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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Sandarmoch

    Sandarmoch

    Zwischen dem 27. Oktober und dem 4. November 1937 wurden in einem verborgenen Waldgebiet in Karelien 1111 Menschen aus dem Solowezki-Gefängnis erschossen. Die Erschießung unterlag strengster Geheimhaltung. Bis zur Perestroika kursierten Gerüchte, der Lastkahn mit den Gefangenen sei im Weißen Meer versenkt worden. Für die Angehörigen verschwanden sie spurlos. Nicht einmal über die Tatsache ihres Todes herrschte Gewissheit. Auch wenn die Wahrheit über die Todesursachen seit Ende der 1980er Jahre kleckerweise an die Öffentlichkeit gelangte, blieb der Erschießungsort bis in die späten 1990er Jahre unbekannt.

    Erst 1997 wurde auf einer Expedition, bei der der Lokalhistoriker Juri Dmitrijew eine entscheidende Rolle spielte, in einem karelischen Nadelwald eine Vielzahl von Massengräbern gefunden. In diesen waren außer den Solowezki-Gefangenen auch mehrere tausend weitere Hingerichtete verscharrt.1 Der namenlose Ort im Wald bekam damals auch einen Namen: Sandarmoch.

    Die Hinterbliebenen der Opfer personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten / Foto © Anna Ivantsova
    Die Hinterbliebenen der Opfer personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten / Foto © Anna Ivantsova

    Die Erschießungsorte und Friedhöfe des NKWD unterlagen der strikten Geheimhaltung. Bis heute sind noch nicht alle Spezobjekty (dt. „Spezialobjekte“) – wie es in der NKWD-Sprache heißt – entdeckt. Erst die Öffnung der KGB-Archive ermöglichte es zivilgesellschaftlichen Akteuren, und vor allem der Menschenrechtsorganisation Memorial, einige zu finden: Butowo und Kommunarka bei Moskau sowie Lewaschowo bei Sankt Petersburg. Die Suche nach Sandarmoch aber dauerte länger und war viel aufwändiger.

    Tatort Sandarmoch

    Sie begann mit der Recherche nach einem zunächst unbekannten Ort, an dem die Häftlinge aus dem Solowezki-Gefängnis begraben worden waren. Laut KGB-Dokumenten sind sie 1937 auf Anweisung der Leningrader Troika irgendwo in den karelischen Wäldern hingerichtet worden.
    Hinweise zum Tatort hat in den NKWD-Akten ein Täter hinterlassen, der später selbst zum Opfer wurde: Michail Matwejew, Leningrader Hauptmann der regionalen NKWD-Abteilung, führte die Erschießungen mit seinen Assistenten durch. Eineinhalb Jahre später wurde er festgenommen und wegen Amtsmissbrauchs zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ihm wurden sadistische Prügel vorgeworfen, die den Hinrichtungen vorausgegangen waren.2
    In einem Verhörprotokoll hatte er den Transport der Häftlinge in das Lagergefängnis am Weißmeer-Ostsee-Kanal in Medweshjegorsk vermerkt. Näher als „16 Kilometer von Medweshjegorsk“ dürfe der Exekutionsort nicht liegen, sonst könne jemand die Schüsse hören oder das Licht des Feuers sehen, so Matwejew. 

    60 Jahre später, in den 1990er Jahren, führte der Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitrijew, dem die Entdeckung einiger Friedhöfe und Hinrichtungsorte zu verdanken ist, eine Expedition in einen der Kiefernwälder zwischen Medweshjegorsk und Powenez. Am 1. Juli 1997 stieß er mit seinen Mitstreitern von Memorial Sankt Petersburg auf 150 Erdmulden mit menschlichen Überresten.3 Alle Opfer in den vier mal vier Meter großen Mulden hatten identische Einschusslöcher im Nackenbereich des Schädels. Außer den Häftlingen aus Solowki sind in Sandarmoch insgesamt mehr als 7000 Menschen erschossen und verscharrt worden.

    Opfer von Sandarmoch

    Unter den 1111 Solowezki-Gefangenen befand sich die geistliche, kulturelle, wissenschaftliche und diplomatische Elite der Sowjetunion. Ihre Namen sind bekannt: Viele von ihnen waren adeliger Herkunft – unter ihnen der renommierte Anwalt Alexander Bobrischew-Puschkin, der herausragende Linguist Nikolaj Durnowo, der Historiker Matwej Jaworski, der Theaterregisseur Les Kurbas, die Erzbischöfe von Samara, Tambow, Kursk und Woronesh. Seit 1933/34 wurde ihnen wegen sogenannter „terroristischer Tätigkeit“, „Spionage“ oder im Zusammenhang mit der „Kirow-Affäre“ der Prozess gemacht. Nach dem Transport in die sogenannte Untersuchungshaft des BelBaltLags nahe Medweshjegorsk wurden sie mit LKW an die Vernichtungsstätte Sandarmoch gebracht.

    Noch nicht alle Opfer des Großen Terrors in Karelien können benannt werden.4 Die Mehrheit von ihnen steht in direkter Verbindung mit dem BelBaltLag – dem ersten Zwangsarbeiterlager der Sowjetunion mit Zentrum in Medweshjegorsk: Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals versuchte sich die sowjetische Geheimpolizei als Wirtschaftsunternehmen, indem sie zur Durchführung dieses gewaltigen Infrastrukturprojektes Häftlinge zur Zwangsarbeit heranzog. Der 227 Kilometer lange Kanal ließ sich dadurch innerhalb kürzester Zeit und ohne Belastung für den Staatshaushalt errichten. Hier, in einem exemplarischen Bauprojekt der Industrialisierung, das zwischen 1931 und 1933 entstand, sollten „Klassenfeinde“ zu „neuen Menschen“ „umgeschmiedet“ werden. 

    Der Weißmeer-Ostsee-Kanal war ein gewaltiges Infrastruktuprojekt – errichtet von Zwangsarbeitern / Foto © Anna Ivantsova
    Der Weißmeer-Ostsee-Kanal war ein gewaltiges Infrastruktuprojekt – errichtet von Zwangsarbeitern / Foto © Anna Ivantsova

    Nach der Fertigstellung des Weißmeer-Ostsee-Kanals blieben viele aus der Haft entlassenen Kanalbauarbeiter als freiwillige Arbeitskräfte weiter hier wohnen und wurden von der OGPU-NKWD im BelBaltKombinat beschäftigt. Dieses 1934 entstandene Industrieunternehmen hatte das Ziel, sowohl „großtechnologische Kraftstationen zu entwickeln, als auch sozialistische Städte aufzubauen“5. Die fehlenden Arbeitsressourcen wollte man mit der Zwangsumsiedlung von Bauern aus der ganzen Sowjetunion ausgleichen. So waren es – außer ehemaligen Kanalbauarbeitern – enteignete und umgesiedelte Bauern und „rote Finnen“, die das Gebiet des BelBaltLags am Vorabend des Großen Terrors besiedelten. Letztere, der Spionage angeklagt, und die als Kulaken verfemten Bauern sollten „auf unbarmherzige Art und Weise zerschlagen werden“.6
    Obwohl die meisten Erschießungen in Sandarmoch zwischen August 1937 und November 1938 stattfanden, war es bereits seit 1934 eine Hinrichtungsstätte der OGPU-NKWD: Hier fanden Exekutionen von Häftlingen des BelBaltLags statt.7

    Geschichte der Erschießung

    Die Säuberung von „antisowjetischen Elementen“ begann mit dem geheimen operativen Befehl Nr. 00447 vom 30. Juli 1937, der das „Fließband des Todes“ in Gang setzte und als Auftakt des Großen Terrors gilt. In diesem Befehl wurde die Zahl der Menschen für jede Region festgelegt, die den Repressionen „unterlagen“: insgesamt eine viertelmillion Menschen, darunter 1000 Menschen in Karelien. Die Zahl der tatsächlich Repressierten ist deutlich höher: Allein in Karelien verurteilte die Troika des NKWD 4000 Angehörige „verdächtiger“ Nationalität und 7000 „Konterrevolutionäre“ zum Tode.
    Für die Angehörigen verschwanden die festgenommenen Menschen spurlos. Der Satz „zehn Jahre Freiheitsentzug ohne Recht auf Briefwechsel“ war eine Vorahnung des Schrecklichen und eine Hoffnung zugleich. Über das Leben und den Tod sollte Schweigen herrschen. Erst in den späten 1950er Jahren, im Tauwetter und mit der Rehabilitierungskampagne unter Nikita Chruschtschow, wurde auf Anfrage der Angehörigen der Tod bestätigt. Die Wahrheit über die Todesursache, Datum und Ort der Beisetzung durfte erst dreißig Jahre später veröffentlicht werden.

    Friedhof Sandarmoch

    Die Gewissheit um den Tod der Angehörigen entwickelte sich zur Forderung nach einem Ort der privaten Trauerarbeit. Zivilgesellschaftliche Initiativen machten den Wunsch tausender Familien öffentlich: Die Topografie des Terrors sollte zur Topografie der Friedhöfe werden. Die Entdeckung von Sandarmoch sorgte für Aufruhr in der Region. Viele hofften, damit endlich einen Ort zu finden, um eine Grabstätte einzurichten. Insgesamt wurden auf einer Fläche von etwa siebeneinhalb Hektar 236 Massengräber entdeckt.8 Juri Dmitrijew wünschte sich damals, dass dem Friedhof Sandarmoch im heutigen Russland die gleiche symbolische Bedeutung zukommen sollte wie der Gedenkstätte Buchenwald in Deutschland.9
    Weniger als ein halbes Jahr haben die Aktivisten für die Ausgestaltung der Gedenkstätte gebraucht. Ihre Arbeit wurde aus dem Haushalt der Republik Karelien finanziert. Die heutige Gedenkstätte Sandarmoch besteht immer noch aus den Elementen, die im Oktober 1997 entstanden: 236 Holzpfähle, die die Gräber markieren, eine Kapelle und der Solowezki-Gedenkstein – in Erinnerung an die Hingerichteten aus Solowki10. Ein Jahr später entstand das Mahnmal Erschießung mit Engel. Dieses ist für den Kontext der gegenwärtigen Erinnerungskultur in Russland aufschlussreich: Ein Engel, der mit gebundenen Händen in ein Grab fällt, ist ein Symbol des passiven, unschuldigen Opfers par exellence. Die Inschrift auf dem Stein lautet: „Menschen, tötet einander nicht“. Nach den Tätern wird nicht gefragt: Das Böse wird verallgemeinert. Mit wenigen Ausnahmen bleiben die Strukturen und Mechanismen des stalinschen Terrors in der Erinnerungskultur generell abstrakt, anonym und verschleiert.

    Ort der lebendigen Erinnerung

    Für einen westlichen Betrachter ist Sandarmoch kein Ort der negativen Identitätsstiftung durch „Pflicht zum Gedenken“. Sandarmoch ist vor allem ein Friedhof, auf den Angehörige der Hingerichteten kommen, um zu trauern. Dabei wissen die meisten nicht einmal genau, ob ihre Verwandten tatsächlich hier verscharrt wurden.11 Das „imaginierte Grab“ ist mindestens genauso wichtig wie das genaue Wissen. Die „Kinder von 1937“, wie die Kinder von verschwundenen oder verurteilten Menschen genannt werden, personalisieren Baumstämme, Pfähle und Erdstücke als persönliche Grabstätten. An den hölzernen Kreuzen oder an den Bäumen werden Fotografien, Plastikblumen, Schilder mit Namen und Lebensdaten befestigt. Zuweilen hat man den Eindruck, man sei auf einem Friedhof, auf dem noch Beisetzungen stattfinden. Sandarmoch ist ein Ort der lebendigen Erinnerung und Trauer.
    Unter den vielen anderen Gedenkstätten zeichnet sich Sandarmoch durch die hohe Internationalität der Opfer heraus. Am symbolischen Feld des Gedenkens befinden sich Denkmale für Finnen, Polen, Litauer, Esten, Ukrainer, Tataren und andere. Hier findet auch die jährliche Gedenkzeremonie statt, der Internationale Tag des Gedenkens: Am 5. August wird Sandarmoch zum Ort einer transnationalen Erinnerung an die Opfer des Stalinismus.

    Seit mehr als 20 Jahren ist das Bestehen der Gedenkstätte vom good will der örtlichen Verwaltung abhängig. Außer dem Mahnmal Erschießung mit Engel unterliegen weder andere Gestaltungselemente noch die Gedenkstätte selbst dem staatlichen Denkmalschutz. Für die Regierung Kareliens ist Sandarmoch – bislang – von großer Bedeutung: Die breite internationale Präsenz beim jährlichen Tag des Gedenkens am 5. August und die anhaltende mediale Aufmerksamkeit für diesen Ort erfordern von Seiten der lokalen Verwaltung administrative und finanzielle Investitionen. Doch weder der russische Präsident noch andere hochrangige Politiker Russlands oder anderer Länder haben Sandarmoch jemals offiziell besucht.

    Die „zweite Wahrheit“ von Sandarmoch

    Die zweite Wahrheit des Konzentrationslagers Sandarmoch: Die Finnen haben Tausende unserer Soldaten zu Tode gequält. Mit diesem Titel wurde im August 2016 eine Sendung des TV Swesda ausgestrahlt. Seitdem ist die These im Raum, es handele sich nicht oder nicht nur um stalinsche Repressionen, sondern um Taten der finnischen Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges. Zum ersten Mal wurde dies vom Petrosawodsker Historiker Juri Kilin als Annahme formuliert, sie wird seitdem immer wieder aufgegriffen. 

    Die Annahme beruht auf folgender Logik: Während der Okkupation des sowjetischen Karelien durch Finnland waren insgesamt circa 64.000 Rotarmisten in finnischer Gefangenschaft. Mehr als 20.000 Menschen sind dabei am Elend der Haft gestorben oder wurden exekutiert. Die Finnen haben nachweislich die Lagerinfrastruktur des Gulag genutzt. Über die Massengräber ist wenig bekannt. Vielleicht haben sie auch Sandarmoch – den Erschießungsort vom NKWD – benutzt? 
    Die Hypothese von Juri Kilin lässt sich weder bestätigen noch widerlegen. Medialen Platz hat sie aber bereits gefunden: „Nach ungefähren Angaben ruhen in Sandarmoch circa 22.000 Soldaten der Roten Armee“, so die Sendung auf TV Swesda.

    Die Relativierung dieses „schwarzen Herzens des Gulag“ ging der Verhaftung des Entdeckers von Sandarmoch voraus: Juri Dmitrijew wurde die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie vorgeworfen. Dem Freispruch vom April 2018 folgte bald eine neue aber nicht weniger fragwürdige Ermittlung, diesmal wegen angeblichen Missbrauchs seiner Ziehtochter. Ob das zeitliche Zusammenfallen der Berichterstattung über „die zweite Wahrheit von Sandarmoch“ und die Verhaftung seines Entdeckers zusammenhängen, ist unklar. Beide tragen aber dazu bei, die Täterschaft zu verschleiern und den Stalinschen Terror zu relativieren. 


    1. Die Zahlen der Opfer ist in der Forschung umstritten: Während Dmitriev von circa 9000 Exekutierten spricht, nennt Ivan Čuchin die Zahl 6067, vgl.: Čuchin, Ivan/Dmitriev, Jurij (2002): Pominal’nye spiski Karelii: 1937-1938: Uničtožennaja Karelija: Čast’2: Bol’šoj Terror, Petrozavodsk. Die Inschrift auf dem Gedenkstein in Sandarmoch weist auf 7000 Exekutierte hin. ↩︎
    2. vgl.: Novaya Gazeta: Palači Sandarmocha ↩︎
    3. zum Verlauf der Suchaktion siehe: polit.ru: Bol’šoj terror v Sandormoche, später wurden weitere Gräber gefunden, sodass sich die Gesamtzahl auf 236 beläuft. ↩︎
    4. 6067 Namen hat Jurij Dmitriev identifiziert: Dmitriev, Jurij (1999): Mesto rasstrela Sandarmoch, Petrozavodsk ↩︎
    5. Baron, Nick (2002): Production and Terror: The operation of the Karelian Gulag, 1933 – 1939, in: Cahiers du monde russe, 43/1, S. 139-181 und S. 141 ↩︎
    6. sh. Čuchin, Ivan (1999): Karelija-37: Ideologija i praktika terrore, Petrozavodsk, S. 17 ↩︎
    7. sh. Eintrag „Sandormoch” im Verzeichnis des virtuellen Gulag-Museums ↩︎
    8. Ob’ekty istoriko-kul’turnogo nasledija Karelii: Zahoronenie zhertv massovych repressij (1937-1938) ↩︎
    9. Interview mit der Verfasserin, April 2008 ↩︎
    10. Der Solovecki Stein – ein rauer, unbehauener Stein vom Solovecki-Archipel – ist die klassische Denkmalform für Opfer des Stalinismus in Russland ↩︎
    11. In Karelien wurden ca. 15 Orte von Massenexekutionen entdeckt, davon sind lediglich Sandarmoch und Krasny Bor als Gedenkstätten ausgestaltet ↩︎

    Diese Gnose wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

    Der Große Vaterländische Krieg in der Erinnerungskultur

    Als es der Roten Armee gelungen war, die deutsche Wehrmacht bei Stalingrad einzukesseln, markierte dies einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. Der Schriftsteller und Korrespondent Wassili Grossman schrieb, dass die deutschen Soldaten und Offiziere in der schrecklichen Kriegssituation bei Stalingrad nicht nur die eigenen Kräfte, sondern auch die Staatspolitik, die Gesetze, die Verfassung, die Zukunft und die Vergangenheit des eigenen Volkes zunehmend in Frage stellten. 

    Bei den sowjetischen Truppen sei genau das Gegenteil passiert: Der erste Sieg im Großen Vaterländischen Krieg nach vielen Niederlagen hat die sowjetische Staatsführung gerechtfertigt. Die Frage aber, ob das Volk wegen oder trotz der Regierung siegte, blieb offen. Der Sieg bei Stalingrad bestimmte, so Grossman, den Ausgang des Kriegs, „aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat ging weiter“.1 

    Und dieser Streit ist noch immer nicht zu Ende. Das einst „siegreiche Volk“ streitet nun aber nicht nur mit dem Staat, sondern auch mit sich selbst und mit den späteren Generationen, die den Krieg nur in seiner medialen Gestalt wahrnehmen und beurteilen können. 

    Im heutigen Russland gibt es kein homogenes „kollektives Gedächtnis“ an den Krieg, sondern mehrere mit-, neben-, und gegeneinander existierende und agierende Bilder der Kriegserinnerung. Die Verflechtung des politischen und individuellen Gedächtnisses ist das Spezifikum russischer Erinnerungskultur, zu welcher sowohl Siegesstolz als auch Trauer gehören.

    Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider / Foto © CC0/Public Domain
    Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider / Foto © CC0/Public Domain

    Einen Konsens gibt es nicht einmal bei der Frage nach den Kriegsopferzahlen. Seit dem Kriegsende gehört die Arithmetik der Verluste zum Gegenstand der aktiven offiziellen Geschichtspolitik. Stalin wies sieben, später zehn Millionen aus – das Land durfte keine größeren Menschenverluste als die Kriegsgegner erlitten haben. „Der Preis des Sieges“ stieg auf 20 Millionen in den späten 1950ern, auf 27 Millionen in den 1980ern, bis im Februar 2017 der Duma-Abgeordnete Nikolaj Semzow mit Verweis auf geheime Daten der staatlichen Plankommission der UdSSR eine weitere Zahl verkündete: 42 Millionen.2
     
    Allein die Zahl von 27 Millionen, die in der Geschichtswissenschaft verankert ist, zeugt von der unvergleichlichen Dimension der Leid- und Opfererfahrung in den Ländern, die von Krieg und deutscher Besatzung betroffen waren. Der Krieg hat tiefe Spuren im Gedächtnis der Generationen hinterlassen: Es gibt kaum eine Familie im heutigen Russland und auch in der Ukraine, Belarus und anderen postsowjetischen Ländern, die vom Krieg unberührt geblieben ist. 
    Die gesellschaftliche Verankerung des Themas auf der einen Seite und die übergeordnete Bedeutung der Kriegserinnerung für den Staat auf der anderen Seite bedingten die Entstehung einer vielschichtigen und dynamischen Erinnerungskultur.

    Unheroischer Krieg

    Auf der Ebene der privaten, familiären, alltäglichen Erinnerung war das Bedürfnis, der Trauer Raum zu geben, von Anfang an da. So entstand seit dem Kriegsende in jeder sowjetischen Stadt und in jedem Dorf an einer prominenten Stelle ein Denkmal, um den nicht zurückgekehrten Soldaten zu gedenken. Schlichte Obelisken oder Granitstelen waren oft anonyme Stätten privater Trauerarbeit. 
    Ab den späten 1960er Jahren wurden Ehrenmale des Unbekannten Soldaten und Anlagen mit ewigem Feuer angelegt, das Gedenken an diesen Orten wurde offizieller und staatstragender. Zugleich haben diese Orte ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Trauerarbeit nicht verloren. 
    Auch in der sowjetischen Zeit war der unheroische Krieg vor allem durch den künstlerischen Diskurs wahrnehmbar, durch Literatur, Film und Musik. Der Film Die Kraniche ziehen von Michail Kalatosow zeigte, dass nicht alle Frauen auf ihre Geliebten warteten, und dass ein Rotarmist auch fallen kann, ohne vorher eine Heldentat zu vollbringen. 
    Der Protagonist der Erzählungen von Bulat Okudshawa will im Krieg nur überleben.3 Wassil Bykau schilderte in seinen Erzählungen den Krieg als eine existenzielle Erfahrung, in der es keine Sieger geben kann.4 Ales Adamowitsch beschrieb in seinen Novellen die Gewalt der deutschen Besatzer auf den okkupierten Gebieten5 und zusammen mit Daniil Granin im Blockadebuch6 – die unvorstellbare Opfererfahrung und das Hungersterben in Leningrad.
     
    In den frühen 1990er Jahren dominierte das Bild des schrecklichen Krieges in öffentlichen Präsentationen: Zum Thema wurden die verheerenden Niederlagen der ersten Kriegsmonate, die doppelte Opfererfahrung sowjetischer Kriegsgefangener, die Not der Veteranen. Der 22. Juni, Tag des deutschen Überfalls 1941, ist seit 1996 ein staatlich anerkannter „Tag des Gedenkens und der Trauer“. An den Kriegsdenkmälern und auf den Ehrenfriedhöfen finden Gedenkzeremonien statt, die Staatsfahnen werden gesenkt und die Staatssender zeigen keine Unterhaltungssendungen.
    Nicht der Sieg, sondern der „Preis des Sieges“ schien für eine kurze Zeit im Zentrum der offiziellen Erinnerungspolitik zu stehen. Auch wenn die schreckliche Erfahrung des Krieges als Diskurs an seiner dominierenden Position inzwischen stark einbüßte, existiert diese Perspektive auf den Krieg auch heute im liberalen Diskurs.7 

    Staatliche Heroisierung

    Der ideologische Bezug auf den Großen Vaterländischen Krieg in der Sowjetzeit lässt sich mit dem Begriff des Massenheroismus zusammenfassen. Seit der Oktoberrevolution 1917 war der Heldenkult ein fester Bestandteil der sowjetischen Ideologie. In der zukunftsgerichteteten sozialistischen Weltanschauung hatte das Trauern um Opfer „historischer Prozesse“ – Revolutionen, Kriege, politische Säuberungen – keinen Platz. Die Helden, die zu ehren waren, mussten im Krieg ihr Leben opfern, besonders heldenhaft für das Vaterland sterben, wie etwa der Rotarmist Alexander Matrossow, der sich auf eine Schießscharte warf, oder die Partisanin Soja Kosmodemjanskaja, die auch unter der Folter ihre Mitkämpfer nicht verriet und hingerichtet wurde. 
    Das heroische Bild vom Krieg spiegelte sich in den gigantischen Denkmal-Anlagen wider. Für den siegreichen Kampf stehen zum Beispiel die 85 Meter große Skulptur Mutter Heimat auf dem Mamaj-Hügel in Wolgograd (1967) und das 48 Meter große Monument Den heroischen Verteidigern Leningrads in St. Petersburg (1974–75).

    In der postsowjetischen Zeit fand der heroisierende Diskurs vor allem in der Moskauer Denkmalanlage Park des Sieges (1995) seine monumentale Form. Im Zentrum steht hier eine 141,8 Meter hohe Stele – zur Erinnerung an die 1418 Kriegstage – an ihrer Spitze schwebt die Siegesgöttin Nike und an ihrem Fuß bekämpft der Heilige Georg den Drachen. Zahlreiche Namen der Helden der Sowjetunion sind an den Wänden im Gedenkraum des Museums eingraviert. 
    Im heutigen offiziellen Gebot zu erinnern spielt der Aufruf, den gefallenen Helden würdig zu sein, nach wie vor eine große Rolle. In der aktuellen russischen Geschichtspolitik, die selektiv auf die stolzen Kapitel der „tausendjährigen Geschichte“ zurückgreift, ist es der militärische Ruhm. Das heroische Pathos ist die gegenwärtige Tonlage, in der die offiziellen Medien und die Regierung über den Krieg sprechen. 

    Emotionalisierung und Kommerzialisierung

    Die heutige Entwicklung der Kriegserinnerungskultur zeichnet sich zum einen durch Emotionalisierung, zum anderen durch Kommerzialisierung der Erinnerung aus. Durch überzeichnete Emotionalisierung und Effekthascherei verliert der Krieg – wie er etwa im Film (Stalingrad, 2013) oder im historischen Reenactment (nachgestellte Szenen der Einnahme Berlins) dargestellt wird – an Faktizität und Authentizität. Die präsentierten Inhalte werden zunehmend mythen-gesättigter wiedergegeben, das Kriegsgeschehen wird immer stärker zum Mythos.  
     
    Gerade weil die Kriegserinnerung auf der privaten Ebene eine sehr wichtige Rolle spielt, wird sie zunehmend als Kontext für kommerzielle Projekte genutzt. Filmproduzenten, Museumsmacher und Event-Veranstalter knüpfen daran an – in der Gewissheit, dass das Kriegsthema Aufmerksamkeit findet und sich gut verkaufen lässt. So beispielsweise im bislang teuersten russischen Film Stalingrad (Fjodor Bondartschuk), der komplett in 3D gedreht wurde, in dem die Straßen- und Häuserkampfszenen im Herbst 1942 wie ein effektvoller Blockbuster inszeniert wurden und der einer Computerspiel-Ästhetik ähnelt.

    Privates Gedenken im öffentlichen Raum

    Aus dem Bedürfnis der Gesellschaft heraus, eigenständige Formen und Praktiken der Erinnerung zu entwickeln, entstand 2012 in der sibirischen Großstadt Tomsk die Aktion Das Unsterbliche Regiment.8 Bei dieser Aktion tragen Menschen über Straßen und Plätze Porträts ihrer Verwandten, die am Großen Vaterländischen Krieg teilgenommen haben.9 
    Diese Präsenz des privaten Gedenkens im öffentlichen Raum ist das tatsächlich Neue an den Feiern des Kriegsendes. 
    Viele Russen teilten in den letzten Jahren Kurzberichte über die Kriegswege ihrer Großeltern in sozialen Netzwerken, viele davon – unzensierte Familiengeschichten, also Erzählungen „jenseits“ des tradierten, heroischen Narrativs. 
    Es geht nun nicht mehr darum, ein Zeichen der Zugehörigkeit zur „Wir-Gemeinschaft“ der Erinnernden zu setzen, sondern um die Stärkung der Kommunikation von privaten, familienbezogenen Erinnerungen an den Krieg.

    Diese neue Form des Gedenkens wird von der staatlichen Seite in letzter Zeit verstärkt auch als Mobilisierungressource genutzt.10 Sie existiert gleichzeitig mit den großen Inszenierungen, die auf Stabilitätssicherung und Patriotismus-Stiftung ausgerichtet sind. Während der Feierlichkeiten rund um den Tag des Sieges am 9. Mai selbst agiert die Gesellschaft manchmal mit, oft aber auch neben oder gegen die staatlichen Deutungsvorschriften. Nicht immer sind Interessen des Staates und der Gesellschaft hinsichtlich der Form des Gedenkens deckungsgleich – und der Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat geht weiter.


    1. Grossman, V. (1984): Leben und Schicksal, München, S. 686 ↩︎
    2. Novaya Gazeta: Pobeda pred“avljaet sčet ↩︎
    3. vgl. die Erzählung Bud’ zdorov, školjar (1961) von Bulat Okudžava, in der es um Erfahrung eines jungen Soldaten geht. ↩︎
    4. vgl. die Erzählung Sotnikov (1971) von Vassil Bykov. ↩︎
    5. vgl. die Erzählungen Chatynskaja povest’ (1971) und Ja iz ognennoj derevni (1977) von Ales Adamowitsch ↩︎
    6. Ales Adamowitsch arbeitete zusammen mit Daniil Granin am Blockadebuch in den späten 1970er Jahren. Das Buch, das Interviews mit Blockadeüberlebenden beinhaltet, wurde 1984 veröffentlicht. ↩︎
    7. So im Projekt Cena pobedy (dt. Der Preis des Sieges) auf dem Radiosender Echo Moskvy und in der Zeitschrift Diletant. Siehe z. B. den Beitrag Soldatskaja pamjat’ o vojne vom 14.5.2017. ↩︎
    8. Die Formen der sozialen Gedenkpraxis „von unten“ wurden im Projekt „Sieg—Befreiung—Besatzung: Kriegsdenkmäler und Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im postsozialistischen Europa“ untersucht, das von der Autorin zusammen mit Mischa Gabowitsch und Cordula Gdaniec geleitet wurde. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sind in einem vor kurzem erschienenen Sammelband dokumentiert: Gabowitsch, M., Gdaniec, C., Makhotina, E. (Hrsg.) (2017): Kriegsgedenken als Event: Der 9. Mai im postsozialistischen Europa, Paderborn ↩︎
    9. Eine lokale, gesellschaftliche Initiative, ins Leben gerufen von Journalisten der nichtstaatlichen Tomsker Mediengruppe. Webseite des Archivs mit Familiengeschichten ↩︎
    10. Wie schon so oft in der Geschichte, erkannte die politische Führung schnell die symbolische Wirkungsmacht dieser neuen Erinnerungsform. Zugleich brachte die Popularität des individualisierten Gedenkens auch in die staatliche Erinnerung einen neuen Inhalt ein. Aufschlussreich ist die Teilnahme Putins an der Aktion Das Unsterbliche Regiment, und noch mehr – die Veröffentlichung seiner „Erinnerungen“ an die Kriegserzählungen der Eltern in der Zeitschrift Russki Pionier. Ein Effekt davon ist die „emotionale Aktualisierung“ der Geschichte. Dadurch versucht der Staat, das Gedenken anschlussfähig zu halten. ↩︎

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