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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Jewgeni Jasin

    Jewgeni Jasin

    Jewgeni Jasin (1934– 2023) war ein liberaler russischer Ökonom, der zunächst als Berater von Boris Jelzin und von 1994 bis 1997 dann als Wirtschaftsminister die Wirtschaftsreformen der Jelzinzeit entscheidend mitprägte. Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik war er weiterhin gesellschaftspolitisch aktiv: Jasin war Forschungsdirektor der Higher School of Economics, leitete die Stiftung Liberale Mission und war Kolumnist beim unabhängigen Radiosender Echo Moskwy. Als Vertreter der wirtschaftsliberalen Elite kritisierte er die zunehmende Autokratisierung in Putins Regime und forderte mehr Rechtsstaatlichkeit ein.

    Foto - YasinYG.jpg © skilpaddle unter CC BY 3.0
    Foto – YasinYG.jpg © skilpaddle unter CC BY 3.0

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    Jegor Gaidar

    Higher School of Economics

    Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Premierminister

    Boris Nemzow

    Alexej Nawalny

  • Anti-Krisen-Marsch „Frühling“

    Anti-Krisen-Marsch „Frühling“

    Im Zuge der wirtschaftlichen Rezession, der militärischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine und der westlichen Sanktionen rief ein breites Oppositionsbündnis für den 1. März 2015 zu landesweiten Demonstrationen auf. Der Antikrisenmarsch „Frühling“ sollte in 16 Städten zugleich stattfinden und dem Widerstand gegen die Politik Wladimir Putins Ausdruck verleihen, die nach Meinung der Initiatoren zu dieser Krise geführt hatte.

    Zu den offiziellen Forderungen der Demonstranten zählten u. a. ein Ende des Konflikts mit der Ukraine, freie und faire Wahlen, Bekämpfung der Korruption und die Aufhebung der staatlichen Zensur.

    Wenige Tage vor der Protestaktion wurde mit Boris Nemzow einer der Hauptinitiatoren ermordet. Anstatt des geplanten Antikrisenmarsches fand in Moskau ein Trauermarsch statt, an dem etwa 50.000 Menschen teilnahmen.

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    Krim nasch

    Bolotnaja-Platz

    Koordinationsrat der Opposition

    Boris Nemzow

    Alexej Nawalny

  • Krim nasch

    Krim nasch

    Im Zuge der Angliederung der Krim hat sich in Russland eine euphorische Stimmung verbreitet, die mit kaum einem zweiten Begriff so eng assoziiert wird wie Krim nasch – die Krim gehört uns. Der Ausdruck wird inzwischen nicht nur aktiv im Sprachgebrauch verwendet, sondern ziert auch zahlreiche beliebte Merchandise-Artikel.  

    Infolge des Euromaidans in der Ukraine erklärte Wladimir Putin am 18. März 2014, dass die ukrainische Halbinsel Krim nach einem (international umstrittenen) Referendum einen Antrag auf Angliederung an Russland gestellt habe. Nach Putins Unterschrift unter den Beitrittsvertrag wurden die Republik Krim sowie die Stadt Sewastopol am 21. März 2014 offiziell zu russischen Föderationssubjekten erklärt. Diese Entscheidung, die international nicht anerkannt wurde und zu westlichen Sanktionen führte, löste in Russland eine Welle der Begeisterung aus, für die sich schnell die Formel „krim nasch“ – die Krim gehört uns – einbürgerte.

    Der Begriff Krimnasch ist inzwischen in den aktiven Sprachgebrauch eingegangen und wird auch für verschiedene Merchandise-Artikel verwendet. Er findet sich auf T-Shirts, Taschen und Tassen ebenso wieder wie im öffentlichen Raum auf Schildern, Hauswänden usw.

    Das Hashtag #крымнаш bzw. #krymnash hat sich auf Twitter und anderen sozialen Medien schnell etabliert.1 Die überwiegende Mehrheit der euphorischen Befürworter der Angliederung der Krim (die manchmal auch als krimnaschisty bezeichnet werden) verwendet ihn, um Stolz und Freude über die Rückkehr der Halbinsel zu Russland auszudrücken. Aber auch die Minderheit der Kritiker der Angliederung nutzt diesen Hashtag, jedoch vorrangig im Zusammenhang mit negativen Konsequenzen wie ausbleibenden Touristen, hohen Transferzahlungen oder den internationalen Sanktionen. Den Ausdruck #krymnash haben sie zudem wortspielerisch zu #namkrysh abgewandelt, was sich ungefähr mit und wir müssen dran glauben wiedergeben ließe (im Sinne von: aufgrund der Angliederung der Krim geht es uns nun an den Kragen).


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    Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft / WGTRK

    Krim

    Anti-Krisen-Marsch „Frühling“

    St. Georgs-Band

    Boris Nemzow

  • Aktion am 30. Dezember 2014 auf dem Manegenplatz

    Aktion am 30. Dezember 2014 auf dem Manegenplatz

    Unmittelbar nachdem das Samoskworetscher Gericht den Antikorruptionsaktivisten und Oppositionspolitiker Alexej Nawalny und seinen Bruder Oleg im umstrittenen Yves Rocher-Prozess am 30. Dezember 2014 schuldig gesprochen hatte, kündigten Nawalnys Unterstützer eine spontane Demonstration auf dem zentralen Manegenplatz an, um gegen das Urteil zu protestieren.

    Genau dieses Szenario hatten die Behörden im Vorfeld zu verhindern versucht, indem sie die Urteilsverkündung kurzfristig um zwei Wochen vorverlegt hatten. Dennoch kündigten im Tagesverlauf in den sozialen Medien mehr als 18.000 Demonstranten ihre Teilnahme an. Die Behörden warnten vor nicht genehmigten Protesten und stellten ihrerseits ein hartes Durchgreifen in Aussicht.

    Bei hohen Minustemperaturen erschienen letztlich mehrere Tausend Demonstranten, von denen etwa 250 von einem Großaufgebot an Sicherheitskräften festgenommen wurden. Nawalny selbst setzte sich über seinen Hausarrest hinweg und fuhr zum Manegenplatz, um sich mit seinen Unterstützern zu solidarisieren. Allerdings wurde er direkt nach seiner Ankunft von der Polizei festgenommen und in seine Wohnung zurückgebracht.

  • Wladimir Medinski

    Wladimir Medinski

    Wladimir Medinski leitete von 2012 bis 2020 das Kulturministerium der Russischen Föderation. Zu den zentralen Anliegen seiner Kulturpolitik zählen die Förderung des russischen Patriotismus sowie der Einsatz gegen vorgeblich antirussische Tendenzen in der Kultur.

    Medinski (geb. 1970) hat Journalismus am Moskauer Institut für Internationale Beziehungen studiert, der Kaderschmiede für angehende Diplomaten. Medinski war in der Sowjetunion zunächst als überzeugter Kommunist im Komsomol aktiv, nach 1991 unterstützte er die liberale Politik Jelzins, anschließend den autoritären Kurswechsel Putins.

    Medinski promovierte 1993 in Politikwissenschaften und schloss 1999 seine Habilitation ab. Die Antiplagiatsinitiative Dissernet deckte später auf, dass sich auf 87 von 120 Seiten in seiner Promotion Plagiate aus Arbeiten seines Doktorvaters finden.1

    Ende der 1990er Jahre ging Medinski zunächst in den Staatsdienst und arbeitete kurzzeitig für die Steuerpolizei, bis er in die Politik wechselte, wo er von 2002 an für die Regierungspartei Einiges Russland tätig war. Für diese leitete er bei den Parlamentswahlen 2003 die Moskauer Wahlkampagne und zog auch für sie, ebenso wie bei den darauffolgenden Wahlen 2007, selbst in die Duma ein. Bei den Parlamentswahlen 2011 erhielt er kein Mandat mehr für die Duma, wurde aber als enger Vertrauter Wladimir Putins zum Kulturminister ernannt. Bei vielen Kulturschaffenden stieß diese Personalie auf Ablehnung, so spottete der bekannte Galerist Marat Gelman, Medinskis Ernennung mache aus dem Kulturministerium ein „Ministerium für Propaganda“.2

    Der breiten Öffentlichkeit ist Medinski auch als Publizist bekannt. In seiner Publikationsreihe Mythen über Russland greift er „negative Mythen“ der russischen Geschichte auf und versucht diese zu widerlegen. Medinski ist Mitglied in der von Ex-Präsident Medwedew eingesetzten und unter Historikern nicht unumstrittenen Kommission Zur Verhinderung der Fälschung der Geschichte zum Schaden der Interessen Russlands, die ein einheitliches und positives Geschichtsbild zeichnen soll. Kritiker werfen Medinski allerdings vor, es mit der historischen Wahrheit nicht immer genau zu nehmen. Als kürzlich ein Heldenmythos über eine Schlacht vor den Toren Moskaus vom Staatsarchiv offiziell als sowjetische Propaganda und Erfindung entlarvt wurde3, äußerte er sich so: „Diejenigen, die mit ihren dreckigen fettigen Fingern in der Geschichte von 1941 herumwühlen, sollte man mit der Zeitmaschine in die Gräben von damals mit einer Handgranate gegen faschistische Panzer schicken. Meine Überzeugung: Man soll mit dem widerlichen Beschmutzen dieses Themas aufhören.“4

    Besuch im Polytechnischen Museum 2013 © CC BY 2.0
    Besuch im Polytechnischen Museum 2013 © CC BY 2.0

    Medinskis Kulturpolitik stand für den zunehmenden, öffentlich geförderten russischen Patriotismus und setzte sich gegen vorgeblich antirussische Tendenzen in der Kultur ein, was oft zu Lasten unabhängiger und kritischer Kulturschaffender ging. So entließ er den Kurator des russischen Pavillons auf der Biennale in Venedig, Grigori Rewsin, nachdem dieser sich gegen die Krim-Annexion ausgesprochen hatte. Dem sozialkritischen russischen Film Leviathan, der vom Kulturministerium gefördert wurde, warf er ein unpatriotisches Russlandbild vor und stellte in Aussicht, derartige Filme zukünftig nicht mehr zu fördern. Zuletzt sorgte Medinski im März 2015 für Aufsehen, als er auf Druck der Russisch-Orthodoxen Kirche, die eine Tannhäuser-Inszenierung an der Nowosibirsker Oper kritisierte, kurzerhand den Operndirektor entließ.5

    Nachdem Putin am 15. Januar 2020 überraschend eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt hatte, reichte die Regierung unter Dimitri Medwedew ihren Rücktritt ein. Neue Kulturministerin wurde Olga Ljubimowa, Medinski wurde wenige Tage später zum Präsidentenberater ernannt.

    aktualisiert am 28.01.2020


    1. Dissernet: Ekspertisa. Medinski Vladimir Rostislavovič ↩︎
    2. Gaseta.ru: Ministr Mifov. Ministrom kultury v novom pravitelstve budet Vladimir Medinski ↩︎
    3. Staatsarchiv der Russischen Föderation: Spravka-doklad glavnogo voennogo prokurora N. Afanaseva „O 28 panfilovcach“ ↩︎
    4. Rbc.ru: Medinski – RBK: „Kto u nas liberaly? Internet-klikuši i ich kumiry?“ oder auch: Frankfurter Allgemeine Zeitung: Kriegsdenkmäler in Russland. Die unfassbare Lüge dieser Helden ↩︎
    5. Bayerischer Rundfunk: Eklat um „Tannhäuser“ in Nowosibirsk. Demonstration um Absetzung ↩︎

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    Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft / WGTRK

    Andrej Swjaginzew

    Jewgeni Jasin

    Sergej Gandlewski

    Juri Tschaika

    Lewada-Zentrum

  • Tschistoprudny bulwar

    Tschistoprudny bulwar

    Der Tschistoprudny bulwar ist Teil des Boulevardrings im Zentrum Moskaus. Er ist aufgrund seiner zentralen Lage ein beliebter Ort zum Flanieren und Verweilen und war während der Regierungsproteste 2011/12 Schauplatz von Demonstrationen und Protestaktionen.

    Der Tschistoprudny bulwar ist ein etwa 800 Meter langer Abschnitt auf dem Moskauer Boulevardring, der die historische Altstadt im Nordosten umschließt. Der Name des Boulevards der sauberen Teiche, wie die deutsche Übersetzung lautet, verweist auf einen historischen Wandel in der Nutzung des Gebiets: Ursprünglich entsorgten die Fleischereibetriebe der nahegelegenen Mjasnizkaja-Straße (Mjaso bedeutet Fleisch) an den hier gelegenen Teichen ihre Abfälle, weshalb die Gegend eigentlich als Stinkende Teiche bekannt war. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts kaufte Fürst Alexander Danilowitsch Menschikow hier ein Grundstück und befahl, die Teiche zu säubern, und so bürgerte sich der neue Name ein. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert errichtete die Moskauer Oberschicht zahlreiche repräsentative Häuser mit großen Wohnungen, sodass eine Straße im Stile der breiten Pariser Prachtboulevards entstand. In der Sowjetunion wurden viele dieser Wohnungen in Gemeinschaftswohnungen, die Kommunalkas, umgewandelt; andere dienten zahlreichen sowjetischen Persönlichkeiten wie dem Regisseur Sergej Eisenstein als Zuhause.

    Der Tschistoprudny bulwar entwickelte sich mit beliebten Theatern wie dem Et Cetera und dem Sowremennik zu einer Schlagader des kulturellen Lebens der Hauptstadt. Das Sowremennik, welches sich in einem prachtvollen, weißen neoklassizistischen Bau befindet, der früher als Kinotheater diente, war in der Tauwetterperiode Chruschtschows die erste von einem freien Schauspielerkollektiv geleitete Bühne der Stadt.

    Für gestresste Moskauer ist der knapp 100 Meter breite Tschistoprudny bulwar ein beliebter Erholungsort. Zwischen zwei Einbahnstraßen befindet sich ein parkähnlicher, fußgängerfreundlicher Bereich, der von Bäumen gesäumt wird und als beliebter Treffpunkt von Jugendlichen und Straßenmusikern sehr lebendig ist. Regelmäßige Freiluftausstellungen und Märkte, zahlreiche Restaurants und im Winter eine der schönsten Schlittschuhbahnen der Stadt laden zum Spazieren und Verweilen ein.

    Bei den Regierungsprotesten 2011/12 wurden Teile des Boulevardrings, darunter auch der Tschistoprudny bulwar, für Demonstrationen und Protestveranstaltungen genutzt. Hier fand einen Tag nach den Parlamentswahlen vom 4. Dezember 2011 die erste größere Demonstration gegen Wahlfälschungen statt, an der sich ca. 10.000 Menschen beteiligten. Oppositionelle Kräfte errichteten auf dem Tschistoprudny bulwar vom 9. bis 16. Mai 2012 neben dem Denkmal für den kasachischen Dichter Abai Qunanbajuly ein Protestcamp, das sie in Anlehnung an die Occupy Wall Street-Bewegung Occupy Abai nannten. Bis zu 2.000 Personen nahmen an Lesungen, Vorträgen, Diskussionen etc. teil, bis die Polizei das Camp räumte und führende Organisatoren wie Alexej Nawalny und Sergej Udalzow festnahm.

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    Mitja Aleschkowski

    Aktion am 30. Dezember 2014 auf dem Manegenplatz

    Bolotnaja-Platz

    St. Georgs-Band

    Poklonnaja-Hügel

    Weißes Band

    AGORA

  • Mitja Aleschkowski

    Mitja Aleschkowski

    Aleschkowski ist ein Fotograf, Blogger und Aktivist. In Russland wurde er 2012 bekannt, als er durch seine Koordination wesentliche Hilfe bei einer verheerenden Flutkatastrophe leistete. Anschließend baute er in Russland eine erfolgreiche zivilgesellschaftliche Hilfsorganisation auf.

    Mitja Aleschkowski (geb. 1985) begann zunächst, als Fotograf für verschiedene russische und internationale Medien und Nachrichtenagenturen zu arbeiten. Als Fotograf lichtete er einerseits Putin ab, protestierte jedoch gleichzeitig während der Proteste 2011/12 gegen dessen Regime. Als sich im Juli 2012 in Krymsk, 1.500 Kilometer südlich von Moskau mitten in der Nacht eine Flutkatastrophe ereignete, bei der 170 Menschen ums Leben kamen und Tausende ihr Zuhause verloren, und effiziente Hilfsmaßnahmen der Behörden ausblieben, organisierte er von Moskau aus Hilfstransporte. Er koordinierte über 1.000 freiwillige Helfer –  viele davon waren zuvor wie Aleschkowski selbst in der Bolotnaja-Protestbewegung aktiv gewesen –  und brachte 150 Tonnen Kleider, Nahrung und andere Hilfsgüter in die Region.

    Zurück in Moskau gab er seine Tätigkeit für die staatliche Nachrichtenagentur Itar-TASS, für die er zuletzt engagiert gewesen war, auf und gründete die Hilfsorganisation Nushna pomoschtsch („Hilfe gesucht“). Seit 2013 finanziert diese nachhaltige Infrastrukturprojekte und unterstützt zivilgesellschaftliche Projekte aus privaten Spendengeldern. Bisher konnte die Organisation mehr als 8 Millionen Rubel einsammeln und damit unter anderem ein Krankenhaus und ein Bildungszentrum aufbauen.

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    Tschistoprudny bulwar

    Anti-Krisen-Marsch „Frühling“

    Bolotnaja-Platz

    Sergej Gandlewski

    Weißes Band

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    Alexej Nawalny

  • Jegor Gaidar

    Jegor Gaidar

    Jegor Gaidar (1956–2009) war einer der wichtigsten Reformer der 1990er Jahre und gilt als Vater der russischen Marktwirtschaft. In der russischen Gesellschaft ist Gaidar sehr umstritten: Während seine Befürworter ihm zugute halten, dass er die Rahmenbedingungen für das private Unternehmertum in Russland schuf und das Land vor dem totalen wirtschaftlichen Kollaps bewahrte, lastet ihm der Großteil der Bevölkerung die Armut der 1990er Jahre an. Nach Gaidars Tod wurde ihm zu Ehren eine Stiftung gegründet: Diese fördert unter anderem (Wirtschafts)Wissenschaftler und engagiert sich für eine liberale Grundordnung. 

    Jegor Gaidar (1956-2009) galt als uncharismatischer, aber (im Gegensatz zu vielen seiner Mitstreiter, die sich selbst bereicherten) integrer und verantwortungsbewusster Politiker, was ihm aufgrund seiner korpulenten Figur den Spitznahmen Puh, der eiserne Bär einbrachte. Gaidars politische Karriere ist eng mit der Boris Jelzins verbunden: Nach dem Augustputsch 1991 berief dieser den erst 35-jährigen promovierten Wirtschaftswissenschaftler Gaidar in die Regierung. Der begabte Ökonom sollte als Wirtschafts- und Finanzminister die sowjetische Planwirtschaft in eine kapitalistische Marktwirtschaft umwandeln.

    Gaidar kam zu dem Schluss, dass dafür notwendige, aber unpopuläre Schritte unternommen werden müssen und führte die Schocktherapie ein: Als im Winter 1991 kaum noch Lebensmittel in den Regalen standen, da sich die Produzenten weigerten, diese zu den staatlich festgelegten Preisen zu verkaufen und das bankrotte Land auch keine Devisen für Lebensmittelimporte besaß, beschloss Gaidar im Januar 1992 die Freigabe aller Preise.1 Die Regale füllten sich wieder, allerdings kam es zu einer Hyperinflation. Praktisch über Nacht verlor rund ein Drittel der Bevölkerung die gesamten Ersparnisse und fand sich in Armut wieder. Vor allem deshalb ist der Reformpolitiker bis heute in der Gesellschaft umstritten bis verhasst. Zudem war Gaidar ebenfalls für die Voucher-Privatisierung der Staatsbetriebe verantwortlich, die jedoch nicht wie angedacht der Bevölkerung zugute kam, sondern den Aufstieg der Oligarchen ermöglichte.

    Nach der Verfassungskrise von 1993, in der Gaidar die demokratischen Kräfte unterstützte, gründete er die Partei Russlands Demokratische Wahl und zog 1994 als Anführer der liberalen Opposition in die Duma ein. Wie auch sein späterer Parteifreund Boris Nemzow sprach sich Gaidar gegen den Tschtschenien-Krieg aus.

    Foto © Gemeinfrei
    Foto © Gemeinfrei

    2003 verabschiedete er sich aus der aktiven Politik, kritisierte jedoch regelmäßig die Wirtschaftspolitik unter Putin und vor allem dessen Politik der Starken Hand. In seinem Buch Kollaps eines Imperiums von 2006 warnte Gaidar vor einem post-imperialistischen Syndrom und wies damit bereits damals auf den repressiven innenpolitischen und revisionistischen außenpolitschen Kurs des Landes hin. Ein Gastbeitrag aus demselben Jahr in der Welt zeigt vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise, wie genau Gaidar die putinschen Machtmechanismen bereits damals durchschaute: „Man [gemeint ist der Kreml – dek] schafft eine extreme Bedrohung, vor allem durch undurchsichtige Verbindungen zu faschistischen Organisationen. Dann sagt man den Bürgern: ,Mit dieser Bedrohung werdet ihr nicht allein fertig. Vertraut uns, wir werden schon einen Weg finden, wie damit umzugehen ist.‘ Diese Botschaft wird ständig durch die Medien bestärkt.“2

    Gaidar verstarb im Dezember 2009 an einem Herzinfarkt.

    Das Gaidar Institut für Wirtschaftspolitik, welches die Regierung berät und Gaidar bis zu seinem Tode leitete, führt ebenso wie seine in der Opposition aktive Tochter Maria Gaidar sein politisches Vermächtnis fort.


    aktualisiert: 5.2.2019
    1. The Economist: Yegor Gaidar ↩︎
    2. Die Welt: Putins böses Spiel mit der faschistischen Bedrohung ↩︎

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    Higher School of Economics

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    Marietta Tschudakowa

  • Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft / WGTRK

    Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft / WGTRK

    Die Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK ist eine staatlich kontrollierte Medienholding. 1990 gegründet, besitzt die WGTRK heute mehrere landesweit empfangbare Fernseh- und Radiosender sowie Internetmedien. Am wichtigsten darunter ist der zweitgrößte Fernsehsender des Landes, Rossija 1, mit einem Marktanteil von rund 14 Prozent und einer Abdeckung von über 98 Prozent. Neben den landesweiten Radio- und TV-Kanälen gehören knapp 100 regionale Medienanstalten in den Föderationssubjekten zur Holding. Als Eigentümer der Gesellschaft besitzt die Zentralregierung in Moskau somit Einfluss auf die regionale Medienberichterstattung.

    Mit der Nachrichtenagentur RIA Novosti und dem Radio Stimme Russlands verfügte die WGTRK bis 2014 auch über zwei zentrale Auslandsmedien. Diese wurden jedoch Ende 2013 im Zuge einer Neuorganisation der staatlichen Medienlandschaft beide der neugegründeten staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja zugeschlagen, die die verstärkte russische Medienpräsenz im Ausland bündeln soll.

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    Wladimir Medinski

    Andrej Swjaginzew

    Im Reich der Tiere (TV-Sendung)

    Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Silowiki

    Lewada-Zentrum

  • Schwarzer Delfin

    Schwarzer Delfin

    Der Schwarze Delfin ist eine Haftanstalt für lebenslängliche Strafen in der Stadt Sol-Ilezk in der Oblast Orenburg. Die inoffizielle Bezeichnung stammt von der Skulptur eines Springbrunnens, der am Haupteingang der Anstalt aufgestellt ist. Die Strafkolonie gilt als eine der härtesten Russlands.

    Die offizielle Bezeichnung des Schwarzen Delfins lautet Strafkolonie No. 6 des Föderalen Strafvollzugsdienstes Russlands im Gebiet Orenburg (FKU IK-6 UFSIN Rossii po Orenburgskoi oblasti). Es ist eines der ältesten Gefängnisse Russlands und wurde infolge des Pugatschow-Aufstands von 1743 weit entfernt von Moskau, an der heutigen Grenze zu Kasachstan, gebaut. Mit einem Aufnahmevermögen von 1600 Insassen ist das Gefängnis die größte derartige Einrichtung im Land. Derzeit beherbergt es etwa 700 Sträflinge, die hier ihre lebenslangen Haftstrafen verbüßen (etwa die Hälfte aller russlandweit Inhaftierten mit diesem Strafmaß). Die Zahl des Personals beträgt 900 Personen.

    Im Schwarzen Delfin sind vor allem Schwerkriminelle wie Terroristen, Kannibalen und Serienmörder untergebracht. Deshalb zählen die Haftbedingungen hier zu den härtesten Russlands: Die Zellen bestehen aus viereinhalb Quadratmeter großen Kammern, wobei die zwei bis drei Häftlinge pro Zelle von den Türen und dem Fenster noch einmal durch Gitter getrennt sind. Es ist verboten, sich nach dem Aufstehen morgens um 6 Uhr bis 22 Uhr abends auf die Pritschen zu legen. Das Licht bleibt rund um die Uhr angeschaltet, auch nachts. Die Insassen stehen unter ständiger Videoüberwachung und die Zellen werden alle 15 Minuten kontrolliert. Um Fluchtversuche zu vermeiden, werden den Insassen bei Überführung in andere Gebäudeteile die Augen verbunden, damit sie ihre Orientierung verlieren. Sie müssen, mit den Händen in Handschellen auf dem Rücken, vornüber gebeugt gehen und werden pro Person stets von drei Wachmännern sowie einem Hund begleitet. Bis heute gab es keinen erfolgreichen Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis.

     

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