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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Larissa Bogoras

    Larissa Bogoras

    Nach dem Studium der Sprachwissenschaften in ihrer Heimatstadt Charkiw heiratete Larissa Bogoras (1929–2004) den Schriftsteller Juli Daniel, mit dem sie nach Moskau zog. Mitte der 1960er Jahre promovierte sie in Linguistik (1978 wurde ihr der Titel aus politischen Motiven zunächst ab-, 1990 jedoch wieder zuerkannt) und kam durch ihren Mann mit Dissidentenkreisen und der sowjetischen Untergrundliteratur, dem Samisdat, in Berührung.

    Engagement in der sowjetischen Menschenrechtsbewegung

    Als Daniel 1966 zusammen mit seinem Kollegen Andrej Sinjawski verhaftet und beiden Schriftstellern der Prozess gemacht wurde, betätigte sich Bogoras zunehmend in der Menschenrechtsbewegung und schrieb heimlich ein Stenogramm des Schauprozesses mit. Dieses diente später als Grundlage für das Weißbuch in Sachen Sinjawski/Daniel, das von Alexander Ginsburg im Samisdat veröffentlicht und auch im Westen stark rezipiert wurde. 1968 wandte sich Bogoras mit einem Brief an die internationale Öffentlicheit, um über einen weiteren Schauprozess gegen Dissidenten, darunter Alexander Ginsburg, zu informieren. Ihre Verteidigungsschrift wurde zu einem zentralen Dokument der sowjetischen Menschrechtsbewegung.

    Für ihre Teilnahme an einer Demonstration auf dem Roten Platz am 25. August 1968 gegen den gewaltsamen Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei wurde Bogoras aufgrund „antisowjetischer Agitation“ – die Losung der Demonstranten lautete Für eure und unsere Freiheit – zu vier Jahren Straflager verurteilt und nach Sibirien verbannt. Nach ihrer Rückkehr nach Moskau betätigte sie sich wieder im Samisdat und wirkte unter anderem an dem bekannten Menschrechtsmagazin Chronik der laufenden Ereignisse mit. Auch setzte sie sich weiterhin für Menschenrechte ein und rief 1986 im Zuge der Perestroika zur Entlassung aller politischen Gefangenen auf, eine Forderung, die Michail Gorbatschow im Jahr darauf auch umsetzte.

    Von 1989 bis 1996 leitete Larissa Bogoras die Moskauer Helsinki Gruppe und galt als Bindeglied zwischen den sowjetischen Dissidenten und der neuen Generation von Aktivisten. Bis zu ihrem Tod engagierte sie sich für die Wahrung der Menschenrechte.

    Weitere Themen

    Lew Rubinstein

    Weißes Band

    Farbrevolutionen

    Boris Nemzow

    Alexej Nawalny

    Tauwetter

  • Konstantin Sonin

    Konstantin Sonin

    Konstantin Sonin (geb. 1972) ist einer der meistzitierten russischen Ökonomen. In seiner Forschung beschäftigt er sich hauptsächlich mit ökonomischer Theorie und politischer Ökonomie und publiziert in den wichtigsten internationalen Zeitschriften. Sonin veröffentlichte mehrere Bücher und Aufsätze mit international führenden Wissenschaftlern wie Daron Acemoglu und Sergej Guriew, darunter zu Themen wie Populismus, staatlich gelenkte Medien und den manipulierten Parlamentswahlen 2011 in Russland.

    Der promovierte Mathematiker kehrte nach einem Aufenthalt an der Harvard Universität 2001 nach Russland zurück und arbeitete fortan an der New Economic School (NES), einer liberalen Wirtschaftsuniversität in Moskau. 2011 legte er ein gemeinsames Studienprogramm zwischen der NES und der Higher School of Economics (HSE) auf, zu der er auch 2013 in die Position des Vizerektors wechselte.

    Für seine Lehr- und Forschungstätigkeit wurde der Starökonom mehrfach ausgezeichnet. Neben seiner akademischen Tätigkeit kommentiert er als Kolumnist für die Wirtschaftszeitung Vedomosti und die Moscow Times die russische Wirtschaftspolitk. Zuletzt kritisierte Sonin den von Putin eingeschlagenen Kurs des Staatskapitalismus sowie die Finanzpolitik der russischen Zentralbank und warnte als einer der ersten das Land vor einer großen wirtschaftlichen Krise.1

    Im Mai 2015 gab Sonin bekannt, dass er einen Lehrauftrag an der Universität von Chicago annehmen werde und hierzu seinen Wohnsitz in die USA verlege, dabei aber auch seine Lehrtätigkeit an der HSE in Moskau fortsetzen werde. Diese Entscheidung habe er aus karrieretechnischen, aber auch aus politischen Gründen getroffen, wie er in seinem Blog mitteilte: „Natürlich hängt dieser Schritt mit den politischen Entwicklungen der letzten Jahre zusammen. Bis 2014 dachte ich nicht einmal daran, nach einer permanenten Beschäftigung im Ausland zu suchen.“2

    Foto © Ekaterina Izmestieva unter CC BY 2.0
    Foto © Ekaterina Izmestieva unter CC BY 2.0

    Vor ihm sind bereits andere bekannte russische Wirtschaftswissenschaftler, die die staatliche Wirtschaftpolitik kritisierten, unter Druck geraten und ausgewandert. Dazu zählen Sonins Kollegen Sergej Guriew (2013 nach Frankreich) und der ehemalige stellvertretende Finanzminister und Professor der HSE Sergej Alexaschenko (2013 in die USA). Inzwischen arbeiten sechs der zehn führenden russischen Wirtschaftswissenschaftler im Ausland.3


    1. vgl. sein Interview auf Spiegel Online vom 11.12.2014: Wirtschaftskrise in Russland: „Putin wird sich bis zuletzt an die Macht krallen.“ ↩︎
    2. Livejournal.com: Litčnye novosti – Dnevnik Ekonomista: Ksonin ↩︎
    3. Slon.ru: „Kreml sožaleet“: 6 iz 10 veduščich rossijskich ekonomistov rabotajut za granicej ↩︎

    Weitere Themen

    Jegor Gaidar

    Jewgeni Jasin

    Higher School of Economics

    Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Zentralbank

    Farbrevolutionen

  • Alexander Konowalow

    Alexander Konowalow

    Alexander Konowalow (geb. 1968) war von 2008 bis Januar 2020 Justizminister Russlands. In seiner Amtszeit hat er durch eine Reihe von umstrittenen Gesetze systematisch die Lage der unabhängigen Zivilgesellschaft verschärft und wurde daher von deren Vertretern regelmäßig kritisiert.

    Foto © Government.ru unter CC BY 4.0
    Foto © Government.ru unter CC BY 4.0

    Wie ein großer Teil der Funktionärselite des heutigen Russlands stammt Konowalow aus Sankt Petersburg, wo er an der Universität Leningrad, der Alma Mater von Wladimir Putin und Dimitri Medwedew, Jura studierte. Nach dem Studium begann er 1992 seine Karriere bei der Petersburger Staatsanwaltschaft und wurde dort 2001 stellvertretender Leiter. Er leitete die Ermittlungsabteilung, sorgte dort für einige spektakuläre Verfahren und erarbeitete sich in seiner Behörde einen guten Ruf. Parallel war er, gleichzeitig mit seinem politischen Förderer Medwedew, als Dozent an der Staatlichen Universität St. Petersburg tätig. Medwedew war es auch, der Konowalow, nach einer dreijährigen Zwischenstation als Bevollmächtigter Vertreter des Präsidenten (Polpred, siehe Präsidialadministration) in der Wolgaregion, 2008 zum russischen Justizminister ernannte; eine Funktion, die Konowalow bis 2020 inne hatte. Außerdem ist er Mitglied des Sicherheitsrates.

    Als Justizminister war Konowalow nicht zuletzt für die gegenwärtig schwierige Rechtslage der russischen Zivilgesellschaft verantwortlich, die durch eine Reihe von „NGO-Gesetzen“ zunehmend unter Druck geraten ist. Seit dem Inkrafttreten der Justizministerium erlassenen Gesetze müssen sich zivilgesellschaftliche Organisationen, die für ihre Tätigkeit eine Finanzierung aus dem Ausland erhalten, als ausländische Agenten registrieren. Aufgrund der damit verbundenen negativen Konsequenzen verzichten viele Organisationen auf die Registrierung und müssen entweder Geldstrafen zahlen oder sich auflösen.1

    aktualisiert am 28.01.2020


    1. Siegert, Jens (2015): Von Agenten, unerwünschten Organisationen und ihren Folgen, in: Russland-Analysen 2015 (296), S. 17-21 ↩︎

    Weitere Themen

    Wladimir Medinski

    Juri Tschaika

    Ermittlungskomitee

    Silowiki

    Präsidialadministration

    Farbrevolutionen

    Lewada-Zentrum

  • Sergej Bondartschuk

    Sergej Bondartschuk

    Sergej Bondartschuk (1925–1994) war ein bedeutender sowjetischer und russischer Filmregisseur, Drehbuchautor und Schauspieler. Bereits mit 32 Jahren wurde er als jüngster Schauspieler überhaupt als Volkskünstler der UdSSR ausgezeichnet. Sein Regiedebüt Ein Menschenschicksal (1959) gilt heute als Klassiker des sowjetischen Kinos. Im Westen wurde er vor allem durch die Verfilmung des Romans Krieg und Frieden (1967) von Lew Tolstoi bekannt, in der er auch eine der Hauptrollen übernahm. Der Film gehört zu den erfolgreichsten sowjetischen Filmen und hatte auch international großen Erfolg. 1969 erhielt er den Golden Globe und den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Weitere bedeutende Regiearbeiten Bondartschuks sind unter anderem Waterloo (1970), Boris Godunow (1986) und der Mehrteiler Der stille Don (1994).

     
    Diese Verfilmung brachte Bondartschuk 1969 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film: Krieg und Frieden aus dem Jahre 1967
  • Natalja Subarewitsch

    Natalja Subarewitsch

    Natalja Subarewitsch (geb. 1954) ist Professorin an der Fakultät für Geographie der Staatlichen Lomonossow Universität Moskau. Sie erlangte Bekanntschaft vor allem durch ihr Modell der Aufspaltung der russischen Gesellschaft in vier parallel existierende Gesellschaftstypen, die zwar in Russland leben, aber ansonsten nur wenig Berührungspunkte haben.

    Natalja Subarewitsch (geb. 1954) ist Professorin an der Fakultät für Geographie der Staatlichen Lomonossow Universität Moskau. Außerdem leitet sie das ebenfalls in Moskau ansässige Unabhängige Institut für Sozialpolitik. Sie gilt als Expertin für Sozialgeographie und ausgewiesene Kennerin der sozialen und wirtschaftspolitischen Entwicklungen in den russischen Regionen. Größere Bekanntheit erlangte sie vor allem durch ihr vieldiskutiertes Modell der „vier Russlands“1. Damit beschreibt sie die zunehmende Aufspaltung der russischen Gesellschaft in vier parallel existierende Gesellschaftstypen, die zwar in Russland leben, aber ansonsten nur wenig Berührungspunkte haben. Diese sozialen Typen ergeben sich laut ihrer Untersuchung aus einer Korrelation des Grades industrieller Diversifizierung, des Siedlungstyps und des Protestverhaltens. Sie lassen sich folgendermaßen zuordnen:

     1. reform- und wachstumsorientierte große Städte mit einer liberalen Mittelklasse und einer postmaterialistischen Protestkultur

    2. mittlere Städte mit krisenanfälligen Monoindustrien, geringen Industrieeinkommen und sozialen Protesten

    3. kleine Städte und ländliche Gebiete im Süden, im Nordkaukasus und in der nördlichen Peripherie, die durch Subsistenzwirtschaft, schlechte Infrastruktur und Inseln des extraktiven Ressourcenabbaus gekennzeichnet sind; und schließlich

    4. ethnische Republiken im Nordkaukasus, die sich durch ethnische und religiöse Konflikte, radikalen Islam, Klanstrukturen und umfangreiche föderale Transferleistungen auszeichnen.2


    1. Vedomosti: Natalja Subarewitsch: Tschetyre Rossii ↩︎
    2. zitiert nach: Heinemann-Grüder, Andreas (2014). Regionale Diskrepanzen in Russland: Politisch verursacht, in: Russland-Analysen 2014 (275), S. 5-9 ↩︎

    Weitere Themen

    Higher School of Economics

    Sergej Gandlewski

    Koordinationsrat der Opposition

    Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Marietta Tschudakowa

  • Alexander Bastrykin

    Alexander Bastrykin

    Alexander Bastrykin (geb. 1953) gilt als einer der engsten Vertrauten von Wladimir Putin. Die Wege der beiden kreuzten sich erstmals bei ihrem gemeinsamen Jurastudium an der Universität Leningrad. Nach dem Studium engagierte sich Bastrykin zunächst in der Kommunistischen Partei, bevor er im Innenministerium und später an verschiedenen Hochschulen tätig war. In dieser Zeit lernte er auch Valentina Matwijenko kennen, die ebenfalls zu Putins Vertrauten aus der Sankt Petersburger Gefolgschaft zählt.

    Foto © Kremlin.ru unter CC-BY 4.0
    Foto © Kremlin.ru unter CC-BY 4.0

    Mit dem Aufstieg von Putin begann auch Bastrykins Karriere im Machtapparat: Er arbeitete sich im Justizministerium hoch und stieg 2006 zum Stellvertretenden Generalstaatsanwalt auf, bevor er 2007, protegiert von Igor Setschin, einem weiteren einflussreichen Akteur in Putins Sankt Petersburger Entourage, als Vorsitzender des neu gegründeten Ermittlungskomitees eingesetzt wurde.1 Dieses war zu diesem Zeitpunkt noch Teil der Staatsanwaltschaft, es sollte den Einfluss seiner immer mächtiger werdenden Dachbehörde von innen heraus beschränken. Zwischen Bastrykin und dem Generalstaatsanwalt Juri Tschaika entwickelte sich jedoch bald ein Machtkampf, im Zuge dessen Bastrykins Behörde mehr und mehr Unabhängigkeit erwarb. Im Jahr 2011 wurde sie dann in eine eigenständige Institution, das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation, ausgegliedert. Dadurch konnte Bastrykin seine Machtposition festigen. Als Resultat dieses Machtkampfs innerhalb der Sicherheitsbehörden (s. a. Silowiki) ist Bastrykins Ermittlungskomitee nun nicht mehr der Generalstaatsanwaltschaft unterstellt, sondern direkt dem Präsidenten.

    Bastrykin ist in der Öffentlichkeit nicht nur für sein Kompetenzgerangel mit anderen Sicherheitsbehörden bekannt, sondern auch für seinen rüden Umgang mit Regierungskritikern. Diese wiederum werfen ihm Vertuschungen in seiner Behörde und Verwicklungen in illegale Geschäfte vor. Dem investigativen Journalisten Sergej Sokolow von der regierungskritischen Nowaja Gaseta drohte Bastrykin mit dem Tod und gab ironisch an, er selbst würde die anschließenden Ermittlungen leiten.2

    Eine besondere Abneigung besteht zwischen Bastrykin und dem Antikorruptionsaktivisten Alexej Nawalny, weil dieser Bastrykin der Steuerhinterziehung, Dokumentenfälschung und Falschdeklaration seiner Vermögens- und Besitzwerte bezichtigte. Nawalny fand heraus, dass Bastrykin Eigentum in Tschechien besitzt und dort außerdem Geschäfte betreibt. Dies bestritt Bastrykin zunächst, musste es nach der Bestätigung durch tschechische Behörden jedoch zugeben. Obwohl der Besitz  ausländischer Vermögenswerte für einen hochrangigen Beamten in Bastrykins Position laut russischem Recht strafbar ist, erfolgten in dieser Sache keine Ermittlungen.

    Bastrykin gilt als Initiator des von Kritikern als politisch motiviert bezeichneten Kirowles-Strafverfahrens, in dem der Antikorruptionsaktivist Nawalny eine fünfjährige Freiheitsstrafe erhielt, die später in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurde.


    1. Lenta.ru: Bastrykin, Alexander. Predsedatel Sledstwennowo komiteta RF ↩︎
    2. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Medien in Russland. Todesdrohungen am Waldrand ↩︎

    Weitere Themen

    Juri Tschaika

    Ermittlungskomitee

    Haus der Regierung

    Igor Setschin

    Alexej Nawalny

  • Dimitri Bykow

    Dimitri Bykow

    Dimitri Bykow (geb. 1967) ist ein bekannter Schriftsteller, Journalist und Professor für Literatur und Kultur. Er hat mehrere Romane und Gedichtbände veröffentlicht und ist Preisträger zahlreicher Literaturauszeichnungen. Seine Literatursendung Grashdanin Poet, in der er die politischen Verhältnisse in Russland humorvoll parodierte, war insbesondere während der Protestbewegung 2011/12 äußerst populär.

    Bykow steht in der langen Tradition russischer Realisten wie Nikolaj Nekrassow, die in ihrer zivilen Lyrik (grashdanskaja lyrika) gesellschaftliche Probleme thematisieren und sich nicht nur als Schriftsteller, sondern zugleich als politische Akteure begreifen. In einem dichterischen Rückblick auf die russische Literatur formulierte Jewgeni Jewtuschenko diese besondere gesellschaftliche Stellung mit dem Satz: „Ein Poet in Russland ist mehr als ein Poet“. Damit wird Dichtern und Schriftstellern eine Rolle als Aufklärer und Kritiker zuerkannt, die in Europa eher zu den Aufgaben der Medien gehört.

    Dieser Tradition verhaftet, befasst sich Bykow in seiner literarischen, oft sehr experimentellen Arbeit zwischen Literatur und Publizistik, mit den Problemen der russischen Gegenwart. Bykow begreift sich als aktives Mitglied der Zivilgesellschaft und gilt als eine der Schlüsselfiguren der russischen Opposition. Er nahm aktiv an der Protestbewegung 2011/12 teil und erreichte 2012 bei den Wahlen zum Koordinationsrat der Opposition die zweitmeisten Stimmen. Im Unterschied zu anderen Vertretern wie Boris Nemzow oder Alexej Nawalny ist Bykow jedoch kein Vertreter der – oft unbeliebten – politischen Klasse, sondern der literarischen und kulturellen Intelligenzija, was seine besondere Rolle unterstreicht und die Prominenz erklärt.

    Bykow gilt als ein hervorragender Kenner der russischen Geschichte, hat aber zugleich eine sehr klare und kritische Meinung zur gegenwärtigen Situation in Russland. Diese vermittelt er über vielfältige Kanäle wie öffentliche Lesungen oder Auftritte an Schulen. Letztere sieht er als seine gesellschaftliche Verpflichtung an. Als Kolumnist und Blogger schreibt er in seinem unverwechselbaren lyrischen Stil vor allem für die Nowaja Gaseta und Echo Moskwy und spielt eine meinungsbildende Rolle in den progressiv eingestellten Gesellschaftsschichten. Außerdem tritt er im Fernsehen auf, wobei er sich seit der Protestwelle 2011/12 nur noch auf unabhängigen Kanälen wie TV Doschd zeigt. Vor allem in oppositionellen Kreisen erreichte seine bissige Politsatire Grashdanin Poet (Bürger Poet) Kultstatus: Darin trägt der Schauspieler Michail Efremow von Bykow verfasste Gedichte in der Manier (meist russischer) Lyriker und Schriftsteller vor und karikiert damit das tagesaktuelle politische Geschehen in Russland. Die Russland-Feuilletonistin der FAZ, Kerstin Holm, schrieb dazu:

    „Als der Wiederwahlkämpfer Putin im Winter die Bürgerprotestbewegung mit der Affenbande aus dem Dschungelbuch verglich, antwortete Bykow mit einer lustigen Dichtung vom Frischen Urwaldgesetz. Darin tritt statt der Schlange Kaa der Python Puu auf, der – als Anspielung auf Putins Gesichtskorrektur und seinen Witz über die weißen Schleifen der Opposition – wie ein mit Botox angefülltes Präservativ aussieht, aber von allen Dschungeltieren angehimmelt werden will. Der Spitzname Python Puu ist an Putin haftengeblieben.“1

    Einige Medien in Russland bringen diesen bissigen Humor Bykows in Verbindung mit seiner Vergiftung im April 2019: Auf einem Inlandsflug kollabierte der Schriftsteller, musste ins Koma versetzt werden und wachte erst fünf Tage später wieder auf. Schon damals kam der Verdacht auf, Bykow könne vergiftet worden sein. Auch die Nowitschok-Vergiftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny heizte 2020 die Spekulation um Bykow zusätzlich an. Im Juni 2021 haben Bellingcat und The Insider schließlich eine Recherche veröffentlicht, laut der Bykow wahrscheinlich von denselben Mitarbeitern des FSB vergiftet wurde wie später Nawalny. 

    „Ich finde diese Beweise überzeugend“, kommentierte Bykow die Enthüllung. „Es ist so eine Art staatliche Verdienstauszeichnung. Ich freue mich natürlich, dass meine bescheidene Arbeit mit einem so großen Aufwand gewürdigt wird. Was sie da alleine schon für Flugtickets ausgegeben haben. Hätten sie mir das Geld doch einfach bar ausbezahlt.“

    Stand: 11.06.2021


    1. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein Talkstar in Russland. Das Lächeln von Python Puu ↩︎

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    „In meinem Kopf fügen sich die Puzzleteile zusammen“

    Bolotnaja-Platz

    Sergej Gandlewski

    Lew Rubinstein

    Koordinationsrat der Opposition

    Weißes Band

    Farbrevolutionen

    Boris Nemzow

    Marietta Tschudakowa

  • Ermittlungskomitee

    Ermittlungskomitee

    Das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation, so die offizielle Bezeichnung, ist eine von der Staatsanwaltschaft unabhängige Institution, die direkt dem Präsidenten unterstellt ist. Es kann eigenständig Ermittlungen aufnehmen, was die Behörde mit mehr als 20.000 Mitarbeitern zu einem der zentralen Machtinstrumente der in Russland einflussreichen Silowiki macht.

    Ursprünglich geht die Idee einer unabhängigen Ermittlungsbehörde auf Zar Peter den Großen (1672–1725) zurück. Dieser richtete 1713 ein eigenständiges Organ zur Untersuchung von Schwerkriminalität, Korruption und Machtmissbrauch durch hochrangige Beamte ein. Es unterstand direkt dem Zaren, was dieser regelmäßig dazu nutzte, gegen seine Widersacher vorzugehen.

    In der Sowjetunion übertrug man die Ermittlungstätigkeit dann vollständig in den Kompetenzbereich der Staatsanwaltschaft, aber schon bald nach dem Zerfall der UdSSR gab es Versuche zur Wiedereinsetzung des Ermittlungskomitees: So wurde 1993 ein Gesetzesentwurf eingebracht, der auf die erneute Schaffung einer unabhängigen Ermittlungsbehörde zielte. Diese Entscheidung wurde jedoch aufgrund der politischen Krise vertagt. Erst als im Zuge des Jukos-Falls die Staatsanwaltschaft immer mächtiger wurde und im Kreml offenbar die Notwendigkeit gesehen wurde, ihren Einfluss zu begrenzen, nahm man diese Überlegungen wieder auf. So entstand 2007 das heutige Ermittlungskomitee der Russischen Föderation, dessen Bestimmung vor allem in der Aufklärung von Schwerverbrechen liegt bzw. liegen soll. Es war zunächst noch formal weiterhin Bestandteil der Staatsanwaltschaft, wurde 2011 aber in eine eigene Behörde ausgegliedert. Heute ist es de jure und de facto selbständig und untersteht der direkten Kontrolle des Präsidenten, der auch den Leiter der Behörde ernennt.

    Das Verhältnis zwischen den beiden Behörden Staatsanwaltschaft und Ermittlungskomitee verdient eine gesonderte Betrachtung. Bereits in der Zeit, als das neugegründete Ermittlungskomitee noch eine Abteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft war, entstand aufgrund konkurrierender Aufgaben und unklarer Zuständigkeiten zwischen dem Generalstaatsanwalt, Juri Tschaika, und dem Leiter der Ermittlungsbehörde, Alexander Bastrykin, ein Kampf um die jeweiligen Einflusssphären. Schließlich erfolgte dann 2011 die Ausgliederung des Ermittlungskomitees (oft abgekürzt als SK, Sledstwenny komitet) in eine eigenständige Behörde, ohne jedoch die Konkurrenz zwischen beiden Institutionen zu entschärfen. Dieser Schritt ist von externen Beobachtern unterschiedlich interpretiert worden. Vieles spricht jedoch für eine bewusste divide-and-rule Taktik des Präsidenten, der durch diese Schaffung von Kompetenzenüberschneidung und Konkurrenz innerhalb des Machtapparates seine Möglichkeiten zu einem direkten Eingreifen erweitert hat.

    Von Menschenrechtsaktivisten wird dem Ermittlungskomitee immer wieder vorgeworfen, es halte bei seinen Ermittlungen rechtsstaatliche Standards nicht ein. So verfassten fünfzig namhafte russische Juristen im Jahr 2013 einen offenen Brief, in dem sie dem Ermittlungskomitee (und anderen Rechtsschutzorganen und Spezialdiensten) vorwarfen „[…] grob und deutlich, ja sogar demonstrativ und zynisch verfassungsmäßige und andere Rechtsnormen […]“ zu verletzen und Strafverfahren gegen Regierungskritiker zu fabrizieren.1 Das Ermittlungskomitee ist auch für den Bolotnaja-Prozess gegen 27 Oppositionelle verantwortlich, ebenso für die Verhaftung internationaler Greenpeace-Aktivisten im September 2013.2 Auch bei der Inhaftierung der Pussy-Riot-Musikerinnen infolge ihres „Punk-Gebets“ sowie bei der Strafverfolgung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny im Kirowles-Fall war das Ermittlungskomitee die treibende Kraft.3 Im Juni 2014 kam bei einem Verhör durch das Ermittlungskomitee der junge Vizechef der Antikorruptionsabteilung im Innenministerium, Boris Kolesnikow, unter bisher ungeklärten Umständen ums Leben.4 

    Zuletzt geriet die Behörde aufgrund schleppender Ermittlungen im Mordfall Nemzow in die Schlagzeilen, sowie im Zusammenhang mit einem Machtkampf mit dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow.5


    1. Offener Brief russischer Juristen, in: DRJV-Mitteilungen 2013 (56), S. 55-56 ↩︎
    2. BBC: Russia charges Greenpeace activists with piracy ↩︎
    3. taz.de: Mit allen Mitteln mundtot machen ↩︎
    4. Bundeszentrale für politische Bildung: Aus russischen Blogs: Der Tod des Generals Kolesnikow im Ermittlungskomitee. Ein Selbstmord? ↩︎
    5. Deutschlandfunk: Tschetscheniens Republikchef Kadyrow. Kleine Rebellionen gegen Putin ↩︎

    Weitere Themen

    Jewgeni Jasin

    Juri Tschaika

    Poklonnaja-Hügel

    Alexander Bastrykin

    Haus der Regierung

    Alexej Nawalny

  • Weißes Band

    Weißes Band

    Das weiße Band ist eines der Hauptsymbole der Protestbewegung von 2011/2012. Es bringt die Kritik an den manipulierten Dumawahlen im Dezember 2011 und den Präsidentenwahlen im März 2012 zum Ausdruck und steht sinnbildlich für die in diesem Zusammenhang entstandene Forderung „Für saubere Wahlen“.

    Schon vor dem Aufkommen der Proteste fand das weiße Band, dessen Farbwahl Reinheit und Sauberkeit symbolisieren soll, in unterschiedlicher Weise Verwendung. Bereits im Jahr 2009 wollte Alexej Dymkowski, ein später in Ungnade gefallener Mitarbeiter des Innenministeriums, die Symbolik des weißen Bandes für eine Bewegung gegen die Korruption in den Sicherheitskräften nutzen. Im November 2011 griff das vom Antikorruptionsaktivisten Alexej Nawalny unterstützte Projekt RosAgit diese Idee wieder auf und verteilte Anstecknadeln mit weißen Bändern in mehr als  20 russischen Städten. Auch diese Aktionen waren gegen Korruptionsfälle und Beamtenwillkür gerichtet und verschafften dem weißen Band eine zunehmende Bekanntheit als neues Protestsymbol.

    Nach den manipulierten Dumawahlen 2011 gab es zahlreiche Aufrufe in den sozialen Netzwerken, das weiße Band als Zeichen der sich formierenden Protestbewegung zu verwenden, und es wurde schnell zu deren wichtigstem Symbol.1 Vom Internet aus, wo es zahlreiche social media-Profile schmückte, verbreitete sich das weiße Band auf die Straße. Bei der Großdemonstration auf dem Bolotnaja-Platz trugen die meisten der Teilnehmer das Band an ihrer Kleidung.

    Eine der größten Protestaktionen mit gezielter Verwendung des weißen Bandes war der sogenannte Weiße Ring vom 29. Januar 2012. Dabei fuhr auf dem Moskauer Gartenring, einer 17 Kilometer langen Ringstraße um das Zentrum Moskaus, ein Autokorso von Demonstranten, die ihre Fahrzeuge mit weißen Bändern und Luftballons geschmückt hatten.

    Teilnehmer einer Protestveranstaltung mit weißem Band – Foto © Igor Bakirov
    Teilnehmer einer Protestveranstaltung mit weißem Band – Foto © Igor Bakirov

    Das weiße Band der Opposition wird häufig als Gegenstück zum St. Georgs-Band verstanden, das neben dem historischen Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg zunehmend die Zustimmung zum politischen Kurs Putins symbolisiert.


    1. BBC Russkaja Služba: „Belaja lentočka“: nedovolnye vychodjat is seti na ulicy ↩︎

    Weitere Themen

    Tschistoprudny bulwar

    Bolotnaja-Platz

    St. Georgs-Band

    Koordinationsrat der Opposition

    Boris Nemzow

    Marietta Tschudakowa

    Alexej Nawalny

  • Wladimir Markin

    Wladimir Markin

    Wladimir Markin (1956–2021) arbeitete nach seinem Journalistikstudium zunächst im Radio, bevor er in den 1990er Jahren als Moderator einer Fernsehtalkshow einem größeren Publikum bekannt wurde. Ab 1997 war er in wechselnden Positionen in staatlichen Behörden und im Fernsehen tätig, unter anderem für NTW und den staatlichen Sender Rossija.

    Als 2007 das Ermittlungskomitee der Staatsanwaltschaft gegründet wurde, berief ihn dessen Leiter Alexander Bastrykin als Pressesekretär. Markin sollte die Zusammenarbeit mit den Medien stärken. Seitdem äußerte sich Markin regelmäßig in der Öffentlichkeit zu Themen wie den Bolotnaja-Protesten, den Korruptionsvorwürfen gegen den ehemaligen Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow oder zuletzt zum Mord an Boris Nemzow. Dabei kommunizierte er die offizielle Linie des eng mit der Regierung verflochtenen Justizapparates – bis er im September 2016 von seinem Posten zurücktrat und zum Energieriesen RusHydro auf den Posten des stellvertretenden Generaldirektor wechselte.

    2011 plante Markin, für die Duma zu kandidieren, um im Parlament die Interessen des Ermittlungskomitees zu vertreten. Er wollte so ein Gegengewicht zur Staatsanwaltschaft bilden, mit der sich das Ermittlungskomitee in einem ständigen Machtkonflikt befindet. Die Menschenrechtsorganisation AGORA wies jedoch darauf hin, dass die Nominierung gegen Gesetze verstoße, da Markin als Mitglied des Ermittlungskomitees keiner politischen Tätigkeit nachgehen dürfe. Auch die Staatsanwaltschaft setzte sich gegen Markins Nominierung ein, die letztlich hinfällig wurde, da er in den Vorwahlen scheiterte.

    Im Mai 2013 kritisierte Markin in einem Zeitungskommentar1 in der regierungsnahen Izvestia den stellvertretenden Premierminister und einflussreichen „Chefideologen“ des Kreml Wladislaw Surkow, nachdem dieser zuvor das Ermittlungskomitee scharf angegriffen hatte. Surkow musste daraufhin seinen Regierungsposten räumen. Darin sehen einige Beobachter einen Sieg des Ermittlungskomitees in den machtinternen Auseinandersetzungen und somit eine weitere Stärkung der Silowiki-Fraktion im Machtapparat.

     

     


     

    1. Izvestija: Gljadja iz Londona, na zerkalo neča penjat ↩︎

    Weitere Themen

    „Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“

    Ermittlungskomitee

    Alexander Bastrykin

    Silowiki

    Farbrevolutionen

    Haus der Regierung