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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Die Staatliche Universität Moskau (Moskowski Gosudarstwenny Uniwersitet / MGU) wurde auf Initiative des Universalgelehrten Michail Lomonossow am 25. Januar 1755 per Erlass von Zarin Elisabeth gegründet. Das Gründungsdatum am Tatjanin Den (dt. Tatjana-Tag) wird bis heute in Russland als Feiertag der Studierenden begangen. Im Jahre 1940 wurde der Familienname des Gründers der Universität zum offiziellen Bestandteil ihres Namens gemacht.

    Foto - Moscow State University crop © Dmitry A. Mottl unter CC BY-SA 3.0
    Foto – Moscow State University crop © Dmitry A. Mottl unter CC BY-SA 3.0

    In ihrer langen Geschichte brachte die Universität zahlreiche wichtige Persönlichkeiten und mehrere Nobelpreisträger hervor. Sie ist jedoch nicht nur die wichtigste Ausbildungsstätte des Landes, sondern fungierte seit dem 18. Jahrhundert auch immer wieder als Keimzelle für Proteste, wie zum Beispiel 1905, als die Studenten zum Sturz des Zaren und zu einer Revolution aufriefen.

    Auch aus architektonischer Sicht ist die MGU bedeutsam: Befand sich die Universität ursprünglich in unmittelbarer Nähe des Kremls, wurde von 1947 bis 1953 anlässlich des 800-jährigen Jubiläums der Stadt ein neuer Campus auf den fünf Kilometer westlich vom Stadtzentrum gelegenen Sperlingsbergen erbaut. Das vom Architekten Lew Rudnew entworfene, äußerst markante Gebäude  –  bis 1990 das höchste Gebäude Europas  –  ist eine der im Stalin’schen Zuckerbäckerstil erbauten Sieben Schwestern. Die MGU sollte nicht nur symbolisch die große Bedeutung der Bildung in der Sowjetunion unterstreichen, sondern auch die Silhouette der Stadt entscheidend prägen, was in der Tat bis zum heutigen Tag auch der Fall ist. Die Ausmaße des monumentalen Bauwerks sind gigantisch: Der mit sozialistischen Heldenfiguren verzierte, neoklassizistische Turm ist 240 Meter hoch und wird von vier großen Gebäudeflügeln flankiert. In dem Gebäudekomplex befinden sich auf zusammengenommen 33 Kilometer langen Korridoren 5000 Wohn- und Studierräume für Studenten und Wissenschaftler.

    Weitere Themen

    Andrej Swjaginzew

    Higher School of Economics

    Sergej Gandlewski

    Premierminister

    Lewada-Zentrum

    Stalin-Hochhäuser

  • Oleg Nawalny

    Oleg Nawalny

    Der jüngere Bruder von Alexej Nawalny, Oleg (geb. 1984), studierte an der renommierten Finanzakademie der Regierung und arbeitete anschließend bei der Russischen Post, wo er für die Modernisierung und Automatisierung der Logistik zuständig war. Im Dezember 2012 eröffnete das Ermittlungskomitee ein Verfahren wegen „Betrugs in besonders schwerem Ausmaß“ gegen die Brüder Oleg und Alexej, das in Russland als der Fall Yves-Rocher bekannt wurde. Den Geschwistern wurde vorgeworfen, den Kosmetikhersteller Yves Rocher um 26 Millionen Rubel betrogen zu haben. Oleg Nawalny soll dazu seine Stellung beim Logistik-Subunternehmer von Yves Rocher, der Russischen Post, missbraucht haben.

    Während des Prozesses haben die Juristen der Firma Yves Rocher mehrfach darauf hingewiesen, dass ihrem Mandanten keinerlei Schaden entstanden ist. Obwohl auch sämtliche Zeugen die Angeklagten entlastet haben, wurden diese am 30. Dezember 2014 schuldig gesprochen und verurteilt. Oleg Nawalny erhielt eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren, sein Bruder Alexej eine ebensolange Bewährungsstrafe. Mehrere Tausend Unterstützer protestierten daraufhin am 30. Dezember auf dem Manegenplatz in Moskau gegen das Urteil, jedoch ohne Erfolg. Oleg Nawalny wurde zu dreieinhalb Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Nachdem er die Strafe abgesessen hatte, kam er am 29. Juni 2018 frei.

    Unter Beobachtern des Prozesses herrschte weitestgehend Einigkeit darüber, dass es sich um ein politisch motiviertes Verfahren handelte und Oleg Nawalny in Sippenhaft genommen wurde, um die politischen Ambitionen seines Bruders Alexej zu unterbinden.1


    Weitere Themen

    Aktion am 30. Dezember 2014 auf dem Manegenplatz

    Bolotnaja-Platz

    Koordinationsrat der Opposition

    Ermittlungskomitee

    Rokirowka

    Farbrevolutionen

    Boris Nemzow

    Alexej Nawalny

  • Rentensystem

    Rentensystem

    Infolge einer großen Reform im Jahr 2002 stiegen die Renten in Russland deutlich an, sind jedoch noch immer auf niedrigem Niveau. Das Rentensystem umfasst seitdem eine staatlich finanzierte Basisrente, einen umlagefinanzierten und einen kapitalgedeckten Teil. Da dieses Modell aktuell die Renten nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Reform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert.

    Schließlich legte Premierminister Medwedew am Eröffnungstag der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 den Regierungsentwurf zur Reform vor. So sollte das Renteneintrittsalter erhöht werden, für Männer auf 65 Jahre. Bei einem gleichbleibenden durchschnittlichen Sterbealter von derzeit 67,5 Jahren würden russische Männer damit durchschnittlich nur zweieinhalb Jahre Rente beziehen – ein Negativrekord unter allen Ländern, die ein Rentensystem haben. 

    Das russische Rentensystem wurde aus der Sowjetunion übernommen und weist daher im internationalen Vergleich einige Besonderheiten auf. So wurden die Renten ursprünglich nicht nach den individuellen Einkommen berechnet, sondern anhand der geleisteten Dienstjahre. Erst 2002 setzte Putin – gegen Widerstände aus der Bevölkerung – eine große Rentenreform durch, die ein dreiteiliges Rentensystem einführte: Eine einzahlungsunabhängige und staatlich festgelegte Grundrente; eine obligatorische Komponente, die sich nach den geleisteten Rentenbeiträgen richtet (der Rentenversicherungsbeitrag liegt aktuell bei 22 Prozent); sowie eine dritte, kapitalgedeckte Säule, bei der die Versicherungsnehmer freiwillig einen Teil ihrer Beiträge als vermögensbildenden Anteil in den staatlichen Rentenfonds oder an private Versicherungsträger übertragen. Diese Möglichkeit wurde anfangs nur wenig wahrgenommen, sodass 2009 das „1000 + 1000“-Programm aufgesetzt wurde, bei dem der Staat zu jedem einbezahlten Rubel in diese freiwillige Altersvorsorge (bis zu einem Betrag von 1000 Rubel pro Monat) einen Rubel dazu gab.1

    Das derzeitige russische Renteneintrittsalter liegt bei 55 Jahren für Frauen und 60 Jahren für Männer. Tatsächlich arbeiten jedoch viele Rentner auch nach dem Renteneintritt weiter, seitdem mit der Rentenreform von 2002 sämtliche Beschränkungen diesbezüglich aufgehoben wurden. Vor dem Hintergrund des relativ niedrigen durchschnittlichen Sterbealters russischer Männer wurde häufiger eine Absenkung des Renteneintrittsalters diskutiert; aufgrund der fortschreitenden Alterung der russischen Gesellschaft bewerten Rentenexperten diese Forderung jedoch als illusorisch.

    Ein Blick auf die Durchschnittsrenten zeigt, weshalb viele Rentner arbeiten, denn die bezogenen Beträge reichen kaum zum Überleben: Bis 1999 sanken die Renten auf nominal umgerechnet 16 US-Dollar pro Monat. Erst seit der wirtschaftlichen Konsolidierung unter Putin stiegen diese wieder an, überschritten 2006 erstmals die Marke von 100 US-Dollar und stiegen 2012 auf 300 US-Dollar an. Von 2012 bis 2018 wurden die Renten laut offiziellen Zahlen um rund 40 Prozent erhöht, wegen des massiven Rubel-Verfalls bekommen Rentner im Jahr 2018 allerdings nominal umgerechnet nur rund 212 US-Dollar. Die gestiegenen Renten gelten als Erklärung für Putins hohe Beliebtheit in dieser Wählerklientel, da diese den Hauptgrund für die über die letzten Jahre erfahrenen Verbesserungen in seiner Politik sieht.

    Die niedrigen Renten erklären sich einerseits durch die geringen Löhne, andererseits durch einen hohen Anteil der Schattenwirtschaft und informell gezahlter Gehälter „in Briefumschlägen“, die nicht auf die Renten angerechnet werden.

    Allerdings muss gesagt werden, dass der Großteil der Rentner über eigenen Wohnraum verfügt, der ihnen aufgrund der Besonderheiten der russischen Wohnraumprivatisierung zugewiesen wurde. Weiterhin leben viele Rentner von Subsistenzwirtschaft durch die Bewirtschaftung von Kleingärten. Zusätzlich besteht, ebenfalls noch aus der Sowjetunion übernommen, ein breitgefächertes System von Vergünstigungen, sogenannten lgoty, zum Beispiel können Rentner kostenlos öffentliche Transportmittel nutzen. 2005 versuchte die russische Regierung, die zahlreichen Vergünstigungen durch Geldleistungen zu ersetzen. Die Reform ist jedoch wegen starker landesweiter Proteste weitgehend gescheitert. Es war die erste größere Welle von Sozialprotesten unter Putin, seine Umfragewerte sackten erstmals seit seinem Amtsantritt deutlich ab.

    Einen deutlichen Abstieg der Zustimmungswerte Putins markierte im Juni 2018 auch die Ankündigung einer tiefgreifenden Rentenreform. Premierminister Dimitri Medwedew verkündete sie am Eröffnungstag der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Der Entwurf sah vor, das Renteneintrittsalter zum ersten Mal seit 1932 zu erhöhen, und zwar massiv: für Frauen sollte es bis 2034 von 55 auf 63 Jahre steigen, für Männer bis 2028 von 60 auf 65 Jahre.
    Zahlreiche oppositionelle Kräfte sowie Interessenverbände und politische Parteien protestierten anschließend, gegen die Reformpläne. Beobachtern zufolge waren die Proteste im ersten Reformentwurf allerdings schon mit einkalkuliert: Die Regierung sei von Anfang an zu austarierenden Zugeständnissen bereit gewesen, um den Protest schrittweise zu neutralisieren. Und so sagte Präsident Putin am 29. August 2018 in einer halbstündigen Fernsehansprache, dass die bereits in erster Duma-Lesung beschlossene Anhebung des Rentenalters für Frauen gesenkt werden sollte: Frauen sollten nicht erst mit 63 sondern mit 60 Jahren in Pension gehen. Die Anhebung des Rentenalters für Männer auf 65 Jahre blieb indes bestehen. Die Änderungen traten im Januar 2019 in Kraft und sollen schrittweise bis Ende 2028 umgesetzt werden. Die Spielräume der Regierung bleiben allerdings auch nach der Rentenreform sehr beschränkt: Trotz erheblicher Lohnsteigerungen in den 2000er Jahren ist das allgemeine Lohnniveau zu niedrig, um die Renten allein durch Umlage- oder Kapitaldeckungsverfahren finanzieren zu können. Das Nominaleinkommen stieg in den letzten Jahren nur sehr langsam. Das Realeinkommen sank in den vergangenen fünf Jahren, 2018 ging es offiziell um 0,2 Prozent zurück.

    Die russische Gesellschaft altert zusehends, die Anzahl der Rentner steigt dementsprechend jedes Jahr. Parallel dazu steigen auch die staatlichen Zuschüsse an die Rentenkasse. Manche Rentenexperten sehen darin jetzt schon ein Flickwerk: Auch die Rentenreform würde kaum etwas daran ändern, dass das Loch in der Rentenkasse langfristig größer wird.

    aktualisiert: 07.03.2019


    1. Fruchtmann, Jakob (2013): Die russische Sozialpolitik, in: Porsche-Ludwig, M., Bellers, J. (Hrsg.): Handbuch Sozialpolitik in den Ländern der Welt, Berlin ↩︎

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    Arbeitsmigration in Russland

    Infografik: Wie beliebt ist Putin?

    Herr Putin, was sagen Sie zum Thema Armut?

    Die 1990er

    Auflösung der Sowjetunion

    Protest in Russland – ein dekoder-Special

  • Sergej Udalzow

    Sergej Udalzow

    Sergej Udalzow (geb. 1977) ist einer der bekanntesten russischen Oppositionspolitiker. Er ist in mehreren Bewegungen aktiv und gilt als einer der Anführer der außerparlamentarischen Linken. Aufgrund seiner regierungskritischen Aktivitäten steht er regelmäßig in Konflikt mit der Staatsmacht. 2013 wurde er wegen Organisation von Massenunruhen bei den Bolotnaja-Protesten zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt, im August 2017 kam er frei. 

    Der Jurist und gebürtige Moskowiter Udalzow (geb. 1977) engagiert sich seit Mitte der 1990er Jahre in linksradikalen und kommunistischen Kreisen. Den sogenannten Märschen der Nicht-Einverstandenen, die vom Oppositionsbündnis Anderes Russland 2006 und 2007 in mehreren Städten organisiert wurden, schloss sich Udalzows Avantgarde der Roten Jugend (russ. „Awangard krasnoi molodjoshi“, AKM) an. 2008 gründete er die Linke Front (russ. „Lewy Front“, LF) und organisierte in der Folge regelmäßig Protestveranstaltungen.

    Nach den manipulierten Parlamentswahlen 2011 wurde Udalzow zu einem der bekanntesten Gesichter der Protestbewegung 2011/12. Gleich am Tag nach der Wahl wurde er am 5. Dezember bei der ersten größeren Demonstration zusammen mit weiteren Oppositionellen verhaftet und kam für 15 Tage ins Gefängnis. Udalzow, den Amnesty International zum politischen Gefangenen erklärte, trat aus Protest über seine Haftbedingungen in den Hungerstreik. Später rief er zum Marsch der Millionen auf, um gegen Putins Inauguration im Mai 2012 zu demonstrieren. Die Proteste endeten mit einem gewaltsamen Eingreifen der Polizei und führten zu zahlreichen Verhaftungen und mehrjährigen Haftstrafen für rund drei Dutzend Aktivisten – Udalzow hingegen kam, erneut nach 15 Tagen Haft, zunächst wieder frei. Seinen Protest gegen das umstrittene Pussy Riot-Urteil im August musste er erneut mit einer kurzen Haftstrafe büßen.

    Im Oktober 2012 strahlte der staatsnahe Sender NTW die Dokumentation Anatomie des Protests II aus, in der die abklingende russische Protestbewegung diffamiert und Udalzow als Drahtzieher eines angeblichen Umsturzes der Regierung dargestellt wurde.1 Daraufhin leitete das Ermittlungskomitee eine Untersuchung ein und stellte ihn zunächst unter Hausarrest. Im Juli 2014 wurde er schließlich zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren wegen der Vorbereitung und Organisation von Massenunruhen – gemeint waren die gewaltsam niedergeschlagenen Proteste vom Mai 2012 – verurteilt. Als Zeichen seines Protests trat er direkt nach der Urteilsverkündung in einen 26-tägigen Hungerstreik. Udalzow wurde in ein Straflager in der Region Tambow gebracht. Im August 2017 wurde er aus der Haft entlassen.


    1. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Oppositionsführer Udalzow festgenommen ↩︎

    Weitere Themen

    Bolotnaja-Platz

    Oleg Nawalny

    Meeting am 10. Dezember auf dem Bolotnaja-Platz

    Meeting am 5. Dezember auf dem Tschistoprudny bulwar

    Farbrevolutionen

    Boris Nemzow

    Alexej Nawalny

  • Entwertung akademischer Grade

    Entwertung akademischer Grade

    Zwei Entwicklungen haben in Russland zu einer Entwertung akademischer Grade geführt: Erstens ist die Zahl der Hochschulabsolventen stark gestiegen, sodass Diplome alleine schon durch deren inflationäre Zunahme an Wert verloren haben. Zweitens sind akademische Titel, wie zahlreiche Plagiats- und Korruptionsskandale zeigen, zu einer käuflichen Ware geworden, sodass sie häufig nichts mehr über die Bildungsqualität aussagen.

    Die Wissenschaft galt vor allem in den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen als ein Aushängeschild der Sowjetunion, und so besaßen Hochschuldiplome einen sehr hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR führte die jahrelange Unterfinanzierung zu einem Niedergang der russischen Wissenschaft. Viele Hochschulen senkten in den 1990er Jahren die Studienanforderungen, um möglichst viele gebührenzahlende Studenten aufzunehmen und dadurch die fehlenden staatlichen Mittel zu kompensieren. Auch Korruption wurde zum festen Bestandteil des Bildungssektors und half dabei, diesen am Laufen zu halten. In der Folge wurden Abschlüsse zu einer käuflichen Ware. Jeder, der einmal  in den großen Städten mit der Metro gefahren ist, erinnert sich an zahlreiche Schilder „Diplom zu verkaufen“. Experten gehen davon aus, dass in Russland jährlich bis zu 500.000 gefälschte Diplome verkauft werden.1

    Seit Mitte der 1990er gibt es eine Inflation von Hochschulabsolventen: Derzeit nimmt die Mehrheit der Schüler im Anschluss ein Studium auf, womit das Hochschuldiplom allein schon unter quantitativen Aspekten an Wert verloren hat. Zugleich sind die Abschlüsse nur noch bedingt aussagekräftig, da Arbeitgeber nicht wissen können, ob diese echt oder gefälscht sind. Dadurch verlieren praktisch alle Diplome an Wert. Für Arbeitgeber bedeutet es, dass weniger das Diplom, als vielmehr persönliche Kontakte durch „Vitamin B“, das in Russland häufig als Blat bezeichnet wird, für die Einstellung eine wichtige Rolle spielt. In diesem Zusammenhang spricht man von der Entwertung der Diplome (dewalwazija diplomow).

    Dissernet

    Die Entwertung betrifft neben Hochschuldiplomen auch höhere akademische Titel wie den Doktorgrad. In Anlehnung an das deutsche Portal Vroniplag, das hierzulande Plagiate in wissenschaftlichen Arbeiten aufdeckte, entstand 2013 das russische Pendant Dissernet. Die Initiative, die unter anderem von dem Wissenschaftler Michail Gelfand und dem Journalisten Sergej Parchomenko betrieben wird, hat sich auf die Untersuchung von akademischen Abschlussarbeiten hochrangiger Beamter und Politiker spezialisiert. In seiner noch recht jungen Geschichte konnte Dissernet bereits zahlreiche Plagiatsfälle aufdecken2; darunter zum Beispiel 2014 bei dem damaligen Minister für Kommunikation und Massenmedien Nikolaj Nikoforow und bei dem damaligen Minister für Transportwesen Maxim Sokolow, sowie bei dem Leiter der Drogenkontrollbehörde Viktor Iwanow, der bis 2016 im Amt war. Dissernet hat zudem ans Licht gebracht, dass an einigen Universitäten ganze Promotionsausschüsse gegen Bezahlung oder auf politischen Druck hin Doktortitel vergeben haben, darunter an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU – Rossiski gosudarstwenny gumanitarny Uniwersitet) in Moskau, wo 52 illegitime Doktortitel vergeben wurden und an der Russischen Staatlichen Sozialen Universität (RGSU – Rossiski gosudarstwenny sozialny Uniwersitet), wo es ebenfalls eine Vielzahl plagiierter Dissertationen gab, darunter zum Beispiel die von Kulturminister Wladimir Medinski. Dissernet konnte bereits in mehreren Tausend wissenschaftlichen Arbeiten Plagiate aufdecken, was den Massencharakter unterstreicht.

    Nicht zuletzt durch diese prominenten Fälle findet eine kontinuierliche Entwertung wissenschaftlicher Grade (dewalwazija utschonych stepenei) statt. Inzwischen hat das Bildungsministerium auf diese Situation reagiert und versucht stärker gegen Korruption, wissenschaftliches Fehlverhalten und Plagiate vorzugehen.


     

    1. Groschew, Igor/Groschewa, Irina (2010): Ključevye faktory korrupcii v rossijskoj sisteme obrazovanija [Schlüsselfaktoren der Korruption im russischen Bildungswesen – dekoder], in: Terra Economicus 2010 (8/3), Rostow am Don, S. 115 ↩︎
    2. Der Spiegel: Wladimir Guttenberg ↩︎

    Weitere Themen

    Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft / WGTRK

    Wladimir Medinski

    Higher School of Economics

    Moskauer Staatliche Lomonossow-Universität

    Wladimir Markin

    Michail Gelfand

    Larissa Bogoras

  • St. Georgs-Band

    St. Georgs-Band

    Gibt man auf Yandex-Bildersuche den russischen Begriff Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) ein, dann werden nur rund 20 der ersten 100 Ergebnisse kein St. Georgs-Band enthalten. Erdacht 2005 zum 60. Jubiläum des Sieges über Hitlerdeutschland, avancierte das schwarz-orange gestreifte Bändchen innerhalb weniger Jahre zum zentralen Symbol des „Kults um den Großen Vaterländischen Krieg“.

    Benannt wurde es nach St. Georg – einem der wichtigsten orthodoxen Heiligen und bekanntesten Held der russischen Mythenwelt. So schmückt sein Bildnis beispielsweise das Wappen Moskaus, aber auch der stilisierte Drachentöter auf dem Staatswappen Russlands wird oft mit St. Georg verbunden. Nicht zuletzt deshalb kritisierten einige Beobachter schon 2010 die Kreml-Nähe des Symbols.

    Wohin man zu den jährlichen Feierlichkeiten am Tag des Sieges am 9. Mai auch blickt, das schwarz-orange gestreifte St. Georgs-Band ist omnipräsent. Wie kein anderes Symbol verkörpert es für die russische Öffentlichkeit den Sieg über den Nationalsozialismus.

    Entstehung des Symbols

    Das St. Georgs-Band geht zurück auf den Russischen Orden des Heiligen Georg, der 1769 als höchste militärische Auszeichnung von der deutschstämmigen Zarin Katharina der Großen eingeführt wurde. Benannt nach dem Heiligen Georg, der in Russland als Großmärtyrer verehrt wird, symbolisieren die Farben Feuer und Asche. Diese Metaphern sollten den besonderen Mut und die Tapferkeit der handverlesenen Ordensträger ausdrücken.

    Wurde die Auszeichnung nach der Oktoberrevolution zunächst abgeschafft, erkannte Stalin die enorme patriotische Wirkung des St. Georgs-Bandes und verlieh es nach dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges postum allen Veteranen.

    Wiedergeburt und Popularisierung

    Danach verlor es zunächst wieder an Bedeutung, bis im Jahr 2005 die regierungstreue Jugendorganisation Studentische Gemeinschaft (Studentscheskaja Obschtschina) sowie einige Firmen in einer Aktion der Nachrichtenagentur RIA Nowosti zahlreiche Bänder in Moskau verteilten.1 Diese Initiative trug dazu bei, dass das St. Georgs-Band inzwischen Einzug in die Populärkultur gehalten hat: In den ersten sechs Jahren nach der Einführung wurden nach Angabe der Studentischen Gemeinschaft mehr als 50 Millionen Bänder verteilt.

    So werden sie an Jacken, Taschen, Autoantennen und -spiegeln angebracht, um der Kriegsopfer und Veteranen zu gedenken und den Stolz über den Sieg gegen den Faschismus auszudrücken. Im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten sieht man auch häufig patriotische Autoschriftzüge wie „Spasibo dedu sa pobedu“ (dt. „Danke Opa für den Sieg“)2 oder „Na Berlin“ (dt. „Nach Berlin“).

    Wahrnehmungen des neuen Symbols

    Alsbald regte sich Kritik gegen eine solche Bändchen-Schwemme: Das mittlerweile abgeschaltete Portal za-lentu.ru geißelte schon 2011 den „Kitsch“ und die „Dekadenz“ bei der „profanisierten“ Verwendung des „heiligen Symbols“ Russlands. Die regierungstreue Jugendorganisation Wolontjory Pobedy (dt. Ehrenamtler des Sieges) erstellte 2017 Richtlinien für die richtige Verwendung, in denen sie auf Piktogrammen die korrekte Bindeweise demonstrierte und darauf aufmerksam machte, die Bändchen nicht auf Taschen und an Autoantennen anzubringen.3 Im Vorfeld der Feierlichkeiten im Jahr 2017 kündigten auch Aktivisten des Moskauer Jugendparlaments an, auf Streife zu gehen – gegen die „unethische Verwendung des Georgs-Bändchens4.

    St. Georgs-Band an einer Autoantenne/Foto © Charlik
    St. Georgs-Band an einer Autoantenne/Foto © Charlik

    Auch Veteranenverbände und die Kommunistische Partei lehnten sich erst gegen das neue Symbol auf – ersetzte das Bändchen doch die Rote Fahne, das zuvor wichtigste Symbol des „kommunistischen Sieges“ über den Faschismus. Gleichzeitig wurden damit zunächst nicht nur die ehemals sowjetischen Nachbarländer milde gestimmt, die das alte Symbol mit sowjetischer Okkupation assoziierten, sondern auch der russische Klerus, der die Rote Fahne mit Repressionen gegen die Kirche verband.

    Staatssymbol

    Während solche Kritik über die Jahre weitgehend verstummte, wird das St. Georgs-Bändchen inzwischen immer häufiger auch als Symbol der Loyalität gegenüber Putin und dessen Politik gedeutet.5

    Da es immer mehr für Russki Mir (dt. Die russische Welt) steht, regt sich auch in den baltischen Ländern mit großen russischsprachigen Minderheiten Besorgnis: In Lettland wurden schon 2010 „Aktivisten“ gesichtet, die Nummernschilder von mit Bändchen geschmückten Autos aufschrieben (und deren Fahrer wohl den Behörden meldeten). In Estland gab es ernstzunehmenden Quellen zufolge eine diskrete politische „Empfehlung“ an die Medien, die Bändchen-Aktionen nicht zu thematisieren.6 In Litauen, wo es seit 2008 verboten ist, sowjetische Symbole zu benutzen, wurde das Bändchen ebenfalls mit Argwohn aufgenommen.7

    In der Ukraine lieferten sich 2009 – also bereits fünf Jahre vor der Krim-Angliederung – die zumeist russischsprachigen Städte der Halbinsel eine Art Wettbewerb: Simferopol stiftete ein 50 Meter langes „antifaschistisches“ Bändchen, Sewastopol konterte mit 300 Metern. Im Zuge der Angliederung der Krim und des Kriegs im ukrainischen Donbass benutzten prorussische Separatisten das Symbol, um ihre Zugehörigkeit zu Russland und ihren Kampf gegen die „Kiewer Faschisten“ zum Ausdruck zu bringen. Im Mai 2017 stellte das ukrainische Parlament das Verwenden des Bändchens unter Strafe.

    Seit 2015 diskutieren auch moldawische Politiker über ein gesetzliches Verbot des Symbols.

    In einem „Kult des Großen Vaterländischen Krieges8, in dem das Georgsband zum Gegenstand einer regelrechten „kollektiven Psychose“9 (Michail Jampolski) wurde, bewerten russische Staatsmedien solche Initiativen derzeit nicht selten als Affront gegen Russland.10

    Auch innenpolitisch führt das Symbol zu einer schroffen Polarisierung: Werden die Träger des Bändchens zunehmend mit der Unterstützung des Systems Putin assoziiert, hat sich bei der Protestbewegung 2011/12 das Weiße Band als Erkennungsmerkmal etabliert. 


    Weitere Themen

    Tag des Sieges

    Krim nasch

    Park des Sieges

    Weißes Band

    Krieg im Osten der Ukraine

    Farbrevolutionen

  • Dimitri Kisseljow

    Dimitri Kisseljow

    Der Journalist Dimitri Kisseljow spielt im gelenkten russischen Staatsjournalismus eine zentrale Rolle. 2008 wurde er Vizedirektor der staatlichen Medienholding WGTRK. Seit 2014 leitet er die staatliche Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja.

    Nach seinem Studium der Skandinavistik an der Universität Leningrad begann Dimitri Kisseljow (geb. 1954) seine journalistische Karriere beim sowjetischen Staatsfernsehen. In den 1990er Jahren galt er als Sprachrohr der liberalen Post-Perestroika-Bewegung und moderierte die populäre Talkshow Tschas Pik (Rushhour). Wie viele andere enttäuschte Liberale auch, wandte er sich nach den wilden 1990ern zunehmend von der Vorstellung eines demokratischen Russlands ab. Inzwischen vertritt er eine konservative, orthodoxe und autokratische Ideologie.

    Seine patriotische Weltanschauung trägt Kisseljow vor allem über den Sender Rossija 1 ins Volk, wo er seit 2012 den sonntäglichen Nachrichtenrückblick Westi nedeli moderiert. Dort verkörpert Kisseljow die neue Art der schrillen Propaganda: Er steht für Aussagen wie die, dass man die Herzen von Homosexuellen „vergraben und verbrennen“ solle, oder die Drohung, dass Russland die USA jederzeit in „radioaktive Asche verwandeln“ könne. Die russische Opposition diskreditiert er ebenso regelmäßig wie die ukrainische Maidan-Bewegung, die er als faschistische Verschwörung des Westens darstellt.

     

     

    Über Ethik im Journalismus: Kisseljow in den 1990er Jahren.

    Gleichzeitig lobt Kisseljow besonders Wladimir Putin: So hielt er zum Beispiel an dessen Geburtstag 2012 eine zwölfminütige Eloge auf den Präsidenten, in der er Putin positiv mit Stalin verglich1. Kisseljow beurteilte bei einem Treffen mit den Mitarbeitern der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti die Idee der Objektivität im Journalismus als einen „Mythos“ und stellte dem entgegen, dass gerade staatliche Medienagenturen und ihre Redaktionspolitik der „Liebe zum Vaterland“ verpflichtet sein müssten.2

    Nach der Angliederung der Krim und der Eskalation des Ukraine-Konflikts, hat die EU Kisseljow, als einzigen Journalisten, auf ihre Sanktionsliste gesetzt.

    Kisseljow in der Sendung „Der direkte Draht mit Wladimir Putin“ 2014 - Foto © Kremlin.ru
    Kisseljow in der Sendung „Der direkte Draht mit Wladimir Putin“ 2014 – Foto © Kremlin.ru

    Der einst mit Kisseljow befreundete Schriftsteller Viktor Jerofejew schrieb Ende 2013: „Kisseljow hatte sich in letzter Zeit hervorgetan durch schonungslose und bewusst provokative Kritik an allem, was der Kreml bekämpft.“3 Im Jahr 2014 wurde Kisseljow zum Leiter der staatlichen Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja ernannt, die für eine kremlfreundliche Medienberichterstattung auch über Russlands Grenzen hinaus sorgen soll. Somit ist Kisseljow nicht nur zu einem der bekanntesten Fernsehgesichter in Russland geworden, sondern auch zu einem der einflussreichsten Akteure in der kreml-finanzierten Berichterstattung. Deswegen und aufgrund seiner umstrittenen Aussagen wird Kisseljow in westlichen Medien oft als „Chefpropagandist des Kreml“ bezeichnet.


    1. Kommersant: Vladimira Putina pozdravili po televizoru ↩︎
    2. Rbk: D. Kisseljėv naučit Rossiju segodnja ljubit Rodinu ↩︎
    3. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Russland in der Offensive ↩︎

    Weitere Themen

    Allrussische Staatliche Fernseh- und Radiogesellschaft / WGTRK

    Krim

    Ermittlungskomitee

    Präsidialadministration

    Osero (Datschenkooperative)

    Dimitri Peskow

    Video #19: Best of Kleimjonow

  • KPRF

    KPRF

    Die KPRF ist die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Sie ist die direkte Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und orientiert sich politisch an einem sozialistischen Kurs, unterscheidet sich jedoch auch in vielerlei Hinsicht von ihrer Vorgängerin. Bei den letzten Parlamentswahlen 2016 erreichte die KPRF 13,3 Prozent der Wählerstimmen und bleibt damit die größte Oppositionspartei im Parlament.

    Die KPRF wurde 1990 von konservativen Mitgliedern der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gegründet, die den Perestroika-Kurs Gorbatschows als zu liberal und als Abkehr vom echten Kommunismus ansahen. Während des Augustputsches 1991 versuchten reaktionäre Kräfte, darunter Mitglieder der KPRF, den liberalen russischen Präsidenten Boris Jelzin zu stürzen. Jelzin entschied den Machtkampf für sich und verbot in dessen Folge sowohl die KPRF als auch die KPdSU. 1993 wurde die KPRF jedoch wieder neu gegründet und wird seither von Gennadi Sjuganow angeführt.

    Organisationsstruktur

    Die Organisationsstruktur ist weitgehend von der KPdSU übernommen, zum Beispiel werden wichtige Entscheidungen vom Zentralkomitee der Partei getroffen. Auch die meisten Mitglieder der KPRF waren bereits in der Sowjetunion in der Partei aktiv, woraus sich zugleich das Altersproblem der Partei erklärt: 1997 waren nur etwa zehn Prozent der 550.000 Parteimitglieder unter 40 Jahre alt, und der Rückgang auf nur noch 160.000 Mitglieder im Jahr 2015 erklärt sich weniger durch Parteiaustritte, als vielmehr durch das hohe Alter vieler Parteimitglieder. Auch die Wählerschaft der KPRF stammt zumeist aus der älteren, noch sowjetisch geprägten Bevölkerung. Entsprechend ihrer Wählerklientel zählen zu den zentralen, linkssozialistisch ausgerichteten Eckpfeilern der KPRF – neben der eher unspezifischen „Erneuerung des Sozialismus“ – vor allem die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, die in den 1990er Jahren privatisiert wurden, sowie eine kostenlose Versorgung der Bevölkerung im Gesundheits- und Bildungswesen.

    Ab Mitte der 1990er Jahre spielte die KPRF für etwa ein Jahrzehnt lang als stärkste Partei im Parlament eine wichtige Rolle im politischen Prozess Russlands. Der Kommunistenführer Sjuganow verlor bei der Präsidentschaftswahl 1996 nur knapp im zweiten Wahlgang gegen den zunehmend unbeliebten Amtsinhaber Jelzin. Viele Beobachter führten Jelzins Sieg auf die massive Unterstützung von Oligarchen zurück, die im Gegenzug zu einflussreichen Akteuren in Wirtschaft und Politik aufstiegen.

    Bedeutung im Parteiensystem

    Mit dem Machtantritt Präsident Putins sank die Bedeutung der KPRF. Konnte sie 1995 noch 22,3 Prozent der Parlamentssitze einnehmen und bei den Dumawahlen 1999 das Ergebnis sogar noch leicht auf 24,3 Prozent steigern, verlor sie 2003 gut die Hälfte ihrer Wähler und kam, wie auch bei der Wahl 2008, nur auf rund 12 Prozent. Bei den Dumawahlen 2011 kritisierte sie die Wahlmanipulationen, obwohl sie ihr Ergebnis dennoch auf 19,2 Prozent steigern – und somit fast an die vormalige Popularität aufschließen – konnte. Allerdings war die KPRF der Auffassung, dass sie in fairen Wahlen ein noch besseres Ergebnis erzielt hätte. Auch nach der Dumawahl 2016, bei der die Kommunisten rund sechs Prozentpunkte gegenüber 2011 verloren, forderte die Partei eine Untersuchung von Wahlfälschungsvorwürfen: Gennadi Sjuganow nannte diese Wahlen sogar die „schmutzigsten in der Geschichte“.1

    Trotz solch harscher Kritik gilt die KPRF in der gelenkten russischen Demokratie als Teil der sogenannten Systemopposition, da sie, wie auch die anderen beiden großen Oppositionsparteien Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR – Liberalno-Demokratitscheskaja Partija Rossii)  und Gerechtes Russland (SR – Sprawedliwaja Rossija), bei wichtigen Abstimmungen nur selten gegen die Regierung votiert und deren Politik letztlich mitträgt.

    Zusammenfassend sieht sich die KPRF zwar in der Tradition der KPdSU, schien jedoch schon 2008 laut dem Politikwissenschaftler Luke March „[E]ntgegen eigenen Behauptungen […] allenfalls noch ein Schatten ihrer selbst zu sein: Seit 2008 betragen die Mitgliederzahlen nur noch ein Hundertstel der Vorgängerpartei; sie ist eine marginalisierte Oppositionspartei und nicht mehr die Macht im Einparteienstaat. Statt um eine dynamische, revolutionäre Vorhut handelt es sich um eine alternde Parlamentspartei.“2


    1. vesti.ru: Gennadij Zjuganov nazval prošedšie vybory samymi grjaznymi v istorii ↩︎
    2. March, Luke (2008): Die Kommunistische Partei in der Sowjetunion und in Russland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2008 (47), S. 26-33 ↩︎

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  • Lewada-Zentrum

    Lewada-Zentrum

    In der Sowjetunion gab es keine soziologische Meinungsforschung. Erst mit der Gründung des Zentrums für Studien der Öffentlichen Meinung (WZIOM) im Jahr 1987 begann man, wissenschaftlich fundierte Bevölkerungsumfragen durchzuführen und Meinungsbilder zu erstellen. 1988 kam der Professor für Soziologie Juri Lewada an das Institut, unter dessen Leitung es ab 1992 zum führenden Meinungsforschungsinstitut Russlands wurde. Nach einer staatlichen Einmischung in die Zusammensetzung des Direktoriums verließ die gesamte Belegschaft 2003 das WZIOM und gründete das Analytische Zentrum Juri Lewada, kurz Lewada-Zentrum, mit Hauptsitz in Moskau. Dass auch das neue Institut regelmäßig die politischen Fehlentwicklungen in Russland kritisierte, sorgte für Unmut bei staatlichen Behörden. Bereits 2013 wurde es aufgefordert, sich freiwillig als ausländischer Agent zu registrieren. Das Institut wehrte sich, im September 2016 hat das Justizministerium es jedoch in das Agenten-Register aufgenommen. Damit befindet sich das Zentrum nun unter circa 140 stigmatisierten Organisationen. Wie vielen von ihnen droht nun auch dem Lewada-Zentrum das Ende.

    Neben Umfrageergebnissen veröffentlicht das Lewada-Zentrum regelmäßig Analysen und Dossiers zum Zustand der russischen Gesellschaft. Zu den zentralen Publikationen zählt das Jahrbuch Öffentliche Meinung, das über längere Zeiträume Umfragedaten zu den Bereichen Politik, Wahlen und Wirtschaft, aber auch zu kulturellen und sozialen Themen erfasst. Für die Soziologie ist das Jahrbuch das Standardwerk zur öffentlichen Meinung.

    Im Gegensatz zu den anderen großen russischen Meinungsforschungsinstituten, dem WZIOM und der Stiftung Öffentliche Meinung (FOM), gilt das Lewada-Zentrum nicht nur als unabhängig1, sondern auch als höchst professionell. Juri Lewada zählte zu den Begründern der modernen Soziologie Russlands, das Institut führt sein wissenschaftliches Vermächtnis soziologisch-sattelfest fort und bietet weitgehend ausgewogene und gut recherchierte Erkenntnisse über den Staat und die Gesellschaft Russlands.

    Vor allem der langjährige Leiter des Zentrums Lew Gudkow kritisiert regelmäßig und in einer sehr pointierten Weise die politischen und gesellschaftspolitischen Fehlentwicklungen in Russland.2Dies brachte dem Institut in jüngerer Vergangenheit Probleme mit staatlichen Behörden ein. Da das Lewada-Zentrum auch für ausländische Auftraggeber Studien durchführt und dafür Honorare erhält, wurde es im Mai 2013 vom Justizministerium aufgefordert, sich in das Register ausländischer Agenten einzutragen. Das Zentrum lehnte dies mit der Begründung ab, es gehe keiner politischen Tätigkeit nach, sondern erforsche lediglich die öffentliche Meinung.

    Aufgrund der Befürchtung, das Lewada-Zentrum könnte geschlossen werden, kam es im Sommer 2013 zu einer internationalen Protestwelle zahlreicher namhafter Wissenschaftler, die sich mit dem Institut solidarisierten.Ihr Druck konnte nicht lange aufrechterhalten werden: Kurz vor der Dumawahl verkündete das Justizministerium am 5. September 2016 in einem Fünfzeiler den Eintrag des Instituts in das Agenten-Register.4

    Der damalige Leiter des Zentrums Lew Gudkow nahm die Nachricht mit einer Mischung aus „Verstimmung und Wut“ auf. Die Entscheidung bedeute das Ende unabhängiger soziologischer Forschung in Russland, so Gudkow. Das Zentrum habe nämlich keine anderen Möglichkeiten, als sich aus ausländischen Marktforschungsaufträgen zu finanzieren.5

    Derzeit ist die Zukunft des Instituts komplett offen.


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