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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Der Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert“

    „Der Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert“

    Mitte Dezember hatte Russland in einem Schreiben unter anderem ein Ende der Ausdehnung der NATO gefordert und auch einen Truppenabzug aus Ländern, die bis 1997 nicht Teil des Bündnisses waren. Ende vergangener Woche kamen die schriftlichen Antworten und fielen aus wie erwartet: Weder die NATO noch die USA können Russland die gewünschten Sicherheitsgarantien geben. 

    Unterdessen verlieh Putin im Telefonat mit dem französischen Präsidenten Macron den russischen Forderungen nochmal Nachdruck. Beide Länder erklärten sich zudem bereit, die Minsk II-Gespräche im Normandie-Format fortzusetzen. Der russische Außenminister Lawrow forderte ähnliche Garantien auch von der OSZE. Angesichts der hohen Konzentration russischer Truppen an den Grenzen zur Ukraine, auch in Belarus und auf der Halbinsel Krim, die Russland 2014 angliederte, stockten einzelne NATO-Mitgliedsländer ihre Truppen in Osteuropa auf, auch US-Präsident Biden kündigte an, das US-Militärkontingent aufzustocken.

    Gleichzeitig warnte der ukrainische Präsident Selensky vor Panikmache und betonte, dass die Kriegsgefahr nicht größer sei als zuvor. Auch Nikolaj Patruschew, Chef des russischen Sicherheitsrats, sagte der Agentur Interfax zufolge: „Wir wollen keinen Krieg, wir brauchen ihn überhaupt nicht.“

    Und nun? Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie Center, sieht im Interview mit Kommersant – das er noch vor den Antworten der USA und der NATO gab – zwei mögliche Szenarien: ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt.

    Für Dimitri Trenin gibt es zwei mögliche Szenarien – ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt / Foto © Gleb Schtschelkunow/Kommersant
    Für Dimitri Trenin gibt es zwei mögliche Szenarien – ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt / Foto © Gleb Schtschelkunow/Kommersant

    Jelena Tschernenko: Stehen wir kurz vor einem bewaffneten Konflikt?

    Dimitri Trenin: Wenn wir von einer kurzfristigen Perspektive sprechen, vom nächsten Monat, dann glaube ich nicht. Was die langfristige Perspektive angeht, hätte ich Fragen an beide Seiten.

    Die Frage an an den Westen wäre: Wird die Führung in Kiew, – seien es einzelne Abteilungen oder auch Akteure, die außerhalb ihrer Kontrolle stehen und mit Schattenfiguren zusammenarbeiten –, eine Provokation starten, um Russland in einen Krieg hineinzuziehen? Die Antwort auf diese Frage ist eher nein. Ein solches Szenario würde den Verantwortlichen in Kiew nicht sonderlich nützen. Denn eine solche Provokation kann nur mit einer Niederlage der ukrainischen Streitkräfte enden. 

    Alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht

    Das Ausmaß der Niederlage könnte für die Ukraine unterschiedlich stark ausfallen. Aber egal, wie hoch der Preis dieses Sieges für Russland wäre, er könnte den kolossalen Schlag nicht wettmachen, den eine Niederlage der Ukraine der Reputation der Biden-Regierung versetzen würde – vor allem innerhalb der USA. Nach Afghanistan zum zweiten Mal einen prominenten regionalen Verbündeten zu verlieren, wäre für sie gerade innenpolitisch äußerst gefährlich. Hinzu kommt der ganze NATO-Kontext und das amerikanische Renommee in der Welt. Denn auch Länder wie China oder der Iran verfolgen die Situation ganz genau.

    Mit anderen Worten, Sie halten das georgische Szenario für unwahrscheinlich?

    Ja, ich habe den Eindruck, dass die Amerikaner genügend Kontrolle über die ukrainische Regierung und die dortigen Akteure haben.

    Und welche Frage haben Sie an Russland?

    Ich glaube, alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht. Und hier gibt es in der Tat viele Fragen, denn wir können nicht wissen, was genau Wladimir Putin sich dabei denkt. Welchen Plan verfolgt er? Was ist seine Strategie? Welche Optionen sieht er? Das lässt sich von außen sehr schwer beurteilen.

    Wie könnte sich die Lage entwickeln?

    Die erste Option wäre wohl recht logisch: Man erklärt, dass wir nie wirklich mit alldem (der Nicht-Erweiterung der NATO und so weiter – Anm. Kommersant) gerechnet haben – wir sind ja nicht blöd, wir verstehen das völlig, aber wir mussten endlich aus der Sackgasse heraus, diesen ganzen westlichen politisch-diplomatischen und militärischen Klüngel aufmischen, vor allem in Washington, und wollten den Ernst unserer Absichten demonstrieren – und haben ja auch etwas erreicht. Erstens haben sie unsere Vorschläge nicht grundweg zurückgewiesen, sondern darauf reagiert, sie haben sich sogar bereit erklärt, unsere Vorschläge schriftlich zu beantworten, und das bedeutet de facto, dass sie unsere Sorgen und Forderungen ernst nehmen.

    Zweitens haben sie eingewilligt, über für uns wichtige Themen zu sprechen, die sie früher ignoriert haben. Zum Beispiel soll es Verhandlungen über ein Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen geben. Früher wollten sie überhaupt nichts davon wissen, jetzt wollen sie von sich aus darüber verhandeln. Außerdem sind sie jetzt bereit, über eine Einschränkung von Manövern in der Nähe unseres Staatsgebiets zu sprechen, all diese Marine- und Luftwaffenübungen, einschließlich der Simulation von Atomraketenstarts. Wir haben ihnen früher mehrfach gegenseitige Zurückhaltung auf diesem Gebiet angeboten, aber erst jetzt hören sie uns zu. Auch auf andere russische Initiativen gibt es eine Reaktion.

    Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen

    Die russischen Forderungen wurden so entschieden vorgebracht, um die westlichen Mächte, allen voran die USA, zu Sicherheitsgarantien zu bewegen, die für uns akzeptabel sind.

    Es war für uns nicht nur wichtig, die Situation an unseren westlichen Grenzen zu entspannen, sondern auch, den Westen dazu zu bringen, endlich mit uns über Fragen der europäischen Sicherheit zu sprechen.

    Das ist bereits durch die Tatsache geschehen, dass ein Dialog in Gang gekommen ist. Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen. Zwischen 1999 und 2021 hing diese Sicherheit vom Good oder Bad Will der USA ab, mit der NATO als ihrem Hauptinstrument. Jetzt verhandeln die USA und die NATO die europäische Sicherheit – genau wie in Zeiten von Jalta und Helsinki – mit Russland, und dadurch steht diese Sicherheit jetzt auf zwei Pfeilern statt auf einem.

    Kann man davon ausgehen, dass der Westen und vor allem die USA in diesem Szenario dazu bereit wären, erheblichen Druck auf die Ukraine auszuüben, damit sie das Minsker Abkommen erfüllt?

    Das hoffe ich sehr, aber davon ausgehen würde ich nicht. Die Vereinbarungen von Minsk sind ein diplomatischer Sieg für Russland, der auf dem militärischen Sieg aufbaut, den die Rebellen und die sie unterstützenden Kräfte über die ukrainische Armee im Februar 2015 errungen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob die USA verstehen, dass der Schlüssel, die Situation um die Ukraine zu entspannen, in der Erfüllung des Minsker Abkommens liegt, aber genau so ist es.

    Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben

    Im Prinzip lassen sich die Vereinbarungen noch umsetzen. Man könnte den Donbass immer noch unter den darin formulierten Bedingungen in die Ukraine reintegrieren, wonach die Rechte der Bewohner dieser Regionen gewährleistet und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine in durch Russland anerkannten Grenzen bewahrt würden. Aber bisher sehe ich keine Bereitschaft Washingtons, Kiew dazu zu bringen, das Minsker Abkommen zu erfüllen.

    Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben. In den letzten Jahren zielt die Politik in Washington darauf ab, den Druck auf Russland zu erhöhen – und die Ukraine ist nur einer ihrer Hebel. Wenn ich die Strategie des Westens richtig verstehe, dann wird dieser Druck seinen Höhepunkt erreichen, wenn in Russland der Prozess des Machttransfers beginnt. In einer Konfrontation mit China brauchen die Amerikaner ein gefügigeres Russland. Aber das ist ein lang- und kein kurzfristiges Ziel.

    Okay, das ist die erste Variante – kräftig aufmischen und nehmen, was man kriegt.

    Ja, hier kann man sich in Erinnerung rufen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist, und noch viele andere Argumente vorbringen, die für diese Variante sprechen.

    Die zweite Variante bedeutet, dass tatsächlich alles sehr ernst ist und wir uns bereits an einem Punkt befinden, an dem eine neue russische Politik die alte allmählich verdrängt. In meinem Buch New Balance of Power habe ich geschrieben, dass die russische Außenpolitik – sowohl unter Jelzin als auch unter Putin, einschließlich der Medwedew-Periode – auf den Schultern der Politik Gorbatschows steht. Es geht auf die eine oder andere Weise um eine Fortsetzung der Integration in die westliche Welt, um das Finden eines eigenen Platzes darin, um die Suche nach einem Gleichgewicht der Interessen in den Beziehungen zu den USA und anderen Ländern des Westens, wobei der Fokus auf der Zusammenarbeit liegt.

    Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches Projekt zu verwirklichen?

    Aber was, wenn dieser Kurs jetzt radikal revidiert wird? Und das betrifft nicht nur die Außenpolitik, sondern die Richtung, in die Russland sich insgesamt bewegt. Was, wenn wir die Periode hinter uns lassen, in der das wichtigste Ziel die Integration in eine geeinte Welt war, wenn auch zu eigenen Bedingungen? Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird, von dem Präsident Putin gesprochen hat, als er auf die Aussicht amerikanischer „Sanktionen aus der Hölle“ reagierte? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches (auch wirtschaftliches, gesellschaftliches und ideologisches) Projekt zu verwirklichen?

    Vielleicht ist man bereits dabei, ein gesondertes „russisches Projekt“ aufzubauen, das nicht mehr darauf abzielt, sich in eine Welt einzuordnen, in der der Westen wenn nicht die dominierende, so doch immer noch die führende Rolle spielt?

    Im Fall eines Bruchs mit dem Westen könnte Russland in weitaus engere Beziehungen mit bedeutenden nichteuropäischen Ländern treten, Bündnisse eingehen mit Ländern wie China, aber auch mit dem Iran und den Kontrahenten der USA in der westlichen Hemisphäre – Venezuela, Kuba und Nicaragua. In diesem Fall könnte Moskau anfangen, das zu tun, was man ihm im Westen gerne vorwirft.

    Sie sprechen von der Errichtung von Einflusszonen?

    Davon, und von dem Recht auf Gewaltanwendung, um unliebsame Regime zu beseitigen. Die USA haben zum Beispiel im Irak einen Diktator gestürzt. Sie haben dort zwar keine Massenvernichtungswaffen gefunden, aber im Großen und Ganzen ist man im Westen der Meinung, dass sie trotzdem etwas Gutes getan haben, weil der Diktator weg ist.

    Und jetzt stelle ich fest, dass die russischen Diplomaten, allen voran der Außenminister, immer öfter den Begriff „Regime“ verwenden, wenn sie von der ukrainischen Regierung sprechen. Ein Regime ist etwas Unrechtmäßiges. Wenigstens aus moralisch-ethischer Sicht. Und wenn die Regierung illegitim ist, warum dann nicht den gesunden Kräften helfen, sie zu stürzen?

    Russland könnte Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen

    Ich habe das Gefühl, dass Russland nach einem neuen Ankerpunkt für den postsowjetischen Raum sucht. Hier sind verschiedene Varianten denkbar, zum Beispiel, ein erweiterter Begriff des Unionsstaates durch den Einschluss neuer Gebiete. Nehmen wir an, die russische Regierung kommt zu dem Schluss, dass das Minsker Abkommen nicht realisiert werden kann, dann könnten sie die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen. Hypothetisch gesehen könnten sie auch Abchasien und Südossetien dieser Union anschließen.

    Das bezieht sich auf den Fall, dass Russland mit dem, was ihm nicht gefällt, bricht und nach dem Prinzip zu handeln beginnt: „Wenn es nicht im Guten geht, dann eben mit Gewalt.“ Die USA werden da nicht viel ausrichten können, in einen direkten Konflikt mit Russland werden sie nicht treten.

    Sie haben zwei sehr unterschiedliche Szenarien beschrieben. Wenn man eine Analogie zum Schach zieht, ist die erste Variante ein raffiniertes Spiel mit im Voraus durchdachten Zügen und einkalkulierten Risiken. Während bei der zweiten Variante einer der Spieler das Brett mitsamt den Figuren einfach vom Tisch schleudert.

    Ganz genau.

    Aber welches Szenario wird nun umgesetzt? 

    Das weiß ich nicht. Diese Frage kann in unserem Land nur einer beantworten. 
    Aber beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden. Im ersten Fall geht es um einen Verlust der Reputation – sowohl auf internationaler Ebene als auch innerhalb des Landes. Nimmt Russland von seinen Forderungen Abstand, die es als „absoluten Imperativ“ formuliert hat, dann kann man ihm vorwerfen, geblufft zu haben. Großmächte bluffen nicht. Wenn Russland blufft, verliert es an Status in der Welt. Aber selbst wenn ein Teil der Bevölkerung das negativ aufnimmt, ist das nicht besonders schlimm. Innerhalb des Landes ist die Staatsmacht stark genug. Es wäre eher Russlands internationaler Ruf, der darunter leiden würde, man würde es in Zukunft weniger ernst nehmen. Aber überleben kann man das. 

    Beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden

    Das zweite Szenario, das auf militärische Stärke setzt, bringt einen schwerwiegenden Bruch der Beziehungen mit sich, auch innerhalb des Landes. Es wischt die Hoffnungen eines kleinen, aber einflussreichen Teils der russischen Elite vom Tisch, der immer noch darauf wartet, dass sich das Verhältnis zum Westen endlich normalisiert. In seiner radikalen Version – wie es einige westliche Analysezentren beschreiben – würde dieses Szenario auch für breitere Bevölkerungsschichten Russlands zu einer Belastungsprobe werden. Die Rede ist vom Szenario einer „Besetzung der Ukraine“. 

    Sie meinen, wenn es nicht bei der Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk bleibt?

    Ja, wenn die russische Regierung zu dem Schluss kommt, dass die einzige Garantie dafür, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt und auf ihrem Territorium keine US-Raketen stationiert werden, in der unmittelbaren Kontrolle der Ukraine durch Russland besteht oder in der Installierung einer moskautreuen Regierung in Kiew. So oder so würde dieses Szenario ganz anders aussehen als die Krim, wo kein einziger Schuss fiel und niemand verletzt wurde. 

    Halten Sie dieses Szenario für auch nur irgendwie wahrscheinlich? 

    Eher nicht. Es brächte enorm viele negative Folgen mit sich, beträchtliche menschliche und finanzielle Verluste.

    Also ist es das Worst-Case-Szenario?

    Das kommt darauf an. Für die einen wäre es gut, für die anderen schlecht. Meiner Ansicht nach birgt es ein kolossales Risiko für Russland selbst. 

    Ihrem Buch nach zu schließen sehen Sie in der NATO-Osterweiterung keine so große Bedrohung für Russland. Verstehe ich Sie richtig?

    Für die militärische Balance und das „Gleichgewicht des Schreckens“ ist eine Ausweitung der NATO unter anderem auf die Ukraine keine Bedrohung. Wenn die USA ihre Raketen bei Charkow stationieren, verschaffen sie sich keinen signifikanten militärisch-strategischen Vorteil gegenüber der Russischen Föderation. 

    Aber was ist mit der verkürzten Flugzeit, mit den berühmten „fünf bis sieben Minuten bis Moskau“?

    Das widerspricht sich nicht. Denn was würde in dieser Situation passieren? Russland würde auf seinen U-Booten Hyperschallraketen stationieren, Zirkon zum Beispiel, und damit die US-Küste entlangfahren, womit es sich dieselbe Flugzeit bis zu den wichtigsten amerikanischen Zielen sichern würde. Das Gleichgewicht des Schreckens bliebe erhalten, nur eben auf höherem, gefährlicherem Niveau.

    Ich halte eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung

    Auch eine US-Einheit in Polen oder ein NATO-Bataillon im Baltikum können Russlands Sicherheit nicht ernsthaft bedrohen. Das Einzige, was Russland Probleme bereiten könnte, sind amerikanische Raketen-Abwehrsysteme in Rumänien und Polen. Alles andere ist nicht wirklich bedrohlich.  
    Insofern halte ich eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung.  

    Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Ein Land, das NATO-Mitglied wird, durchläuft eine tiefgreifende Umprogrammierung, die alle Bereiche des Lebens betrifft. Es passiert eine politische und ideologische Transformation. Solange die Ukraine nicht in der NATO ist, besteht immer noch die Möglichkeit, dass das Land als Ganzes oder teilweise beschließt, dass Dinge wie Slawentum, Russki Mir und so weiter doch wichtig sind, und die Beziehungen zu Russland können sich normalisieren, eine Annäherung ist möglich. Zumindest aus Moskaus Sicht bleibt diese Möglichkeit bestehen.  
    Aber wenn das Land der NATO beitritt, dann ist der Zug abgefahren. In diesem Sinn existiert also sehr wohl eine Bedrohung, bloß ist es keine militärische, sondern eine geopolitische und geokulturelle. 

    Übrigens haben der Oberbefehlshaber und die militärisch-politische Führung unseres Landes, wenn man den offiziellen Mitteilungen glauben will, hierzu ganz andere Vorstellungen, die unbedingt zu berücksichtigen sind. 

    Russland hat dem Westen im Fall einer Absage an seine Forderungen mit einer „militärischen Reaktion“ gedroht. Was kann, abgesehen von dem, was Sie schon erwähnt haben, damit gemeint sein? 

    Wenn das Prozedere der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sich so entwickelt wie in Abchasien, dann könnten dort russische Truppen stationiert werden, Militärstützpunkte. Aber ich glaube, der Großteil der kriegstechnischen Reaktion wird in der Stationierung von Waffensystemen an Orten bestehen, wo bisher keine sind.

    Zum Beispiel? 

    Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass Russland, wenn es in militärischer Hinsicht in Europa unzufrieden wäre, zusätzliche Iskander-Raketen in Kaliningrad positionieren könnte. Die Oblast Kaliningrad galt als Aufmarschgebiet an vorderster Front, von dem aus Russland jedem Widersacher drohen könnte. Doch Kaliningrad ist physisch getrennt vom restlichen russischen Territorium, dort etwas hinzuliefern und die Verbindung aufrechtzuerhalten ist besonders in Zeiten einer Feindschaft mit dem Westen ziemlich schwierig. Es geht, aber es ist nicht einfach.

    Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China

    Viel einfacher ist es, etwas im freundlich gesinnten Belarus zu stationieren, auf dem Territorium eines Bündnispartners, wo es bisher keine russischen Stützpunkte und Raketen gibt, schon gar keine Atomraketen. Noch dazu, wo der belarussische Präsident …  

    … das von sich aus anbietet?

    Ja, er hat ein feines politisches Gespür und ist bereit, der Russischen Föderation zu einem unausgesprochenen, aber erahnbaren Preis diese Möglichkeit zu bieten. Das ist eine Option.  

    Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China, eine Koordination zwischen Moskau und Peking im militärischen Bereich, eine aktivere militärtechnische Kooperation zwischen beiden Ländern. Möglich ist im Hinblick auf militärische Fragen auch eine Annäherung an den Iran. Anlässlich der Krise rund um die Ukraine hat der russische Präsident auch mit den Staatsoberhäuptern Venezuelas und Kubas telefoniert. 

    Das heißt, Russland könnte den USA in einem potenziellen Konflikt mit China in die Quere kommen.  

    Ja, natürlich, auch das ist denkbar. Im Grunde wäre das die normale Vorgehensweise. Länder, die sich feindlich gegenüberstehen, so wie aktuell Russland und die USA, setzen sich gegenseitig unter Druck. So ist es nun mal. Nicht mit Überzeugung oder Argumenten, sondern mit Gewalt, wenn auch nicht unbedingt mit militärischer. Die Amerikaner haben, abgesehen von ihrem militärischen Potenzial, große finanz-ökonomische Macht und setzen diesen Hebel immer stärker gegen Russland ein. Russland hingegen ist vor allem in geopolitischer, energetischer, militärischer und kriegstechnischer Hinsicht stark. 

    Es gibt Mutmaßungen, Russland könnte Raketen in Venezuela und auf Kuba stationieren. 

    Wenn Moskau anfängt, die USA von Lateinamerika aus zu bedrängen, dann reagieren die USA in Europa, wo es eine ganze Reihe Länder gibt, die einer Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen auf ihren Gebieten bereitwillig zustimmen würden. Was würde das Russland bringen?

    Was ist passiert, dass Sie und ich plötzlich über solche aufwühlenden Szenarien sprechen? Was ist denn plötzlich los mit der Welt?

    Die Welt bewegt sich auf hochgefährlichen Wegen, aber wohin? Das kann ich nicht sagen. Die Geschichte zeigt uns sehr deutlich: Nach einem schweren Kampf – egal ob nach einem „heißen“ oder einem „kalten“ Krieg – bleibt eine Verliererseite zurück, die in ihrem Stolz verletzt ist und ihre Souveränität nicht aufgeben will. 

    Ich glaube dieser Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert

    Wenn diese Verliererseite nicht zu Bedingungen, die auch sie zufriedenstellen, in ein neues Sicherheitssystem eingebunden wird, dann erstarkt sie in 20 bis 30 Jahren wieder und fordert Respekt für ihre nationalen Interessen ein.    

    Und dieser Moment ist jetzt gekommen?

    Ja, ich glaube, der ist gekommen. 30 Jahre hat es gebraucht. Die Sieger des Kalten Krieges dachten erst, Russland habe seine frühere Bedeutsamkeit eingebüßt, und verloren ihr Interesse. Niemand wollte sich so recht mit der schwierigen Aufgabe seiner Integration in die westliche Welt befassen. 
    Zudem wäre für eine solche Integration die Zustimmung der westlichen Länder, vor allem der USA, zu einer maßgeblichen Beschränkung ihres eigenen Einflusses notwendig gewesen, dazu, Russland ein entscheidendes Stimmrecht zu gewähren. Die USA waren dazu nicht bereit. Sie teilen ihre Vormachtstellung und ihr entscheidendes Stimmrecht nicht einmal mit ihren nächsten Verbündeten. Das letzte Wort muss immer Washington haben.
    Zu den vom Westen vorgeschlagenen Bedingungen einer ungleichen Partnerschaft wollte Russland selbst nicht in die transatlantische Zone integriert werden. Was damals aber sowieso niemanden störte – die russische Wirtschaft war schwach, die demografische Entwicklung rückläufig, das politische System instabil, und man hielt noch ein paar mehr Zusammenbrüche für möglich. Daher musste man da auch …    

    … keine großen Umstände machen?

    Genau. Die Haltung gegenüber Russland hat sich nach der Krim und vor allem seit Beginn des Syrien-Einsatzes verändert. Sie erinnern sich, davor hatte US-Präsident Barack Obama Russland als „Regionalmacht“ bezeichnet. Aber dann haben alle gesehen, dass Russland sich nicht nur als Subjekt in internationalen Beziehungen erholt hat, sondern auch weit jenseits der eigenen Staatsgrenzen handeln kann.   

    Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu

    Doch sofort liefen die Handlungen Moskaus den Interessen des Westens zuwider, Russland wurde als Gegner wahrgenommen, den man bestrafen und mit Druck, vor allem mit Sanktionen, auf seinen Platz verweisen müsse. Entgegenkommen oder Zugeständnisse an Russland wurden als Besänftigung eines Aggressors gedeutet. Der Westen, der seine eigene Schwäche spürte, war insgesamt viel weniger bereit, Kompromisse zu schließen und sich mit anderen, sagen wir, konkurrierenden oder sogar feindlichen Regimen an einen Tisch zu setzen und auf Augenhöhe zu verhandeln. Seit dem Zerfall der Sowjetunion verhandelt der Westen mit niemandem mehr auf Augenhöhe – nicht einmal mit China. 

    Man kann den Westen auch verstehen, er macht eine ziemlich schwierige Entwicklungsphase durch, und es geht ja tatsächlich um den Niedergang der westlichen Dominanz und langfristig seiner Führungsrolle in der Welt. Das ist für den Westen schwer. Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu. Eine gewisse Klarheit kann wahrscheinlich nach einem ernsthaften Kräftemessen in verschiedenen Regionen und in verschiedenen funktionellen Bereichen erzielt werden. Am Verhandlungstisch lässt sich das alles nicht lösen, aber dort kann man das erreichte Ergebnis dokumentieren und ausgestalten. So wird eine neue Weltordnung entstehen. 

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  • „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    Joe Biden ist designierter US-Präsident – was ändert sich für Russland? Als US-Präsident Trump vor vier Jahren ins Amt kam, fürchteten viele, er könne eine Marionette Russlands werden. US-Sicherheitsdienste berichteten über russische Einmischung im Wahlkampf. Joe Biden dagegen gilt als sehr kritisch gegenüber dem Kreml, bezeichnete Trump im Wahlkampf als „Putin's puppy“, „Putins Schoßhündchen“.
    Putin versicherte kürzlich, Russland werde mit jedem US-Präsidenten zusammenarbeiten, kritisierte aber Bidens „antirussische Rhetorik“.

    Was ist aus der erwarteten Annäherung zwischen den USA und Russland unter Trump tatsächlich geworden? Und was bedeutet ein US-Präsident Joe Biden für Russland? Diese Fragen stellt Meduza drei russischen Experten für die russisch-amerikanischen Beziehungen: Andrej Kortunow, Ivan Kurilla und Dimitri Trenin.
    dekoder stellt eine weitere Analyse der Politologin Nina Chruschtschowa dazu, die Projekt veröffentlichte.

    „In Russland selbst hat sich nichts zum Guten geändert“

    Ivan Kurilla, Historiker, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg

    Die Regierungszeit Trumps wurde zu einer Enttäuschung, da die russische Seite etwas anderes erwartet hatte. Man hatte auf warmherzige Beziehungen zwischen den USA und Russland gesetzt – oder zumindest auf eine Verbesserung im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren unter Präsident Obama.

    Doch besser wurde es nicht, aus zwei Gründen: In Russland selbst hat sich in dieser Zeit nichts zum Guten geändert, es blieb alles beim Alten. In den USA war das „russische Thema“ während der Präsidenschaft Trumps äußerst heiß. Die ersten zwei Jahre beschuldigte man ihn, ein russischer Agent zu sein. In den Beziehungen zu Russland etwas in Bewegung zu bringen, wurde für ihn unmöglich. Bestraft wurde so im Endeffekt nicht Russland, sondern Trump.

    Die Sanktionen gegen Russland liefen über den Kongress. Das ist viel schlimmer, als wenn sie über die Regierung laufen – die kann Sanktionen schnell erlassen, aber auch aufheben. Damit der Kongress auch nur zur Prüfung der Aufhebung von Sanktionen schreitet, braucht es großen Druck, was äußerst unwahrscheinlich ist.    

    Auch der Druck der USA auf Europa bedeutete großen Druck auf Russland. Der Baustopp von Nord Stream 2, weil die USA Sanktionen gegen die Firmen androhten, die daran beteiligt sind, war ein noch größerer Hieb als die direkten Sanktionen. Dieser indirekte Einfluss über Europa versetzte der russischen Wirtschaft einen herben Schlag. 

    Der Druck der USA auf Europa bedeutete auch großen Druck auf Russland

    Die künftigen Beziehungen zwischen den USA und Russland werden von den Beratern abhängen, die der neue Präsident auswählt. Biden wird im Unterschied zu Trump bei wichtigen Fragen auf kollektive Entscheidungen setzen. Mit Sicherheit wird es eine aktivere Außenpolitik geben als bei Trump. Trump hatte im Gegensatz dazu Amerika aus verschiedenen Regionen der Welt abgezogen und war aus internationalen Abkommen ausgetreten. Die Demokraten werden wiederkommen. 
    Der Präsidentenwechsel bedeutet ein kleines Fenster neuer Möglichkeiten. Vielleicht wird Russland innerhalb der USA nicht mehr als Schreckgespenst benutzt. Die Sackgassen, in die unsere Beziehungen geraten sind, könnten durchbrochen werden. Aber große Hoffnungen habe ich da nicht, weil sich auf russischer Seite nichts geändert hat, und das würde jeder US-Präsident zur Voraussetzung machen.


    „Es wird auch neue Möglichkeiten geben“

    Andrej Kortunow, Leiter des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten

    Russlands Hoffnungen in Bezug auf die USA, die vor vier Jahren aufkamen, wurden nicht erfüllt. Unsere Beziehungen mit den USA haben sich in dieser Zeit vielmehr verschlechtert, quantitativ wie qualitativ. Unter Trump wurden die russisch-amerikanischen Summits quasi abgeschafft. Wenn früher ein neuer US-Präsident gewählt wurde, gelang es schnell, ein Treffen auf höchster Ebene zu organisieren. Das war nötig, damit die Räder der schwerfälligen Staatsmaschinen in Gang kamen. In Trumps Fall gab es gerade mal ein Treffen in Helsinki 2018, das die Beziehungen nur verschlechtert hat. Gleich darauf folgten Sanktionen und Kritik an Trump dafür, dass er sich angeblich Putin ergeben habe.

    Der Hauptpfeiler in den Beziehungen zwischen den USA und Russland war immer die Rüstungskontrolle. Auch wenn sich beide Seiten über alles Mögliche stritten, auch wenn sich die Beziehungen verschlechterten, die USA und Russland waren stets der Meinung, dass die Kontrolle strategischer Waffen das ist, was ihre Beziehung so einzigartig macht auf der ganzen Welt und dass man das bewahren müsse. Unter Trump wurde all das zerstört. Die US-Administration ist aus dem INF-Vertrag ausgestiegen und hat praktisch jegliche Versuche abgelehnt, den New-Start-Vertrag zu verlängern. Das heißt: Der Grundpfeiler unserer Beziehungen ist zerstört.

    Die Rhetorik gegenüber Russland wird sich erheblich verändern

    Biden wird nun Präsident, und dies wird die Rhetorik gegenüber Russland erheblich verändern. Sie wird hart und kritisch sein, im Gegensatz zu Trump wird Biden Putin keine Komplimente machen. In einigen Bereichen wird Biden ein schwierigerer Partner sein als Trump. Er wird einen Akzent auf Menschenrechte in Russland setzen, vielleicht wird die Magnitski-Liste erweitert oder Neues beschlossen, wie zum Beispiel eine Nawalny-Liste. Intensiviert wird die Unterstützung für die Ukraine, Georgien – Staaten, die mit Russland in Konflikt stehen. Biden wird sich bereit zeigen, die Opposition in Belarus zu unterstützen und die Mittel für oppositionelle Menschenrechtsbewegungen im postsowjetischen Raum aufzustocken. Bidens Politik wird darauf abzielen, das transatlantische Bündnis wiederherzustellen und den Spielraum für russische Manöver einzuschränken. Er wird versuchen, die ruinierten Beziehungen zu den europäischen Partnern wiederherzustellen. 

    Es wird aber auch neue Möglichkeiten geben: Biden wird mehr Interesse an Rüstungskontrolle zeigen, da er die Entscheidung von Trump, sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, nicht unterstützt hat. Die wichtige Frage ist: Inwieweit ist Biden bereit, die Sanktionen gegen Russland auf ein qualitativ anderes Niveau zu heben? 


    „Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören“

    Dimitri Trenin, Politikwissenschaftler, Leiter des Moskauer Carnegie-Zentrums

    Unter Trump haben die Beziehungen zwischen den USA und Russland einen neuen Negativ-Rekord erreicht. Seit der ersten Hälfte der 1980er Jahre war das Niveau nie so schlecht wie heute. Doch die Grenze oder der Tiefpunkt sind noch nicht erreicht, wir bewegen uns weiter in diese Richtung. Präsident Putin bezeichnet den Handel als ein Plus, doch der findet in beiden Richtungen nur noch minimal statt. Außerdem haben die US-amerikanischen Sanktionen den Handel russischer Firmen mit ihren wichtigsten Partnern behindert.

    Dafür sind wir in keine direkte Auseinandersetzung mit amerikanischen Streitkräften geraten, obwohl das nicht unwahrscheinlich war. 
    Sehr unerfreulich war für Russland, dass es während der vergangenen vier Jahre zum Objekt der amerikanischen Innenpolitik wurde. Wer Verbindungen zu Russland unterhielt, wurde zum Prügelknaben – vor allem die Republikaner mussten dafür einstecken. Aber auch sie verhielten sich hart gegenüber Russland, um mit den Kollegen mitzuhalten.

    Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören und noch heftiger werden.

    Das Unangenehmste für Russland, was unter Biden geschehen könnte: Durch ihren Ausstieg aus dem INF-Vertrag könnten die USA in Europa riesige Raketen aufstellen, die auf die Zerstörung strategischer Zentren und Objekte in Russland zielen. Wichtige Stützpunkte und das russische Atomwaffenarsenal selbst wären dann drei bis fünf Flugminuten von Polen entfernt. Auf US-amerikanische Raketen zu reagieren wäre praktisch unmöglich. Das kann gefährlich sein und könnte dazu führen, dass Russland zur Ausarbeitung eines Präventivschlags übergeht. Im Ernstfall wird Russland nicht warten, bis eine Rakete fliegt, sondern wird als erstes zuschlagen, was die Situation auf der ganzen Welt angespannt macht. Das ist die größte militärische Gefahr. 

    Das Gute ist, dass die Rhetorik von der russischen Einmischung verstummen könnte. Sie wird nicht ganz verschwinden, aber sie wird nicht mehr so im Vordergrund stehen. 


    „Beide Länder verstehen sich als Imperien – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung“

    Nina Chruschtschowa, Politikwissenschaftlerin, New School, New York, Original

    Die Probleme in den russisch-amerikanischen Beziehungen sind deutlich gravierender als die Beziehungskrise zwischen den Länderchefs, unabhängig von ihrer persönlichen Politik. Beide Länder verstehen sich als Imperien, die im Zentrum des Weltgeschehens stehen – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung.

    Amerika – die strahlende „City upon a Hill“, die „große Demokratie“ und so weiter (Trumps Verkünden der amerikanischen Überlegenheit war keineswegs etwas Neues) – braucht es, dass alle die USA als überlegen anerkennen und so werden wollen wie sie. Russland besteht seit Jahrhunderten darauf, dass es eine Weltmacht und keine Regionalmacht ist (Obama hat Putin mit dieser Bezeichnung nach der Krim-Annexion schwer verletzt), und wird hinter niemandem herlaufen. Kopieren ja, wenn es um politische Formeln, Kino, Food Courts und so weiter geht. Aber die amerikanische Überlegenheit anerkennen – auf keinen Fall.

    Alle „Großmächte“ brauchen einen „Großfeind“. Für Russland ist das Amerika – und umgekehrt genau so.

    Ich habe viele Jahre als wissenschaftliche Assistentin für George Kennan gearbeitet, den berühmten amerikanischen Diplomaten, der US-Botschafter in der UdSSR und Philosoph des Kalten Kriegs war. Der hat gesagt, dass Russland und die USA Spiegelbilder seien. Beide Länder leiden unter einem Größen- und Heilsbringer-Komplex.

    In seiner Siegesansprache hat Biden gesagt, dass er die „Seele Amerikas heilen“ will. Diese Seele war unter jeder Administration die eines Messias. Der mit fast 78 Jahren gewählte Präsident Biden wird wohl kaum seine außenpolitischen Ansichten ändern, die sich in Zeiten der Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA geformt haben. Und Putin ist selbst genug Messias, mit ebensolchen internationalen Ambitionen.

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