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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • PARNAS (Partei der Volksfreiheit)

    PARNAS (Partei der Volksfreiheit)

    Die Republikanische Partei Russlands – Partei der Volksfreiheit, kurz RPR-PARNAS, ist eine liberal-demokratische Partei aus dem oppositionellen Spektrum. Sie ist 2012 aus der Fusion zweier Oppositionsparteien entstanden, konnte bisher jedoch kaum politische Wirkung entfalten. Der Ko-Vorsitzende der Partei Boris Nemzow wurde im Februar 2015  in der Nähe des Kreml erschossen. PARNAS wird seitdem alleine von Michail Kassjanow geleitet.

    Nach dem Machtantritt Putins veränderte dieser die politische Parteienlandschaft grundlegend. Der Kreml führte sukzessive ein System ein, das als gelenkte Demokratie bezeichnet wird und in dem oppositionelle Parteien zunehmend marginalisiert wurden.1 Zwar gibt es weiterhin eine politische Opposition, wie zum Beispiel die Kommunistische Partei (KPRF – Kommunistitscheskaja Partija Rossiskoi Federazii) oder Gerechtes Russland (SR – Sprawedliwaja Rossija), diese wird im allgemeinen jedoch als systemische Opposition bezeichnet, da sie weitgehend unter Kontrolle der Exekutive steht und von dieser gelenkt wird – daher auch die Bezeichnung gelenkte Demokratie.2 Eine wirklich unabhängige parlamentarische Opposition gibt es hingegen nicht.  

    2010 unternahm die zersplitterte außerparlamentarische Opposition den Versuch, ihre Kräfte zu bündeln. Politiker wie Ilja Jaschin, Boris Nemzow, Michail Kassjanow und Wladimir Ryshkow schlossen sich zur Partei der Volksfreiheit – Für ein Russland ohne Willkür und Korruption, kurz PARNAS (Partija narodnoi Swobody – Sa Rossiju bes Proiswola i Korrupzii), zusammen. Dies sollte der Opposition größere Chancen bei den Parlamentswahlen 2011 und den Präsidentschaftswahlen 2012 ermöglichen. Aus formalen Gründen wurde die Partei jedoch nicht zugelassen. Die offizielle Begründung lautete, die zur Parteigründung benötigte Liste mit Unterschriften sei gefälscht gewesen, was laut PARNAS aber nicht der Fall war. Die Partei warf im Gegenzug den Behörden vor, die nichtsystemische, außerparlamentarisch organisierte Opposition vorsätzlich nicht zur Wahl zuzulassen, um der unabhängigen Opposition keine politischen Einflussmöglichkeiten zu gewähren.  

    Im Juni 2012 fusionierte PARNAS in einem neuen Anlauf mit der nach einem zwischenzeitlichen Verbot, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kassiert wurde, wieder zugelassenen Republikanischen Partei Russlands (RPR – Respublikanskaja Partija Rossii) zur RPR-PARNAS. Die Partei konnte seither bei einigen Regionalwahlen, wie zum Beispiel in Barnaul (ein Sitz) und der Oblast Saratow (zwei Sitze) erstmals in regionale Parlamente einziehen. Allerdings wird RPR-PARNAS,  die seit dem Mord an deren Ko-Vorsitzenden Boris Nemzow allein von Michail Kassjanow geleitet wird, regelmäßig durch die Anwendung der sogenannten Administrativen Ressource in ihrer politischen Tätigkeit behindert.

    So wurde dem Wahlbündnis aus Alexej Nawalnys Fortschrittspartei, der Partei Demokratische Wahl und RPR-PARNAS die Teilnahme an den Regionalwahlen im September 2015 in zwei der vier Regionen, in denen die Partei antreten wollte, verweigert. Sie trat schließlich nur in der Region Kostroma an, wo der Wahlkampf durch Administrative Ressource behindert wurde3 und RPR-PARNAS nicht zuletzt deshalb mit unter drei Prozent klar an der Fünfprozentklausel scheiterte.

    Anfang Juli 2016 präsentierte die Parteiführung eine Wahlliste für die Dumawahl 2016. Mit dem Slogan „das System neu starten“ bekam PARNAS bei den Wahlen am 19.09. nur 0,7 Prozent der Stimmen und ist in der Duma der 7. Legislaturperiode nicht vertreten.


    1. Mommsen, Margareta (2007): Putins „gelenkte Demokratie“: „Vertikale der Macht“ statt Gewaltenteilung, in: Buhbe, Matthes/Gorzka, Gabriele (Hrsg.): Russland heute: Rezentralisierung des Staates unter Putin, Heidelberg, S. 235-252 ↩︎
    2. Kynew, Alexander (2011): Die Besonderheiten des russischen Parteiensystems und die Grenzen des gelenkten Parteienwesens, in: Russland-Analysen 2011 (227), S. 3-7 ↩︎
    3. Golos: Final ‚Golos‘ Statement on Citizen Observation of Elections held on Single Voting Day, September 13, 2015 ↩︎

    Weitere Themen

    Bolotnaja-Platz

    Meeting am 10. Dezember auf dem Bolotnaja-Platz

    Meeting am 5. Dezember auf dem Tschistoprudny bulwar

    Boris Nemzow

    Marietta Tschudakowa

    Alexej Nawalny

  • Sergej Iwanow

    Sergej Iwanow

    Die politische Karriere von Sergej Iwanow (geb. 1953  )war jahrelang mit dem Aufstieg Wladimir Putins verbunden. Iwanow stand dabei sinnbildlich für das System Putin, in dem vor allem ehemalige Geheimdienstler (siehe auch Silowiki) und Vertraute aus Sankt Petersburg zu Einfluss und hohen Ämtern in Politik und Wirtschaft gekommen sind. Er war Verteidigungsminister und Vorsitzender der Präsidialverwaltung. 2016 hat sich Iwanow weitgehend aus der Politik zurückgezogen. Die Gründe für seinen Ausstieg sind unklar.

    Nach seinem Studium, das Iwanow wie Wladimir Putin an der Universität Leningrad absolvierte, begann er 1975 eine Ausbildung beim KGB in Minsk und Leningrad. Hier lernten sich Iwanow und Putin kennen, und es entwickelte sich eine Freundschaft. Iwanow, der als verschlossen und undurchschaubar gilt und wie Putin aus bescheidenen Verhältnissen stammt, wurde in der Folge zu einem der loyalsten Unterstützer Putins, der wiederum Iwanow „grenzenlos vertraut“.1

    Nach der Auflösung der Sowjetunion wechselte Iwanow zum FSB. Als Wladimir Putin 1998 zu dessen Leiter ernannt wurde, machte er Iwanow zu seinem Stellvertreter. Mit seinem Amtsantritt als Präsident im Jahr 2000 berief Putin ihn auf den Posten des Verteidigungsministers sowie zum Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, wodurch Iwanow faktisch zum zweitwichtigsten Mann im Staat aufstieg.

    Als erstem Verteidigungsminister ohne militärischen Hintergrund fehlte Iwanow jedoch die nötige Autorität, um gegen den Widerstand der Offiziere entscheidende Reformen umzusetzen. Seine Ablösung 2007 kam daher wenig überraschend. Iwanow wurde zum ersten Stellvertretenden Premierminister ernannt, was als Signal galt, dass er ein potenzieller Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2008 war. Mit Dimitri Medwedew setzte sich jedoch ein Vertreter des liberalen Flügels gegen den Geheimdienstmann Iwanow durch.2

    Iwanow rückte daraufhin im Kabinett Putins als dessen Vizepremierminister zunächst in den Hintergrund, bis er 2011 zum Leiter der allmächtigen Präsidialadministration ernannt wurde und somit auch formal wieder zu den einflussreichsten Personen des politischen Systems Putins zählte, zumal er weiterhin Mitglied des Sicherheitsrates blieb. Im Mai 2014 setzten ihn die USA – zusammen mit vielen anderen Putin-Vertrauten – aufgrund seiner Nähe zum Präsidenten auf ihre Sanktionsliste und verweigern Iwanow seither die Einreise.

    Im August 2016 trennte sich Putin überraschend von seinem langjährigen Weggefährten. Er ernannte Sergej Iwanow zu seinem Beauftragten für Umweltfragen und Verkehr. Iwanows Posten in der Präsidialadministration ging an seinen zuvor wenig bekannten Stellvertreter Anton Waino.

    Ziemlich beste Freunde? Lange galt Iwanow als Wladimir Putins treuer Vertrauter - Foto © kremlin.ru CC-BY-SA
    Ziemlich beste Freunde? Lange galt Iwanow als Wladimir Putins treuer Vertrauter – Foto © kremlin.ru CC-BY-SA


    1. Zeit online: Wladimir Putin. In der Sphäre der Macht ↩︎
    2. Schröder, Hans-Henning (2007). Medwedjew und Iwanow – oder die Inszenierung einer demokratischen Thronfolge, in: Russlandanalysen 2007 (127), S. 2 ↩︎

    Weitere Themen

    Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft / WGTRK

    St. Georgs-Band

    Alexander Bastrykin

    Premierminister

    Silowiki

    Zentralbank

    Rokirowka

    Präsidialadministration

  • Korruption in Russland – soziologische Aspekte

    Korruption in Russland – soziologische Aspekte

    Korruption wird in Russland manchmal wie das Wetter gesehen: Etwas, was das Leben schwierig macht, worauf man selbst jedoch keinen Einfluss hat. Viele nehmen Korruption als unveränderlichen Teil des Lebens wahr. Weil alle, vor allem aber „die da oben“ korrupt seien, wundert oder echauffiert sich auch niemand mehr, wenn wieder ein neuer Korruptionsskandal ans Licht kommt. Korruption ist in vielen Bereichen allgegenwärtig: Sie vermindert die Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen und ist ein Hindernis für die Modernisierung des Landes.

    International vergleichende Studien attestieren Russland regelmäßig ein sehr hohes Korruptionsniveau. Da Korruption im Verborgenen stattfindet, ist ihre genaue Bestimmung allerdings schwierig, die Dunkelziffer hoch. Das Nationale Antikorruptionskomitee schätzt die jährlichen Verluste auf 300 Millarden US-Dollar. Das entspricht 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.1 Allerdings findet Korruption nicht zwingend monetär statt (etwa in Form von Bestechungsgeldern), sondern auch als Gefallen und Gegengefallen, oft innerhalb persönlicher Netzwerke.

    Wie konnte es so weit kommen?

    Die Ursachen sind komplex und vielfältig: Sie reichen von tradierten historischen Praktiken wie dem Kormlenie über institutionelle Mängel wie einem schwachen Rechtsstaat bis hin zu ökonomischen Gründen wie niedrigen Gehältern, die dazu verleiten, Bestechungsgelder anzunehmen.

    Korruption war bereits in der Sowjetunion verbreitet, zum Beispiel in Form von Gefälligkeiten innerhalb persönlicher Blat-Netzwerke, die vorrangig dazu dienten, Mangelwaren auszutauschen. Doch erst die Systemtransformation und die Monetarisierung in den 1990er Jahren ermöglichten den Anstieg der Korruption auf ein systemisches Ausmaß. Inzwischen gibt es keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von Korruption durchdrungen ist: Politik, Justiz, Wirtschaft, Verwaltung, Militär, Kirche, Polizei bis hin zum Gesundheits- und Bildungswesen.

    Korruption, der ständige Begleiter

    In vielen Alltagsbereichen ist Korruption so fest verankert, dass sie von den Betroffenen nicht mehr als solche wahrgenommen wird – „Geschenke“ an Ärzte und Lehrer sind ebenso Normalität wie das Einberechnen von Bestechungszahlungen in unternehmerische Kostenkalkulationen: Laut Transparency International Russland liegt der Handelspreis für Milch 15 bis 20 Prozent höher, als er müsste: Die Hersteller kalkulieren den Mehrpreis ein, um Beamte für Lizenzen schmieren zu können.2 Dadurch ist letztlich jeder von Korruption betroffen, selbst Personen, die kein Schmiergeld annehmen oder zahlen.

    Spätestens wenn es um die eigene Gesundheit oder um Kindergartenplätze für den Nachwuchs geht, sind viele Russen zu Korruption bereit (und gezwungen). So wird auch das meiste Schmiergeld in der Alltagskorruption im Gesundheits- und Bildungsbereich aufgewendet, und das Korruptionsrisiko gilt hier, neben der notorisch korrupten (Verkehrs-)Polizei, als besonders hoch.3

    Und ein Ende nicht in Sicht

    Rhetorisch wird der Korruption seit Jahren der Kampf angesagt. Besonders Dimitri Medwedew setzte die Korruptionsbekämpfung während seiner Präsidentschaft auf die Agenda. Doch obwohl regelmäßig neue Gesetze und Initiativen verabschiedet werden, verbessert sich in der Praxis nur wenig. In einer Lewada-Umfrage von 2014 gaben 39 Prozent der Russen an, Korruption in der Politik habe in den letzten 15 Jahren zugenommen; 33 Prozent sahen sie als unverändert an und nur 20 Prozent bemerkten einen Rückgang.4

    Der Grund für die ineffektive Bekämpfung liegt nicht zuletzt im politischen System Putins, in dem Institutionen, die für die Korruptionsbekämpfung zentral sind, sukzessive geschwächt wurden: freie Medien, unabhängige Gerichte, die politische Opposition und die Zivilgesellschaft. Der korruptionsanfällige Bürokratieapparat hingegen wurde enorm ausgebaut.

    Antikorruptionsinitiativen haben es immer schwerer: Der Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny ist ebenso staatlichen Repressalien ausgesetzt5 wie Transparency International und die INDEM-Stiftung, deren Arbeit durch das Agentengesetz behindert wird. Gleichzeitig haben zuletzt mehrere investigative Recherchen auf Korruption unter einigen Vertrauten von Präsident Putin hingewiesen – und darauf, dass solche Verwicklungen meist straffrei bleiben.6

    Auch in der Bevölkerung ist das Vertrauen gering, dass die Korruption wirksam bekämpft werden kann: In einer kürzlich durchgeführten Umfrage7 geben 70 Prozent der Respondenten an, nicht an ihre wirksame Eindämmung zu glauben (immerhin 44 Prozent sehen allerdings Putin als einen Bekämpfer der Korruption). Nimmt man all diese Voraussetzungen zusammen, so scheint ein Rückgang der Korruption nicht absehbar.


    Weitere Themen

    Präsidialadministration

    Dimitri Medwedew

    „Agentengesetz“

    Russische Wirtschaftskrise 2015/16

    Lewada-Zentrum

    Alexej Nawalny

  • Juri Tschaika

    Juri Tschaika

    Der Jurist Juri Tschaika ist Generalbevollmächtigter des russischen Präsidenten im Föderationskreis Nordkaukasus. 1999 wurde nach einer Karriere in der Generalstaatsanwaltschaft auf Betreiben Putins zum Justizminister ernannt. Von 2006 bis Januar 2020 war er als Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation eine zentrale Figur im politischen System Russlands. 

    Juri Tschaika (geb. 1951) arbeitete sich nach seinem Jurastudium in der Staatsanwaltschaft der Region Irkutsk hoch und stieg dort Anfang der 1990er Jahre zum Obersten Staatsanwalt auf. In Moskau blieb seine Karriere nicht unbemerkt, und so wurde er 1995 zum Ersten Stellvertretenden Staatsanwalt der Russischen Föderation ernannt. Auf persönliche Initiative des neuen Premierministers Wladimir Putin berief ihn Präsident Jelzin im August 1999 als Justizminister in das Regierungskabinett. Tschaika gelangen einige Reformen, die das marode Justizwesen teilweise modernisierten. 2006 enthob Putin den damaligen Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow von seinem Amt und schlug den ihm loyal gesinnten Tschaika als Nachfolger für dieses Amt vor.

    Die Generalstaatsanwaltschaft unter Tschaika nimmt im derzeitigen politischen System – wie auch die anderen Sicherheitsbehörden (vgl. Silowiki) – eine zentrale Rolle ein. Ihre Aktivitäten sind dabei oft gegen Initiativen der Zivilgesellschaft gerichtet. So versuchte Tschaika, die Bewegung Für ehrliche Wahlen, die bei den unregelmäßigen Parlamentswahlen 2011 für eine unabhängige Wahlbeobachtung eintrat, zu diskreditieren, indem er den Aktivisten vorwarf, von den USA gekauft worden zu sein – ohne dafür jedoch Beweise liefern zu können. 2013 führte seine Behörde Überprüfungen bei 225 Nichtregierungsorganisationen durch, die offenkundig darauf ausgelegt waren, ihnen die Arbeit zu erschweren.

    Auch die Bekämpfung der grassierenden Korruption fällt in den Aufgabenbereich der Generalstaatsanwaltschaft. Putin betraute Tschaika persönlich mit der Überwachung der Investitionen für die Winterolympiade in Sotschi – dennoch sei die Hälfte der 50 Milliarden US-Dollar versickert, wie der ermordete Oppositionelle Boris Nemzow kritisierte.1

    Foto © Kremlin.ru unter CC BY 4.0
    Foto © Kremlin.ru unter CC BY 4.0
    Tschaika, der auch Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates ist, konnte im Laufe seiner Amtszeit seine politische Macht maßgeblich ausbauen und den Einfluss der Behörde steigern. Seitdem jedoch sein ehemaliger Stellvertreter Alexander Bastrykin 2007 die Leitung des neugegründeten Ermittlungskomitees der Staatsanwaltschaft übernommen hat, das später zur einer eigenständigen Behörde umgewandelt wurde, kommt es zwischen beiden Behörden regelmäßig zu Autoritätskonflikten.

    Tschaikas älterer Sohn Artjom war mehrfach wegen finanzieller und juristischer Skandale in den Schlagzeilen. Die Untersuchungen dieser Fälle sind jedoch immer im Sande verlaufen.Im Dezember 2015 veröffentlichte der Fonds für Korruptionsbekämpfung des Aktivisten Alexej Nawalny einen Dokumentarfilm, in dem die Söhne des Generalstaatsanwalts der Korruption beschuldigt werden. Ihr Vater habe sie bei ihren kriminellen Aktivitäten mehrfach vor der Strafverfolgung geschützt. Juri Tschaika selbst bezeichnete den Film als „bestellt“ und wies die Anschuldigungen zurück.3

    Nachdem Putin am 15. Januar 2020 überraschend eine Reihe von Verfassungsänderungen angekündigt hatte, reichte – neben der gesamten Regierung – auch Tschaika seinen Rücktritt ein. Sein Nachfolger wurde der stellvertretende Leiter des Ermittlungskomitees Igor Krasnow. Einen Tag nach der Bekanntgabe wurde Tschaika zum Generalbevollmächtigten des russischen Präsidenten im Föderationskreis Nordkaukasus ernannt.

    aktualisiert am 28.01.2020


    1. The Interpreter: Winter olympics in the Sub-Tropics: Corruption and Abuse in Sochi | Update ↩︎
    2. Forbes: Kak po relsam: čem zarabatyvaet na žizn‘ syn generalnogo prokurora Jurija Čaiki ↩︎
    3. RBC.ru: Genprokurur nazval „zakaznym“ i „lživym“ rassledovanie fonda Navalnogo ↩︎

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    Wladimir Markin

    Ermittlungskomitee

    Alexander Bastrykin

    Präsidialadministration

    AGORA

    Alexej Nawalny

  • Dimitri Peskow

    Dimitri Peskow

    Dimitri Peskow ist seit dem Machtantritt Putins für dessen Pressearbeit zuständig und gilt als offizielles Sprachrohr des Kreml. Üblicherweise für die Krisen-PR verantwortlich, sorgte er mehrfach selbst für negative Schlagzeigen, unter anderem im Rahmen der Panama Papers.

    Peskow (geb. 1967) stammt aus einer Diplomatenfamilie und war nach seinem Abschluss an der Moskauer Lomonossow-Universität zunächst ebenfalls als Diplomat an der russischen Botschaft in der Türkei tätig. Anschließend wechselte er in den Kreml. Peskows politische Karriere ist eng mit der Person Wladimir Putins verbunden, der ihn 2000 als Leiter der Presseabteilung engagierte. Bei seiner zweiten Präsidentschaft 2004 ernannte Putin ihn zu seinem ersten stellvertretenden Pressesekretär. Peskow war zuständig für die Pressearbeit beim G8-Gipfel im Herbst 2006 in St. Petersburg und beauftragte in diesem Zusammenhang die New Yorker PR-Agentur Ketchum, die von da an in der internationalen Presse das Russland-Image aufbessern sollte.1 Nach Putins Wechsel in das Amt des Ministerpräsidenten folgte ihm Peskow und wurde Pressesprecher der Regierung.

    Sprachrohr des Präsidenten

    Foto © Barwenkowski
    Foto © Barwenkowski

    Aufgrund seiner Funktion und engen Zusammenarbeit mit Putin gilt Peskow als das Sprachrohr des Präsidenten. Er kommt besonders häufig in Krisenzeiten oder bei heiklen Themen zu Wort, weshalb er manchmal auch „Pressesekretär der schlechten Nachrichten“ genannt wird. Ende 2006 wurde er einer größeren internationalen Öffentlichkeit bekannt, als er dementierte, dass Russland in die Ermordung des ehemaligen russischen FSB-Offiziers Alexander Litwinenko verwickelt sei, der durch eine radioaktive Substanz starb. Als Putin im Herbst 2011, nachdem bereits Gerüchte über seine erneuten Präsidentschaftsambitionen aufkamen, bei einer Boxveranstaltung erstmals in der russischen Öffentlichkeit vor laufender Kamera ausgebuht wurde, versuchte Peskow zu beschwichtigen, indem er erklärte, die Schmähungen hätten dem Verlierer des Boxkampfes gegolten. Nach der Machtrochade 2012 folgte Peskow Putin erneut in den Kreml und ist seither als sein Sprecher für die Pressearbeit zuständig. Außerdem koordiniert er die Medienarbeit der Präsidialadministration.

    Korruptionsvorwürfe gegen den Pressesprecher

    Im Sommer 2015 sorgte Peskow selbst für Schlagzeilen: Der Antikorruptionsaktivist Alexej Nawalny bezichtigte Peskow der Korruption, da dieser bei seiner Hochzeit mit der bekannten Eistänzerin Tatjana Nawka eine 565.000 Dollar teure Uhr trug, die das Fünffache seines Jahresgehalts kostete und die sich der Staatsdiener, der laut offizieller Deklaration keine sonstigen Einkünfte besitzt, unmöglich leisten konnte.2  Wie Nawalny aufdeckte, soll Peskow zudem die anschließenden Flitterwochen auf einer Luxusyacht verbracht haben, deren Charterkosten 400.000 Euro pro Woche betrugen.3

    Im April 2016 wurde bekannt, dass Peskows jetzige Ehefrau Tatjana Nawka im Januar 2014 als Besitzerin einer auf den British Virgin Islands registrierten Offshore-Firma eingetragen war. Das Gesetz verbietet es den Ehepartnern hoher Beamter, länger als drei Monate nach der Hochzeit Anteile an ausländischen Finanzinstrumenten zu halten. Die Firma wurde im November 2015 aufgelöst. Da das Datum der Hochzeit Peskows mit Tatjana Nawka nicht genau bekannt ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob diese sich an die gesetzliche Frist gehalten hat.


    1. Meedia: Wegen internationaler Spannungen: PR-Agentur Ketchum beendet Arbeit für russische Regierung ↩︎
    2. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Putin Sprecher Peskow. Eine Uhr für eine halbe Million ↩︎
    3. Die Welt: Nach Totenkopfuhr. Putins Sprecher hat ein neues Luxus-Problem ↩︎

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    Die Schlacht ums Narrativ

    Wladimir Markin

    Premierminister

    Silowiki

    Triumph der Propaganda über den Journalismus

    Lewada-Zentrum

  • Meldeverpflichtung

    Meldeverpflichtung

    Die schriftliche Verpflichtung zur Nichtausreise oder auch Meldeverpflichtung ist ein strafrechtliches Instrument, das Personen, gegen die strafrechtliche Ermittlungen oder Verfahren laufen, den Wechsel ihres Aufenthaltsortes verbietet und sie zum regelmäßigen Vorsprechen bei den Sicherheitsorganen verpflichtet. In der Praxis entspricht dies einem Reiseverbot.

    Die Podpiska o nevyesde (übersetzt etwa: schriftliche Verpflichtung zur Nichtausreise) ist eine Meldeverpflichtung für Personen, gegen die Ermittlungs- oder Strafverfahren laufen. In der Praxis entspricht die Podpiska o nevyesde einem Reiseverbot.

    Sie wird durch Artikel 102 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation geregelt. Darin heißt es, verdächtigte Personen und Angeklagte müssen sich den Behörden zur Verfügung halten und dürfen im Laufe eines Verfahrens den ständigen oder temporären Aufenthaltsort nicht ohne Erlaubnis der zuständigen Ermittlungsbeamten, der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts verlassen, um den Ermittlungs- bzw. Strafprozess nicht zu behindern.

    Die Meldeverpflichtung gilt in Russland als mildeste Form der freiheitsentziehenden Maßnahmen. Bei Verletzung der Meldeverpflichtung oder bei Fluchtgefahr kann sie in Hausarrest oder Untersuchungshaft umgewandelt.

    Häufig werden Meldeverpflichtungen gegen Regierungskritiker verhängt, um deren politische Tätigkeit zu erschweren. So wurden 2011 die Oppositionspolitiker Boris Nemzow und Wladimir Milow mit einem gerichtlichen Ausreiseverbote belegt.1 Alexej Nawalny durfte ab 2012 während eines umstrittenen Strafprozesses aufgrund der Meldeverpflichtung Moskau nicht verlassen und wurde später mit einer elektronischen Fußfessel unter Hausarrest gestellt.


    1. Taz: Kreml-Kritiker in Russland: Verwirrspiel um Ausreiseverbot ↩︎

    Weitere Themen

    Wladimir Medinski

    Ermittlungskomitee

    Artikel 105 Strafgesetzbuch

    Artikel 159 Strafgesetzbuch

    Boris Nemzow

    Alexej Nawalny

  • AGORA

    AGORA

    AGORA ist eine bekannte russische Menschenrechtsorganisation, die sich juristisch für die Rechte von Aktivisten, Journalisten, Bloggern und Künstlern einsetzt. In jüngster Zeit geriet die Organisation in die Schlagzeilen, da sie vom Justizministerium als sog. ausländischer Agent registriert wurde.

    AGORA ist eine Abkürzung des russischen Namens der Organisation. Die vollständige Bezeichnung lautet Interregionaler Zusammenschluss der Menschenrechtsorganisationen „AGORA“ (Meshregionalnaja Assoziazija prawosaschtschitnych organisazi „AGORA“). Zugleich steht das Wort Agora im Altgriechischen für einen zentralen politischen und juristischen Versammlungsplatz der Polis.

    Hauptsitz der 2005 von dem bekannten Juristen Pawel Tschikow gegründeten Organisation ist Kasan, darüber hinaus gibt es weitere Repräsentanzen in ganz Russland. Die Finanzierung durch Spenden und Fördergelder ermöglicht es AGORA, Angeklagte kostenlos zu vertreten. Zwischen 2005 und 2010 konnte die Organisation mehr als 250 Fälle von Missbrauch, Behördenwillkür und Menschenrechtsverletzungen bei Polizei, Militär und anderen Sicherheitsbehörden aufdecken und vor Gericht bringen.

    Zahlreiche prominente Personen wie der Journalist Oleg Kaschin, der von Pro-Putin Aktivisten attackiert wurde, oder der Initiator der Monstrazija-Demonstrationen Artem Loskutow, dem Beamtenbeleidigung vorgeworfen wird, werden von AGORA vertreten. Darüber hinaus berät AGORA zivilgesellschaftliche Initiativen, die unter staatlichen Druck geraten sind, in rechtlichen Fragen, so z. B. das Komitee der Soldatenmütter oder die unabhängige Wahlbeobachtungsorganisation Golos. Außerdem veröffentlicht AGORA regelmäßig Berichte über die Menschenrechtslage in Russland. Die Organisation berät aber nicht nur zivilgesellschaftliche, sondern auch staatliche Akteure, z. B. bei der Ausarbeitung von Gesetzesinitiativen.

    Aufgrund ihrer regelmäßigen Kritik an den Sicherheitsbehörden ist AGORA bei diesen eher unbeliebt. Dies hatte zur Folge, dass die Organisation, die regelmäßig auch internationale Fördergelder einwirbt, im Juli 2014 vom Justizministerium zu einem sog. ausländischen Agenten erklärt wurde1, obwohl das Ministerium den hierfür vom Gesetz geforderten Nachweis, dass die Organisation ausdrücklich politisch tätig ist, schuldig blieb.2

    Um das Etikett des ausländischen Agenten wieder loszuwerden, hatte die Organisation kein Geld mehr aus dem Ausland angenommen und auch auf das Preisgeld für den international renommierten Thorolf-Rafto Preis, den sie für ihr zivilgesellschaftliches Engagement 2014 erhielt, verzichtet. Das Justizministerium hatte sich jedoch geweigert, AGORA von der Liste der “auslänischen Agenten” zu nehmen.

    Im Februar 2016 ordnete ein Gericht auf Initiative des Justizministeriums die Schließung der Organisation an. Pawel Tschikow kündigte an, die Entscheidung vor dem Höchsten Gericht anzufechten.3


    1. Deutschlandfunk: Erneute Repressionen gegen NGOs ↩︎
    2. Bundeszentrale für politische Bildung: Notizen aus Moskau: Die Deutsch-Russische NGO-Konferenz in Berlin oder alternativ: hro.org: Human Rights Defenders, the Ministry of Justice and the New ‚Laws‘ ↩︎
    3. RBC.ru: V Rossii likvidirovali odnu iz samych aktivnych prawozaščitnych organizacii ↩︎

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    Bolotnaja-Platz

    Oleg Nawalny

    Weißes Band

    Premierminister

    Rokirowka

    Pawel Tschikow

    Lewada-Zentrum

  • Leviathan

    Leviathan

    Der Film Leviathan von Andrej Swjaginzew ist ein 2014 erschienenes russisches Sozialdrama. Der international beachtete und mit dem Golden Globe gekrönte Film löste in Russland aufgrund der kritischen Darstellung der russischen Lebensrealität heftige Kritik aus.

    Der Leviathan (hebräisch: der sich Windende) ist in der jüdisch-­christlichen Mythologie ein bösartiges, von Menschen unbezwingbares Mischwesen aus Krokodil, Drache, Schlange und Wal und findet sich unter anderem im Alten Testament im Buch Hiob. Im 17. Jahrhundert wählte der englische Philosoph Thomas Hobbes in seinem gleichnamigen Werk die Figur des Leviathans, um die Allmacht des Staates zu beschreiben.

    Der Film Leviathan (2014) von Andrej Swjaginzew greift diesen Gedanken auf und kritisiert die Machtfülle der Triade aus Staat, Verwaltung und Kirche in Russland. Das Sozialdrama thematisiert – wie bereits Swjaginzews Film Elena (2011) – Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit in Russland. Im Film wird mit einem kolossalen Walgerippe der Bezug zum Seeungeheuer Leviathan hergestellt, das metaphorisch für die drei zentralen Themen des Films – Chaos, Boshaftigkeit und Neid – steht.

    Gedreht inmitten der spektakulär-­rauen Küstenlandschaft des russischen Nordens, erzählt Leviathan in der epischen Bildsprache des Kameramanns Michail Kritschman ein Familiendrama, in dem die Hauptfigur Nikolaj Sergejew sich einem korrupten Bürgermeister widersetzt, der es auf sein Grundstück abgesehen hat. Die biblische Warnung Hiobs vor dem Leviathan trifft in diesem Fall auf den allmächtigen und skrupellosen Bürgermeister zu: „Niemand ist so kühn, dass er ihn reizen darf.“ Im aussichtslosen Kampf um seine Rechte sucht Nikolaj die Unterstützung eines alten Freundes, des gut vernetzten Moskauer Anwalts Selesnjow, aber auch mit seiner Hilfe lässt sich das staatliche Monster nicht besiegen. Stattdessen verliert Nikolaj in der modernen Adaption der Hiobsgeschichte sein gesamtes bisheriges Leben.1

    Der Film stieß im Ausland auf große Beachtung und bekam viel positive Resonanz. Die Zeitung Die Welt schrieb, dass „selten jemand den von vielen Russen so empfundenen Alltag himmelschreiender Ungerechtigkeit und die Hilflosigkeit der Bürger [schonungsloser] dargestellt“ hat.2Leviathan gewann als erster russischer Film seit Jahrzehnten einen Golden Globe und war als bester fremdsprachiger Film für einen Oscar nominiert.

    Im zunehmend patriotisch gestimmten gesellschaftlichen Klima Russlands jedoch, in dem staatlich gesteuerte Medien üblicherweise ein positives Russlandbild zeichnen, stieß der Film auf heftige Kritik und Ablehnung, und Swjaginzew wurde als Vaterlandsbeschmutzer beschimpft.3 Der Philosoph Michail Ryklin sieht den Grund für die Ablehnung darin, dass „Russlands Bürger darin ihr Spiegelbild erblicken (zumindest im Ansatz) und sich erschrecken. Diese Blickrichtung wird ihnen aber – insbesondere nach der Besetzung der Krim – von Putins Fernsehpropaganda erfolgreich abgewöhnt“.4

    Die Regierung kritisierte den Film, da er Klischees über trinkende Russen und korrupte Funktionäre verbreite und Regierungskritik übe. Kulturminister Wladimir Medinski war dabei einer der schärfsten Kritiker, obwohl der Film aus Mitteln des Ministeriums gefördert worden war. Er sprach sich in der Folge dafür aus, solch „unpatriotische“ Filme nicht mehr zu fördern und schlug Richtlinien vor, die es ermöglichen sollen, Filme, die die Nationalkultur schädigten, zukünftig zu verbieten. Auch die Kirche sprach sich gegen Leviathan aus, da er zu pessimistisch sei und es an positiven Helden mangele.5

     


    1. Süddeutsche.de: Hiobs Traum ↩︎
    2. Welt.de: „Leviathan“ – Golden-Globe-Sieger spaltet Russland ↩︎
    3. Spiegel.de: Russischer Film „Leviathan“: Verkommene Menschen in einem verkommenen Land ↩︎
    4. Kino-­krokodil.de: Der russische Leviathan​ ↩︎
    5. Süddeutsche.de: „Leviathan“ – Golden-Globe-Sieger spaltet Russland ↩︎

    Weitere Themen

    Wladimir Medinski

    Andrej Swjaginzew

    Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Andrej Tarkowski

    Präsidialadministration

    Dimitri Bykow

    Russisch-Orthodoxe Kirche

  • Die Wilden 1990er

    Die Wilden 1990er

    Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

    Der im russischen Sprachgebrauch verwendete Terminus lichije 90-ie (wörtlich flott, schneidig) bezeichnet die wilden und stürmischen 1990er Jahre des postsowjetischen Russland. Die radikalen Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bedeuteten nicht nur neue Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten, sondern vielfach Rechtlosigkeit und Armut. Laut dem Historiker Jörg Baberowski profitierten „[…] von den Segnungen dieser Reformen […] nur die Mächtigen und Einflussreichen, die sich aneigneten, was einmal dem Staat gehört hatte. In blutigen Verteilungskriegen wurden wenige sehr reich und viele sehr arm. Der Traum von Wohlstand und Sicherheit verwandelte sich in einen Albtraum.“1

    Zu der Armut, den Ängsten und der Unsicherheit kam eine normative Orientierungslosigkeit hinzu: Die sowjetischen Normen brachen praktisch über Nacht zusammen, während der zerfallende Staat keine neue Ideologie bieten konnte und ein normatives Vakuum entstand. Neben dem täglichen Überlebenskampf wurde das Streben nach Geld zur Ideologie der Eliten. Die schwachen staatlichen Strukturen ermöglichten alten Seilschaften und neuen Gewaltunternehmern2, unter Einsatz häufig illegitimer und auch illegaler Mittel, zu Reichtum zu gelangen. Kriminelle Übernahmen, Korruption und Auftragsmorde standen auf der Tagesordnung; alleine 1994 fielen den Verteilungskämpfen mehr als 600 Unternehmer, Politiker und Journalisten zum Opfer3, was dieser Zeit den Begriff Raubtierkapitalismus einbrachte.

    Zugleich stehen die wilden 1990er für eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Hoffnung auf eine Zukunft nach westlichen Standards und Waren, für die sich das Land nun öffnete: Das Staatsmonopol zerfiel, Zensurbeschränkungen wichen einer bis dahin unbekannten Meinungsfreiheit und zahlreiche neue Medien und Diskussionsforen entstanden, die, zumindest für eine kurze Zeit, einen öffentlichen politischen Diskurs ermöglichten. Es entwickelte sich eine urbane Kultur mit Cafés und Klubs und auch die Kunst blühte auf: Verstärkt wurden neuere Strömungen wie Performance oder experimentelles Theater aufgegriffen und auch oftmals die negativen und gewaltsamen Aspekte dieser Zeit verarbeitet. Der Film Brat (Der Bruder, 1997) von Alexej Balabanow, in dem sich ein junger Russe mit der Mafia anlegt, wurde nicht nur zum ersten großen postsowjetischen Kassenschlager, sondern zu einem Symbol dieser Zeit. Die spezifische Befindlichkeit des Jahrzehnts wird in zahlreichen literarischen Werken, so in Pelewins Generation P oder Swetlana Alexijewitschs Secondhand-Zeit verarbeitet.

    Im Gegensatz zu den wilden 1990ern gelten die 2000er Jahre als ruhiges und stabiles Jahrzehnt, in dem unter Wladimir Putin ein spürbar steigender Wohlstand für die breite Bevölkerung einsetzte, der mit ihm persönlich in Verbindung gebracht wird. Die gegenwärtigen Machthaber greifen gerne auf die Abgrenzung wilde 1990er, Jelzin, Demokratie und Armut versus stabile 2000er, Putin, „souveräne Demokratie“ und Wohlstand zurück, um den zunehmend autoritären Kurs und die Freiheitsbeschränkungen zu legitimieren.


    1. Die Zeit: Kapitalismus in Russland: „Das sind einfach Diebe“ ↩︎
    2. Volkov, Vadim (2002): Violent Entrepreneurs. The use of Force in the Making of Russian Capitalism, Ithaca ↩︎
    3. Die Zeit: Kapitalismus in Russland: „Das sind einfach Diebe“ ↩︎

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    Die 1990er

    Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion.

    Politisch befand sich Russland zu Beginn der 1990er Jahre im Spannungsfeld zwischen demokratischen und reaktionären Kräften. Die Zerissenheit der politischen Eliten zeigte sich im August 1991 in einem Putschversuch kommunistischer Hardliner gegen Gorbatschow, der zwar nach drei Tagen scheiterte, die Sowjetunion aber weiter destabilisierte, sodass diese sich schließlich am 21. Dezember 1991 auflöste.

    Ab 1992 trieben Präsident Boris Jelzin und Regierungschef Jegor Gaidar eine tiefgreifende Transformation zu parlamentarischer Demokratie und Marktwirtschaft voran. Der Widerstand mehrerer Parteien gegen die liberale Wirtschaftspolitik gipfelte 1993 in einem Machtkampf zwischen Präsident und Parlament, den Jelzin mithilfe der Armee für sich entschied. Die bis heute gültige Verfassung von 1993, die die politische Vormachtstellung des Präsidenten festigte, ist eine Konsequenz der damaligen Verfassungskrise.

    Durch die Machtkämpfe und die politische Öffnung verlor der Zentralstaat an Kontrolle über die Regionen. Unabhängigkeitsbestrebungen einiger ethnischer Republiken beantwortete der Staat teils mit Autonomiezugeständnissen, teils mit Gewalt (1. Tschetschenienkrieg 1994 – 1996).

    Außenpolitisch verlor Russland mit dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Pakts an Einfluss. In den folgenden Jahren näherte man sich dem einstigen Feind, der NATO, an: Die im Jahr 1997 unterzeichnete Nato-Russland-Grundakte sollte die Kooperation in der internationalen Sicherheitspolitik fördern.

    Ein weiterer radikaler Umbruch war der Wandel von der sozialistischen Planwirtschaft hin zur kapitalistischen Marktwirtschaft. Eine Riege radikaler Jungreformer unter Wirtschaftsminister Jegor Gaidar war für die Systemtransformation verantwortlich. Mit einer Preisliberalisierung und Privatisierungen der Staatsbetriebe verpassten sie dem Land eine „Schocktherapie“. Von 1992 bis 1994 wurden im Rahmen der sogenannten Voucher-Privatisierung Gutscheine an die Bevölkerung ausgegeben, die diese zu Aktienanteilen ihrer Betriebe umwandeln konnten. Viele verkauften ihre Voucher jedoch an die Betriebsleitungen, sodass letzlich nicht wie gedacht die Bevölkerung profitierte, sondern die Manager der ehemaligen Staatsbetriebe.

    Als der Staat 1995/96 kurz vor dem Bankrott stand, wurden auch die letzten großen Staatsbetriebe privatisiert, um frisches Geld in die Staatskassen zu spülen. Allerdings wurden die Auktionen des Aktien-für-Kredite genannten Programms mehrheitlich von den aus dem Bankensektor aufstrebenden Oligarchen manipuliert, die die Betriebe weit unter Wert erwarben. Für diese illegalen Pivatisierungen bürgerte sich der negativ konnotierte Begriff Prichwatisazija ein, eine Zusammensetzung aus dem Wort für Privatisierung und dem Wort prichwatit (wörtl. abstauben).

    Durch den Niedergang der ineffektiven sowjetischen Schwerindustrie und die sinkenden Ölpreise ging die Wirtschaftsleistung trotz des Aufblühens des Klein(st)unternehmertums drastisch zurück; zwischen 1990 und 1996 sank das russische BIP um mehr als 50 %. Die marode Wirtschaft und die Hyperinflation (1992: 1526 %, 1993: 875 %) stürzten große Teile der Bevölkerung in Armut. 1998 führte die Wirtschaftskrise in den asiatischen „Tigerstaaten“ zu Erschütterungen auf den Finanzmärkten, die auf Russland übergrifffen und den wirtschaftlichen Niedergang beschleunigten, was zur Zahlungsunfähigkeit Russlands führte (Default). Erst mit dem Anstieg der Ölpreise zum Ende des Jahrzehnts sollte sich die rohstoffabhängige russische Wirtschaft wieder stabilisieren.

    Die enormen gesellschaftlichen Spannungen führten dazu, dass die Epoche auch als die „wilden 90er“ bezeichnet wurde, und zwar im guten wie im schlechten Sinne: Einerseits boten sich gewaltige Chancen für Neuanfänge; andererseits führten Deregulierung und Kriminalität (Stichwort: russische Mafia) zu Gefühlen ständiger Unsicherheit und Bedrohung bei weiten Teilen der Bevölkerung. Die spezifische Befindlichkeit des Jahrzehnts hat sich in zahlreichen literarischen Werken, so in Pelewins Generation P oder Swetlana Alexijewitschs Secondhand-Zeit, aber auch filmischen Werken, wie in Alexej Balabanows Der Bruder, verewigt.

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