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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zettel-in-die-Urne-Werfen statt Wählen

    Zettel-in-die-Urne-Werfen statt Wählen

    Trotz einiger weniger Achtungserfolge der Opposition verlief der Einheitliche Wahltag am 13. September in den meisten Regionen Russlands ohne Überraschungen: Die Regierungspartei Einiges Russland gewann die Mehrheit in den regionalen Parlamenten, die Gouverneurssitze wurden von den Kreml-Kandidaten besetzt. 

    Schon seit geraumer Zeit gilt der Gang an die Wahlurne in liberal-demokratischen Kreisen Russlands nicht wirklich als Wählen. In einem Autoritarismus, so heißt es in der Politikwissenschaft, dienen Wahlen ja ohnehin nicht zur Legitimierung eines politischen Systems, sondern vielmehr zur Herstellung von Akzeptanz und Akklamation. Akklamation gilt als emotionale Zustimmung zur autoritären Herrschaft: Sie fußt nicht auf rationalen politischen Entscheidungen, sondern eher auf Stimmungen und Symbolen.

    Vor diesem Hintergrund hatten Wahlen in Russland bislang zumindest eine symbolische Bedeutung. Unabhängige Medien berichteten darüber, es gab stets ein gewisses öffentliches Interesse. Das blieb am Einheitlichen Wahltag 2020 jedoch gänzlich aus, meint Dimitri Trawin. Für den Wirtschaftswissenschaftler keine Überraschung – „denn niemand braucht wirklich diese Wahl“. Was vom „Zettel-in-die-Urne-Werfen“ zu halten ist, kommentiert er in der Novaya Gazeta.

    Wahlen kann man dieses Zettel-in-die-Urne-Werfen nicht mehr nennen. Es gab mal eine Zeit, da weckten selbst derartige „Unwahlen“ Interesse in der Gesellschaft. Diesmal war jedoch kein Interesse festzustellen. Und das ist kein Wunder. Das Schlimme ist, dass im Grunde niemand diese heutige Art und Weise der Abstimmung braucht. 

    Erstens: Die Abstimmung kann nicht genutzt werden, um das Putin-Regime zu legitimieren, deshalb ist sie für die Machthaber nicht besonders interessant. Die Manipulation der Wähler hat ein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie nicht mehr als Manipulation durchgeht, sondern als offene Fälschung, als Imitation von Wahlen. Ungefähr so wie in dem beliebten Witz, der derzeit bei den belarussischen Protesten kursiert: „Ein Mann geht die Straße entlang, die Miliz greift ihn sich und prügelt auf ihn ein. Er schreit: ,Bitte nicht schlagen, ich habe Lukaschenko gewählt!‘. Darauf die Antwort: ,Lüg doch nicht. Keiner hat ihn gewählt.‘“

    Unterm Strich hält sich Lukaschenko schon heute nur an die nackte Gewalt, und Putin wird morgen dasselbe tun. Die Meinung des Volkes ist nicht mehr so wichtig, die Zettelchen, die es braucht, um die Formalitäten einzuhalten, landen auch so in der Urne.

    Zweitens eröffnet diese Art der Abstimmung, anders als echte Wahlen, der Opposition keine Möglichkeit für einen Machtwechsel, und deshalb verlieren auch diejenigen das Interesse am Wahlgang, die gegen Putin eintreten. Wie hieß es doch so schön in der Sowjetzeit: Wählen oder Nicht-Wählen – du kriegst sowieso Einiges Russland oder im äußersten Fall die Kommunistische Partei oder die LDPR. Sogar die, die sich kürzlich noch für [Nawalnys – dek] Smart-Voting-Konzept starkmachten, verlieren jetzt das Interesse daran. Denn die Idee des Smart-Votings basiert darauf, dass der stete Tropfen den Stein höhlt. Doch diese Art, das Regime langsam auszuhöhlen, gefällt nur einigen wenigen. Nämlich nur denen, die der Meinung sind, dass man am Wahltag nicht auf dem Sofa sitzen kann, sondern irgendwas tun muss, und sei es noch so aussichtslos. Der Großteil aber will Ergebnisse, und zwar hier und jetzt. Das Smart-Voting ergibt hier und jetzt viel zu wenig, um das Interesse einer auch nur halbwegs breiten Masse wachzuhalten.

    Drittens ist diese Abstimmung nicht mehr interessant für die, die die Dynamik des politischen Wettkampfs lockt. Es ist schwer heute etwas Langweiligeres zu finden als den Gang zum Wahllokal. Niemand kämpft mit niemandem, niemand verspricht irgendetwas Neues, niemand spinnt Intrigen, niemand behauptet, dass sich das Schicksal des Landes just an diesem Tag entscheidet. Die Leute zu überzeugen, an einer solchen Abstimmung teilzunehmen ist so, als wolle man die Fans der englischen Premier League zu einem Fußballspiel zwischen Bolzplatzmannschaften schleppen, am besten noch mit einem gekauften Schiri.

    Es ist besser, die Aufzeichnungen der Wahlen vor 30 Jahren anzuschauen als live dieser heutigen Ödnis beizuwohnen.

    Klar, wenn es an die Putinwahl 2024 geht, wird es unterhaltsamer. Nicht, dass Konkurrenz auftauchen würde, aber immerhin werden die Fernsehleute halbherzig irgendwelche Shows zusammenschustern mit Titeln wie Heimat in Gefahr! oder CIA gegen Putin!. Doch auch ein solcher Rummel wird den Wähler kaum motivieren, persönlich am Zettel-in-die-Urne-Werfen teilzunehmen.

    Viertens ist die Abstimmung auch für ältere Leute unglücklich organisiert – für Leute, denen total langweilig ist und für die der Urnengang mitunter das wichtigste Ereignis im Jahr ist, ein Ritual, das sie an die eigene Jugend erinnert. 
    Für große Teile jener Wählerschaft ist die Datschensaison noch nicht abgeschlossen. Die Ernte vom Feld zu holen ist wichtiger, als Urnen mit Wahlzetteln zu bepflanzen. Außerdem zählt genau diese ältere Wählerschaft zur Corona-Risikogruppe. Da die Infektionszahlen wieder steigen, versuchen die Menschen, unnötige Gefahren zu vermeiden. Der Gang zum Wahllokal oder gar die vorzeitige Rückkehr von der abgelegenen Datscha in die von Menschen überfüllten Städte – das ist definitiv ein überflüssiges Risiko. 

    Abgesehen von den Wählern, braucht diese Abstimmung eigentlich auch niemand von denen, die sich beruflich mit politischen Ereignissen befassen: 

    Journalisten brauchen diese Abstimmung nicht, da sie Nachrichten bringen sollen, aber das Zetteleinwerfen mit vorher feststehendem Ergebnis ist keine Nachricht. 
    Soziologen brauchen diese Abstimmung nicht, weil sie nichts darüber aussagt, wer wählt, sondern nur darüber, wer zählt.
    Politologen brauchen diese Abstimmung nicht, denn sie finden zwar interessant, wer da zählt, doch das erfährst du nur, wenn du den Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich im Kreml analysiert und nicht den Gang der angeleinten Schoßhündchen zur Wahlurne 
    Wirtschaftsexperten brauchen diese Abstimmung nicht, denn allein die Annahme, die Ergebnisse könnten irgendeinen Einfluss haben auf die Wirtschaftspolitik, ruft einzig einen Lacher hervor.

    Doch die Abstimmung darf nicht abgeschafft werden. Die amtierenden Autokraten tun so etwas nicht. So wird sie uns so lange begleiten, bis das System zusammenbricht. Und danach werden wir auf seinen Ruinen die gesamte Institution der Wahlen neu errichten müssten. 

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  • Warum die USA den Zerfall der UdSSR nicht wollten

    Warum die USA den Zerfall der UdSSR nicht wollten

    Um den Zerfall der Sowjetunion ranken sich in Russland heute viele Mythen. Die Schuldfrage für das, was Wladimir Putin 2005 als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat, erhitzt in Russland immer noch viele Gemüter. 

    Für die einen war Gorbatschow der „Totengräber der Sowjetunion“. Für die anderen haben die USA den Sargnagel eingeschlagen: Während des Kalten Krieges hätten sie alles daran gesetzt, die Sowjetunion zu vernichten. 

    Steile These, meint Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin, die keiner Prüfung standhalte. In der Serie Mythen in Russland unter Putin in der Novaya Gazeta argumentiert er auch gegen diesen Mythos.

    Kurz vor Silvester 1991 ist Michail Gorbatschow zurückgetreten, und damit war der Schlusspunkt unter die Geschichte der UdSSR gesetzt. Viele sind der Ansicht, dass es Amerika war, das unser Land damals zugrunde richtete. Es sind zwar bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA oder das US-Außenministerium Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätten, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht. Der Untergang der Sowjetunion aufgrund der Konfrontation der Großmächte erscheint ihnen vollauf logisch. Schließlich weiß ja jeder, dass wir uns mit Washington im Kalten Krieg befanden. Dass der wichtigste und gefährlichste Gegner die USA waren. Dass die Amerikaner daran interessiert waren, den Gegner zu schwächen. Und wenn es darum geht, ihn zu schwächen, dann heißt das nach Möglichkeit auch: ihn zu zerstören. Wenn nun die UdSSR zerfallen ist, bedeutet das also: Die in Übersee gesponnenen Intrigen haben schließlich gefruchtet.

    Es sind bis heute keine Belege aufgetaucht, dass die CIA Gorbatschow und Jelzin bezahlt hätte, doch das stört die Anhänger dieser Verschwörungstheorie nicht

    Einen überzeugten Verschwörungstheoretiker kann man nicht umstimmen. Aber mit vernünftig denkenden Menschen kann man über die Logik solcher Gedankengänge sprechen, weil ja das Bestreben, den Gegner zu schwächen, in der Tat kein Mythos ist. Das Vorhaben jedoch, die UdSSR vollständig zu Grunde zu richten, ist Mythos par excellence. Ein Zusammenbruch der UdSSR war nicht das Bestreben der USA. Gorbatschow war der amerikanischen Führung sympathisch. Sie hätte es lieber gesehen, dass er unser Land weiter regiert anstatt dass da, wo einst die Sowjetunion war, eine große Anzahl selbständiger Staaten mit unberechenbaren Herrschern entsteht. Natürlich gab es in den USA unverbesserliche Hardliner, die unser Land derart hassten, dass sie bereit waren, selbst dann dagegen vorzugehen, wenn es zum Schaden ihres eigenen Landes ist. Diese Leute haben aber keine Entscheidungen auf staatlicher Ebene getroffen und keinen Einfluss auf die praktische Politik gehabt.

    Es hat womöglich einen Moment gegeben, an dem die USA tatsächlich einen Zerfall der UdSSR gewollt haben könnten, nämlich 1962, während der Kubakrise. Damals hatte Washington etliche Gründe anzunehmen, dass die Regierung in Moskau unberechenbar und die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges sehr groß ist. 

    Danach allerdings gestaltete sich die Lage besser und besser. Für sie wie auch für uns. Zuerst gelang es, die Kubakrise zu bewältigen. Die UdSSR stationierte keine Raketen auf Kuba. Danach beseitigte die Parteiführung der UdSSR Nikita Chruschtschow, der unglaublich impulsiv war und imstande, mit dem Schuh auf das Rednerpult der UNO zu schlagen und zu verkünden, dass wir Amerika erledigen. An der Spitze des Sowjetregimes stand nun Leonid Breshnew, der den Zweiten Weltkrieg durchlebt hatte und daher dem Frieden zugeneigt war. 1972 setzten ernsthafte Kontakte zwischen Washington und Moskau ein. 1975 haben wir die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet, in der die Unverletzlichkeit der Nachkriegsgrenzen in Europa anerkannt wurde. Es gab intensive Gespräche über Rüstungsbeschränkung für bestimmte Waffentypen. 

    Wir können also sagen: Wenn die Amerikaner Anfang der 1960er Jahre noch wirklich an die Möglichkeit eines Atomkrieges geglaubt und Luftschutzräume eingerichtet hatten, so war in den 1980er Jahren beiden Seiten  bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird.

    In den 1980er Jahren war beiden Seiten  bewusst, dass es keinen globalen Krieg geben wird

    Die Führer der beiden Staaten beschimpften einander, und die Propagandisten verbreiteten ideologische Klischees, die einen Teil der Normalbürger beunruhigen sollten, die meisten ließen sich aber keine Angst mehr machen. 

    Und als Gorbatschow mit seinem Konzept des neuen Denkens kam und dann in ein Ende der sowjetischen Kontrolle über die Länder Mittel- und Osteuropas einwilligte, sank die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges nahezu gegen null. Es sei denn, jemand hätte versehentlich den Roten Knopf gedrückt.

    Eben jener Knopf führt uns vor Augen, dass die USA 1991 keineswegs einen Untergang der UdSSR wollten. Jeder noch so antiamerikanisch eingestellte Mensch wird nach einigem Nachdenken zugeben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand versehentlich den Knopf drückt, größer wurde, nachdem der zugängliche und berechenbare Gorbatschow abgetreten war. Außerdem stieg die Wahrscheinlichkeit eines ungewollten Krieges gar nicht so sehr wegen der Führungswechsel, sondern aufgrund des Zerfalls des Staatsapparates, der mit dem Untergang der Sowjetunion einher ging. Es kamen in den unterschiedlichen Republiken unterschiedliche neue Leute an die Macht. Mitunter ganz zufällig. Und die Atomwaffen hätten schlicht außer Kontrolle geraten,  für Geld in die Hände von Terroristen oder Banditen gelangen können. Es gibt übrigens eine ganze Reihe amerikanischer Filme, die so anfangen, dass Privatleute in den Besitz von Massenvernichtungswaffen kommen wollen, um die ganze Welt zu erpressen. Hier werden in der Kunst recht genau tatsächlich bestehende Ängste abgebildet.

    Die USA wollten allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR

    Die USA wollten also allein wegen ihrer eigenen Sicherheit keinen Zerfall der UdSSR. Und nachdem dieser dennoch eingetreten war, wollten sie ein starkes, verlässliches Russland, das die Atomwaffen aus den anderen postsowjetischen Staaten übernimmt. Die verbreitete Vorstellung, dass der Kalte Krieg unbedingt auf einen Zweikampf der Kontrahenten hinauslaufen müsse, und zwar bis zur Vernichtung des Gegners, hält keiner Prüfung stand, weder der Fakten noch der Logik.

    Es ist wichtig, dass uns das klar wird. Nicht, um Amerika zu rechtfertigen. Amerika kratzt das sowieso kein bisschen. Wichtig ist es, damit wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Wenn nämlich die Massen meinen, Amerika habe die UdSSR zugrunde gerichtet, dann wird die Gesellschaft nicht in der Lage sein, die wirklichen Gründe dafür zu verstehen, wie diese Großmacht tatsächlich in den völligen Niedergang glitt. Und diese Massen sind leicht zu manipulieren. Wenn wir uns die Köpfe nicht mit lauter Quatsch vollstopfen, werden wir bald verstehen, wie viele Probleme es in der sowjetischen Politik und Wirtschaft gegeben hat. Und genau sie waren es, die die UdSSR in den Untergang getrieben haben.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Der Westen als Vorbild?!

    Der Westen als Vorbild?!

    Wenn westliche Russland-Experten dasselbe behaupten wie die russische Staatspropaganda, dann zweifeln viele automatisch an diesen Expertenmeinungen. In einem Punkt sind sich jedoch die meisten einig: dass der Westen sich gegenüber Russland oft bigott und arrogant verhalten habe. 

    Das Feindbild des arroganten und doppelmoralischen Westens gilt für viele Beobachter als die wichtigste Legitimationsgrundlage für das System Putin. Heißt es aber im Umkehrschluss, dass diese Grundlage ins Bröckeln käme, wenn westliche Länder etwa keine Projektionsfläche für „doppelte Standards“ böten? 

    Dieses Gedankenspiel beschäftigt den Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin auf Republic. Seine Überlegungen zum sogenannten Sonderweg Russlands und die Rolle des Westens dabei hat er kürzlich in einem Buch veröffentlicht.

    Ab und zu werde ich von ausländischen Journalisten gefragt, welchen Einfluss die Sanktionen auf die Lage der Dinge in Russland haben. Meine Antwort ist für gewöhnlich, dass sie Putins Regime gestärkt haben. Und: Falls ihr Land die Absicht gehabt haben sollte, den russischen autoritären Führer zu unterstützen, so kann man sagen, dass dies durchaus gelungen ist. 
    Die Wahrnehmung von einer belagerten Festung, die durch das Fernsehen bei den Zuschauern entsteht – wobei die Sanktionen eines der Argumente sind – führt zu dem logischen Schluss, dass man „die Pferde nicht mitten im Rennen wechselt“ und somit zu dem Wunsch, sich um Wladimir Putin zu scharen.

    Die belagerte Festung

    Oft sind meine Gesprächspartner verwundert. Schließlich hatten sie angenommen, dass die Sanktionen für Putin eine Strafe für Krim und Donbass sein sollten. Mich verwundert etwas anderes: Der enge Denkhorizont der westlichen Politiker und Journalisten. 
    Manchmal lenke ich das Gespräch auf ein angrenzendes Thema und sage: Falls Sie Russland wirklich helfen wollen, dann kehren Sie erstmal vor der eigenen Tür, machen Sie sich zu einem wahrhaften Vorbild für Entwicklungsländer, wie wir eines sind. Das wäre die beste Unterstützung für die Demokratie in Russland. O weh, nach einer solchen Wendung verlieren die Gesprächspartner gewöhnlich jedwedes Interesse am Thema.

    Schade eigentlich. Denn eine echte Auseinandersetzung mit der Frage, was aus Russland wird und wie der Westen der Demokratie in Russland helfen kann, beginnt gerade dort, wo es um den Zustand der Demokratien im Westen geht. Schließlich sind die Sanktionen nicht mehr als eine formale Reaktion auf die Politik des Kreml. Das sind Pflichtübungen des Westens, aber kein Vorgehen nach gesundem Menschenverstand. Politiker mussten reagieren, damit sie von der Opposition nicht der Untätigkeit bezichtigt werden, und sie haben reagiert. Das aber, was den Westen jetzt wieder für uns attraktiv mache könnte, verlangt von den ausländischen staatlichen Akteuren keine Reaktion „aus Pflichtbewusstein“, sondern einen tiefgreifenden Wandel.

    Zum Beispiel Katalonien

    Ein aktuelles Beispiel: Die spanische Staatsanwaltschaft hat 25 Jahre Gefängnis für den stellvertretenden Ministerpräsidenten Kataloniens gefordert, der des Separatismus beschuldigt wird. Man will jemanden nur deshalb praktisch lebenslang hinter Gitter bringen, weil er die Unabhängigkeit seiner Heimat erreichen wollte, und zwar nicht durch einen Militärputsch, sondern mit demokratischen Mitteln. Man kann über den katalanischen Wunsch, den spanischen Staat zu verlassen, unterschiedlicher Meinung sein, doch gibt es im Grunde keinen Zweifel daran, dass es der aufrichtige Wunsch eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft ist und nicht eines kleinen Grüppchens von Aufrührern. Das heißt, dieser „Separatismus“ ist eine politische Frage, keine strafrechtliche. Und die muss über einen Dialog mit den „Separatisten“ gelöst werden, und nicht so, wie die spanische Staatsanwaltschaft es angeht.

    Vor dem Hintergrund des Vorgehens der „spanischen Demokratie“ erscheint das Vorgehen des Kreml zur Festigung des „vereinten und unteilbaren“ Russlands (um es mit einer Parole der Weißen im Bürgerkrieg zu formulieren), durchaus akzeptabel. Immerhin legitimiert eines der führenden Länder Europas mit seinem Vorgehen praktisch jedwede Unterdrückung von Separatismus in Entwicklungsländern. Jeder autokratische Politiker kann jetzt sagen, dass das Bestreben eines Volkes, aus einem Imperium auszuscheiden, sogar aus Sicht europäischer Demokratien scharf unterbunden werden muss. 

    Autoritäre Bestrebungen in der EU

    Ein weiteres Beispiel: Ein Vierteljahrhundert (von dem Moment der Samtenen Revolutionen 1989 in Mittel- und Osteuropa an) wurde davon geredet, dass die Tschechen, Slowaken, Polen, Ungarn, Bulgaren und Rumänen bewusst den Weg der Demokratie gewählt hätten und dass die Erfolge dieser Völker auf deren Streben nach europäischen Werten beruhen würden. Heute jedoch können wir beobachten, wie in Ungarn die Grundlage für ein autoritäres Regime gelegt wird. Und die derzeitige polnische Regierung wurde von einem bekannten demokratischen Politiker des Landes in meiner Anwesenheit als „Liliput-Regime“ bezeichnet – also ein seinem Wesen nach Putinsches Regime, nur weniger hart.

    Wobei die Verstärkung autoritärer Bestrebungen in Mittel- und Osteuropa längst nicht das Wichtigste ist, das den Autoritarismus in Russland stärkt. Über Polen und Ungarn wird selbst in unserem Fernsehen nicht viel gesprochen (es ist kein sonderlich bequemes Thema für die Propaganda). Das größte Problem ist die Ukraine. Niemand hat mehr für die Festigung des Putinschen Regimes getan als die Akteure in der ukrainischen Politik in den letzten Jahren. Sie haben mit ihrer absoluten Ineffizienz ein praktisch ideales Beispiel geschaffen, das sich endlos im russischen Fernsehen hin- und her wälzen lässt. Dem Durchschnittsbürger wird dabei Angst gemacht, was mit unserem Land geschieht, falls anstelle des „großen Putin“ ein Maidan kommt und eine antistaatliche Elite antritt, die eine Demokratisierung der Gesellschaft anstrebt.

    Vor 15 Jahren (während des ersten Maidan) hatte es viel Hoffnung gegeben, dass die Ukraine Russland beispielhaft eine wirkungsvolle demokratische Entwicklung vor Augen führen werde. Leider ist nichts dergleichen geschehen. Die Ukraine ist ein Beispiel für einen demokratischen, aber ineffizient funktionierenden Staat. In Lateinamerika hat es eine Vielzahl solcher Beispiele gegeben, und auch heute stehen die Dinge in einigen Ländern nicht besser. Aber das ferne Amerika ist eine Sache – die uns (territorial und kulturell) nahestehende Ukraine, die zu einem der ärmsten Staaten Europas geworden ist, eine andere.

    Natürlich lässt sich die Oberhand des heutigen Russlands in Bezug auf die Ukraine nicht an den Vorteilen der Putinschen Autokratie gegenüber einer schwachen Demokratie festmachen. Aller Wahrscheinlichkeit nach befände sich die Wirtschaft in Russland – wenn wir nicht all das Öl und Gas hätten – ungefähr auf dem gleichen Niveau wie die der Ukraine. Das sind aber „Feinheiten“, in denen die Experten graben können. Für den russischen Durchschnittsbürger ist die Ukraine ein klassisches Beispiel dafür, was man nicht tun sollte. Nicht umsonst widmet das russische Fernsehen diesem Land derart viel Aufmerksamkeit. Gäbe es das Phänomen Ukraine nicht – der Kreml müsste es im eigenen Interesse erfinden.

    Die US-amerikanische Tragödie

    Lassen wir nun trotzdem die Politik beiseite und wenden uns der Wirtschaft zu. Hier gibt es ein für uns äußerst wichtiges Beispiel: Griechenland, ein Land, das in eine ernste Krise gestürzt ist, weil es nicht in der Lage war, mit seinen Mitteln zu haushalten. Der Fall Griechenland führte aller Welt (auch den russischen Normalverbrauchern) vor Augen, dass die westlichen Länder eine Pyramide aus Staatsschulden anhäufen. In der Regel brechen solche Pyramiden nicht zusammen, aber wer weiß schon, wie das in Zukunft sein wird? Und so wird in der Bevölkerung Russlands die Vorstellung immer populärer, dass die USA überhaupt nichts außer grünen Papierchen produzierten und dieses Land nur ein Parasitendasein friste. Statt von effizienten amerikanischen Unternehmen zu lernen, wie eine Marktwirtschaft zu führen ist, richtet Russland seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Ineffizienz des amerikanischen Staates, auf die Ineffizienz des Militarismus und der sozialen Sicherungssysteme, durch die die Staatsschulden genährt werden.

    Das wichtigste Problem mit Amerika liegt allerdings weniger in der Pyramide der Staatsschulden. Ich erinnere mich sehr wohl, wie leicht in der Ära von Gorbatschows Perestroika Überlegungen aufgenommen wurden, dass die USA nicht so sehr unser Feind als vielmehr ein interessantes Beispiel einer effizienten Wirtschaft sind, die es ernsthaft zu studieren gilt. Die langjährige antiamerikanische Propaganda der Sowjetunion hat kaum zu einer tiefen Verwurzelung antiamerikanischer Gefühle geführt. Das Durcheinander in unserem Land erzeugte bei normalen Leuten das natürliche Bedürfnis, positive Beispiele im Ausland zu suchen. Da sich die Erwartungen, dass wir wirtschaftlich genauso erfolgreich wie Amerika sein würden, nicht erfüllten, änderte sich die Lage in den 1990er Jahren jedoch allmählich. Den heftigsten Schlag für die eigene Reputation fügten sich die Amerikaner allerdings selbst zu. Der Krieg im Irak und das aktive Bestreben, in diversen Regionen der Welt den politischen Einfluss der USA zu verstärken, führten zu einer Akzentverschiebung im Diskurs – weg von den Erfolgen der amerikanischen Wirtschaft hin zu den Niederlagen der amerikanischen Außenpolitik. Und heute ist es selbst im Gespräch mit eher intellektuell angehauchten Menschen sehr viel schwieriger, über positive amerikanische Erfahrungen zu sprechen als noch vor 30 Jahren.

    Große Reformen oder Great Depression?

    Die Wahl unseres Weges wird zu großen Teilen davon abhängen, ob die Länder des Westens in der Lage sein werden, das eigene Haus in Ordnung zu bringen, bevor das Putinsche Regime in die Krise gerät und in Russland erneut über Veränderungen nachgedacht wird. In der Geschichte Russlands ist es mehrfach so gewesen, dass durch positive Erfahrung in Europa eine Verwestlichung angeregt wurde, während negative Erfahrungen nach einem Sonderweg suchen ließen.

    Die Petrinischen Reformen sind unter anderem darauf zurückzuführen, dass der junge Zar den klaren Vorsprung der führenden europäischen Länder beim Schiffbau, bei der Organisation der Armee, im Finanzwesen und bei der Entwicklung jener Bürokratie gesehen hatte, ohne die keine Steuern eingetrieben, kein Militärhaushalt erstellt und keine Armee mit Essen, Kleidung und Munition versorgt werden können. 
    Die Großen Reformen Alexanders II. waren zu erheblichen Teilen dadurch bedingt, dass es in verschiedenen europäischen Ländern mehr Freiheiten gab und damit auch ein wirtschaftlicher Fortschritt verbunden war: Man denke nur an die Abschaffung der Leibeigenschaft in Preußen und Österreich-Ungarn und die Umsetzung der Freihandelspolitik in England und Frankreich. Die Perestroika unter Michail Gorbatschow wurde durch die deutlichen Erfolge der westlichen Wirtschaft angeregt – während sämtliche sowjetische Versuche scheiterten, das Warendefizit zu beseitigen und die Bürger der UdSSR wenigstens mit einem Mindestmaß an Waren zu versorgen, die für ein normales Leben gebraucht werden.

    In jenen Zeiten jedoch, als die Vorzüge des Westens eher zweifelhaft waren, in denen sich der Westen in seinen eigenen Widersprüchen verfing und riesige menschliche und ökonomische Verluste erlitt, verhielt Russland sich anders. So beförderte die Krise, die durch den Ersten Weltkrieg mit seinen gewaltigen Opfern ausgelöst wurde, eindeutig die Russische Revolution und – wichtiger noch – den Umstand, dass anschließend der fatale Weg des Bolschewismus eingeschlagen wurde. 
    In jener Zeit schien es, als würden die Phantasien der Marxisten eine Chance für Erfolg bedeuten, da der Weg, den die westliche bourgeoise Welt bereitet hatte, garantiert – wie Lenin schrieb – in einen monopolistischen, vor sich hin faulenden und parasitären Imperialismus führen werde, der in blutige Kriege mündet. Darüber hinaus trug die Weltwirtschaftskrise, die Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre in den Ländern des Westens ausbrach, dazu bei, dass sich die Illusion von der Effizienz des Stalinschen Wirtschaftsmodells verbreitete: Da werden Fabriken gebaut, da zeigt die Statistik nach oben, da bekommen die Menschen neue Arbeitsplätze und irren nicht – wie im Westen – als Arbeitslose umher.

    Wenn der Westen nicht bis zu dem Zeitpunkt, da eine Reform des Putinschen Systems einsetzt, als gutes Beispiel für Russland dasteht, wird es erneut eine Suche nach einem Sonderweg geben. Umso mehr, als nebenan China heranwächst, ein autoritär regiertes Land mit starkem BIP-Wachstum, beeindruckenden Bauten, strenger Disziplin … und mit vielen Problemen, die sorgsam vor fremden Blicken versteckt werden.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Kann Russland überhaupt Demokratie?

    Kann Russland überhaupt Demokratie?

    Brauchen die Russen eine harte Hand? Haben sie die Regierung, die sie eben verdienen und schließlich ja auch gewählt haben? Oder sind sie naiv und von der Staatsmacht verführt? Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin fragt und kommentiert auf Rosbalt.

    Dieser Artikel ist nicht für Menschen, die denken, dass an den russischen Problemen die Engländer, Amerikaner oder dеr Backstage-Bereich der Welt schuld sind, dass Obama in unsere Hauseingänge gepisst hat, und Uljukajew (aus dem Kerker) im Auftrag des CIA oder des State Department das Rentenalter anhebt. Dieser Artikel ist, genau genommen, nicht mal für die, die nach Schuldigen suchen, sondern für die, die mal richtig aufräumen und die Perspektiven unseres Landes verstehen wollen.

    Es gibt zwei uralte Bonmots zum Verhältnis von Staatsmacht und Gesellschaft. Das erste lautet: „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient“, das zweite: „Nach all dem, was die Regierung dem Volk angetan hat, ist es ihre Pflicht, das Volk auch zu heiraten.“ 
    Das erste Bonmot erlegt die Schuld dem Volke auf, das nicht in der Lage ist, sich für eine anständige Regierung zu entscheiden. Das zweite setzt die Beziehung zwischen Staatsmacht und Gesellschaft einer Vergewaltigung gleich, oder zumindest einer zynischen Verführung, bei der das naive, empfängliche Volk eher zu bemitleiden denn zu verurteilen ist.

     Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient

    Aus dem Unterschied dieser analytischen Ansätze ergibt sich auch ein Unterschied im praktischen Vorgehen. Wenn das Volk unfähig ist und selbst das Regime hervorbringt, das ihm das Fell über die Ohren zieht, dann hieße das, dass es für Russland wenig Hoffnung gibt: Unsere Wirtschaft wird auf ewig stagnieren, reich werden nur diejenigen, die Zugang zum Kreml haben, während für das Volk höchstens mal das Renteneintrittsalter, mal die Steuern erhöht werden. Und ergo jeder, der so nicht leben will, sollte sich wohl besser auf und davon machen.
    Wenn es sich bei dem Problem aber um Vergewaltigung oder Verführung handelt, dann gäbe es perspektivisch Hoffnung. Schließlich könnte das Leben ohne den Vergewaltiger oder Verführer anders werden, natürlich nur, wenn das Volk nicht auf ein Abenteuer aus ist, mit dem es sich ins eigene Fleisch schneidet.

    Auf den ersten Blick scheint es, als habe das Volk genau das, was es verdient. Wir gehen zur Wahl, werfen Stimmzettel ein, unterstützen ein ums andere Mal die immer Gleichen, auch wenn das Leben dadurch keineswegs besser wird. Wir liebedienern, fallen vor unserem Herrn auf Knie, damit er uns verschone und jene bestrafe, die uns beleidigen. Wir arbeiten schlecht: sind alle hinter dem Öl her, hinter dem Gas, oder wollen unbedingt bei den Silowiki unterkommen, in den Sicherheitsapparaten, wo das Einkommen höher ist und die Arbeit weniger … Wenn das Volk mehr in jenen Bereichen arbeiten würde, wo es keine monströsen Einkommen gibt, wo wenig gezahlt wird, der Nutzen für die Gesellschaft aber groß ist … Das wäre vielleicht gut …

    Rationales Verhalten

    Stopp. Wir bauen ja nicht den Kommunismus auf, sondern entwickeln eine Marktwirtschaft. Und wir erkennen an, dass wir des Geldes wegen arbeiten, dass wir unsere Familie gut versorgen und ein gemütliches Zuhause und ein Auto haben wollen – und nicht den Traum von einer lichten Zukunft, die irgendwann anbricht … oder wohl eher nicht anbricht. In der Marktwirtschaft – in unserer, in der finnischen, in der amerikanischen – versuchen die Menschen, sich rational zu verhalten, also eben dort zu arbeiten, wo es ihnen etwas bringt.
    Eine andere Frage ist jedoch, dass es in einigen Ländern etwas bringt, ein Unternehmen aufzubauen, sich fortzubilden, Geld in langfristige Projekte zu investieren, während es in anderen besser erscheint, beim Staat unterzukommen, in der Hoffnung, wenigstens einen kleinen Teil jener Ölrente zu ergattern, von der sich vor allem diejenigen eine Scheibe abschneiden, die Verbindungen zur obersten Etage der Macht haben. Bei uns ist das zweite der Fall.

    Einfacher gesagt, verhalten sich die Menschen bei uns ungefähr so wie Menschen in anderen Marktwirtschaften auch: Sie suchen sich einen Platz, wo es gut ist, und sind bei entsprechenden Anreizen bereit, ordentlich zu schuften. Unser Staat hat allerdings ein System von Anti-Anreizen geschaffen und nötigt die Gesellschaft weniger zur Arbeit denn zur Raffgier. Und die Leute raffen, wie an ihrer Stelle und unter diesen Umständen auch Finnen oder Amerikaner raffen würden. Eine Marktwirtschaft mit guten Institutionen (Spielregeln) ist eine Methode, um reicher zu werden. Eine Marktwirtschaft mit schlechten Institutionen bedeutet den Weg in den Niedergang.

    Rational in der Wirtschaft, irrational in der Politik?

    Aber halt, könnte nun jemand sagen, der der Ansicht ist, dass das Volk bei uns dennoch nicht ganz richtig tickt. In der Wirtschaft verhalten sich diese Menschen womöglich rational, fast wie die Menschen im Westen, aber in der Politik sind sie irrational. Sie wählen Putin und demzufolge jene hässlichen Spielregeln, die er für sie geschaffen hat. Somit wäre das Volk dennoch eines solchen Präsidenten mit all seinen Deputaten, Bürokraten, Abreks und Kunaks würdig.

    Nehmen wir einmal an, das Volk würde das verdienen. Doch wenn es unsere Aufgabe ist, nicht einfach nur das Volk zu verurteilen und selbst aus Russland zu verduften, sondern auch zu verstehen, was man tun kann, dann werden wir wiederum weniger vom Volk enttäuscht sein. 
    Schließlich versucht Putin strikt, jedwede Alternative zu ihm, dem Geliebten, aus der Politik fernzuhalten, und versetzt den Wähler in eine ausweglose Lage. Wahlen geraten zu einem formalen Urnengang ohne reale Wahl – und die scheinbare Demokratie wird zu einem typischen autoritären Regime. In diesem Regime macht es keinen besonderen Unterschied, ob wir für Putin stimmen oder etwa diese Farce von Wahl boykottieren. Ein rational veranlagter Wähler denkt sich doch: Wenn mir die Wahl geboten wird zwischen einem realen Anführer, mit dem ich schon fast 20 Jahre mehr schlecht als recht lebe, und einer Truppe Clowns, von denen wer weiß was zu erwarten ist, wäre es da nicht besser, Putin zu unterstützen?

    Und die Deutschen?

    Rein moralisch erscheint mir persönlich eine solche Auswahl sehr schlecht. Aber wie bei der Abwanderung in die Sicherheitsbehörden oder in die Gaswirtschaft um des vielen Geldes wegen wirkt eine Stimmabgabe für Putin rational. Unser Wähler fürchtet das Chaos, ganz wie es auch der wohlsituierte Bürger eines westlichen Landes fürchtet. Allerdings wäre da noch der Umstand, dass der russische Durchschnittsbürger heute die Gefahren eines Lebens ohne das Patronat Putins sehr übertreibt, was angesichts der Propaganda, die sich über sein schwaches Haupt ergießt, auch nicht verwunderlich ist. In einer solchen Situation wären die Deutschen genauso durch den Wind wie Angehörige vieler anderer Nationen, die heute durchaus als zivilisiert angesehen werden.

    Die Deutschen, wie auch andere Völker hatten jene menschenverachtenden Regierungen durchaus verdient, die sie sich geschaffen hatten. Und sie verhielten sich diesen Regierungen gegenüber durchaus rational. Wobei sie mit dieser Rationalität bis zur Unmenschlichkeit gingen. So ermordeten sie beispielsweise Juden, weil diese Grausamkeit damals befördert wurde. Und als das Regime gewechselt hatte, machten sich die Deutschen umgehend an den Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft mit Demokratie und Toleranz. Weil unter dem neuen Regime genau dies befördert wurde. 
    Aus moralischer Sicht ist die Leichtigkeit, mit der ein Volk sich einerseits dem Bösen, andererseit dem Guten hingeben kann, natürlich widerwärtig: Nicht umsonst zeigen die Deutschen bis heute Reue. Wenn wir jetzt nicht das Problem der Moral analysieren, sondern der Frage einer normalen gesellschaftlichen Entwicklung nachgehen wollen – nach dem Wechsel von einem menschenverachtenden Regime hin zu einem menschlichen – stellt sich heraus, dass so etwas durchaus möglich ist.

    Das Rationale gerät zum Konformismus

    „Also ist es so, dass jedes Volk jederzeit in der Lage ist, eine Demokratie zu errichten?“, würde jetzt lächelnd ein Skeptiker fragen, der nicht an die Möglichkeit glaubt, dass sich Russland entwickeln könnte. Natürlich nicht jedes Volk. Eine normale Entwicklung ist für gewöhnlich dann nicht möglich, wenn in der Gesellschaft irrationales Verhalten gegenüber rationalem eindeutig dominiert. Wenn man also, sagen wir mal, unbedingt Kommunismus aufbauen will, auch wenn einem der gesunde Menschenverstand sagt, dass sich das nicht umsetzen lässt. Oder wenn Gebete als Mittel zur Lösung von Problemen des Diesseits (Lohnerhöhung, bestandene Prüfungen usw.) angesehen werden. Oder wenn plötzlich freigesetzte Leidenschaft über den Verstand dominiert.

    Vor rund hundert Jahren dominierten in Russland Leidenschaften, Gebete und phantastische Träume der breiten Masse deutlich über dem rationalen Wunsch eines kleinen Teils der Gesellschaft nach dem Aufbau von Marktwirtschaft und Demokratie. Heute ist das umgekehrt. Die Massen sind höchst rational geworden. Allzu rational, wie es manchmal scheint. Das Rationale gerät zum Konformismus und zu offenem Opportunismus und Duckmäusertum. Bei Leuten mit Gewissen ruft das Abneigung hervor. Und es fallen Schlagwörter wie: „Gesocks“, „Watniki“, „Sowok“.

    Nichtsdestotrotz können die pragmatischen, rationalen und konformistisch eingestellten Russen – wie in der Vergangenheit auch andere Völker – leicht zu normalen Bürgern einer zivilisierten Welt werden, wenn das Regime aufhört, uns alle möglichen destruktiven Stimuli zu bieten.

    Normale Wahlen bringen uns dazu zu überlegen, welcher Kandidat besser ist (wie es die Menschen Anfang der 1990er Jahre taten). Eine normale Wirtschaft bringt uns dazu, Waren herzustellen, die nachgefragt werden (wie es Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre der Fall war), und nicht dazu, sich einem gaunerhaften Staat anzudienen.

    Wie aus diesem destruktiven System ein normales Russland aufzubauen wäre, ist eine gesonderte Frage, die sich in einem kurzen Artikel nicht erörtern lässt. Dass aber unser Volk bei vernünftigen Spielregeln zu einer konstruktiven Entwicklung in der Lage ist, daran habe ich persönlich keinen Zweifel.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Warum es unter Putin keine Reformen geben wird

    Warum es unter Putin keine Reformen geben wird

    Was ist der Unterschied zwischen einem Staat und einer Räuberbande? Diese Frage hat der Philosoph Augustinus im 5. Jahrhundert gestellt. Seine Antwort gehört zu den geläufigsten politikwissenschaftlichen Abgrenzungen: Es ist das Recht, was den Staat ausmacht; eine Räuberbande ist demgegenüber vor allem durch Willkür gekennzeichnet.

    Im Rechtsstaatlichkeits-Ranking von The World Justice Project besetzte Russland 2017–2018 Platz 89 von 113, weit abgeschlagen hinter Botswana oder Malawi beispielsweise. Viele russische Putin-Kritiker bemühen solche Afrika-Vergleiche, um auf Ungerechtigkeiten in der politischen Ordnung Russlands hinzuweisen. Sie sehen ihr Land kritisch als einen Selbstbedienungsladen für die politische Elite, vor allem für die Silowiki. Diese Amtspersonen, die in Sicherheitsorganen des Staates tätig sind, sind eigentlich mit der Ausübung des Gewaltmonopols betraut, um damit auch das Funktionieren des Rechtsstaats zu ermöglichen. Im Grunde würden viele von ihnen aber mehr einer Räuberbande gleichen, sodass es immer wieder zu willkürlichen Enteignungen komme, wie etwa im Fall Yukos, und es für Unternehmer keine Rechtssicherheit gebe. Ihre Argumentation untermauern Kritiker oft mit einem weiteren Ranking: Russland liegt auf Platz 138 von 180 im Korruptionsindex von Transparency International.    

    Unter Putin nahm die Zahl und die Bedeutung der Silowiki stetig zu. Viele Wissenschaftler sehen in dieser Elitengruppe sogar das Rückgrat des sogenannten System Putin. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl diskutieren sie nun vermehrt, was Putin tun kann, um die langanhaltende Stagnation zu überwinden. Auf Republic stellt auch der Wirtschaftswissenschaftler Dimitri Trawin die Frage: Da es offenbar kaum andere Möglichkeiten gibt, die Wirtschaft anzukurbeln, „könnte es da nicht vielleicht sein, dass Putin wenigstens jene zügelt, die über die Unternehmen herfallen“?

    Revolution, Evolution oder doch Stillstand –  wie groß ist Putins Reformwillen? / Foto © Marco Fieber/flickr.com
    Revolution, Evolution oder doch Stillstand – wie groß ist Putins Reformwillen? / Foto © Marco Fieber/flickr.com

    In den vergangenen Monaten, als klar wurde, dass es keine ernsthaften Reformen geben wird, nicht einmal nach den „Putin-Wahlen“ im März 2018, ist unter Optimisten die „Theorie der kleinen Dinge“ immer populärer geworden. Diese besagt im Wesentlichen, dass man das System in winzigen Schritten transformieren kann. Beispielsweise könne Putin dazu bewegt werden, die Willkür der Sicherheitsbehörden zu zügeln. Schließlich sprechen Wirtschaftsfachleute seit langem davon, dass Eigentum in Russland schutzlos ist, und dass die Überfälle auf Unternehmen für das Investitionsklima in Russland verantwortlich sind – das schlechter ist als das Märzwetter in St. Petersburg. Die Überfälle werden weniger von Banditen unternommen, als vielmehr von Leuten, die offiziell vom Staat zu unserem Schutz abgestellt werden. Wenn man die zügeln würde, dann bekäme das Land mir nichts dir nichts das Kapital, das es für eine Entwicklung braucht.

    Die „Theorie der kleinen Dinge“

    Die „Theorie der kleinen Dinge“ geht davon aus, dass Putin nicht auf sein Machtmonopol verzichten wird. Dass er sich nicht mit dem Westen versöhnen wird, weil er die Krim nicht herausrückt. Dass er die Bildung nicht fördern wird, weil er dafür kein Geld hat. Dass er nicht auf Importsubstitution verzichten wird, weil das ein Gesichtsverlust wäre.

    Könnte es da nicht vielleicht sein, dass er wenigstens jene zügelt, die über die Unternehmen herfallen? Dass das Regime zwar autoritär und autark bleibt, aber auch effektiver wird? Und wenn dieses Zwischenergebnis erreicht ist, würde das zu einem Meilenstein auf dem großen Weg zur Freiheit – weil wir noch nicht so weit seien, um diesen Weg gänzlich zu bewältigen.

    Derzeit ist allen – denen dort oben wie jenen unten – klar, dass Russland den Pfad einer lange währenden Stagnation eingeschlagen hat. Wie in dieser Situation die Macht gesichert wird und Wahlen gewonnen werden, wie das Volk „glücklich“ zu machen ist, auch wenn der Gürtel etwas enger geschnallt werden muss – dafür sind die Mechanismen bereits etabliert. 

    Die Rolle der Silowiki

    Für die Umsetzung dieser Strategie, die sich in etwa seit 2014 verfestigt hat, sind die Silowiki von immenser Bedeutung. Denn sie sind für einen Autokraten, der seine Macht realistisch einschätzt, sehr viel wichtiger, als illusorische Wünsche, die Wirtschaft mit Hilfe von Reformen wieder auf die Beine zu bringen. Die Silowiki existieren hier und jetzt. Sie sind durchschaubar, zugänglich und wohl motiviert. Ob die Wirtschaft aber am Gängelband der Silowiki wachsen wird, ist die große Frage. Was man allerdings sicher sagen kann, ist, dass angesichts aller für unsere Entwicklung höchst ungünstigen Umstände (Sanktionen, strukturelle Schieflagen, Kapitalflucht) die Wirtschaft selbst im besten Falle kaum jenes denkwürdige Wachstum von sieben Prozent des BIP erreichen wird – wie in den 2000er Jahren, als das Wachstum einen realen Einkommenszuwachs erzeugte und Putin eine aufrichtige Liebe des Volkes einbrachte. Wer würde in einer solchen Situation schon auf die Wirtschaft setzen, und nicht auf die Silowiki?

    Logik des Überlebens

    Es gibt allerdings ein Detail. Könnte es nicht sein, dass die Silowiki dermaßen außer Kontrolle geraten, dass sie die Stagnation zu einer Rezession machen, zu einer Rezession, die unabsehbar lang anhält, vernichtend wirkt und breite Bevölkerungsschichten auf ein Lebensniveau vor dem Maidan zurückwirft? Könnte es nicht passieren, dass sich die Silowiki von „stationären Banditen“ (nach Mancur Olson) zu „umherziehenden Banditen“ mausern? Dass sie endgültig auf Russland pfeifen, selbst auf Russland als ihren „Beute-Raum“, dass sie aus Russland alle Lebenssäfte absaugen und mit ihren Geldern in den Westen emigrieren, der günstige Lebensbedingungen bietet, und wo sich Millionen wohl versorgter ehemaliger Landsleute niedergelassen haben?

    Sollten die Dinge derart liegen, folgt daraus, dass bei einem Machterhalt der Silowiki sogar einem nicht wohlmeinenden Autokraten Gefahr droht. Er daselbst kann ja nicht emigrieren, da er eine allzu sichtbare Figur ist, die in der Weltpolitik keine geringen Spuren hinterlassen hat, und der bei vielen westlichen Richtern und Staatsanwälten den Wunsch geweckt hat, irgendeinen aufsehenerregenden Prozess anzustrengen. In Russland selbst erwartet ihn früher oder später eine soziale Explosion.

    Eine solche Entwicklung ist tatsächlich in einem gewissen Maße wahrscheinlich. Аllerdings hält die überwiegende Mehrheit der qualifizierten Wirtschaftsexperten nicht einen völligen Zusammenbruch, sondern Stagnation für die wahrscheinlichste Entwicklungsperspektive Russlands. 
    Heute weist kaum etwas darauf hin, dass der Lebensstandard künftig derart stark absinken könnte, dass die Leute von außenpolitischen Abenteuern und geistigen Klammern enttäuscht wären.

    Das eskalierende Vorgehen der Sicherheits- und Polizeibehörden, das – den Festnahmen von Gouverneuren und den innerelitären Konflikten nach zu urteilen – in unserem Land tatsächlich stattfindet, betrifft eher die Machtgruppen, nicht die Bevölkerung insgesamt. Im Zuge dieser Konflikte werden die eher schwächeren Silowiki ausgeschaltet, wodurch die Ressourcen dann bei einer nun kleineren Zahl von „Banditen“ konzentriert sind.

    Eine solche Art der Krisenbewältigung ist leicht zu erklären: Technisch gesehen ist es sehr viel einfacher, einem anderen „Banditen“ an die Kehle zu gehen und leicht zugängliche, höchst liquide Ressourcen abzuschöpfen (Bankguthaben, Unternehmensaktien, Staatspapiere, Luxus-Immobilien). Schwieriger wäre es, bei der verarmten Bevölkerung und den Kleinunternehmen (die in die Schattenwirtschaft abtauchen) kärgliche Beträge herauszupressen, indem man die Besteuerung „optimiert“, die Repressionen gegen säumige Steuerzahler verschärft und so einen Maidan der Enttäuschten riskiert.

    Putin gegen die Putinisten?

    Neben der wirtschaftlichen Hypothese, die erklärt, warum sich ein Autokrat mit den Silowiki anlegen sollte, gibt es auch eine politische: Diesem Ansatz zufolge sollte Putin die Putinisten an die Leine nehmen, weil sie bald für ihn selbst gefährlich werden könnten.

    In letzter Zeit ist immer häufiger zu hören, dass unser Präsident eine „lahme Ente“ sei (trotz seines garantierten Wahlsiegs 2018), da er den Kreml nach 2024 verlassen muss. Immer häufiger wird auch darüber geredet, dass Putin in Wirklichkeit bereits jetzt an realer Macht verliere und die Silowiki in einer Reihe von Fällen schon ohne Putins Genehmigung handelten, etwa bei der Verhaftung von Alexej Uljukajew.

    Thesen dieser Art sind allerdings sehr zweifelhaft. Eliten verschwören sich nur dann gegen den Autokraten, wenn sich durch dessen Verbleib im höchsten Staatsamt mehr Nachteile als Vorteile ergeben. Bei uns liegt der Fall eindeutig anders. Die Nachteile werden zwar ganz offensichtlich und zügig größer, wegen der Sanktionen, des Kapitalabflusses und der sinkenden Reputation des Landes. Der Vorteil besteht aber ganz eindeutig darin, dass Putin in der Lage ist, Präsidentschaftswahlen mit Leichtigkeit zu gewinnen und das Regime unter minimalem Kostenaufwand zu erhalten. In diesem Regime können die unterschiedlichen Angehörigen der Elite (einschließlich der Silowiki) ihre Einnahmen vermehren, indem sie die nationalen Ressourcen verwerten und ihre Mittel ins Ausland schaffen. Dort lassen sie sich dann nieder, während in Russland alles vor die Hunde geht. Diese Strategie ist optimal für sie, und so haben sie keinerlei Absichten, sich auf gefährliche Spiele mit Staatsstreichen einzulassen.

    Folglich kann man Putin nur schwerlich mit den Silowiki schrecken. Kopfschmerzen bereiten diese Leute natürlich reichlich, doch hat der Präsident sehr wohl die jüngste Geschichte des Landes in Erinnerung: Reformer bedeuten für Autokraten sehr viel größere Probleme. Der Autokrat weiß: Wenn du deine Macht erhalten willst, dann solltest du in keinem Fall Reformen anstoßen, und schon gar keine wirtschaftlichen. Schließlich sind Michail Gorbatschow und Boris Jelzin gescheitert, weil sie übermäßig bestrebt waren, die soziale Ordnung zu transformieren. Die befand sich so gerade eben noch im Lot und setzte eher der breiten Bevölkerung zu, denn den Angehörigen der Elite. Erstere musste versuchen, Nahrungsmittel ohne Schlangestehen zu ergattern, während letztere über spezielle Versorgungsstellen, staatliche Datschen, eigene Autos und andere Annehmlichkeiten verfügten, mit denen sich das armselige sowjetische System ertragen ließ.

    Reformen wird es unter Putin nicht geben. Weder kleine, noch große. Weder radikale, noch übergangsweise. Nur imitierende und adaptierende. Einfacher gesagt: Sie könnten zum Beispiel eine Steuerreform verkünden, dabei ein oder zwei Steuern senken und das im Fernsehen herumposaunen, gleichzeitig aber die übrigen Steuern derart anheben, dass die Abgabenlast und die Haushaltseinnahmen steigen. Schließlich wird man ja das Haushaltsdefizit irgendwie ausgleichen müssen, wenn alle Reserven aufgebraucht sind.

    Aktualisiert am 29.01.19

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  • Russische Parallelwelten

    Russische Parallelwelten

    Das staatliche Fernsehen ist in Russland Hauptinformationsquelle für einen Großteil der Bevölkerung. Inzwischen hat es der Kreml fast vollständig unter seine Kontrolle gebracht, wie auch internationale Nichtregierungsorganisationen immer wieder kritisieren. Im Gegensatz dazu sind unabhängige Medien meist nur über das Internet zugänglich und erreichen weit weniger Menschen.

    Der Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Dimitri Trawin sieht die russische Bevölkerung in zwei parallelen Welten leben – abhängig davon, über welche Medien sie sich informieren.

    Vor vier Jahren hat Wladimir Putin zum wiederholten Mal die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Seitdem hat er vieles erreicht. Allerdings so gar nichts von dem, was Russland vor einer Krise hätte bewahren können.

    Gespaltenes Land

    Heutzutage hört man oft, Russland sei gespalten in eine imperiale Mehrheit, die die Politik des Kreml unterstützt, und eine demokratische Minderheit, die sich in der Opposition befindet. Tatsächlich ist es sehr viel komplizierter. Die beiden einander gegenüberstehenden Teile der Gesellschaft betrachten nicht nur das, was passiert, unterschiedlich, nein, sie leben faktisch in zwei verschiedenen Ländern. Oder genauer: Sie sehen zwei einander nicht ähnelnde Russlands, denn der eine Bevölkerungsteil sieht das Land durch den Fernsehbildschirm und der andere durch das Internet.

    Das Fernseh-Russland sieht etwa folgendermaßen aus: Es ist ein Land, das Ende der 1990er Jahre kurz vor der Auflösung stand, weil es dem Einfluss äußerer und innerer Feinde ausgesetzt war. Oligarchen und von ihnen angeheuerte liberale Spasten arbeiteten aktiv daran, Russland zu zerstückeln, denn in diesem Zustand könnte es die sich heranpirschende Nordatlantische Allianz leichter erobern. Die ist in Wirklichkeit auch gar nicht der militärisch-politische NATO-Block, sondern nur eine Gruppe europäischer Staaten, allesamt Marionetten der USA.

    Amerika hat Angst bekommen

    Zum Glück erschien Wladimir Putin auf der Bildfläche und das Leben wendete sich schnell zum Besseren. Gehälter und Renten stiegen, es lohnte sich, zu arbeiten. Das geschah, weil Putin die Oligarchen bändigte. Sie hörten auf zu stehlen und für die Tätigkeiten der liberalen Spasten zu löhnen, ergo blieb mehr Geld für das Volk übrig. Russland erhob sich von den Knien, stärkte seine Armee und begann, sich das zurückzuholen, was ihm von Rechts wegen gehört: zuerst den Nordkaukasus, einschließlich Abchasien und Südossetien, dann die Krim.

    Amerika hat Angst vor uns bekommen, hat aber weiter Intrigen geschmiedet, weswegen aus den Läden viele handelsübliche Lebensmittel verschwanden. Der Ölpreis ist gesunken aufgrund eines Komplotts zwischen den USA und den Arabern (und vielleicht auch den Türken). Mittlerweilen wollen uns die Amerikaner nicht mehr mithilfe von Vaterlandsverrätern besiegen, sondern mithilfe von Wirtschaftssanktionen. Aber China und die anderen BRICS-Staaten sind auf unserer Seite, und das bedeutet, dass wir nicht schwächer sind als Amerika – sowohl in militärischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

    Die Fernsehwelt gibt es nicht

    Das vom Internet geschaffene Weltbild dagegen ist völlig anders. Beginnt man, die Informationen aus der Masse im Netz verfügbarer, unabhängiger Quellen mit denen aus dem Fernsehen zu vergleichen, wird schnell klar, dass es die Fernsehwelt in der Realität nicht gibt – sie ist professionell konstruiert, eigens für die Zuschauer, die hin und wieder zu Wählern werden.

    Erstens: Ende der 1990er Jahre war Tschetschenien die einzige Republik, die aus der Russischen Föderation austreten wollte. Baschkirien und Tatarstan bekamen vom Kreml die Erlaubnis, einen Teil ihrer Erdöleinkünfte nicht an das föderale Zentrum abzugeben, was jeglichen Separatismus dort unterband. Mittlerweile wird auch Tschetschenien mit ähnlichen Mitteln in der Föderation gehalten. Mit einem Unterschied: Während die fügsamen Republiken nur einen Teil dessen einbehalten, was sie auch selbst erwirtschaften, investiert Moskau in Tschetschenien Gelder, die aus Geberregionen abgezogen werden. Bei einer derartigen finanziellen Unterstützung kommt Ramsan Kadyrow natürlich nicht auf separatistische Ideen. Aber wenn Moskau einmal das Geld ausgeht …

    Zweitens hat es nie eine Abrechnung mit den Oligarchen gegeben. Die spektakulären Geschichten um Beresowski und Chodorkowski haben den Anschein erweckt, als würde der Staat erstarken. Doch fast das ganze Vermögen der Oligarchen aus den 90er Jahren gehört noch immer seinen Besitzern, es ist sogar stark angewachsen. Außerdem sind neue Schwerreiche hinzugekommen – Vertraute aus Putins engstem Kreis oder solche, die sich in Putins System verdient gemacht haben. Dabei ist jedem Oligarchen klar, dass er bei der ersten Aufforderung von Seiten des Kreml verpflichtet ist, für jegliche Bedürfnisse der Machthaber umgehend Geld zu überweisen. Solche Transfers garantieren die Unantastbarkeit der Vermögen.

    Drittens: Das Leben ist nicht deswegen besser geworden, weil Putin den Oligarchen das Geld abgenommen hat, sondern dank der gestiegenen Ölpreise. Aus demselben Grund hat sich übrigens auch das Kapital der Oligarchen vervielfacht. Und aus demselben Grund wird das Leben jetzt schlechter. Immer noch ist Putin Russlands Präsident, doch von dem einstigen Wirtschaftswunder fehlt jede Spur. Unsere Einkommen verlieren wegen der hohen Inflation zunehmend an Wert, und der Staat hat keinerlei Möglichkeit, sie an die steigenden Verbraucherpreise anzugleichen. Die Situation kann sich im Weiteren nur verschärfen, es sei denn, der Ölpreis sollte aus irgendeinem Grund wieder steigen.

    Viertens: Die NATO ist den Grenzen der Russischen Föderation nähergerückt, weil sie von Staaten, die Russland misstrauten, darum gebeten wurde. Dazu gehören Tschechien, die Slowakei, Polen, die baltischen Staaten, nicht aber die Ukraine und Georgien. Misstraut haben Russland diejenigen Länder, die in der Vergangenheit Erfahrungen mit dem Eindringen sowjetischer (und einst zaristischer) Truppen gemacht hatten. Vertraut haben die, mit denen uns seit jeher freundschaftliche Beziehungen verbinden. Nach den Ereignissen in Südossetien und auf der Krim ist die Stimmung in Georgien und der Ukraine umgeschwungen, man sucht nun eher Unterstützung durch den Westen. Und obwohl diese Länder im Moment nicht in die NATO aufgenommen werden, sind sie bereits unsere Gegner im Geiste.

    Fünftens: Die Lebensmittel sind aus den Geschäften verschwunden nicht infolge der Sanktionen, die der Westen Russland auferlegt hat, sondern als Folge der Sanktionen unserer Regierung gegen den Westen. Der Kreml stellt sich der westlichen Welt entgegen, indem er nach dem Prinzip „Schlag die Eigenen, damit die Anderen dich fürchten“ handelt. Die Sanktionen gegen Russland bestehen im Wesentlichen aus Maßnahmen, die der einfache Bürger nicht einmal spürt: eine schwarze Liste gegen Staatsbeamte und Politiker, die gerne nach Europa und in die USA reisen, Einschränkung der Kreditgewährung für russische Unternehmen, die Aufhebung der Kooperation von russischen und westlichen Unternehmen im Bereich des Militärs …

    Der Unterschied

    Wie sieht nun die wirkliche Welt im Unterschied zur Fernsehwelt aus?

    Russland war in den 1990er Jahren ein einheitlicher Staat und ist es auch heute. Solche Regionen wie Orjol oder Brjansk kennen von jeher keinen Separatismus. Tschetschenien führte damals ein eigenständiges Leben und tut es auch heute noch, als der Teil der Russischen Föderation, der aktiv russländische Ressourcen verschlingt. Die russische Bevölkerung ist aus Tschetschenien geflohen und hat nicht vor, zurückzukehren. Nicht nur Touristen, selbst Ermittler haben Angst, sich dort blicken zu lassen, denn Sicherheitsgarantien gibt es dort für niemanden.

    Die Wirtschaft hat sich in den 2000er Jahren dank des teuren Erdöls erst hochgerappelt und ist dann in sich zusammengefallen. Heute ist unser Wirtschaftssystem im Großen und Ganzen genauso wenig konkurrenzfähig wie in dem Jahr, in dem Putin in den Kreml einzog. Der Lebensstandard ist natürlich höher als Ende der 1990er Jahre, aber in den vergangenen 16 Jahren ist der Wohlstand in allen funktionierenden Staaten der Welt gestiegen, von ganz hoffnungslosen Fällen mal abgesehen. Vielleicht hat sich Russland kurz von den Knien erhoben, aber nur, um sich dann gleich wieder hinzuhocken. Bekanntlich ist das nicht sehr bequem. Und wenn wir nichts unternehmen, landen wir bald auf dem Hintern.

    Die Einkommensdifferenz war in Russland damals sehr hoch und ist es bis heute. Aber Ursache dieses Problems sind nicht die Oligarchen (sie sind nur eine Folge), sondern die Allmacht der Bürokratie, die sich in den Köpfen der Fernsehzuschauer in den raffinierten Begriff „staatliche Regulierung“ verwandelt. Die Bürokratie reguliert tatsächlich alles, aber sie tut es mithilfe von Schmiergeldern und „Provisionen“. Dabei wuchert der Grad der Korruption um so stärker, je mehr sich der bürokratische Staat um das Volk „kümmert“.

    Der einzige Anlass zur Freude vor diesem freudlosen Hintergrund: Die NATO hat uns nicht bedroht und bedroht uns auch heute nicht. Hand aufs Herz, das ist uns allen bewusst. Selbst denjenigen, die nicht müde werden, Gefahren zu beschwören. Denn bei den momentanen Machtverhältnissen würden wir einen Krieg gegen die NATO-Staaten verlieren oder gemeinsam mit ihnen die Menschheit vernichten. Der eine Ausgang wäre ebenso fatal wie der andere. Und jemand, der an die Realität eines solchen Krieges glaubt, wäre schon längst in der Klapsmühle gelandet.

    Doch unsere Hirne sind noch halbwegs intakt – die NATO-Bedrohung ist ein Bedrohungs-Imitat, das der Mehrheit der Gesellschaft sehr gut gefällt. Wenn die NATO nämlich angreifen will, sich aber nicht traut, dann heißt das, wir sind stark. Trotz Krise, Verschlechterung des Lebensstandards und bodenloser Korruption. Für den Fernsehzuschauer ist das eine gute Nachricht. Genauer gesagt keine Nachricht, sondern eine Illusion, ein Imitat. „Es ist so leicht, mich zu betrügen – ich selbst betrüge mich so gern!“, hat Puschkin seinerzeit so treffend bemerkt.*         

    Putin ist fürwahr ein großer Imitator. Deshalb gewinnt er auch eine Wahl nach der anderen.


    *aus: Ein Geständnis, aus dem Russ. von Friedrich Fiedler (1879–1917)

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  • Vorbild Feind

    Vorbild Feind

    Ob im Kino, in der Wirtschaft, beim Urlaub oder in der Wissenschaft: Fast überall gelten westliche Standards wie selbstverständlich als das anzustrebende Vorbild. Andererseits scheint Russland vor Patriotismus und neugefundenem Selbstwertgefühl zu strotzen, und eben jener Westen ist für den Großteil der Menschen Gegner, ja Feind. Der Politologe Dimitri Trawin sieht in diesem Widerspruch eine Begleiterscheinung aufholender Modernisierung.

    Angenommen, wir würden beschließen, etwas Merkwürdiges zu tun: Wir lassen die russische Bevölkerung abstimmen, welchen Devisenkurs sie möchte. Mit ziemlicher Sicherheit gäbe es ein Votum für eine Stärkung des Rubels, wobei sich gebildete und erfolgreiche Bürger genauso verhalten würden wie die große Masse. Wir bekommen unsere Löhne ja alle in der nationalen Währung ausgezahlt. Doch sobald Gebildete und Erfolgreiche reales Geld in der Tasche spüren, kaufen viele von ihnen Dollar, da sie genau wissen, wie unsicher Rubel-Ersparnisse sind.

    Haben wir es hier mit Doppelmoral zu tun? Keineswegs. Der Mensch verhält sich absolut aufrichtig, sowohl, wenn er sich für ein Wachstum des Rubels ausspricht, als auch dann, wenn er dessen Stabilität durch seinen Gang zur Wechselstube untergräbt.

    Dieses nicht ganz ernste Beispiel hilft, die Logik der Russen zu verstehen, denen man heute oft eine uneuropäische Mentalität vorwirft, eine mangelnde Bereitschaft zu Reformen und die Neigung, parasitisch vom Petrodollar zu leben. Wenn man sich die großen Umfragen ansieht, zeigen sich überall Patriotismus, Identifikation mit den Machthabern und ein beinahe einmütiges Jasagen. In gewisser Hinsicht ähneln solche Ergebnisse in der Meinungsforschung aber jenen in unserer hypothetischen Umfrage zum Rubel: Sie sagt nichts über das wirkliche Leben der Gesellschaft, sondern eher über das Streben nach einem Ideal.

    Die wahren Haltungen eines Menschen sind mit Umfragen schwer zu ermitteln. Wenn man dann gewisse Aspekte unseres Lebens genau unter die Lupe nimmt, entdeckt man plötzlich Dinge, die nicht in das übliche Bild passen.

    Professoren beklagen sich oft, dass ihre Publikationen in russischen Fachzeitschriften bei der Bewertung ihrer Arbeit immer seltener Beachtung finden. Dafür bekommt der, der einen Artikel in einer amerikanischen Zeitschrift unterbringt, eine große Prämie. Ist das Kriecherei vor dem Westen, herkunftsvergessener Kosmopolitismus? Ganz bestimmt nicht. Es ist gewöhnlicher Pragmatismus, der Wunsch, Teil jener Wissenschaft zu sein, die heute als maßgeblich gilt. Wobei derselbe Rektor, der die Prämienanweisung unterschreibt, in öffentlichen Reden seine für die staatlichen Unterstützungsgelder so notwendige Liebe zur Krim, zu China, zur Importsubstitution und zur Partei Einiges Russland kundtut.

    Und nun ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich – dem Immobilienmarkt. In St. Petersburg werden potenzielle Käufer überschüttet mit Reklame für schwedische Wohnungen, finnische Häuser, 2- und 3-Zimmer-Studioapartments nach europäischem Standard und sogar ganze, nach westlichen Hauptstädten benannte Häuserblöcke. In diesem pragmatisch durchkonzipierten Business weiß man genau, wo die wirklichen Prioritäten zahlungskräftiger Menschen liegen, welchen Lebensstil sie attraktiv finden. Niemand versucht, einem erfolgreichen Menschen, der über ein paar Millionen für den Kauf einer Immobilie verfügt, Wohnanlagen namens Shanghai, Dubai oder Mumbai schmackhaft zu machen.

    Schauen wir vom Immobilienmarkt hinüber zum Sport. Hier herrscht, so will man meinen, unverhohlener Patriotismus. Hier jubelt man den eigenen Leuten zu und hasst aufrichtig sämtliche Gegner. Nur dass der Begriff „eigene Leute“ in letzter Zeit äußerst vage geworden ist. Wir unterstützen aufrichtig eine Fußballmannschaft, die beinahe gänzlich aus Legionären besteht, während sich unter den Gegnern massenhaft Landsleute finden. Und der Klub braucht nur die Legionäre auszuwechseln – und schon sympathisieren die Fans mit Spielern, die sie eben noch auspfiffen, als sie in der gegnerischen Mannschaft spielten.

    Das markanteste Beispiel für die Relativität unseres Patriotismus ist aber das Kino. Der Antiamerikanismus geht überraschenderweise mit einer großen Beliebtheit Hollywoods einher. In Umfragen verurteilen unsere Landsleute das amerikanische Militär voller Zorn, aber sobald sich der Befragte zum Zuschauer wandelt, bezahlt er Geld dafür, sich mit einem amerikanischen Marineinfanteristen oder Polizisten identifizieren zu dürfen. Aber auch hier geht es nicht um Doppelmoral. In einem professionell produzierten russischen Actionfilm steht derselbe Zuschauer ebenso gern auf der Seite des vaterländischen Fallschirmjägers oder Polizisten. Doch Hollywood ist stärker, reicher und in der Produktion solcher Spektakel erfahrener. Und ins Kino kommen wir wegen des Spektakels und nicht, um patriotische Gefühle an den Tag zu legen. Wir geben Geld aus für das, was wir brauchen, selbst wenn es das Produkt eines wahrscheinlichen Kriegsgegners ist.

    Ähnlich sieht es im Fernsehen aus. Patriotische „informativ-analytische“ Propaganda wechselt sich ab mit Serien und Shows, die auf Originalen aus Übersee basieren. Millionen von Bürgern werden ständig amerikanisiert, selbst wenn sie sich nie im Kino Hollywoodfilme ansehen. Wie die Erfahrung mit dem Fernsehen zeigt, weinen und lachen wir ungefähr gleich wie die Menschen im Westen. Unsere psychologischen Reaktionen sind ihren sehr nahe. Man kann uns mit ähnlichen Plots fesseln. Wir reagieren auf dieselben Reizfaktoren und ereifern uns, und wir entspannen uns, wenn wir eine Melodie hören, die einem Bewohner Bostons oder Kopenhagens genauso gut gefällt.

    Man könnte noch viele ähnliche Beispiele aufzählen. Ließe ein Soziologieprofessor ein paar aufgeweckte Doktoranden in den Details des wirklichen Lebens der Russen herumwühlen, würden wir wohl mehr Informationen erhalten, als uns die Massenumfragen liefern. Denn bei denen geben die Menschen nicht ihr Alltagsleben wider, sondern ihre mentalen Konstrukte, die sich aus ihren Ängsten, Wünschen und Phobien ergeben, beeinflusst durch das System der Gehirnwäsche.

    Aber man darf die Fragebögen nicht einfach schlechtreden. Sie tun etwas Wichtiges, sie zeigen die Welt der Passionen, in der die Menschen leben. Man sollte bloß nicht glauben, dass es darin um das wirkliche Leben geht.

    Der Mensch einer sich modernisierenden Gesellschaft wird gewöhnlich von Widersprüchen gequält. Im wirklichen Leben orientiert er sich am Lebensstil der erfolgreichen Länder – er will konsumieren wie die dort, Urlaub machen wie die dort, sich vergnügen wie die dort. Doch da dies für die große Masse der Bevölkerung eines rückständigen Landes nicht möglich ist, herrscht in einer sich modernisierenden Gesellschaft Frustration. Und um sich davor zu schützen, baut der Mensch sich einen eigenartigen mentalen Schutzschild: In Wirklichkeit sind wir gar nicht rückständig, in Wirklichkeit sind wir besser, ehrlicher, richtiger.

    Sowohl der Konsum nach westlichen Standards als auch die mentale Ablehnung des Westens sind gleichermaßen ein Ergebnis der aufholenden Modernisierung. Ungefähr genau so, unter Widersprüchen leidend, versuchten seinerzeit die Deutschen, den Westen einzuholen. Und holten ihn schließlich ein, auch wenn die Modernisierung ihnen in der Mitte des 20. Jahrhunderts übel mitspielte.

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