дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die Propagandamacher (Teil 2)

    Die Propagandamacher (Teil 2)

    Wie werden Nachrichten in Propaganda verwandelt? Das Kulturportal Colta.ru hat Erfahrungsberichte von Mitarbeitern aus dem Inneren russischer TV-Sender veröffentlicht. Hier nun der zweite Teil dieser Materialien auf dekoder.

    Sergej Semjonow (Name geändert), Producer (REN TV)

    Ich habe bei der Sendung Sonderprojekt gearbeitet und bin dann vor einem Jahr gegangen. Aber den April und Mai habe ich noch mitbekommen – wie sich die Krim abspaltete und die ersten Säuberungen nach dem Maidan anfingen. Wir hatten den Auftrag für den Film Liebling, ich mach grad Revolution! Wir wollten da das aktuelle Thema Ukraine aus einer etwas anderen, persönlichen Perspektive angehen: Wir haben alle Revolutionsführer genommen, unsere guten Jungs von der Krim und die bösen Anführer des Maidan, und wollten zeigen, wie ihre Ehefrauen sich fühlen, wenn der Mann sagt: „Liebling, ich mach grad Revolution!“, wie die Familie das erlebt.

    Natürlich haben wir bei den bösen Figuren nicht nach guten Eigenschaften gesucht – dass sie eine Ehefrau, Kinder und eine Mutter haben – sondern nach einer Geliebten, nach abträglichen Seiten im Privatleben. An die Anführer der antirussischen Revolution heranzukommen war für russische Sender völlig unmöglich. Wir konnten unser Aufnahmeteam nicht dorthin schicken. Eine Akkreditierung hatten nur die Nachrichtenredaktionen. Alle anderen, auch Dokumentarfilmer, wurden damals wie heute nicht in die Ukraine gelassen. Also mussten wir uns was ausdenken. Deshalb wurde alles über Freelancer erledigt, aber kein ukrainischer Freelancer wollte etwas mit russischen Sendern zu tun haben.

    Als wir an einem Beitrag über den mittlerweile toten Musytschko alias Sascha Bilyj arbeiteten, haben wir uns einer jungen Freelancerin nicht als russischer, sondern als amerikanischer Sender vorgestellt. Wir haben gesagt, dass wir ihn als dynamischen Menschen zeigen möchten, der gut ist und Gutes will. Kurz, wir haben sie angelogen.

    Es war schwierig, Leute vom Maidan vor die Kamera zu bekommen. Aber diese Freelancerin kannte Musytschko persönlich und hat einen Termin mit ihm organisiert gekriegt, zwischen zwei Veranstaltungen. Er hat sich natürlich in gutem Licht dargestellt, aber wer sich mit Schnitt auskennt, weiß, dass man alles so zusammenschneiden und montieren kann, wie man es gerade braucht. Eine große Hilfe dabei war sein Background: Auf öffentlich zugänglichen Videos benahm er sich wie ein Verbrecher, mit Maschinenpistole schnappt er sich Beamte und packte sie bei der Krawatte. Das alles haben wir mit den Gesprächsaufnahmen gegengeschnitten, in denen er mit seinem bedrohlichen, vernarbten Kopf zu sehen ist und erzählt, wie nett und puschelig er ist, wie sehr er das Angeln, Eichhörnchen und seine Liebste mag. Außerdem haben wir noch ein Video hervorgeholt (das erstmals einige Tage zuvor auf NTW gezeigt worden war – Anm. Colta), in dem jemand auf dem Boden liegt, der dem armen Musytschko von weitem sehr ähnlich sieht, dahinter ein Mädchen im Sessel, die ihm mit einem schwarzen Stiefelabsatz ins Gesicht tritt – so Sadomaso-Zeug. Diese Bilder haben wir zwischen zwei Aufnahmen gepackt, in denen er besonders eifrig einen auf netter Kuschelbär macht – das Ergebnis war ein Porträt eines kompletten Perverslings.

    Als wir das alles zusammengeklatscht hatten, kriegte ich plötzlich große Angst: Was wird denn jetzt mit dieser armen Freelancerin, die das Ganze organisiert hat? Musytschko war ja knallhart – sein Großvater war Nationalist und Verfolgter [während der stalinschen Repressionen – dek], sein Vater ist da im Norden, im Lager aufgewachsen und hat dann später gesessen. Der Hass auf die Sowjetmacht war bei ihm erblich bedingt, er verband sie mit der russischen Besetzung der Ukraine. Für ihn waren die Russen immer schon Feinde und alle, die gegen sie sind, Freunde. Wir hatten echt Angst: Wenn er sieht, was wir da bringen, schlägt er diese Freelancerin ganz einfach tot, mit einer Eisenstange auf den Kopf und das war's.

    Die Sendung sollte am Mittwoch kommen. Am Montag haben wir angefangen zu überlegen, wie wir die Freelancerin da raushauen, haben einen ausführlichen Plan gemacht, aber in der Nacht auf Dienstag wurde er erschossen. Und so kam es, dass wir das letzte Interview mit ihm hatten – über sein Privatleben und Sexualexzesse.

    Das Einzige, was ich bei seinem Tod spürte, war Erleichterung wegen des Schicksals der Journalistin. Ich bin ein gläubiger Mensch, ich hatte gebetet: „Gott, wie kann ich sie retten? Gott, soll diese Sünde wirklich auf meiner Seele lasten? Für mich ist das einfach nur noch ein Film, aber sie wird erschlagen und Schluss.“ Aber die himmlische Hand hat alles gefügt, obwohl wir danach im Studio noch lange rumgescherzt haben, dass ich den Mord an Musytschko bestellt habe.

    Bei unserer Sendung änderte sich vor allem das Themenspektrum: Vor den aktuellen Ereignissen waren unsere Hauptfeinde solche wie die Rothschilds, Morgans und die ganze übrige Verschwörung des Weltkapitals, das uns mal mit schlechtem Essen vergiftet, mal den Ölpreis erhöht oder senkt. Als die Ereignisse in der Ukraine anfingen, wurde aus dem allgemeinen ein konkreter Feind. Aber das Redaktionsklima bei den Produktionen hat sich nicht verändert. Alles war wie immer, wir haben zur üblichen Zeit Mittagspause gemacht und zur üblichen Zeit die Bahn genommen. Bei uns waren auch Leute beschäftigt, die aus dem Donbass oder der Ukraine stammten, aber sie hatten keinerlei Probleme damit, die Dinge im gewünschten Licht darzustellen. Journalisten und Prostituierte unterscheiden sich nur dadurch, dass die einen es mit dem Körper tun und die anderen mit dem Kopf. Auch unsere finanzielle Lage hat sich nicht verändert. Das gibt es nur in schlechten Propagandafilmen: „Sie werden jetzt besser bezahlt und laufen schneller.“ Warum sollte ein Arbeitgeber das tun? Die Sendezeit bleibt gleich, der Produktionsumfang bleibt gleich. Es gibt einfach nur ein neues Brennpunktthema. Aber natürlich war das viel interessanter zu bearbeiten als die Rothschilds und Rockefellers. Es gab hier weniger Hirngespinste und mehr echten Stoff, emotionaleres Material.

     

    Stanislaw Feofanow, Producer (NTW, REN TV, TWZ)

    Zu Beginn der Ereignisse in der Ukraine habe ich für Die Woche gearbeitet, bei Marianna Maksimowskaja, von der Besetzung des Maidans bis zum Abzug der [ukrainischen – dek] Truppen von der Krim. Die Sendung unterschied sich sehr von dem ganzen Mist, der sonst auf REN TV lief. Wir haben versucht, objektiv zu berichten. Ich weiß noch, als das Regionalverwaltungsgebäude in Donezk besetzt wurde, sprachen wir erst mit den [separatistischen – dek] Milizen und fuhren dann viele Kilometer, um mit den ukrainischen Militärs zu reden. Ich staune immer, wenn erzählt wird, dass man nicht von zwei Seiten aus filmen kann. Alles geht, man muss es nur wollen! Ich erinnere mich, wie Puschilin uns erzählte: „Die Soldaten aus Kiew fressen der hiesigen Bevölkerung die Haare vom Kopf.“ Wir dachten: Ja, interessante Geschichte. Wir fuhren in ein Dorf, sprachen mit den alten Mütterchen dort, und die sagten: „Niemand wird armgefressen, wir kommen gut miteinander aus.“ Dann gingen wir zu den Soldaten, sie gruben gerade einen Panzer ein. Wir dachten, dass die uns auf der Stelle festnehmen, aber sie sagten gleich: „Wir können gern reden, worum geht‘s? Ob wir den Leuten was wegfressen? Ach wo, wir haben doch eine Feldküche.“ Während des Gesprächs kamen zwei Autos vorbei – in einem brachten Einheimische den Soldaten Borschtsch, im anderen wurde leckerer Speck rangekarrt. Wenn du natürlich mit der Vorstellung ankommst, dass hier Strafkommandos sind – mit denen braucht man gar nicht erst zu reden, ihre Gesichter sprechen für sich – dann sehen die Bilder hinterher auch so aus. Aber bei uns wurden die Themen ausgewogen dargestellt, wir haben beide Seiten zu Wort kommen lassen.

    Ich kann mich an keine Fälle von direkter Zensur bei der Woche erinnern. Die Leitung des Senders hat vielleicht bestimmte Fragen mit Marianna diskutiert, aber ich habe so etwas nicht mitbekommen. Trotzdem war klar, dass die Sendung an einem seidenen Faden hing, das Ende der Woche kam nicht unerwartet. Nach dem Abschuss der Boeing wurde es völlig unmöglich, so zu berichten, wie wir es bisher getan hatten. Aus allen Kanälen dröhnte und polterte es über die Junta, die Strafkommandos, die das Flugzeug abgeschossen hätten. Wir waren gerade im Urlaub, als die SMS von Marianna kam: „Liebe alle! Es ist soweit, unsere kleine, stolze Sendung wird abgesetzt. Vor uns liegt eine schöne neue Welt, in der das Leben anders sein wird.“ Heute arbeiten einige aus dem Team als Freelancer, andere gar nicht, wieder andere sind im Nachrichtenbereich von REN TV geblieben. Ich habe einen Kompromiss gefunden.

    Die Sendung Die Verteidigungslinie bei TWZ, bei der ich jetzt arbeite, ist ein Grenzfall. Es gibt bei uns Filme wie Die fünf Versprechen von Poroschenko, aber sie sind eher ironisch als propagandistisch. Ich selbst mache Beiträge zu abseitigeren Themen. Direkte Propaganda zu drehen, wird mir nicht angetragen, und ich würde das auch nicht machen. Ich hab jetzt Angebote vom Film und sollten die mir im Sender sagen: „Du musst das und das tun“, dann werd ich sagen: „Müssen muss ich gar nichts, auf Wiedersehen.“

    Natürlich ist die Verteidigungslinie nach der Woche ein Rückschritt. Aber was soll man machen? Man muss ja irgendwie leben. Ein Haufen talentierter Leute finden für sich beim Fernsehen keinen Platz mehr, wie zum Beispiel Roman Super oder Andrej Loschak, der kürzlich in einem Interview gesagt hat: „Vielen jungen Journalisten sagt mein Name vielleicht nichts mehr, weil ich vom Bildschirm verschwunden bin.“ Und Wadim Kondakow ist zu einem beschissenen Wirtschaftsforum gefahren, um dort Werbung zu drehen. Ich habe Angebote von den Sendern LifeNews und Swesda gekriegt, aber damit will ich gar nichts zu tun haben.

    Bei TWZ muss ich mich nicht verbiegen. Aber mir passt es nicht, dass im Umfeld unserer Arbeit zweifelhafte Sachen ausgestrahlt werden – keine regelrechte Propaganda, aber mit einem deutlichen Beigeschmack. Für mich ist das Fernsehen nicht mehr kreativ. Das betrifft vor allem die Themenwahl. Es gibt eine Zensur unter dem Deckmäntelchen: „Das Thema bringt keine Quote.“ Ich habe vorgeschlagen, darüber zu berichten, wer an den Bändchen und Schirmmützen zum 9. Mai verdient hat. Die haben teilweise 300 Rubel pro Stück gekostet – bei 100.000 Käufern sind das 30 Millionen Rubel. Also lasst uns einen Film darüber machen, wie man mit dem Patriotismus Geschäfte macht. Nein, das bringt keine Quote. Wir machen lieber was über eine russische Wanga, irgendein altes Mütterchen, das Vorhersagen macht. Bei TWZ werden von einem Dutzend Themen, die dich reizen, bestenfalls ein oder zwei genehmigt, ansonsten muss man an Sachen arbeiten, die man nicht mag.

    Vor REN TV war ich zusammen mit Katja Gordejewa und Andrej Loschak bei Beruf – Reporter auf NTW. Wir haben dort aufgehört, als sie nach unserem Film über die Proteste 2011–2012 die Daumenschrauben angezogen haben. Die Sendung ist praktisch gesprengt worden. Geblieben ist nur die Marke – sie wird zwar immer noch gesendet, aber gemacht wird sie von der NTW-Leuten aus der Kriminalabteilung. Wir hatten gehofft, dass die Demonstrationen, die Welle der Empörung den Niedergang aufhalten würde, dass sie den Damm brechen würde und daraus ein freies Fernsehen entsteht. Damals hatten die Leute noch zwischen NTW als Sender und der Sendung Beruf – Reporter unterschieden. Doch einer der letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten, war ein Gespräch auf der Kundgebung Beerdigung von NTW am Ostankino-Gebäude. Ich wurde gefragt, wie ich mich als anständigen Menschen betrachten kann, wenn ich da arbeite, wo Anatomie des Protests gemacht wird. So ein Gefühl wie „Wem haben wir da nur den Sender überlassen?“ kam gar nicht erst auf – es war schon klar, wem.

    Wer beim Ersten Kanal und bei Rossija 24 richtige Propaganda macht, dem ist alles sonnenklar. Hypotheken, Schulden, Probleme zu Hause. Trotzdem kann ich das nicht nachvollziehen. Ich bin in einer ähnlichen Lage: Ich lebe in einer Mietwohnung, im Herbst werde ich einen Kredit für eine Wohnung aufnehmen, aber ich begreife nicht, wie man den Leuten Scheiße in die Ohren kippen kann. Ich muss in solchen Fällen immer an meine Mutter denken. Sie ist sowieso schon so gehirngewaschen, dass ich manchmal nicht weiß, worüber ich mit ihr reden soll, außer über Haushalt. Bei ihr läuft dauernd der Fernseher, Kisseljow schwadroniert, Mamontow orakelt, und ich denke mir: „Wie kann ich bloß meine eigene Mutter belügen?“ Ich merke, dass ich auch mein Scherflein dazu beitrage.

    Früher haben wir über die Leute gelacht, die die Kriminalsendungen bei NTW machen. Es war widerlich, wenn ein irgendein Korrespondent unter irgendeinem Vorwand in eine Wohnung eindrang und das dann landesweit ausgestrahlt wurde und die Mitkowa allen eine Mail schickte: „Schaut mal, Leute, was für coole Arbeit die Kriminalabteilung abgeliefert hat!“ Wir dachten: Das geht nicht – Sicherungen rausdrehen, damit die Leute dir die Tür aufmachen, und dann alles mit versteckter Kamera aufnehmen. Aber die, die so etwas nicht fertigbrachten, wurden von einer Welle skrupelloser Journalisten schlichtweg verdrängt.

    In dieser Zeit jetzt denkt man nicht so sehr an Status als vielmehr ans Gewissen. Wie kann man sich in die Augen schauen? Wenn man in den Spiegel blickt. Du wachst morgens auf und denkst: „Gestern habe ich ja ganz schön Blabla produziert, was?“ Und kannst du damit weiterleben? Aber die meisten tun das natürlich.


    Diese Gespräche mit Mitarbeitern russischer Fernsehsender wurden aufgezeichnet und für Colta zum Druck vorbereitet von Dimitri Sidorow.

    Weitere Themen

    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Albrights Un-Worte

    Die Propagandamacher (Teil 1)

    Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

    Die Vertikale der Gewalten

    Kontakt der Zivilisationen

  • Die Propagandamacher (Teil 1)

    Die Propagandamacher (Teil 1)

    Russland informiert sich aus dem Fernsehen, doch das Fernsehen liefert nicht nur Information. Das Kulturportal Colta.ru veröffentlichte im August eine Serie von Berichten aus dem Inneren der staatlichen TV-Sender, in denen Mitarbeiter schildern, wie Nachrichten in Propaganda verwandelt werden. Wir bringen Teile dieser Serie auf dekoder.

    Die folgenden Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK wurden aufgezeichnet von Alexander Orlow und Dimitri Sidorow. Orlow war stellvertretender Chefredakteur der Fernsehsender Rossija 24 und Rossija 2 und wurde im Juli 2013 wegen facebook-Postings entlassen, die Alexej Nawalny unterstützten. Er plant nun ein Buchprojekt zu den Arbeitsumständen bei den Staatssendern und hat uns [dem Internetprojekt Colta, Anm. dek.] einen Teil seines Materials im Voraus zur Verfügung gestellt.

    Ein ehemaliger Mitarbeiter der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK berichtet:

    Im Februar 2014 gab es eine Besprechung, bei der der Chefredakteur sagte, der Kalte Krieg fängt an. Nicht der Informationskrieg – der lief schon längst, darüber wussten sowieso alle Bescheid. Sondern so ein richtiger Kalter Krieg, etwas, das den meisten wie ein Atavismus vorkam. Er sagte, es beginnt eine Epoche, gegen die die 70er und 80er Jahre Kinderkram waren. Deshalb sollten sich die, die da nicht mitmachen wollten, besser gleich ein anderes Betätigungsfeld suchen, außerhalb des Nachrichtensenders. Und für alle anderen gilt: Welcome to the Club. Gegangen sind nur ein paar und auch nicht sofort, allmählich, nach und nach, ohne groß Porzellan zu zerschlagen oder ein Drama draus zu machen. Respekt für ihre Haltung und ihren klaren Kopf. Alle anderen sind geblieben.

    Die Leute im Top-Management waren ja nicht dumm. Alle heiklen Fragen wurden im engsten Kreis besprochen und nicht auf den großen Redaktionskonferenzen mit 25–30 Ressort- und Abteilungsleitern. Nach den Freitags-Briefings im Kreml kamen die Chefs zurück in den Sender, holten ihre engsten Vertrauten zusammen und hielten Besprechungen ab, zu zweit oder dritt. Sie legten die Kernthemen fest. Dann wurde alles nach unten weitergegeben. Die Politik im Sender war völlig undurchschaubar. Auch das war Teil des Kalten Krieges – alles lief extrem verschlossen ab, keinerlei offene Diskussionen.

    „Junta“, „Ukropy“ oder „Banderowzy“: Diese Begriffe sollten die Moderatoren benutzen – die, die vor der Kamera stehen. Extra für sie wurden solche Formulierungen bei den Treffen im engen Kreis zurechtgeschnitzt. Aus dem Mund des Chefredakteurs habe ich sie nie als Vorgabe gehört. Auf den Redaktionskonferenzen wurde eine Agenda formuliert. Es war klar, dass die Berichterstattung zur Ukraine voll aufgedreht werden sollte – unbedingt je eine Geschichte pro Tag von der Krim, aus Donezk und aus Kiew. Im März 2014, nach dem Referendum, war die übliche Ansage: jeden Tag mindestens ein neues Thema von der Krim, möglichst mehr. Jeden Tag musste berichtet werden, wie die Krim sich entwickelt, wie Wissenschaft und Gewerbe florieren und wie der Wohlstand und die Freude unserer neuen Mitbürger wachsen.

    Die Frage, von welcher Seite man das beleuchten sollte und ob man diejenigen erwähnt, die unzufrieden sind, stellte niemand, das war sinnlos, wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Das Gleiche mit den Korrespondenten. Sie erfüllten eine rein technische Funktion – der richtigen Person das Mikro hinhalten, das richtige Statement aufnehmen, die richtige Info rausbringen.

    Die, die im Kriegsgebiet waren, die Kriegsberichterstatter, konnte man menschlich verstehen. Erstens wurden sie von ihren großen und kleinen Chefs mit massiver Propaganda zugedröhnt. Zweitens: Wenn du an der Front bist und auf dich geballert wird, dann hasst du nach ein, zwei oder drei Wochen die, die auf dich schießen – und die Jungs hockten dort anderthalb bis zwei Monate ohne Pause. Klar, dass sich in ihren Berichten die Akzente verschoben. Es gab aber moderate Korrespondenten, die aus einer Mücke keinen Elefanten machten. Wenn eine Granate fiel, sprachen sie auch von einer und nicht von einem Bombenteppich.

    Wie schon gesagt, alles wurde von Hand kontrolliert. Als die ersten Minsker Gespräche liefen und es hieß, dass wohl irgendein Frieden kommt,  gab es ein Verwendungsverbot für die Wörter „Faschisten“, „Banderowzy“ oder „Junta“. Danach schwang das Pendel zurück und alles ging von vorn los. Als Strelkow anfing, Städte einzunehmen, standen ihm sämtliche Kanäle offen, er wurde rauf- und runtergesendet. Später musste er dann weg aus dem Scheinwerferlicht, und wir haben ihn einfach nicht mehr so oft gezeigt.

    Die Propagandamaschine brachte es im Zusammenhang mit diesem Krieg zu unglaublichen Zuschauerzahlen. Die Quoten von Rossija 24 stiegen immer weiter – auf das Anderthalb-, Zwei- und Dreifache der Zeit vor dem Krieg. Wir beide wissen ja, Fernsehleute sind Adrenalinjunkies. Plötzlich ist Krieg. Richtiger Krieg – mit Blut, zerfetzten Eingeweiden und Einschlaglöchern von Geschossen im Boden und den Häusern. Kann sein, dass manche das als Spiel sahen, so was Postmodernes. Andere hatten einfach begriffen, dass sich damit richtig Kohle machen lässt – nicht mit dem Krieg als solchem, sondern damit, ihn im richtigen Licht darzustellen: Dass man so letztlich neue Hebel in die Hand kriegt und neue Finanzströme anzapfen kann. Und die setzen alles daran, ihr Ziel zu erreichen.

    Es tauchten auch sofort eine Menge Freelancer auf, die uns zugearbeitet haben, ein Haufen kleiner Produktionsfirmen. Sie haben Videos gemacht, keine besonders guten: Jemand schickte einen 45-minütigen Film über Donezk, in dem einfach Milizen hin- und herlaufen und rauchen, mit schlecht verständlichen Livepassagen und Synchronisierungen. Absolut wertlos, selbst unter Propagandagesichtspunkten, einfach verworrenes Zeug à la schlechtes Autorenkino. Und das wurde zur Primetime gesendet und am Wochenende viermal wiederholt. „Was soll dieser Mist?“, habe ich gefragt und kriege als Antwort: „Alter, du kapierst das nicht, das bringt Riesenquoten.“

    Anders als beim Krieg mit Georgien war das perfekt vorbereitet, ganz systematisch. So eine Vorbereitung ist nicht innerhalb von drei Tagen oder bei einer einzigen Besprechung zu machen. Das waren Wochen, Monate und Jahre.

    Einen Krieg der Sender untereinander, also einen Wettbewerb, gab es schon nicht mehr. Aus der Präsidialverwaltung kam die Anweisung: Schluss. Jetzt geht’s nicht mehr darum, wer hier der Tollere ist und mehr Exklusivmaterial hat. Exklusivbeiträge gingen nur dort, wo der eine die Großmutter von jemandem gefunden hat und der andere den Großvater von jemand anders. Alles andere floss zusammen in einen einzigen massiven Strom. Alle haben wild alles untereinander ausgetauscht – Bildmaterial, Sprecher, Kontakte. Alles wurde ein großes Ganzes. Aus unterschiedlichen Holdings, unterschiedlichen Aktionären, unterschiedlichen Medienstrukturen entstand ein gemeinsamer Propaganda-Organismus.

    Im Sender kamen keinerlei Diskussionen auf. Manchmal emotionale Ausbrüche im Raucherzimmer – aber auch das nur zwischen Leuten, die sich einigermaßen vertrauten. Nicht jeder redete mit jedem. Ein Klima des Misstrauens – die ständige Möglichkeit, dass jemand denunziert. Aber alle wussten eh alles voneinander. Der Chefredakteur kannte meine Überzeugungen, lud mich zu Besprechungen gar nicht erst ein, ihm war klar, dass ich da etwas nicht mögen würde. Mir war das absolut recht.

    Von den wirklich überzeugten Leuten, wie Mamontow oder Semin, die das alles tatsächlich glauben, gibt es nicht so viele. Im Grunde genommen sind alle so ähnlich wie Dimitri Kisseljow, Stufe-50-Trolle oder wie auch immer er sich da nennt. 40–50 Prozent von ihnen waren auf dem Bolotnaja-Platz, ihnen war das Ganze absolut zuwider. Aber gekündigt haben sie nicht, aus ganz trivialen Gründen – die Familie, Kredite. Außerdem war allen klar, dass man nirgendwohin wechseln kann. Manche haben ihren Kummer im Wein ersäuft, andere Drogen genommen. Oder sie haben sich stattdessen in die innere Emigration begeben, am Wochenende Bücher gelesen und versucht, alles von Montag bis Freitag zu vergessen. Für mich selbst war das alles – ich scheue das Pathos nicht – eine Tragödie. Mir war klar, dass ich mich seit anderthalb Jahren mit ziemlich beschämenden Sachen beschäftigte.

    Aber 25 % waren überzeugt und glaubten, dass sie das Richtige taten. Ich und meine Freunde – die echten, nahen, von denen die allermeisten nichts mit dem Fernsehen zu tun haben – wir haben uns sofort darauf geeinigt, über dieses Thema einfach nicht zu sprechen. Allen ist klar, in welcher Scheiße wir stecken, was im Land vor sich geht. Da muss man nicht noch weiter Salz in die Wunden streuen. Aber wenn du das Zeug selbst produzierst und innerlich nicht so stark bist, dann fängst du womöglich nach einer Weile an, es zu glauben. Die 86 % Zustimmung für Putin sind ja schließlich real.

    Meine persönliche, nur durch meine Gefühle belegte soziologische Analyse ist: 50 % der Leute im Sender waren ähnlich wie ich, 25 % waren überzeugt und den restlichen 25 % ist einfach alles komplett egal. Wenn Chodorkowski an die Macht käme und seinen Sender aufbauen würde, würden sie dort arbeiten – und wenn ein Faschist an die Macht käme, dann eben für den … Diese Leute wären, wenn sich die Lage mal grundsätzlich ändert, nicht in der Lage, zu einem normalen Journalismus und zu normalen Standards zurückzukehren – einfach deshalb, weil sie sie gar nicht kennen. Irgendwann wird man die alle durchsortieren müssen, aus dem Beruf werfen. Man muss völlig neue Leute auswählen und sie anders ausbilden.

    Ehemaliger Mitarbeiter im Nachrichtenbereich der WGTRK:

    Freitags um 12 Uhr mittags gab es ein Briefing im Kreml, zu dem alle Chefredakteure kamen. Der Chefredakteur unseres Senders erhielt einen gedruckten Plan, in dem alles stand: Wie und was und wer als Experte eingeladen werden sollte. Praktisch eine Anleitung, ein Stapel A 4-Blätter, 1 Zentimeter dick. Bei dieser Besprechung notierte der Chefredakteur Anmerkungen, die Korrekturen wurden direkt mit Bleistift eingetragen. Ich erhielt einen Teil dieses Stapels und arbeitete danach wie nach Plan.

    Die Besprechungen im Kreml wurden von verschiedenen Leuten geleitet. Ganz früher war das Alexej Alexejewitsch (Gromow – Anm. der Red.). Bei Surkow bin ich mir nicht sicher. Dann hat Dimitri Sergejewitsch (Peskow – Anm. der Red.) sie abgehalten. Als er anfing, war das zunächst ganz in Ordnung. Aber später kam man nicht mehr einfach so an ihn heran – hier per Brief, dort mit extra Anmeldung. Es entstand eine Art Kult um Peskow, er verhielt sich à la Putin – das bin ich. Er hat das nie gesagt, aber es wirkte so. Alexej Alexejewitsch hat dagegen immer gesagt: „Leute, wendet euch an mich, ich helfe bei allem, was nötig ist.“

    Jetzt gab es plötzlich „Telefonkonferenzen mit Peskow“, morgens und abends. Ich weiß nicht, ab wann. Ich glaube, es war frühestens zwei Wochen nachdem Putin zuerst verschwunden und dann triumphal zurückgekehrt war. Die liefen über die direkte Regierungsleitung, das gelbe Wählscheibentelefon. Da geht etwas vor sich. Keine Ahnung, was, ich bin zum Glück nicht dabei.

    Früher gab es bei unserer Arbeit keine großen Veränderungen. Man hatte das Gefühl, alles ist ruhig und friedlich, und dann kamen plötzlich ohne Ende Instruktionen von oben. Inzwischen gibt es immer Anrufe von oben oder nach oben, wenn im Sender solche Entscheidungen und derartige Fragen besprochen werden. Der Chefredakteur kann frei entscheiden, ob über einen Unfall im Moskauer Umland berichtet wird oder nicht. Aber was die große Politik, Krieg und Frieden, angeht, hat er keine Freiheit.

    Zum Beispiel war da diese Parade in Serbien. Nicht direkt zu Ehren von Putin, zu Ehren des Sieges [im Zweiten Weltkrieg; dek.]. Aber Putin war, sagen wir mal, anwesend, auch wenn er sich etwas verspätete. Die Parade war wirklich flott, wahnsinnig schön. Rossija 24 nahm das Signal vom serbischen Fernsehen auf und übertrug es nach Moskau. Die Serben hatten alles organisiert, wir nur eine Dolmetscherin für den Moderator der Parade besorgt. Es gab lediglich eine kleine Beschwerde, weil die Dolmetscherin eine Frau war. Der Chefredakteur war gerade nicht da, aber sein Stellvertreter. Der Chefredakteur hatte ihm vorher gesagt: „Wir zeigen die Parade so und so lange, dann gehen wir raus und machen Bild im Bild weiter.“ Offenbar hatte er diese Frage nicht abgestimmt, und es passierte Folgendes: Die Parade läuft, sie ist wirklich gewaltig, niemand hätte das erwartet. Und dann macht der stellvertretende Chefredakteur, was sein Chef ihm gesagt hat: Er lässt die Parade eine Zeitlang übertragen und verlegt sie dann in ein kleines Fensterchen.

    Da bricht die Hölle los, Dobrodejew ruft drei oder vier Mal an und brüllt wie von Sinnen, dass die Parade sofort wieder gezeigt und bis zum Ende übertragen werden soll. Zugleich regt er sich über die weibliche Dolmetscherin auf – warum übersetzt kein Mann? Es gab einen derartigen Zirkus wegen dieser Parade … Wir haben natürlich alles rückgängig gemacht und die Parade bis zum Schluss übertragen. Danach gab es wieder Anrufe: „Wie konntet ihr nur, was macht ihr da eigentlich für Mist?“ Die Festreden waren lange vorbei, er (Putin – Anm. der Red.) war längst nach Mailand weitergeflogen, und wir übertrugen immer noch. Bitte sehr, die Entscheidung hat der Chefredakteur getroffen – und obwohl er eigentlich Herr über den Sender ist, hatte er falsch gelegen und kriegte aufs Dach.

    Einmal haben wir über ein Arbeitstreffen zwischen Putin und dem kirgisischen Präsidenten berichtet, das noch gar nicht stattgefunden hatte. Die Sache ist die: Früher gab es die Richtlinie, dass wir Veranstaltungen, an denen der Präsident teilnimmt, nicht ankündigen, mit Ausnahme bedeutender und internationaler oder wichtiger nationaler Anlässe, zum Beispiel mit der Botschaft an die Föderalversammlung. Bei regulären Arbeitstreffen wird weder die Region bekannt gegeben, in der sie am Folgetag stattfinden, noch irgendetwas anderes. Solche Treffen wurden nur äußerst selten und auf besondere Weisung vorher angekündigt. In der Regel haben wir am gleichen Tag darüber berichtet, und fast immer im Nachhinein. Es hatte einmal ein Riesenproblem gegeben, als der Korrespondent während einer Liveübertragung sagte, dass das Flugzeug gelandet sei, obwohl es noch gar nicht gelandet war. Es ging um einen Unterschied von fünf Minuten, aber es war ein höllischer Skandal. Bei der Sache mit Kirgisistan war die Dame, die im Sender darüber berichtete, ohnehin keine große Leuchte. Sie schreibt selbst kaum Texte, sondern beschäftigt sich lieber mit ihrem Make-up. Die Regel, dass nichts vorab angekündigt werden darf, hatte sich ihr mit den Jahren fest eingebrannt, nachdem sie deshalb früher schon Ärger gehabt hatte. Und nun sah sie plötzlich die im Futur formulierte Meldung, dass das Treffen voraussichtlich nächste Woche stattfinden wird und sagte aus alter Gewohnheit „stattgefunden hat“. Und als es weiter unten im Text hieß „sie werden besprechen“, machte sie daraus in Gedanken „haben besprochen“.

    Die manuelle Kontrolle erstreckte sich sogar auf die Wettervorhersage, es gab dazu direkte Anweisungen. Zum Beispiel, dass sofort der führende Meteorologe Wilfand eingeladen werden muss, damit er sagt, dass ein furchtbarer Winter bevorsteht und wir alle frieren werden. Man fragt: „Und was, wenn kein kalter Winter kommt?“ Denn es sieht eher nach einem milden Winter aus. Aber es gibt die allgemeine Tendenz, auf der Abhängigkeit der anderen herumzureiten. „Wartet nur, bald drehen wir euch den Gashahn ab, und ihr werdet alle frieren.“ Also war die ständige Leier: „Uns steht ein kalter Winter bevor.“

    Auch bei den Briefings hieß es ständig: „Veranstaltet mehr Höllenzauber!“ Da kommt zum Beispiel von oben die Anweisung, dass eine Kamera gebraucht wird, bei irgendeiner Veranstaltung, und die Leute in der Besprechung fragen: „Was sollen wir denn da machen? Das ist doch ziemlich öde.“ Ein Kulturzentrum einer Botschaft organisiert eine Lesung – natürlich fragt man sich: Wozu braucht es da eine Kamera? Weil dort bestellte Leute hinkommen und eine Show inszenieren. So kann etwa irgendein passender Historiker auftauchen und losbrüllen: „Sie versuchen, unsere Geschichte umzulügen!“ Man trommelt arme alte Leutchen zusammen, die seit Jahren zu solchen Anlässen gehen und schickt eine Kamera und eine bestimmte Person, faktisch einen Provokateur.

    Die TV-Fragestunde des Präsidenten wird überwiegend von der WGTRK organisiert. Vom Ersten Fernsehprogramm, von der WGTRK, jeder kriegt seinen Anteil. Eine Abordnung fährt vorher zur Präsidialverwaltung und durchläuft mehrere Instruktionsrunden – zum Was und Wie und dazu, welche Regionen und Städte ausgewählt werden. Dort fahren dann Kamerateams hin, eine Menge verschiedener Leute sind vorher da, laufen mit den Gouverneuren und anderen herum, organisieren Treffen mit den passenden Leuten, wählen Themen aus, alles wird hundert- und tausendfach abgestimmt. Es gibt eine sogenannte Voraufführung, wie beim Theater für die Mamas und Papas. Eine komplette Durchlaufprobe. Putin nimmt nicht daran teil, aber Peskow. Er beantwortet natürlich keine Fragen an Putins Stelle, aber er kontrolliert alles. Ein Aufnahmeteam stellt den Ablauf ungefähr nach. Leute, die dabei waren, haben mir gesagt, dass sie wie vor den Kopf geschlagen waren. Sie seien regelrecht vor Scham gestorben, weil alte Leute mit ihren Fragen zum Aufnahmeteam kamen und gar nicht daran zu denken war, diese Fragen in die Sendung aufzunehmen.

    Die Sache ist die, dass es das Fernsehen als solches nicht mehr gibt. Selbst wenn du im Kulturressort arbeitest, sagen sie dir: „Diesen Regisseur unterstützen wir, aber den da nicht“. Du kannst dich entweder damit abfinden und lächeln oder nicht mehr arbeiten und weggehen – wenn das Niveau endgültig in den Keller geht und dir klar wird, dass du nicht mehr bleiben kannst.

    Weitere Themen

    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Albrights Un-Worte

    Die Propagandamacher (Teil 2)

    Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

    Die Vertikale der Gewalten