Ein Tag im Leben von Iwan Denissowitsch erschien 1962 mit der Unterstützung des kommunistischen Parteichefs Nikita Chruschtschow in der Sowjetunion. Der erste in der Sowjetunion publizierte Roman eines Nichtkommunisten über das Leben im Gefangenenlager wurde zur Sensation: Solschenizyn erlangte schlagartig weltweite Berühmtheit, sein Roman entwickelte sich zu einem Bestseller. Er wurde in den sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen, von dem man ihn jedoch 1969 mit der Begründung, er habe ohne Genehmigung im Ausland publiziert, wieder ausschloss. Unterstützt von einer Solidaritätskampagne im Westen erhielt er im Jahr 1970 den Literaturnobelpreis. Im gleichen Jahr ließ sich Solschenizyn scheiden und heiratete seine zweite Frau, die ebenfalls Natalja hieß.  

    Als 1973 sein Hauptwerk Archipel Gulag im Westen erschien, beschloss die Sowjetregierung, den unbequemen Schriftsteller auszubürgern, weil sie das Buch als Verleumdung betrachtete. Archipel Gulag wurde zur bekanntesten literarischen Anklage gegen die sowjetische Ungerechtigkeit. 1974 wurde Solschenizyn in den Westen abgeschoben, seine Familie durfte ihm folgen. Er ließ sich auf einem Anwesen im Norden der USA nieder. Seine neuen Werke befassten sich mit der Geschichte Russlands am Anfang des 20. Jahrhunderts und wurden weniger erfolgreich. Er veröffentlichte Essays und hielt Reden, in denen er seine moralischen Ansichten äußerte. Dass das US-Publikum ihm kaum Gehör schenkte, enttäuschte ihn.1

    In der Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion schrieb er programmatische Texte mit gesellschaftspolitischen Reformvorschlägen. 1994 kehrte er schließlich nach Russland zurück, um dort seinen Lebensabend zu verbringen. Seine letzten Werke umfassten historische Abhandlungen, Erinnerungen an die Zeit im Exil und Kurzgeschichten. Er starb 2008 und hinterließ seine Frau und drei Söhne.

    Immer wieder wird diskutiert, ob im Werk Solschenizyns nationalistische oder antisemitische Tendenzen zu finden sind. Er selbst wies derartige Vorwürfe von sich. Jedoch lässt eine Analyse seiner Werke auf der Grundlage wissenschaftlicher Definitionen von Nationalismus oder Antisemitismus keinen Zweifel mehr an der Berechtigung dieser Vorwürfe (s. Rowley; Luks; Kriza)2. Außerdem ist seine Vision eines christlichen Großrusslands insbesondere von Mitgliedern der politischen Elite in Russland im Ukraine-Konflikt wieder aufgegriffen worden.


    1. Solschenizyn, Alexander (2007): Meine amerikanischen Jahre, München ↩︎
    2. Kriza, Elisa (2014): Alexander Solzhenitsyn: Cold War lcon, Gulag Author, Russian Nationalist? A Study of the Western Reception of his Literary Writings, Historical Interpretations, and Political Ideas, in: Umland, Andreas (Hrsg.): Soviet and Post-Soviet Politics and Society, Bd. 131, Stuttgart; Luks, Leonid (2008): Zweihundert Jahre zusammen, Bd. 2: Die Juden in der Sowjetunion, Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 2008 (56/4); Rowley, David G. (1997): Aleksandr Solzhenitsyn and Russian Nationalism, in: Journal of Contemporary History 1997 (32/3) ↩︎

    Weitere Themen

    Wassili Aksjonow

    Der Große Terror

    Die Fragen der Enkel

    Leonid Breshnew

    Die Geister der Vergangenheit

    Tauwetter